Amnestie - Adiga Aravind - E-Book

Amnestie E-Book

Adiga Aravind

0,0
17,99 €

oder
-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Danny, eigentlich Dhananjaya Rajaratnam und ursprünglich aus Sri Lanka, ist der Status als Flüchtling in Australien verwehrt worden. Nun wohnt er als Illegaler im Lagerraum eines Supermarkts in Sydney und schlägt sich seit drei Jahren als Putzkraft durch. Er ist nahe dran, ein beinahe normales Leben führen zu können. Aber dann erfährt er, dass eine seiner Kundinnen ermordet wurde.
Details vom Tatort lassen ihn vermuten, der Liebhaber der Frau, ein Arzt und ebenfalls ein Kunde, könnte in den Mord verstrickt sein. Die beiden hatten die Angewohnheit, Danny bei ihren Rendezvous wie ein Maskottchen in der Nähe haben zu wollen. Er zögert, die Polizei zu informieren, denn als entdeckter illegaler Einwanderer würde Danny auf eine abgelegene Insel vor Australien deportiert. Dann bestellt der verdächtige Arzt Danny wieder zu sich...
«Amnestie» ist ein typischer, vom Schauplatz her aber ungewöhnlicher Adiga-Roman: die spannende, heftige Erzählung von besonderer heutiger Dringlichkeit über ein moralisches Dilemma und Machtverhältnisse, Liebe und Gewalt.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Aravind Adiga

Amnestie

Roman

Aus dem Englischen von Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

C.H.Beck

ZUM BUCH

Danny, eigentlich Dhananjaya Rajaratnam und ursprünglich aus Sri Lanka, ist der Status als Flüchtling in Australien verwehrt worden. Nun wohnt er als Illegaler im Lagerraum eines Supermarkts in Sydney und schlägt sich seit drei Jahren als Putzkraft durch. Er ist nahe dran, ein beinahe normales Leben führen zu können. Aber dann erfährt er, dass eine seiner Kundinnen ermordet wurde.

Details vom Tatort lassen ihn vermuten, der Liebhaber der Frau, ein Arzt und ebenfalls ein Kunde, könnte in den Mord verstrickt sein. Die beiden hatten die Angewohnheit, Danny bei ihren Rendezvous wie ein Maskottchen in der Nähe haben zu wollen. Er zögert, die Polizei zu informieren, denn als entdeckter illegaler Einwanderer würde Danny auf eine abgelegene Insel vor Australien deportiert. Dann bestellt der verdächtige Arzt Danny wieder zu sich …

«Amnestie» ist ein typischer, vom Schauplatz her aber ungewöhnlicher Adiga-Roman: eine spannende, heftige Erzählung von besonderer heutiger Dringlichkeit über ein moralisches Dilemma und Machtverhältnisse, Liebe und Gewalt.

ÜBER DEN AUTOR

Aravind Adiga,

geboren 1974 in Madras, wuchs zeitweise in Sydney, Australien, auf, studierte Englische Literatur an der Columbia University und am Magdalen College in Oxford. Er arbeitete als Korrespondent für die Zeitschrift «Time» und für die «Financial Times». Er lebt in Mumbai, Indien. Sein erster Roman «Der weiße Tiger» (C.H.Beck 2008) gewann den Booker Prize und erschien in fast 40 Ländern. Bei C. H.Beck erschienen außerdem der Erzählzyklus «Zwischen den Attentaten» (2009) und die Romane «Letzter Mann im Turm» (2011) und «Golden Boy» (2016).

ÜBER DIE ÜBERSETZER

Ulrike Wasel und Klaus Timmermann

arbeiten seit Jahrzehnten als Übersetzer in Düsseldorf. Für C.H.Beck übersetzten sie u.a. mehrere Werke von Andre Dubus III, zuletzt «Der Garten der letzten Tage» (2009) und von Liz Moore «Long Bright River» (2020).

INHALT

ZU HAUSE

AUSTRALIEN

DAS ERSTE JAHR ALS ILLEGALER

DAS ZWEITE JAHR ALS ILLEGALER

DAS DRITTE JAHR ALS ILLEGALER

DAS VIERTE JAHR ALS ILLEGALER

DANKSAGUNG

Für Mark Greif Als Dank für zweiundzwanzig Jahre Freundschaft

Inmitten der vier Meere sind alle Menschen Brüder

Auf einem Torbogenin Sydneys Chinatown

ZU HAUSE

Die gesamte Küstenlinie von Sri Lanka ist gewellt, geheimnisvoll und wunderbar – aber kein Ort ist geheimnisvoller als Batticaloa. Die Stadt ist berühmt für ihre Lagune, in der mitunter merkwürdige Dinge geschehen. Die Fische dort können singen. Das ist die Wahrheit. Die reine Wahrheit. Halt dir ein Schilfrohr ans Ohr und beuge dich aus deinem Tretboot, dann hörst du die Musik der Fische in der Lagune. Um Mitternacht reißt die Haut des Wassers auf und die kadal kanni, Wassernixen, tauchen aus der Lagune auf, übergossen von Mondlicht.

Seit Danny vier oder fünf Jahre alt gewesen war, hatte er sich gewünscht, mit einer Wassernixe zu sprechen.

Vom Dach seiner Schule aus konnte er über die Palmen und die bunt bemalten Häuser seiner Stadt hinweg die Stelle sehen, wo die vielfingrige Lagune sich verengte, bevor sie in ein größeres Gewässer floss. Kurz bevor sie in den Indischen Ozean strömte, glühte die Oberfläche der Lagune wie Feuer, als würde sie ein altes Rätsel lösen: das Motto unter dem Wappen seiner Schule. Lucet et Ardet. Die Priester in ihren grauen Kutten übersetzten das mit Leuchtet und Glüht. (Aber was leuchtet? Und was glüht?)

Als Danny da oben stand, wurde ihm klar:

Die Lagune leuchtet. Die Lagune glüht.

Während er das Glühen in der Ferne betrachtete, wusste er, dass es noch einen anderen Ort gab, wo die Lagune sich in den Ozean ergoss, und dass dieser Ort die meiste Zeit des Jahres verborgen war – versteckt an einer Stelle, die Mugathwaram genannt wurde, der Zugang zur Pforte, nicht weit von dem alten holländischen Leuchtturm entfernt. Danny war sicher, dass sich die kadal kanni dort, an diesem geheimen Portal, offen zeigten.

