Amors Gift - Bärbel Böcker - E-Book

Amors Gift E-Book

Bärbel Böcker

4,5

Beschreibung

Bis dass der Tod euch scheidet - das gilt in Deutschland schon lange nicht mehr und so plant der Kölner Redakteur Florian Halstaff eine Talkshow zum Thema »Späte Scheidungen«. Als der wichtigste Talkgast, die 72-jährige Lisa Spangenberg, die sich nach 30-jähriger Ehe trennen will, nicht zur Sendung erscheint, erfährt er bald, warum: Sie soll ihren Mann ermordet haben und sitzt in U-Haft. Florian ist von ihrer Unschuld überzeugt und beginnt zu ermitteln. Eine Spur führt ins Milieu der Freimaurer …

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Bärbel Böcker

Amors Gift

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-verlag.de

© 2014 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

Herstellung / E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © B. Wylezich – Fotolia.com

ISBN 978-3-8392-4468-5

Widmung

Für Berit und Malte

Zitat

Die Liebe ist ein Wunder, das immer wieder möglich, das Böse eine Tatsache, die immer vorhanden ist.

Friedrich Dürrenmatt

1. Kapitel

Da war dieses Eis in ihr, das jede Empfindung betäubte. Was geschehen war, war geschehen, so irreal und abstrakt ihr die letzten Tage und Stunden auch erschienen. An den Fakten gab es nichts zu rütteln, es war die unverrückbare Wirklichkeit, brutal und hässlich. Wieso war sie da hineingeraten?

Ihre Hände lagen reglos auf dem abgenutzten, über die Jahre dünn gewordenen Laken, und sie presste den Rücken gegen die Matratze. Ein dünnes Schaumstoffteil, durch das sie den harten Lattenrost spürte. Ihre Knochen schmerzten, doch sie rührte sich nicht. Die Augen hielt sie geschlossen. Sie blinzelte nicht, zuckte mit keinem Muskel. Starr und steif lag sie auf dem schmalen Bett der Haftzelle.

Ihr halblanges Haar fiel dicht und schwarzgrau auf das Kissen. Die schmale Nase, die sich deutlich von ihrem Profil abzeichnete, und die fein geschwungenen Lippen ließen keinen Zweifel daran, dass sie in ihrer Jugend schön gewesen war.

Während sie angestrengt versuchte, etwas zu fühlen, irgendetwas, wurde ihr bewusst, dass sie sich wieder einmal in einem ihr bekannten, akuten Zustand der Gefühlsverhärtung befand. Sie war aus der Zeit gefallen, ins Nichts, doch es würde vorübergehen. Sie kannte diese totale Einkapselung in sich selbst, den lebendigen Tod, der eine Ewigkeit währte. Nach großer Aufregung konnte dieses Befinden einsetzen, dann, wenn sie über jedes erträgliche Maß hinaus Haltung bewahrt hatte, doch üblicherweise war die Reaktion ihres Körpers heilsam, und das Wissen darum beruhigte sie. Sie wusste, dass ihr Körper und ihre Seele sich erholten und dafür alle ihre Kraft benötigten.

Haltung. Sie spürte jedem einzelnen Buchstaben des Wortes nach und forschte nach dem Widerhall, den es in ihr auslöste. Haltung war von ihrer Kindheit an ein wichtiger Aspekt gewesen. Niemals die Schultern beugen. Niemals vor anderen Schwäche zeigen. Ihr Vater hatte ihr dieses Verhalten eingebläut, und dass sie sich daran hielt, führte im Laufe ihres Lebens dazu, dass sie nicht nur einmal von anderen zu hören bekam, sie sei unnahbar, ein kaltherziger Mensch. Der Vorwurf hatte sie nicht besonders verletzt, denn im Grunde ihres Herzens war sie immer stolz auf sich gewesen.

Lisa Spangenberg schluckte. Sie atmete flach, für tiefere Atemzüge fehlte ihr die Kraft. Ihre Lebensgeister steckten in einem dunklen Loch, es fühlte sich an wie ihr Grab, und wenn sie jetzt einen Wunsch freihätte, wäre es dieser: Hinausklettern, nach oben ans Licht, ein paar Sonnenstrahlen einfangen, die Hände der Trauernden abschütteln und nach Hause gehen, als ob nichts geschehen wäre.

Sie schluckte. Sie würde alles darum geben, die vollgekritzelte Wand der Haftzelle nicht mehr sehen zu müssen. Wie schön wäre es, woanders zu sein, auf einer Wiese an einem Bach, mit einem Buch in der Hand, unter einer jungfräulich gekleideten Birke, im Schatten herzförmiger Blätter.

Nachdem am Tag zuvor die schwere Tür ins Schloss gefallen war und der Schließer sie der Einsamkeit der etwa acht Quadratmeter großen Zelle und der hereinbrechenden Dämmerung überlassen hatte, hatte sie aus dem vergitterten Fenster gesehen und davor einen Streifen bräunliches Grün entdeckt, dessen Kargheit sie deprimierte. Dann hatte sie das winzige Waschbecken angestarrt und sich gefragt, wie sie den Wasserhahn aufdrehen sollte, ohne den Raum zu fluten, und schließlich erfasste ihr Blick die Kloschüssel, die sich rechts vom Waschbecken befand und die keinen Deckel besaß. Der Anblick war niederschmetternd.

Sie hatte die wenigen Kleidungsstücke, die sie in der U-Haft tragen durfte, in einen aus Spanplatten zusammengehauenen Schrank geräumt, der am Kopfteil des Bettes stand. In der Untersuchungshaft galten verschärfte Haftbedingungen, doch war es erlaubt, Privatkleidung zu tragen, solange der Häftling nicht rechtskräftig verurteilt worden war.

Sätze an der Wand wie Männer sind Fotzenärsche,Man sollte sie alle abschlachten, Scheißweiber, brennt in der Hölle oder Fickt euch selbst hatten sie innerlich verstummen lassen, daneben türkisches Gekritzel sowie kyrillische Schriftzeichen, mit denen sie nichts anfangen konnte.

Sie solle dankbar dafür sein, den Luxus einer Einzelzelle zu genießen, hatte der Schließer gesagt, als er ihren Gesichtsausdruck sah, doch für Lisa war der Raum nicht mehr als ein dumpfes Loch. Ihr Anwalt hatte die Einzelunterbringung mit dem Argument ihres Alters beim Haftrichter ausgehandelt. Es gab in Haus Nummer 15, wo sie untergebracht war, auch Zellen für zwei und drei Frauen, und sie weigerte sich darüber nachzudenken, was die Nähe, der keine entfliehen konnte, mit ihnen anstellte.

Wie lange war sie inzwischen hier? 14 Stunden? 16 Stunden? Zwei Tage? Mühsam öffnete sie einen Spaltbreit die Augen. Die Morgendämmerung hatte sich bereits durch das vergitterte Fenster gestohlen und ihre Zelle in graues Licht getaucht, doch die Umrisse erschienen ihr genauso konturlos wie der vor ihr liegende Tag, der ihr Geburtstag war. Es gab keinen, absolut keinen Grund, ihn zu feiern. 72 Jahre wurde sie alt und sie befand sich in Untersuchungshaft.

Die Erinnerung an das, was geschehen war, löste auf ihrer Haut ein seltsam prickelndes Gefühl aus, als hätten Ameisen sie angepinkelt, deswegen schob sie die Bilder rasch beiseite und fragte sich stattdessen, ob Victor heute 72 Kerzen für sie anzünden würde. An ihrem letzten Geburtstag hatte er beim besten Konditor der Stadt eine Torte für sie backen lassen, ein Kunstwerk aus Sahne mit 71 rot- und blau-weiß gestreiften Kerzen darauf, sie hatte sieben Anläufe benötigt, um sie alle auszupusten.

Lisa drückte vorsichtig ihren Rücken gegen die Matratze, jetzt spürte sie einen dumpfen Schmerz im Lendenwirbel. In den letzten Jahren hatten sich die Knochenschmerzen verstärkt, eine in ihrem Alter völlig normale Abnutzungserscheinung, hatte der Arzt gesagt.

Sie fragte sich, wann Victor kommen würde. Am Vormittag? Sie hoffte, er würde sich nicht schämen, die Justizvollzugsanstalt zu betreten, und verneinte die Überlegung beinahe im selben Moment. Victor besaß Charakter, er würde erhobenen Hauptes durch das Portal schreiten und ohne eine Miene zu verziehen, würde er auch die Leibesvisitation über sich ergehen lassen.

Vielleicht sollte sie ihn darum bitten, einen Fernseher mitzubringen, doch dann fiel ihr ein, dass der Richter das Gerät möglicherweise erst genehmigen musste. Ein Radio wäre ebenfalls von Vorteil. In jedem Fall würde sie eine Liste der Bücher zusammenstellen, die ihr besonders viel bedeuteten: die Sagen des klassischen Altertums sowie einige Werke von Homer und Hesiod im griechischen Original. Sie hatte an einem humanistischen Gymnasium Altgriechisch und Latein unterrichtet, und nach ihrer Pensionierung war sie durch kontinuierliche Lektüre in Übung geblieben. Sie liebte Homer. Bei dem Gedanken an die Bücher, die Victor ihr bringen würde, spürte sie, wie sich ein Lächeln in ihr regte, doch noch verharrte es unter der Oberfläche, noch hielt es sich verborgen.

In der Zelle wurde es jetzt rasch hell, Lisa versuchte, den Kopf zu drehen und einen Blick auf die Uhr zu werfen, was ihr nur mühsam gelang, aber immerhin, die Steifheit ließ nach. 05.50 Uhr. Um sechs Uhr wurde das Frühstück gebracht. Sie hörte das Knurren ihres Magens und wertete es als gutes Zeichen, ihre Lebensgeister kehrten zurück, am gestrigen Abend hatte sie nicht einen Bissen heruntergebracht. Vorsichtig bewegte sie die Finger ihrer rechten Hand, es funktionierte. Auch die Finger der Linken wurden nach und nach beweglich.

Um zehn Uhr war Victor vielleicht schon bei ihr, oder kam er früher? Um neun? Ihr Magen zog sich zusammen, sie spürte eine tiefe Sehnsucht nach ihm. Was gäbe sie darum, in diesem Augenblick seine Umarmung zu spüren.

Vom Flur her näherte sich ein Rattern, es konnte der Frühstückswagen sein. Lisa stützte sich auf ihren Ellenbogen und setzte sich langsam auf. Mit dem Rücken gegen das Kopfteil des Bettes gelehnt heftete sie den Blick auf die Zellentür, und plötzlich wurde ihr speiübel. Sie war tatsächlich hier, inhaftiert in einem Gefängnis, es war kein Traum, sondern bittere Wirklichkeit. Ihre Finger krampften sich in das Laken. Gleich würde der Schlüssel sich drehen und die Tür sich öffnen, und ein Bediensteter der JVA würde ihr das Frühstückstablett reichen. Mit einem Stöhnen verbarg sie den Kopf in ihren Händen.