Er musste warten, bis er fünfzehn war, einige Jahre nach dem Tod seiner Mutter, um den Zugang zur Pforte zu finden. An einem Samstag erzählte er seinem Vater, er müsse zu einem Schul-Picknick, dann fuhr er auf dem Gepäckträger des Fahrrads eines Freundes zum ersten Mal in seinem Leben zu dem alten holländischen Leuchtturm und noch weiter, bis zu dem versteckten Strand, von wo aus man angeblich die zweite Öffnung sehen konnte. Als er vom Fahrrad stieg, war er enttäuscht, denn in der Ferne konnte er lediglich eine lang gestreckte Sandbank ausmachen, die quer vor diesem Teil der Lagune lag. «Hier kann sie unmöglich hinaus in den Ozean fließen.» Nachdem sie das Fahrrad unter Palmwedeln versteckt hatten, damit es nicht gestohlen wurde, sagte sein Freund, ein tamilischer Christ: «Wir müssen da raus, dann zeigt sie sich.» Also stahlen er und Danny ein Boot vom Leuchtturm und wechselten sich beim Rudern ab, bis sie draußen bei der Mugathwaram waren. Je näher sie kamen, desto lauter wurde die Musik der Fische von unten, und dann geschah es: Die Sandbank teilte sich, ihre vermeintliche Geschlossenheit erwies sich als optische Täuschung und nun war eine mehrere Meter breite Lücke zwischen den beiden Armen aus Sand zu sehen.

Die Pforte hatte sich geöffnet.

In der Mitte der Lücke schimmerte die magische Insel Mugathwaram, mit Korallen und Quallen übersät, und die beiden Jungen legten dort an, beobachteten, wie das Wasser wirbelte und rauschte, während Kormorane, rotbärtige Seeadler und Pelikane mit breiten Schwingen über ihren Köpfen kreisten. Wasser strömte aus der Lagune hinaus und aus dem Indischen Ozean herein, und da sich diese Strömungen neutralisierten, entstand die Illusion, das Wasser wäre vollkommen unbewegt: Ein einsamer, weißer Reiher stand mit einem schwarzen Bein genau an dieser Stelle, um das Tor zur Welt zu markieren.

Danny wusste, dass er richtig vermutet hatte. Hier würden die kadal kanni am ehesten auftauchen. Er saß Schulter an Schulter neben seinem christlichen Freund und wartete auf eine Wassernixe. Die Flut kam und versetzte das Boot ins Schaukeln. Das Licht trübte sich, der Ozean nahm die Farbe von altem Silberbesteck an. Inzwischen würde sein Vater, der ihn jeden Abend um halb sechs zurückerwartete, damit Danny seine Schulaufgaben machte, mit einem Rattanstock draußen sitzen. Danny wartete. Er hatte einen Freund an seiner Seite; er hatte keine Angst. Sie würden nicht umkehren, ohne mit einer Wassernixe gesprochen zu haben.

AUSTRALIEN

Reinigungskraft, wollte Danny antworten, sechzig Dollar die Stunde, doch stattdessen lächelte er die Frau an.

Auf dem Rücken trug er ein Gerät, das an das Jet-Pack eines Astronauten erinnerte – ein silberner Kanister, aus dem eine blaue Gummidüse mit lila Drahtschlingen drum herum ragte –, aber es war bloß ein tragbarer Staubsauger, das Turbo Modell E mit Supersaugkraft, das er vor einem Jahr für 79 Dollar bei Kmart gekauft hatte. In seiner rechten Hand ein Plastikbeutel mit den sonstigen Arbeitsutensilien.

«Ich hab gefragt», wiederholte die Australierin, «was Sie sind.»

Vielleicht stören sie meine goldenen Strähnchen im Haar, dachte Danny. Er schniefte. Von außen sah Dannys Nase gerade aus, aber innen war sie geknickt. Als er noch ein Kind war, hatte ihm ein Arzt erklärt, er sei der stolze Besitzer einer verkrümmten Nasenscheidewand. Vielleicht bezog die Frau sich darauf.

«Australier», sagte er unsicher.

«Nein, nein», entgegnete sie. «Sie sind ein Perfektionist.»

Erst jetzt gab sie ihm mit einem gestreckten Zeigefinger zu verstehen, dass sie seine Frühstücksgewohnheit meinte.

In der linken Hand hielt er nämlich ein angebissenes Käsesandwich. Er hatte es sich im Gehen zubereitet, indem er eine 2,25 Dollar teure 10er-Packung Käsescheiben der Marke Black & Gold, die er zusammen mit seinem Putzzeug mitgenommen hatte, öffnete und zwei Scheiben daraus in ein sechzig Cent teures Vollkornbrötchen packte – und dann hatte diese Frau ihn angesprochen, nachdem sie ihn offenbar dabei beobachtet hatte, wie er seinen Snack zusammenfriemelte und hineinbiss.

Danny rückte den Staubsauger auf seinem Rücken gerade, warf kauend einen Blick auf die Reste seines selbst gemachten Käsesandwiches und sah dann die Australierin an.

Deshalb also bin ich sichtbar geworden, dachte er. Weil sie meine Art zu essen stört. Nach vier Jahren lernte er immer noch dazu, machte sich immer noch insgeheim Notizen: nie am helllichten Tag gehen und dabei essen. Dann sehen sie dich.

Jetzt red dich irgendwie raus, Dhananjaya. Vielleicht solltest du sagen: Ich hab in der Schule Dreisprung gemacht: Hop, Step und Jump? Das ist das Gleiche: planen, essen und gehen. Ich mach das alles gleichzeitig.

Oder vielleicht wäre eine Geschichte ratsam, eine kurze, aber anrührende Geschichte: Mein Vater hat mir immer verboten, im Gehen zu essen, deshalb ist das jetzt eine Art Rebellion.

Aber manchmal musst du bei Weißen bloß anfangen nachzudenken und das reicht schon. Wie im Dschungel, wo du, falls du unversehens einem Tiger begegnest, die Luft anhalten und ihn anstarren sollst. Dann wendet er sich ab.

Obwohl die Frau sich eindeutig abwandte, änderte sie plötzlich ihre Meinung, drehte sich noch mal um und rief: «Das war Ironie, Mensch. Dass ich gesagt hab, du bist ein Perfektionist.»

Meinte sie vielleicht, überlegte Danny, während er das Sandwich auf dem Weg zum Ende der Glebe Point Road aufaß, wo er links abbiegen und zur Central Station gehen würde, dass ich nichts richtig mache?

Dieses Wort der Frau, Ironie, ließ ihn jetzt die Stirn runzeln.

Danny wusste, was über dieses Wort im Wörterbuch stand. Aber ihm war aufgefallen, dass seine Verwendung in der Praxis uneindeutiger, fragwürdiger war und meistens mit dem Wunsch einherging, jemanden verbal zu kränken. Ironie.

Wenn Sie mich also einen Perfektionisten genannt hat, wollte sie damit sagen …

Scheiß auf sie. Ich esse gern so.

Auf dem Weg zur Central machte Danny sich noch ein Sandwich und dann ein drittes auf dem Bahnsteig, während er auf den Zug um 8.35 Uhr nach St. Peters Station wartete.

Sein ein Meter siebzig großer Körper sah aus, als wäre er meisterhaft in sich selbst verpackt worden, und sogar wenn er schwer schuften musste, hatte er einen verträumten Blick, als besäße er irgendwo in weiter Ferne eine Farm. Mit seinem eleganten, ovalen Kinn und dieser hohen, feinen Gelehrtenstirn stellte er keine ausländische Bedrohung dar, solange er nicht lächelte und kaputte Zähne zum Vorschein kamen. An seinem linken Unterarm war eine deutliche Delle zu sehen, mit der er nicht zur Welt gekommen war, und der Nagel des Mittelfingers seiner rechten Hand war lang und schillernd. In seinem Haar waren frische, goldene Strähnchen.

8.46 Uhr

Der Zug war fast voll. Danny hatte einen Fensterplatz. Als er sich mit den Fingern durch das goldene Haar fuhr, für das er bei einem Friseur in Glebe 47,50 Dollar bezahlt hatte, bemerkte er, dass er beobachtet wurde, und wandte sich dem Asiaten mit der schwarz-weißen Einkaufstüte zu.

Der Blick des Mannes ruhte nicht auf Danny, sondern auf seinem Rucksack.

Noch schlimmer.

Ein Astronaut sah sich heutzutage wachsender Konkurrenz ausgesetzt, das war eine Tatsache. Immer mehr chinesische Zwei-Mann- oder Drei-Mann-Teams boten in Sydney ihre Dienste an, zum selben Preis für die Hälfte der Zeit. Ganz zu schweigen von den Nepalesen. Vier Männer zum Preis von einem.

Deshalb brachte Danny sein eigenes Equipment mit. Er hatte sein Kapital investiert. Neben dem tragbaren Staubsauger auf dem Rücken hatte er in einem Plastikbeutel eine Küchenrolle dabei, Wegwerfschwämme, ein Schaumspray zum Reinigen von Glas und eine feuerwehrrote Gummipumpe, die die Probleme aus jeder Kloschüssel saugte. Klar, in jedem Haus war irgendwo ein Schrank mit Staubsauger und Bürsten und Sprays, aber ein autonomer Putzmann macht Eindruck.

Aussies sind logische Leute, planvolle Leute.

Außerdem in seinem Plastikbeutel: eine kleine, aber stachelige Topfpflanze mit Pflegeanleitung auf einem Schildchen (ICH BIN EIN KAKTUS☺). Er hatte den Kaktus für 3,80 Dollar bei einer Frau gekauft, die immer in Glebe am Park saß, und wollte ihn später am Tag jemandem schenken.

Ein Überraschungsgeschenk.

An der Haltestelle Erskineville stand der Asiate, kurz bevor sich die Glastüren öffneten, mit seiner Einkaufstüte auf und Danny wusste, dass er kein Konkurrent war. In der schwarz-weißen Einkaufstüte steckte kein Staubsauger. Der Mann war bloß irgendein Wichtigtuer im Zug.

Danny lehnte sich zurück, fuhr sich erneut mit den Fingern durchs Haar und beschnupperte sie, um festzustellen, ob das Färbemittel, das sie im Friseurladen verwendeten, noch zu riechen war – fieses Zeug –, dann hob er die Hand an den Kopf und streichelte sich erneut.

Legendär.

Er musste daran denken, wie Sonjas Augen aufgeleuchtet hatten, als sie sein Haar sah. «Schräg.» Das hatte sie gesagt. Das war ein Kompliment. Weil die Menschen in Australien nach allem gierten, was schräg war, selbstbewusst schräg, sogar aggressiv schräg: wie ein Tamile mit goldenen Strähnchen im Haar. Eine Minderheit. Und wenn du einmal rausgefunden hattest, was das Wort Minderheit hier bedeutet, die Droge gekostet hattest, begehrt zu werden, eben weil du nicht so warst wie alle anderen, wie konnte dir da noch irgendeiner sagen, du solltest zurück nach Sri Lanka gehen und da drüben wieder als Minderheit leben?

Um seinen goldenen Haarschopf zu feiern, hatte Sonja am Abend zuvor in Parramatta für ihn gekocht, und Danny hatte sie während des Essens immer wieder angeschaut, sein Bild von sich selbst durch ihr Bild von ihm erneuert.

Ich bin hier in Australien, dachte er. Ich bin beinahe hier.

Zugegeben, trotz des Triumphgefühls, das er empfand, nachdem er die erste Nacht mit Sonja verbracht hatte, was zugleich seine erste Nacht mit einer Nicht-Tamilin gewesen war, verwirrte ihn die Vorstellung, diese vegane Vietnamesin wiederzusehen. Gleich und Gleich gesellt sich gern, das hatte er immer geglaubt. Wie landest du dann bei einer Frau, die weder Tamil spricht noch irgendeine Ahnung von dem Land hat, aus dem du stammst? Danny fand sich mit der Liebe ab. Es gab schließlich Präzedenzfälle. In Malaysia zum Beispiel waren viele chinesisch-tamilische Ehen geschlossen worden. Natürlich war Sonja keine Chinesin, aber immerhin. Diese halb tamilischen, halb chinesischen Sprösslinge kamen sehr gut im Leben zurecht. Einer war mal den Sommer über nach Batticaloa gekommen. Er lebte wie ein Millionär.

In einem Dorf bei Batticaloa wuchs die Wurzel eines Banyanbaums durch die Wellblechhütte über der Gruft eines pir, eines muslimischen Heiligen, und berührte sein grünes Zementgrab wie der Finger eines Riesen. Hier, auf diesem neuen Kontinent, erinnerte sich Danny an diese aufdringliche Banyanwurzel, erinnerte sich daran als jemand, der wusste, dass sich das Leben noch nicht hinreichend durch ihn oder durch seinen Körper erweitert hatte.