Das Rattern wurde lauter, kurz darauf stoppte es. Wie paralysiert starrte sie auf das Schloss, fingerte ein Taschentuch aus der Seitentasche ihres Kleides und schnäuzte hinein. Plötzlich wurde ihr klar: Victor würde nicht kommen, nie mehr. Er war tot, und sie stand unter dem dringenden Verdacht, ihn umgebracht zu haben.

2. Kapitel

Bis dass der Tod euch scheidet. Dieser Satz galt in Deutschland schon lange nicht mehr, und aus diesem Grund hatte Florian Halstaff eine TV-Sendung zum Thema Späte Scheidungen geplant. Mit steigender Tendenz reichten Paare auch nach jahrzehntelanger Ehe die Scheidung ein, betroffen waren nicht nur prominente Politiker, Schauspieler oder Sänger, sondern ganz normale Menschen. Anlass genug, darüber eine Sendung zu machen.

Florian, normalerweise gut gelaunt und voller Elan, hatte heute einen schlechten Tag. Er lehnte sich frustriert in seinem Bürostuhl zurück und sah, ohne sie wirklich wahrzunehmen, aus dem Fenster in die herbstlich gefärbten Wipfel der Bäume auf der gegenüberliegenden Seite des Hansarings, die sich leicht im Wind wiegten, und spielte mit einem Kugelschreiber, den er zwischen beiden Händen hin und her drehte. Die gestrige Sendung hätte ein voller Erfolg werden können, davon war er überzeugt, aber es hatte ein Quotendesaster gegeben. Sie hatten nur 10,2% Marktanteil statt der durchschnittlichen 16% erzielt, und er machte sich Vorwürfe. Der Chef der journalistischen Unterhaltung beim Sender hatte ihn, seine Chefin Regine Liebermann und Curt Kasten, den Redaktionsleiter, am Nachmittag zu sich bestellt, und Florian wurde flau in der Magengegend, wenn er nur an das Gespräch dachte. Curt, sein direkter Vorgesetzter, würde Regine wahrscheinlich in diesem Moment mit Kritik an seinen redaktionellen Fähigkeiten in den Ohren liegen, und er gestand sich ein, dass er dieses eine Mal alles Recht der Welt dazu hatte. Die Art und Weise jedoch, wie er ihn am Morgen in der Redaktionsküche zurechtgewiesen hatte, war unerträglich gewesen. Er war laut geworden und hatte ihn als unfähigsten Redakteur von Profi Entertainment bezeichnet, und nachdem Curt in sein Büro gerauscht war, hatte Patricia, die Sekretärin, ihm mitleidvoll ein paar Kekse angeboten. Immerhin hatte er da wieder gelacht.

Vor Barrick jedoch würden sie an einem Strang ziehen und versuchen, stichhaltige Gründe für den miserablen Marktanteil ins Feld zu führen. Sie würden den Quotenverlauf analysieren und den Misserfolg der Sendung auf das starke Gegenprogramm schieben, außerdem würden sie darauf hinweisen, dass es völlig unvorhersehbar war, dass der stärkste Talkgast, Lisa Spangenberg, nicht zur Sendung erschienen war und sie würden dies als großes Pech bezeichnen. Regine, Curt und er würden als Einheit auftreten, doch er würde sich fühlen wie ein Falschmünzer, ein zu Unrecht vor dem Auftraggeber Geschützter, und Curt würde nur deswegen gute Miene zum bösen Spiel machen, weil die Chefin es so erwartete. Ihnen allen war klar, dass Florian versagt hatte, doch sie würden dem Sender gegenüber kein Wort darüber verlieren. Zu viel stand für Profi Entertainment auf dem Spiel. Außerdem würden sie Barrick versichern, dass der nächste Diens-Talk wieder normale Werte, vielleicht sogar eine Spitzenquote erzielen würde.

Florian biss sich auf die Lippen. Der Gedanke, welche Konsequenz die missratene Sendung für ihn innerhalb der Redaktion haben konnte, bereitete ihm Unbehagen, und so schob er ihn rasch wieder beiseite.

Warum war Lisa Spangenberg nicht erschienen? Es war unerklärlich. Die Frau, auf die er so große Hoffnung gesetzt hatte, weil sie so charmant wie intelligent über die Gründe reden konnte, weshalb sie nach mehr als 30-jähriger Ehe die Scheidung eingereicht hatte. Beim Casting hatte sie sich selbstsicher und sympathisch gegeben, sie war redegewandt, sogar humorvoll aufgetreten, und er würde noch jetzt darauf schwören, dass die Fernsehzuschauer gestern an ihren Lippen gehangen hätten, wenn sie denn erschienen wäre. Vor laufender Kamera sollte sie wortreich darüber berichten, wie Frust und Langeweile in ihr Eheleben Einzug gehalten hatten, ein schleichender Prozess.

Er dachte daran, dass die 72-Jährige eine saubere Trennung, eine Scheidung ohne den üblichen Rosenkrieg wollte, und sie und ihr Mann schienen tatsächlich fair und freundschaftlich miteinander umzugehen. Florian hatte Victor Spangenberg nicht kennengelernt, was er bedauerte, doch es gab keinen Grund, an Lisas Ausführungen zu zweifeln. Sie war wirtschaftlich unabhängig, als pensionierte Lehrerin bezog sie eine ansehnliche Rente, und so würde sie ihrem Mann nach der Scheidung keine finanziellen Probleme bereiten. Optimale Voraussetzungen. Er sah sie vor sich, hochgewachsen, mit ihrem grauschwarzen halblangen Haar und den wallenden langen Kleidern, die ihr trotz ihres Alters eine feminine Ausstrahlung verliehen. Ihm gefiel, dass sie im Herbstsemester mit einem Studium der Kunstgeschichte beginnen wollte.

Florian rollte mit den Schultern, um einer spürbaren Verspannung entgegenzuwirken, und legte den Kugelschreiber zurück auf den Schreibtisch. Sie hatte so klar und eindeutig auf ihn gewirkt, so verlässlich, aber warum war sie gestern nicht zur Sendung erschienen?

Hatte er sich derart in ihr getäuscht? Oder, ihm stockte für einen Moment der Atem, war sie etwa dement und hatte den Sendetermin schlichtweg vergessen?

Er verschränkte die Arme hinter seinem Kopf. Durch das geöffnete Fenster drang lautes Hupen in sein Büro. Ein Autofahrer schien bei der Ampelumschaltung von Rot auf Grün nicht schnell genug Gas gegeben und damit andere Fahrer verärgert zu haben.

So etwas wie gestern war ihm in den Jahren, in denen er für Profi Entertainment arbeitete, noch nicht passiert, und es hätte ihm auch nicht passieren dürfen. Die anderen zwei Talkgäste waren zu wenig reflektiert gewesen, und er hätte dies alles bereits beim Casting bemerken müssen. In Kombination mit Lisa Spangenberg hätten sie vermutlich gut funktioniert, aber man sollte sich nie auf einen einzigen Talkgast als Zugpferd verlassen. Jörn Carlo, dem Moderator, war es nicht gelungen, sie aus der Reserve zu locken, obwohl er sich redlich Mühe gegeben hatte, dem Gespräch eine spannende, vielleicht sogar böse Note zu geben, die dem Ganzen Kraft verliehen hätte. Stattdessen hatte er zunehmend genervt auf die Gäste reagiert, und nach der Sendung war er sauer auf die Redaktion gewesen, vor allem natürlich auf ihn. Florian schloss für einen Moment die Augen. Er hatte als verantwortlicher Redakteur in wesentlichen Aspekten versagt, daran gab es keinen Zweifel.

Seine Gedanken wanderten zum Thema der Sendung Späte Scheidungen, und wie schon oft in letzter Zeit fragte er sich, ob die Ehe nichts weiter war als eine unzeitgemäße Form der Partnerschaft, doch auch heute fand er keine eindeutige Antwort darauf. Warum heirateten Menschen, und warum trennten sie sich wieder? Bei ihrem ersten Treffen hatte Lisa Spangenberg ihm erzählt, dass sie und ihr Mann in den letzten Jahren nur noch wenig miteinander geredet hätten, oder besser gesagt, dass sie zwar miteinander geredet, aber sich nicht mehr viel zu sagen gehabt hätten, vor allem Victor habe sich ihr entzogen, behauptete sie. Außerdem habe er im Laufe der Jahre immer weniger auf sein Äußeres geachtet und jede Bitte, etwas daran zu ändern, habe Anlass zu Streitigkeiten gegeben. Mit 72 Jahren fühle sie sich jedoch längst noch nicht zu alt, um einen Mann zu begehren, hatte sie erklärt, doch wenn die Voraussetzungen dafür fehlten, habe die Liebe keine Chance. Sie hatte hinzugefügt, dass die meisten Männer von ihren Frauen doch auch erwarteten, dass sie sich ansehnlich kleideten und bis ins hohe Alter attraktiv blieben, und dann hatte sie den Kopf in den Nacken geworfen und ihn mit einem Augenzwinkern bedacht. Das Leben sei mit 72 längst nicht vorbei, hatte sie gesagt, und sie könne sich nur schwer vorstellen, die letzten Lebensjahre ohne Spannung zu verbringen. »Wie heißt es so schön?«, hatte sie gefragt. »Lieber allein als gemeinsam einsam?«

Irgendwann hatte sie wissen wollen, ob er auch verheiratet sei, und er erzählte ihr, dass er eine Freundin hatte, die wie er bei Profi Entertainment arbeite, jedoch nicht in der Redaktion, sondern als EDV-Profi. Lisa Spangenberg hatte gelacht. »Denken Sie daran, nichts ist schlimmer für eine Frau als ein Mann, der im Laufe der Jahre keinen Wert mehr auf sein Äußeres legt und sich zu wenig für sie interessiert. Wenn Sie mit Ihrer Jana alt werden wollen, sollten Sie nicht müde werden, sich um sie zu bemühen.«

Das war eine Binsenweisheit, und Florian weigerte sich, etwas darauf zu erwidern.

»Wann haben Sie aufgehört, Ihren Mann zu lieben?«, hatte er stattdessen wissen wollen.

Sie knetete ihre langen Finger und blinzelte ihn an: »Im Grunde liebe ich ihn immer noch.«

»Und trotzdem wollen Sie sich von ihm trennen?«, fragte er erstaunt.

Sie nickte. »Victor respektiert meinen Scheidungswunsch.«

»Liebt er Sie denn noch?«

»Ich glaube schon.«

Florian sah Lisa Spangenberg wieder vor sich, die plötzlich gebeugten Schultern, ihre mit einem Mal fahl wirkende Haut, und er zuckte leicht zusammen, als es an seiner Bürotür klopfte. Vor ihm stand Regine Liebermann, seine Chefin. Sie trug ein dunkelblaues Kostüm, dazu eine helle Seidenbluse und Schuhe mit hohem Absatz. Zu ihrem blonden Haar kontrastierte Blau perfekt. Sie hatte Frust in den Augen und machte diese eine Bewegung, die er schon oft an ihr gesehen hatte, wenn sie mutlos war und voller Sorge um die Zukunft ihrer Sendereihe. Regine legte die Hand an die Stirn und verdeckte damit das halbe Gesicht. Es war eine Geste, die ihn seltsam berührte.