Also traf er sich wieder mit ihr und dann wieder und ihre Beziehung ging jetzt ins zweite Jahr.

Sonja glaubte an Dinge. Veganismus. Sozialismus. LGBT-Rechte. Politische Ansichten. Die Bauunternehmer kontrollieren die Labour Party, ja, aber die Bauunternehmer sind die stockkonservative Liberal Party. Begreifst du den Unterschied, Danny? Manches davon verstand Danny nicht mal, aber er wusste, dass Sonja darauf beharrte. Auf ihren Überzeugungen. Das gefiel ihm an ihr. Ihm gefiel auch, dass ihre Wohnung in Parramatta ein Gästezimmer hatte. Nach dem Essen ging Danny dort hinein, setzte sich auf die Bettkante und spielte mit der Nachttischlampe, während er Antworten auf ihre Fragen rief, die sie von der Küche aus stellte.

«Ja! Berufliche Weiterbildung! Ich erkundige mich nach Abendkursen bei der TAFE! Du hast vollkommen recht, Sonja! Putzen ist einfach zu wenig!»

Vielleicht verstand sie ja den Wink mit dem Zaunpfahl. Vielleicht würde sie ihm anbieten, in ihr Gästezimmer zu ziehen.

Heute Morgen hatte sie ihn kurz vor Beginn ihrer Schicht im Krankenhaus angerufen – angeblich, um ihn daran zu erinnern, dass er den Kaktus kaufen sollte, aber er wusste, dass sie nur seine Stimme hören wollte –, und als sie ihn fragte: «Was für Pläne hast du diese Woche?», denn sie glaubte, dass jeder einen Plan brauchte, sowohl für das Leben als auch für jede einzelne Woche, hatte Danny geantwortet: «Laut dem australischen Amt für Statistik beträgt der wöchentliche Durchschnittsverdienst eintausendeinhundert –»

«Das hab ich nicht gemeint», hatte sie lachend gesagt. «Ich meinte, was für Pläne hast du diese Woche im Hinblick auf mich?»

Er stand auf, rückte den schweren Kanister auf seinem Rücken zurecht und stellte sich an die Glastüren. Er checkte die Uhrzeit auf seinem Handy. Die Abdeckung war hinten abgefallen, und Danny hatte den Akku mit Heftpflaster festgeklebt. Das Display hatte einen Sprung, ein Unfall, und die Uhr ging vier Minuten vor, mit Absicht. Ziel war der Wechsel von Angst – zu spät zu spät zu spät – zu Erleichterung – vier Minuten mehr, denk dran, vier Minuten mehr –, ein Muster, das Dannys Pflichtgefühl verstärkte.

Mit einem hydraulischen Zischen öffneten sich die Glastüren an der St. Peters Station. Danny nahm seinen Plastikbeutel und trat auf den Bahnsteig.

Der Beginn eines weiteren Arbeitstages.

Vier dunkle, stahlumrandete Schornsteine, die an ägyptische Obelisken erinnerten, ragten direkt vor dem Bahnhof auf, als erklärten sie: Hier endet es – doch in Wahrheit endete es weder hier noch irgendwo sonst, sondern dehnte sich unablässig weiter aus, dieses Sydney, nur nicht für die Menschen, für die es immer enger wurde. Danny ging los. Hinter Vorstadtzäunen erblickte er tropische Kochbananenstauden, Begonienblätter, deren Unterseiten so rot waren wie die Zunge eines Menschen, der Betelsaft kaut, und Frangipani-Bäume, deren weiße Blütenblätter auf den Bürgersteig fielen und die mit Kreide geschriebenen Hinweise teilweise unleserlich machten – HIER UNTER KEINEN UMSTÄNDEN PARKEN – BITTE, BITTE, BITTE UNTERSTÜTZT DEN KAMPF GEGEN KINDERKREBS. Ein Pitbull, Hüter der Geheimnisse weißer Menschen, spähte durch die dunkelgrauen Zaunlatten und knurrte.

Danny nieste. Ein bläulicher Nebel hockte in den Bäumen wie auf einem Thron und der Rauchgeruch war allgegenwärtig: Er hatte gleich den Verdacht, dass es in den Bergen brannte. Heute Abend würden sie im Fernsehen sagen: Die Buschbrände, die letzte Nacht in Blackheath ausgebrochen sind, werden zurzeit gelöscht, doch der Rauch könnte noch einige Tage in Teilen der Stadt zu riechen sein.

Er ging an einem parkenden Auto vorbei, in dem er nicht nur einen rosa Gummihai und eine Zeitung für Pferderennen und -wetten bemerkte, sondern auch ein hübsches Überbleibsel vergangener Tage, einen Globus mit Fuß, so einen, wie ihn der Superbösewicht auf einem Finger balanciert. Danny hatte sich vorgebeugt, um Sri Lanka auf dem Globus zu suchen, als hinter ihm jemand –

Weg da.

– etwas sagte.

Er drehte sich um, erblickte aber nichts Menschliches.

Ein Flugzeug flog niedrig und laut über den Vorort, von einem Gebäude zum anderen, sodass das rote Quantas-Logo abwechselnd auftauchte und wieder verschwand.

Zwei geborstene, klassische Säulen waren am nächsten grauen Zaun abgelegt worden, und neben den Säulen lag eine enthauptete Zementstatue. Danny vermutete, dass sie eine von den Gottheiten darstellte, die die Weißen vor Jesus angebetet hatten. Mit dem Hauch von Rauch in der Luft war es, als hätte dieser Vorort von Sydney ganze Jahrhunderte der Zerstörung auf nur eine Nacht verdichtet. Danny betrachtete die Statue, überlegte, ob sie ein gutes Geschenk für Sonja wäre, ein besseres als der Kaktus für 3,80 Dollar, den er in seinem Plastikbeutel hatte, als er wieder die Stimme hörte.

Die Stimme eines Mannes.

Danny ging an dem Zaun entlang, bis er den Besitzer der Stimme im Garten sah. Es war ein brauner Mann in der grauen Uniform einer Umzugsfirma. Er drückte sich mit der rechten Schulter ein Handy ans Ohr und riss, während er redete, mit lässiger Kraft Pappkartons auseinander. Jeder Ruck seiner brutalen Arme sagte: Ich bin hier, ihr Australier. Ob ihr mich seht oder nicht, hier stehe ich.

Der Muskelmann unterbrach seine Arbeit, ließ die Pappe fallen und sah Danny an, als wollte er etwas zu ihm sagen.

Dieser braune Mann war bestimmt Javaner oder Malaysier – keiner von uns.

Ehe Danny etwas sagen konnte, wandte sich der Muskelmann nach rechts, zögerte kurz, als suchte er eine bestimmte Richtung, kniete sich dann hin und schloss die Augen. Seine Lippen bewegten sich. Nachdem er den Kopf nach rechts und links gedreht hatte, begann der braune Mann, mit der Stirn den Boden zu berühren, während er irgendetwas murmelte. Aha. Er betet, begriff Danny. Er hat mich angesehen, weil er wissen wollte, ob ich Muslim bin und mit ihm zusammen beten möchte.

Manche menschlichen Körper generieren Zeit aus ihrem Innern. Wie dieser Mann da gerade. Alle tickenden Zeiger in Sydney wurden auf sein Herz zurückgestellt.

Die machten das fünfmal am Tag, oder?

Ist das jetzt das zweite oder dritte Mal?, wollte Danny fragen, während der betende Mann den Kopf von einer Seite zur anderen drehte, bevor er erneut mit der Stirn die Erde berührte.

Ein Engel mit einem rot-grünen Schwanz erschien über ihren Köpfen. Als Danny aufschaute, sah er, dass es passenderweise eine Emirates-Maschine war. Der Flughafen von Sydney war nicht weit entfernt.

Er nieste erneut und fragte sich, ob er den betenden Mann gestört hatte.

Mit einem letzten Blick auf den Indonesier, der nach beendetem Gebet schon wieder dabei war, Möbel zu packen, ging Danny weiter.

Flora Street Nr. 36 überragte seine Nachbarn, ein dreigeschossiges Backsteingebäude, schmucklos und funktional, für Yuppies erbaut. Danny unterteilte Sydney in zwei Sorten von Vororten – dicker Hintern, wo die Arbeiterklasse wohnte, schlecht aß und selber putzte; und dünner Hintern, wo die fitten und jungen Leute Salat aßen und viel joggten, aber ihre Wohnungen praktisch nie selber putzten. Erskineville fiel in die zweite Kategorie. In so einer Gegend war ein Haus wie Flora Street Nr. 36 mit fünfzehn oder zwanzig Wohnungen eigentlich das große Los für einen Putzmann. Danny fand es manchmal unglaublich, dass er hier bloß einen einzigen regelmäßigen Job hatte.

Zuerst der Schlüssel.

Ein Mann könnte in die Hälfte der Häuser in Erskineville einbrechen, einfach indem er unter die Fußmatte oder den zweiten Blumentopf von links schaute. Hier war der Schlüssel sogar an einer noch offensichtlicheren Stelle hinterlegt. Danny hob die kaputte Klappe des helllila Briefkastens an und nahm einen silberglänzenden Gegenstand heraus.

Dann betrat er das Haus Flora Street Nr. 36 und lief die Treppe hinauf.

8.57 Uhr

Leer. Daryl der Anwalt war montags oder dienstags selten zu Hause. Selbst wenn du abends zum Putzen kamst. Manchmal sahst du die Kunden nur einmal, am ersten Tag, wenn der Terminplan abgesprochen wurde, und dann monatelang, jahrelang nicht mehr.

Danny streifte den Rucksack ab, stellte ihn auf den Boden. Er zog sein T-Shirt aus und hängte es an die Badezimmertür.

Regel Nummer eins: Immer ein weißes Unterhemd tragen, um sich von der Konkurrenz abzuheben. Wie er seiner Freundin erklärte: «Die Leute halten Chinesen für sauberer, weil die keine Körperbehaarung haben.»

Regeln, es geht immer um Regeln.

Viele von uns entfliehen dem Chaos und kommen hierher. Aussies sind optimistische und planvolle Menschen und sie leben in einem Rechtsstaat. Um sich hier anzupassen, ist es unerlässlich, dieses Prinzip zu verstehen, das Prinzip der Regel, die nicht gebrochen werden darf. («Ihr wachst an meinen Widersprüchen: Ein Immigrant spricht zu den Einheimischen», Seite 24.)

Der nützlichste Abschnitt des Buches. Aus diesem einen Absatz und dessen Wahrheiten hatte Danny so manche Regel für sich aufgestellt, und aufgrund dieser Regeln war er jetzt damit betraut, wöchentlich zwölf Wohnungen in Sydney zu putzen sowie zweimal im Monat ein ganzes Haus im Stadtteil Rose Bay mit Blick auf blaues Wasser und Jachten; für letztere Stelle bekam er 110 Dollar, wobei er allerdings jedes Mal neun Dollar an eine Fahrgemeinschaft zahlen musste, um zu dem Haus und wieder zurückzukommen.

Danny klopfte auf sein Unterhemd. Er hustete.

Noch eine Regel: Nie eine Gesichtsmaske tragen, wie das viele chinesische Freiberufler machen – das jagt den Kunden Angst ein. Staub? Ruß? Wird eingeatmet, eingeatmet.

Er schnallte sich den Turbo Modell E auf den Rücken und machte sich an die Arbeit, stets darauf bedacht, nicht über das matt-blutrote Kabel zu stolpern, das in der Wandsteckdose eingestöpselt war.

Bada-bada-bada-bum: Danny machte diese Geräusche immer, wenn er an eine schwierige Stelle kam. Er schob den Staubsauger über den Teppich. Über Kopfhörer beschallte ihn sein Handy mit Golden Oldies. Backstreet Boys. Madonna. Celine Dion. Nichts auf Tamil, alles englisch. Während er arbeitete, konnte er drei Zwanzigdollarscheine sehen, beschwert von dem Körbchen, in dem der Anwalt Zwanzig- und Fünfzigcentmünzen sammelte.

Danny sah sie und sah sie, rührte sie aber nicht an.

Nicht, bevor er mit dem Staubsaugen fertig war. Geld, nach einem Ehrenkodex hinterlegt, Geld, nach einem Ehrenkodex genommen. Sechzig Dollar für das Putzen der Wohnung einschließlich zweier Bäder, fünfzehn Dollar für eventuelle zusätzliche Toiletten oder Bäder.

Legendärer Putzmann.

Danny war ziemlich sicher, dass Daryl der Anwalt, Haus Nummer vier, der Erste gewesen war, der ihm diesen Namen verpasst hatte; jetzt nannten ihn alle so. Er hatte sich nie so recht wohl mit der Bezeichnung gefühlt, und während er mit seinem Staubsauger um das Sofa kurvte, fragte er sich, ob das eine weitere Manifestation jenes seltsamen, anstößigen Wortes war: Ironie. Er würde Sonja fragen müssen.