»Ich bin nicht hier, weil ich nochmal mit dir über das Resultat des gestrigen Abends reden will, das haben wir bereits ausgiebig getan. Ich würde gern wissen, warum dein Talk-Gast nicht erschienen ist«, sagte sie.

»Ich habe keine Ahnung. Ich habe versucht, Lisa Spangenberg zu erreichen, habe sie aber unter keiner der Nummern, die ich von ihr habe, erwischt.« Florian zuckte mit den Schultern. »Vielleicht hatte sie einen Unfall und liegt im Krankenhaus.«

»Hast du es recherchiert?«

»Na klar, aber ich bin nicht mit ihr verwandt und habe daher keine Auskunft erhalten.« Die Vorstellung, dass Lisa Spangenberg etwas zugestoßen war, beunruhigte ihn, und er fragte sich, warum ihm ihr Schicksal so naheging.

Er bemerkte, dass seine Chefin ihn beobachtete, und ihr Blick war ihm unangenehm.

»Vielleicht haben sie und ihr Mann sich neu gefunden und feiern ihre Wiedervereinigung jetzt in der Suite eines Luxushotels mit Blick auf den Dom, in Griffnähe ein Fläschchen Schampus«, sagte Regine spöttisch und warf einen Blick auf die Uhr.

Die Vorstellung, dass Lisa Spangenberg ihn hatte sitzen lassen, weil sie es vorzog, sich in die Arme ihres Mannes zu schmiegen, gefiel ihm trotz allem.

»Florian?«

»Ja?«

»Ich hatte mir mehr von dir erhofft.«

Da war sie wieder, die bekannte Geste. Er starrte auf Regines Hand und spürte, wie ihre Worte ihm einen Stich versetzten. Galt ihre Bemerkung grundsätzlich oder bezog sie sich nur auf die gestrige Sendung?

»Willst du mir kündigen?«, fragte er.

Regine zögerte einen Moment. »So weit sind wir noch lange nicht, aber ich hoffe, du weißt, dass du dich demnächst ins Zeug legen musst. Vielleicht solltest du nach der nächsten Sendung ein paar Tage Urlaub nehmen, es könnte dir gut tun, ein wenig auszuspannen. Wann warst du das letzte Mal weg?«

»Ist bestimmt schon ein Jahr her.« Florian überlegte, ob Regine ihn aus Barricks und Curts Schusslinie nehmen wollte, bis die Wogen sich wieder geglättet hatten. Vielleicht meinte sie es einfach nur gut mit ihm. Wenn Katja, Curts Lieblingsredakteurin, sich nicht vor zwei Tagen krankgemeldet hätte, hätte sie ihn vermutlich aufgefordert, sofort Urlaub zu nehmen, aber so brauchte Curt seine Unterstützung.

Regines Hand lag bereits auf der Türklinke, als sie sich überraschend noch einmal zu ihm umdrehte.

»Wenn wir nachher zu Barrick gehen, wäre es schön, wenn du den Grund kennen würdest, warum Lisa Spangenberg nicht erschienen ist. Wir sollten es erklären können.«

Er nickte. Ihm war selbst daran gelegen, es herauszufinden, und er wusste, unter welchem Druck seine Chefin stand.

»Florian?«

»Ja?«

»Mit der nächsten Sendung über Kölner Helden hast du Gelegenheit, das Desaster von gestern auszubügeln. Ich gehe davon aus, dass du gut mit Curt zusammenarbeiten wirst.«

»Selbstverständlich.« Florian schluckte. Jana gegenüber bezeichnete er den Redaktionsleiter als seine Achillesferse, und wenn in der Firma jemand ahnte, wie schwierig es für ihn war, Curt als Nachfolger seines ermordeten Freundes Max zu akzeptieren, dann war es Regine. Sie lächelte ihm aufmunternd zu, und schon war sie durch die Tür.

Er blieb einen Moment reglos sitzen, dann öffnete er die Schreibtischschublade, griff hinein und schob sich ein Stück Schokolade in den Mund, kurz darauf noch eins, mechanisch und ohne nachzudenken. Beim dritten Griff nach der Tafel dachte er daran, wie Lisa sich mit Blick auf männliche Nachlässigkeiten geäußert hatte, und Jana erschien vor seinem inneren Auge. Bislang hatte sie kein einziges Wort über seinen Bauch verloren, vielleicht würde sich das ändern, wenn sie verheiratet wären. Er stutzte, bei dem Gedanken an Heirat regten sich in ihm plötzlich Zweifel, ob Jana überhaupt Ja sagen würde, wenn er sie tatsächlich eines Tages fragen sollte.

Rigoros schob er die Schublade zu und griff zum Telefonhörer.

Sein Freund und Kollege Eddie Klump, Boulevardjournalist bei der Tageszeitung Kölner Blick, hob bereits nach dem zweiten Klingelton ab, was ungewöhnlich war, normalerweise landeten alle Anrufer erst einmal auf seiner Mailbox.

Jetzt, da Florian ihn direkt in der Leitung hatte, fiel ihm das Reden auf einmal schwer. Obwohl sie durchaus vertraut miteinander waren, lebte ihre Freundschaft vor allem vom kumpelhaften Schlagabtausch und journalistischen Debatten und war unterschwellig immer auch eine Spur konkurrenzorientiert. Die privaten Angelegenheiten, ihre Gefühle für ihre Freundinnen, Mütter oder Väter blieben eher unbesprochen.

Um es rasch hinter sich zu bringen, fasste Florian das Quotendesaster in knappen Worten zusammen, dann kam er ohne Umschweife zum Grund seines Anrufs: »Steht ihr euch beim Kölner Blick immer noch gut mit der Kripo?«

»Ja, warum fragst du?«

»Mich interessiert, ob ihr gestern oder heute eine Meldung hereinbekommen habt, in der ein bestimmter Name auftaucht.«

»Wonach soll ich suchen?«

»Nach dem Namen Spangenberg, Lisa Spangenberg.«

»Moment«, sagte Eddie bereitwillig. »Irgendetwas klingelt da bei mir, ich schau mal kurz im System nach. Montagmorgen war ein Kollege von mir im Kölner Süden und hat Fotos von einer Leiche geschossen, in einem Kleingartenverein. Ich meine, den Namen Spangenberg in diesem Zusammenhang gehört zu haben.«

Florian stockte der Atem.

Er dachte an das Casting mit Lisa in ihrer Gartenlaube, einem roten Holzhaus mit weißen Fensterläden auf einem überschaubaren Gartengrundstück, das ihn an Astrid Lindgren und die Kinder von Bullerbü erinnert hatte. »Mögen Sie Pflaumenkuchen?«, hatte sie ihn gefragt und dabei auf einen Baum gedeutet, der unmittelbar am Zaun stand und voll grüner Früchte hing.

»Ich liebe ihn.«

Lisa Spangenberg hatte gelacht. »Dann sind Sie hiermit eingeladen. Ich melde mich, wenn die Pflaumen reif sind.«

Eddies Stimme holte ihn in die Gegenwart zurück. »Es handelt sich um eine Männerleiche, der Mann wurde von einem Laubennachbarn in einem Kleingartenverein an der Grüngürtelstraße gefunden.«

»Weißt du, wie er heißt?«

»Augenblick.« Durch das Telefon war das Hacken von Eddies Fingern auf der Computertastatur zu hören, und während er Dokumente anklickte, überflog und wieder schloss, verspürte Florian beim Blick auf die buntgefärbten Blätter vor seinem Fenster eine schmerzhafte Sehnsucht nach dem Sommer. Der Frühherbst hatte ihnen in der vergangenen Woche zwar noch einige warme Tage beschert, aber die Sonne besaß keine Kraft mehr, und vor allem frühmorgens, wenn er Brötchen holte, war die Luft schon so kühl, dass er ohne Jacke nicht mehr die Wohnung verließ. Bald würde er Schal und Handschuhe benötigen.

»Hier«, sagte Eddie. »Da steht was.«

»Und?«

»Der Tote heißt Victor Spangenberg, 73 Jahre alt.«

»Das ist Lisa Spangenbergs Mann.«

»Sie steht unter dem Verdacht, ihn umgebracht zu haben.«

»Wie bitte?« Florian schüttelte den Kopf. »Niemals.«

»Die Kripo geht davon aus. Sie befindet sich in Untersuchungshaft.«

»Das ist absurd. Lisa Spangenberg ist keine Mörderin, da bin ich mir sicher. Überleg mal, sie ist 72.«

»Na und?« Eddie zögerte einen Moment, bevor er zu bedenken gab: »Du weißt nie, wer zu einem Mord fähig ist und wer nicht, das ist weder eine Frage des Alters noch des Aussehens, und ich zweifle auch, ob es eine Frage des Charakters ist. Aber eines steht fest, so ohne Weiteres kommt man nicht in Untersuchungshaft. Dringender Tatverdacht, Flucht- oder Verdunkelungsgefahr muss schon gegeben sein.«

»Ich weiß«, Florian schluckte. »Geht aus der Meldung auch die Todesursache hervor?«

»Nein, davon steht hier nichts, es war gestern noch nicht klar, woran er gestorben ist. Es besteht aber Vergiftungsverdacht.«

Florian dachte an Dr. Clemens Sinzig, mit dem er vor Jahren zu tun hatte. Er arbeitete in der Kölner Rechtsmedizin. Sein Scharfsinn und seine nikotinverfärbten Finger waren ihm in Erinnerung geblieben. Vielleicht obduzierte er genau in diesem Moment Lisas Mann.

»Und den Namen desjenigen, der den Toten gefunden hat, hast du den auch?«

»Ja. Er heißt Thorwald Grünental.«

»Grünental …«, wiederholte Florian langsam. Grünental … Er war sicher, diesen Namen schon einmal gehört zu haben.

3. Kapitel

Hermann Barrick, Chef der journalistischen Unterhaltung beim Sender, hielt ihnen eine Standpauke. Mit hochrotem Kopf polterte er los. Er führte ihnen drastisch vor Augen, dass ein weiteres Quotendesaster weder von ihm noch von der Programmdirektion hingenommen werden würde, sogar das Aus für Diens-Talk bedeuten konnte. Regine, Curt und Florian ließen seinen Zorn über sich ergehen, sie warfen sich Blicke zu, gaben ihm inhaltlich recht, wo er recht hatte, verwiesen auf das Schicksal, das ihnen eine mutmaßliche Mörderin als Talkgast in die Hände gespielt hatte, für deren Nicht-Erscheinen niemand verantwortlich gemacht werden konnte, und stellten ihm anschließend die Eckpfeiler der Folgesendung Kölner Helden vor, die Barrick sich, nachdem er sich beruhigt hatte, beinahe reglos präsentieren ließ.

»Wenn der nächste Diens-Talk nicht mindestens 17% Marktanteil erzielt, sind die Tage eurer Sendung gezählt.«

Mit diesen Worten beendete er das Meeting, und sie kehrten wortlos in ihr Büro am Hansaring zurück.