Macht sich Daryl der Anwalt über mich lustig, wenn er mich Legendärer Putzmann nennt?

Und warum nennst du ihn Daryl der Anwalt? Vielleicht machst du dich ja über ihn lustig. Das würde sie wohl sagen: Punkt für Punkt.

Diese Frau.

Badabadabadum … Er schob die Staubsaugerdüse unter einen Schaukelstuhl. «Daryl der – ! Daryl der – !» Danny erhob seine Stimme über den Krach des Staubsaugers. Jetzt komme ich, Daryl der Anwalt!

Ohne eine gewisse Aggression gegen seinen Kunden wird kein Putzmann zur Legende.

Prrromppp. Danny brachte seine Lippen zum Flattern. Schon seit seiner Kindheit machte er diese Geräusche, wenn er irgendwas tat, wozu er keine Lust hatte. Badabadabadabum …

Der Staubsaugerrüssel wanderte von Zimmer zu Zimmer. Der Kanister auf Dannys Rücken, aufgebläht von heißer Luft und Staub, sank in sich zusammen, als Danny das Gerät ausschaltete.

Staubsauger beiseitegeräumt, Geschirr gespült, Tische und Stühle abgewischt, jetzt zum wichtigsten Teil des Jobs. Du wirst nach dem Zustand deiner Toiletten beurteilt werden. Und deine Toiletten werden nach dem Zustand der Schüsseln beurteilt werden. Er zog sich die Handschuhe aus, als er aus der Toilette kam, setzte sich in den Sessel des Anwalts und inspizierte das Wohnzimmer.

Er nahm einen weinroten Lederband aus dem Bücherregal des Anwalts: Das Vertrauen des Reisenden: Eine Einführung in islamisches Recht.

Lesen die nie mal Bücher über hinduistisches Recht? Diese Weißen. Völlig auf Muslime fixiert. Weil sie Angst vor ihnen haben. Er blätterte das Buch durch.

An einem Nachmittag in Lakemba – Abe, sein japanisch-brasilianischer Abseiler-Freund hatte ihm den Tipp gegeben: ein Anstreicherjob, der bar bezahlt wurde – hatte Danny drei Araber auf einer Veranda gesehen, jeder mit nacktem Oberkörper, jeder mit einer Shisha, und alle hatten sultanmäßig Rauch über einen zugemüllten Garten gepustet. Einige von Sydneys westlichen Vororten – sehr, sehr dicker Hintern – waren verdreckt, Vorgärten voller vermoderndem Holz, umgekippten Einkaufswagen, kleinen Kanälen, auf denen weiße Blütenblätter schwammen; aber dieses muslimische Herrenhaus war mit Abstand das Schmutzigste, was er je in Australien gesehen hatte. Danny fand’s toll. Natürlich bewunderte er die Leck-mich-weißer-Mann-Haltung, aber du musstest dich trotzdem fragen, wie zum Teufel solche Leute legal wurden. Vielleicht gab es ja in der Einwanderungsbehörde jemanden, der tatsächlich beschloss: «Du siehst nicht aus wie ein Terrorist. Sorry, du darfst nie im Leben nach Australien. Der Nächste! Ja, du da mit dem Vollbart, du darfst natürlich rein!» Neulich brachte Yahoo! News so eine Geschichte über einen übergewichtigen, extrem blinden, Gitarre spielenden Malaysier, der in Wirklichkeit gar nicht Gitarre spielen konnte und für den die Aussies online eine Unterschriftensammlung angeleiert hatten, weil er Muslim war, und der dann das unbefristete Aufenthaltsrecht bekommen hatte. Ich kann nur sagen, es gibt Tamilen, die sich bei lebendigem Leib verbrennen.

Letzte Woche hat sich in Melbourne ein Tamile aus Jaffna mit Benzin übergossen und angezündet, weil sie ihm keinen Flüchtlingsstatus geben wollten. Wer kriegt ihn? Dieser malaysische Muslim.

In Dannys Kindheit und Jugend war es zwischen Muslimen und Tamilen häufig zu Gewalt gekommen. Satrukondan, Xavierpuram, Sittandi: alte Namen, altes Blutvergießen.

Fertig mit islamischem Recht. Aber als Danny sich bückte, um das Buch wieder unten ins Regal zu stellen, hatte er freien Blick auf das Sofa und darunter – und da sah er einen Ball unter dem Sofa.

Er war bis ganz hinten an die Wand gerollt.

In Australien gilt das ungeschriebene Gesetz, dass sich die Reinigungskraft niemals bückt, um irgendwas anzufassen, das sich unterhalb der Höhe eines Couchtisches befindet. Der Auftraggeber muss alles vom Boden aufheben, bevor du anfängst zu arbeiten. Diese Regeln sind beiden Seiten klar. («Wir müssen erst putzen, damit die Putzkräfte hinterher putzen können», hatte einer seiner Kunden, womöglich Daryl der Anwalt, gemurrt.) In Sri Lanka jedoch gilt die Regel, dass die Putzfrau sich bückt und schrubbt, so viel du willst, aber niemals etwas anfasst, das sich oberhalb der Höhe des Couchtisches befindet, aus Angst, dass man sie des Diebstahls beschuldigt. Danny lächelte. Prrrpmmm. Badabadadum.

Na los. Beeindrucken wir ihn.

Danny legte sich bäuchlings auf den Teppich und schob den Arm unters Sofa, musste aber feststellen, dass er außer Reichweite war. Der blaue Ball.

Prrrrrp. Ba-da-da-da-dum –

Er reckte die Finger –

«Laut dem australischen Amt für Statistik beträgt der wöchentliche Durchschnittsverdienst elfhundertfünfzehn Dollar und …

… fünfzehn Dollar und viiiierzig Cent …»

– bis Gummi die Kuppen streifte.

(«Mein seltsamer Junge», sagte seine Mutter oft. Wenn sie beispielsweise herausfand, dass Danny derjenige war, der den Rosen in ihrem Garten alle Dornen abschnitt: «Die Dornen sind dazu da, die Rosen zu schützen. Wenn du sie abschneidest, machst du die Rosen nicht sicherer. Mein seltsamer, seltsamer Sohn.»)

Wir sind wirklich ein Legendärer Putzmann.