Curt übergab Florian einen USB Memory Stick und einen dicken Stapel ausgedruckter Unterlagen, Casting­sheets, in denen die Talk-Kandidaten der nächsten Sendung Kölner Helden stichwortartig porträtiert wurden. Er blätterte die ersten Seiten flüchtig durch. Ein Student hatte einen Foxterrier aus einem Abwasserkanal befreit; eine Rentnerin hatte einen Überfall auf einen Araber verhindert; und eine 15-Jährige hatte in einer spektakulären Tauchaktion ein Kleinkind gerettet, das von einer Rheinfähre ins Wasser gefallen war. Es gab noch mindestens weitere zehn Beispiele für Heldentaten. Florian seufzte und zog sich mit den Unterlagen in sein Zimmer zurück. Er würde sich alles genau durchlesen, dann die Videoaufnahmen der Castings ansehen und anschließend seine Beurteilungen verfassen. Curt hatte ihm außerdem den vorläufigen Programmablauf ausgehändigt und ihn aufgefordert, ihn noch am heutigen Tag zu überarbeiten.

Er wählte Janas Nummer und hinterließ auf ihrem Anrufbeantworter die Nachricht, dass es spät werden würde.

Noch immer ärgerte er sich über die Art und Weise, wie Curt ihm die Unterlagen übergeben hatte. Es hatte etwas Herablassendes in seinem Ton gelegen. Florian hatte die Zähne zusammengebissen, denn er kannte Curt lange genug, um zu wissen, wes Geistes Kind er war, und sich daran erinnert, dass er sich vor Ewigkeiten vorgenommen hatte, sich niemals von ihm provozieren lassen. Außerdem führte er sich seine positive Seiten vor Augen, er war arbeitsam und manchmal erstaunlich einfühlsam im Umgang mit den Kolleginnen, und er zwang sich, Curt zugutezuhalten, dass er sich bei dem nachmittäglichen Meeting mit Barrick ihm gegenüber äußerst fair verhalten hatte. Florian wusste zwar, dass diese Fairness sich hauptsächlich darauf zurückführen ließ, dass Curt sich nur an die von Regine aufgestellten Spielregeln hielt, aber immerhin, er hatte sich daran gehalten.

Florian fand es einigermaßen beruhigend, dass er im Laufe der letzten Jahre einige Quotenrenner produziert hatte, er besaß ein sicheres Gespür für starke Themen, was Regine zu schätzen wusste. Jetzt allerdings hatte er Curt eine Steilvorlage geliefert, und er musste davon ausgehen, dass er für die nächsten drei Sendungen nicht verantwortlich zeichnen würde. Curt würde sie an sich reißen.

Gegen 21 Uhr verließ Florian müde das Büro, er fühlte sich kraftlos und ging mit schweren Beinen zur Straßenbahn, die ihn in die Südstadt brachte. Der Waggon war voll, und wie so oft wunderte er sich darüber, dass selbst um diese Zeit noch so viele Menschen unterwegs waren. Am Chlodwigplatz stieg er aus, und auf dem Weg zu seiner Wohnung wehten ihm von irgendwoher leise Fetzen von Luiz Bonfás Manha da Carneval entgegen. Er mochte das Stück des brasilianischen Bossa-Nova-Musikers, und spontan kam die Vorfreude auf, gleich seine Musikanlage laut aufzudrehen. Ismael Lo könnte genau das Richtige sein. Keine Klassik heute.

Die Wohnungstür fiel hinter ihm ins Schloss. »Jana?« Keine Antwort. Zicke, seine orange-weiß gestreifte Katze, strich ihm humpelnd und miauend um die Beine, so als ob sie ihn bereits sehnsüchtig erwartet hätte. Sie folgte ihm durch den dämmrigen Flur in die Küche. Ihr rechtes Hinterbein war vor zwei Jahren bei einem Unfall schwer verletzt worden, und auch jetzt noch, als Florian sie streichelte, machte ihr Anblick ihn traurig. Der Gedanke allerdings, dass sie sich besser an den Verlust des Beins gewöhnt hatte als er, war tröstlich.

Er öffnete alle Fenster, legte eine CD des senegalesischen Musikers in den Player und ging zum Kühlschrank, der so laut brummte, dass er den Stecker herauszog und einen Moment wartete, bevor er ihn wieder in die Steckdose steckte. Das Geräusch war verschwunden.

Mit einem Kölsch in der Hand ließ er sich auf den Küchenstuhl fallen und leerte die Flasche in wenigen Zügen. Dann rülpste er laut. Jana war nicht da, und damit niemand, der ihn rügte. Er war zwar nach Etikette erzogen worden und beherrschte nicht nur die Umgangsformen und Tischsitten aus dem ff, aber hin und wieder benötigte er diese körperlichen Eruptionen, für ihn gleichermaßen Ausdruck tiefsten Wohlgefühls. Jana verstand das nicht, zumindest tat sie so.

Er streckte die Beine weit von sich und sah hinunter in den Hinterhof. Warum war sie nicht da?

Vor einigen Jahren hatte sie den Vorschlag gemacht, zusammenzuziehen, doch er hatte gezögert. Als er dann endlich Ja sagte, rückte sie zu seiner Überraschung und auch zu seinem Bedauern, wie er feststellte, von ihrer Idee ab. Er habe für die Entscheidung zu lange gebraucht, argumentierte sie. Letztendlich zog sie in die Wohnung gegenüber, und diese Lösung gefiel nicht nur ihr, sondern auch ihm. Es war ein Kompromiss, der die Möglichkeit bot, nah beieinander zu sein, und sie konnten jederzeit aufs Neue entscheiden, wie viel Nähe sie zulassen wollten. Eine ältere Nachbarin war pflegebedürftig geworden und ausgezogen, und Jana hatte die Dreizimmerwohnung ohne Maklercourtage übernehmen können. Florian griff zum Handy und wählte ihre Nummer. Sie nahm nicht ab.