Dannys Finger bekamen den Ball zu fassen – packten ihn –, holten ihn unter dem Sofa hervor und beförderten ihn aus der Dunkelheit unter Dannys Nase. Ein Ball: ein blauer Ball. Er schnupperte daran. Mit seinem langen Fingernagel kratzte er an der blauen Außenhaut und schnupperte erneut.

Ein beißender Geruch wie von keinem lebendigen Körper, und prompt erinnerte Danny sich wieder.

Vergiss den Kaktus nicht. Sie arbeitet heute im St. Vincent’s.

Es war jede Woche ein anderes Krankenhaus oder Altenheim. «Das ist mittlerweile alles privatisiert», sagte sie. «Wir müssen da arbeiten, wo die Agentur uns hinschickt, und so lange, wie die es sagen, sonst krieg ich nie wieder eine Arbeit.»

Ich sollte zurückgehen und die griechische Statue für sie holen.

Auf den Knien rutschte Danny zum Tisch des Anwalts, legte den blauen Ball dort ab und drückte mit der flachen Hand darauf, damit er nicht wegrollte, während er sich in der Wohnung umsah.

Als Junge hatte er mal einen Nachbarn, der gerade aus dem Ausland zurückgekehrt war, gefragt: «Wie ist Toronto denn so?» Der Nachbar hatte gefragt: «Weißt du, wie das Fünfsternehotel Galadari in Colombo aussieht?» Danny hatte genickt. «So sieht in Toronto jeder Quadratzentimeter aus.»

Was erzählen sie einem nicht alles über den Westen, bevor du hierherkommst. Nichts in Australien ist wie das Galadari International. Sydney ist voller Kakerlaken, Heuschrecken und fliegender Käfer, nur nicht in den Räumen, die Danny gerade mit Staubsauger, Schwamm und Wischlappen bearbeitet hat.

Legendärer Putzmann.

Sein Handy, das nun ganz sicher nicht legendär war, piepte einmal.

9.16 Uhr

Benachrichtigung von Ihrem Mobilfunkanbieter:

Da wir weiterhin an einem zukunftsfähigen Mobilnetz arbeiten, müssen wir uns von älteren Technologien verabschieden. Das bedeutet, dass Sie das von Ihnen offenbar genutzte Mobiltelefon, ein 2G-Gerät, ab nächster Woche nicht mehr verwenden können. Kaufen Sie sich so schnell wie möglich ein neues 3G-Gerät, entweder über unsere Website oder in einem unserer vielen kundenfreundlichen Service-Shops oder bei einem unserer Vertragspartner.

Die Benachrichtigungen hatten vor zwei Wochen begonnen. Danny hatte sie alle gelöscht.

«Willkommen, Sir», sagt der Mann im Service-Shop oder im Laden des Vertragspartners, «ein neues Mobiltelefon für Sie, Sir? Sehr gern, Sir. Wie lautet Ihre Steuernummer, Sir? Haben Sie Ihren Pass dabei, Sir?»

Aus der Küche des Anwalts bohrte sich der Geruch von Brokkoli in Dannys Nase; seine Eingeweide zogen sich zusammen. Auch nach so vielen Jahren hatte sich sein Magen noch nicht mit dieser Scheußlichkeit abgefunden. Wie konnten sie das essen, diese Menschen, in solchen Mengen, und obendrein roh? Brokkoli!

Noch immer angewidert vom Geruch dieses Gemüses nahm Danny sein T-Shirt vom Haken und streifte es über, bevor er sich selbst bezahlte, nacheinander die drei Zwanzigdollarscheine unter dem Körbchen wegzog, das schwer war vor lauter Zwanzig- und Zehncentstücken und anderen Münzen, die für weiße Australier wertlos waren.

Mit sechzig Dollar in der Tasche hob Danny beide Hände an sein Haar. Durch die Fingerspitzen hindurch spürte er die Macht seiner goldenen Strähnchen, spürte, wie sie in jedem Mann jeder Rasse, der ihn sah, Neid erwecken würden.

Niemand würde ihn je wieder für jemanden halten, der außerhalb Australiens geboren war.

Letztlich: Woran merkst du in einer Stadt wie Sydney, wer Ausländer ist? Beobachte, analysiere und mach eine Liste. Dannys Methode.

WIR und DIE

Größter und gravierendster Unterschied: Körperhaltung.

Bärte (wir – zu wüst) und dann Frisuren (zu brav).

Speckbauch. Junge Australier haben keinen Speckbauch.

Spucken auch nicht in der Öffentlichkeit.

Klasse (haben aber keine Klasse verglichen mit den Leuten zu Hause).

Einen Mann mit australischem Rückgrat imitierend, der in der Öffentlichkeit kurze Hosen trug und das kleinbürgerliche Vergnügen genoss, wieder wie ein Kind auszusehen, hatte Danny zwei Jahre lang auf einen tadellosen Haarschnitt geachtet. Dannys Herz sprach in sukzessiven Schüben zu ihm; und im dritten Jahr hatte er sich die Haare einfach wachsen lassen. Schon als Junge hatte er sich gewünscht, sich die Haare wachsen lassen zu dürfen. (Das und einen Hund: einen Schäferhund.) Als die Haare so lang waren, dass sie sich im Nacken kräuselten, fiel ihm ein Mann in Enmore wieder ein. Ein Afrikaner, der unterhalb eines Zimmers stand, das Danny putzte (Haus Nummer zwei), und über seine Tattoos redete. «Schließlich bin ich nach Bondi und der Mann sagt, die verlangen zweihundert die Stunde, und es dauert mindestens drei Stunden. Man lebt nur einmal, hab ich recht? Man lebt» – während der Afrikaner sich drehte, um stolz das Tattoo eines Papageien zu demonstrieren, der sich um sein schwarzes Bein wand, nahm sein Akzent einen britischen Tonfall an, oder vielleicht hatte er den schon immer gehabt – «nur einmal, hab ich recht?»

An jenem Tag hatte Danny seine eigene, männliche Gestalt von Tattoos bedeckt gesehen, getigert und ummantelt, und sich selbst zum ersten Mal als den Herrn über seinen Körper, den er zum eigenen Vergnügen drehen und wenden konnte …

Hierarchien bestehen in Unsichtbarkeiten; es gibt stets bessere Möglichkeiten, ungesehen zu bleiben.

Statt Tattoos (ein bisschen Unterschicht, sogar unzivilisiert) ließ er sich die Haare wachsen. Aber das reicht noch nicht. Nein: Du bist in Sydney. Abe der Abseiler färbte sich die Haare blond und er war illegal – also beschloss Danny, zu dem Friseur in Glebe zu gehen und einfach zu fragen. Rotbraune Strähnchen? Das würde 47,50 Dollar kosten, aber Sonja war einverstanden, sie war mehr als nur einverstanden.

Benachrichtigung von Ihrem Telefonanbieter.

Sein Handy piepte wieder. Da wir weiterhin an einem zukunftsfähigen Mobilnetz arbeiten, müssen wir uns von älteren Technologien verabschieden.

Es muss doch eine Möglichkeit geben, dachte Danny, dieses Handy noch mindestens ein paar Monate zu behalten. Noch mindestens ein paar Monate nicht in den Telstra-Shop gehen und dort Fragen über mich beantworten zu müssen.

Der Desktop-PC des Anwalts war mit Koalas bedeckt: Tischdecke aus Chintz.

Er könnte es gleich hier machen, ins Internet gehen und nach Antworten suchen. Denn was war das Passwort dieses Computers? Die Return-Taste. Daryl, du sogenannter Anwalt.

In der Vergangenheit hatte Danny tatsächlich schon Großes auf genau diesem, mit glänzendem Stoff bedeckten Computer getan: Er hatte sogar seine große Liebe über diesen Computer kennengelernt.

Aber da er heute ohnehin nach Newtown musste, um zu arbeiten, dachte er sich, dass er dort seine E-Mails kostenlos in der öffentlichen Bibliothek checken könnte.

Der australische Staat verweigerte ihm zwar Krankenversicherung, Führerschein und polizeilichen Schutz, aber er gewährte ihm unbegrenzten und unüberwachten Zugang zu seinen öffentlichen Lesesälen und Informationszentren. Nicht weit entfernt vom Lebensmittelladen Sunburst lag die Bibliothek von Glebe, ein Ort, den die Illegalen der Gegend gut kannten. Die Bibliotheken in Parramatta, Blacktown, Surry Hills und Haymarket waren auch ganz gut. Aber am allerbesten war die Bibliothek in Newtown, mit ihrer hohen, kirchenartigen Decke und dem offenen Obergeschoss, wo du stundenlang flach auf dem Boden liegen und vergessen konntest, wer du warst. Danny hatte sich sogar mit einem lächelnden, glatzköpfigen Inder namens Ramesh angefreundet, der in der Bibliothek arbeitete. Aber der Mann war legal. Freundschaft hatte ihre Grenzen.

Danny packte sein Putzzeug ein und hievte sich den Staubsauger auf den Rücken: wieder ein Astronaut.

Sein nächster Job – Danny checkte die Uhrzeit auf seinem Handy – war die Wohnung von Rodney Steuerberater in Newtown, ungefähr auf halber Höhe der King Street, wo er außer einer weißen Katze, die er unter keinen Umständen hinauslassen durfte, drei Zwanzigdollarscheine auf dem mit Parolen gegen den Uranbergbau beklebten Kühlschrank finden würde.

Alles klar. Auf geht’s.

Aber erst als er bei seinem letzten Kontrollblick war, tauchte sie über dem Türsturz auf: schwarz und bedrohlich, ein kleiner Shiva mit vielen, zaghaften Armen.

Sogleich zog Danny sein Handy aus der Tasche, scrollte die Nummern runter, kam zu

Sonja

und drückte den grünen Anrufknopf.

«Danny», meldete sich Sonja. «Ich arbeite, was ist los?»

«Ich bin bei Daryl dem Anwalt. Putzen? Und da ist eine Spinne. Direkt über der Tür. Ich muss da drunter durchgehen.»

«Welche Sorte? Huntsman?»

«Keine Ahnung. Sie ist groß und haarig.»

«Jepp. Das ist eine Huntsman. Die sind harmlos. Keine Angst. Geh drunter durch. Die lässt sich nicht auf dich drauffallen, und wenn doch, tut sie dir nichts.»

«Aber ich bin ein Legendärer Putzmann. Wenn der Anwalt zurückkommt und die Spinne sieht, wird er denken –»

«Danny, tu ihr nichts. Sie ist harmlos. Ich muss jetzt arbeiten. Ich bin Krankenschwester, Danny. Ich muss Leute versorgen. Ist ein anstrengender Tag.»

Er steckte das Telefon wieder in die Tasche. Na gut. Er starrte das reglose Ding über der Tür an.

«Huntsman.» Danny gab dem Vieh einen Namen.

Husch. Weg mit dir. Die spüren das, wenn du es nicht ernst meinst. Noch mehr Soundeffekte (bada-bada-bum-bum). Nichts.

Türenknallen könnte ihr Angst einjagen.

Er drehte den Knauf an der Wohnungstür, und als er sie öffnete, sah er drei Polizisten in Uniform die Treppe hochgelaufen kommen, genau auf ihn zu.

Danny stand still.

Sie liefen wortlos an ihm vorbei und weiter die nächste Treppe hinauf, zu der Etage über der Wohnung des Anwalts. Dort begann einer, an eine Tür zu klopfen. Ein anderer stand still. Ein Dritter blickte von oben auf der Treppe zu Danny herunter.

9.21 Uhr

«Sie da, wohnen Sie –?», rief er hinunter.

Danny nickte, trat zurück in die Wohnung des Anwalts und schloss die Tür.

Kehrte zurück in die Sicherheit des starren Spinnenblicks.

Bis zehn zählen, bis zwanzig, dreißig. Dann öffnete er die Tür einen Spalt. Einer der drei Polizisten, derjenige, der ihn angesprochen hatte, kam die Treppe heruntergerannt.

Der Polizist blieb stehen und betrachtete Danny mit zusammengekniffenen Augen durch die offene Tür: Er war blau, kolossal, walmäßig blau und sein Bauch drängte gegen sein Hemd und quoll über seinen schwarzen Gürtel wie ein Sack festes, blaues Fleisch. Er stemmte die Hände in die Hüften, schob den Bauch noch weiter vor und schnaufte.

«Sie da, ich hab Sie gefragt, ob Sie hier wohnen?»

«… bloß der …»

Der Polizist fasste Danny an, schob ihn zur Seite, um den Kopf durch die offene Tür zu stecken und sich in dem geputzten Apartment umzuschauen. Er schniefte, als müsste auch er gleich niesen.

«… Putzmann …»

Der Polizist sagte: «Alles klar. Aaaalles klar. Dachte ich mir. Gegenüber ist was los. Wir schauen uns nur um.»