Zicke miaute erneut, und er erinnerte sich daran, dass sie immer noch auf ihr Futter wartete. Rasch verteilte er ein Stückchen Thunfisch in ihrem Napf und überlegte, ob er sich etwas Pasta kochen sollte, auch ihm knurrte der Magen, aber er entschied sich dagegen. Allein würde ihm das Kochen keinen Spaß machen, außerdem war es spät geworden, gleich 22 Uhr, und etwas Brot und Käse taten es auch. Er seufzte, er würde gern mit Jana über Lisa Spangenberg sprechen. Erneut wählte er ihre Nummer, und diesmal nahm sie ab.

»Ich bin hungrig und ich habe Sehnsucht nach dir«, sagte er.

»Tut mir leid, ich habe Besuch.«

»Schade.« Er schwieg einen Moment und fragte sich, wer bei ihr war, aber er stellte ihr die Frage nicht. Wenn sie gewollt hätte, hätte sie den Namen nennen können. »Sehen wir uns morgen?«

»Weiß ich noch nicht. Vielleicht komme ich später noch zu dir rüber, zieh einfach den Schlüssel ab.«

Irgendwann in der Nacht hörte er, wie sie leise ins Zimmer kam, und kurz darauf roch er ihren Duft. Sie stand im Mondlicht, das in einem breiten Streifen ins Zimmer fiel, und er konnte erkennen, dass sie das Kleid mit den großen Punkten trug, das er so an ihr mochte. Sie streifte es über den Kopf, zog BH und Slip aus und dann schlüpfte sie zu ihm unter die Decke.

4. Kapitel

Der Donnerstag startete schlecht für Thorwald Grünental, einen hünenhaften Mann Anfang 60 mit braunen Haaren und dunkelblauem Siegelring, den er nie abzog, weil er ein Geschenk seines Großvaters war. In der Nacht hatten ihn Albträume heimgesucht, Bilder von Victor Spangenberg, die er nicht loswurde. Er hatte ihn vor sich gesehen, am Boden im eigenen Dreck liegend, einem Gemisch aus Erbrochenem, Scheiße und Urin, das Gesicht zur Grimasse verzerrt. Victor hatte eingerollt auf der Seite wie ein Embryo dagelegen, die Augen weit geöffnet, mit starrem, leerem Blick. Im Traum war dann Folgendes geschehen: Bei Victors Anblick hatte er sich wie eine Schlange gewunden, dann hatte er sich gehäutet, wieder und wieder, bis aus ihm ein grauenerweckendes Kunstwerk geworden war, ein Plastinat aus rohem Fleisch, wie die Objekte Gunther von Hagens’, und über allem hatte dieser Gestank gelegen. Es war entsetzlich gewesen, seine eigene Nacktheit quälend, die Ausdünstungen so Übelkeit erregend, dass er sich beinahe übergeben musste, als er schweißgebadet aufgewacht war. Mit zitternden Fingern hatte er nach dem Glas Wasser auf seinem Nachttisch gegriffen, und es hatte lange gedauert, bis er endlich wieder eingeschlafen war, doch dann hatte der Albtraum von Neuem begonnen. Diesmal murmelte Victor Obszönitäten, sie quollen aus seinem Mund wie dickflüssiges Sperma, das sich über ihn, der zu Victors Füßen saß, ergoss. Er hatte panisch nach einem roten Taschentuch gegriffen, einem lächerlichen Fetzen Stoff, um sich damit zu bedecken, doch das Tuch verflüssigte sich unter seinen Händen zu Blut, und schweißgebadet war er wieder aufgewacht. Keuchend knipste er die Nachtischlampe an. Er brauchte einen Moment, um sich zu beruhigen, und als er wieder wusste, wo er war, wandte er den Kopf. Neben ihm schlief Linda, mit der er seit 26 Jahren verheiratet war.

Thorwald betrachtete sie. Den Kopf hatte sie in ihre Armbeuge geschmiegt, ihre Beine lugten ein Stück unter der Decke hervor. Zärtlich strich er über ihr blondes Haar, dann setzte er sich auf, lehnte sich gegen das Kopfteil des Polsterbetts und versuchte, die dunklen Traumbilder endgültig zu verscheuchen. Er beruhigte sich, indem er sich sagte, dass er nichts zu befürchten hatte, es war alles vorbei, Victors Tod war nicht mehr als ein traumatisches Erlebnis, eine traurige Episode in seinem Leben. Er legte die Hand auf die Frau, die neben ihm lag, die Frau, mit der er durchs Leben ging, ihre Wärme war verlässlich und tröstete ihn. Sie war Realität, nur sie, alles andere waren Hirngespinste. Er atmete tief durch. Neben ihm lag der vertrauteste Mensch in seinem Leben, draußen schien der Mond, und er befand sich warm und sicher in seinem Bett.

Sie hatten beide in Köln studiert, und nach einer der vielen Campuspartys, die sie damals besuchten, war es passiert, sie war schwanger geworden. Als das zweite Kind unterwegs war, stand für Linda fest, dass sie heiraten würden. Er hatte von Anfang an Zweifel, ob es die richtige Entscheidung war, behielt die Bedenken aber für sich. Im Grunde war er sich in seinem Leben noch nie einer Sache, eines Menschen, einer Entscheidung 100-prozentig sicher gewesen, und wenn er heute noch einmal in die Situation von damals geriete, wüsste er es besser und sagte Nein. Die vergangenen Jahre hatten ihm ausreichend Möglichkeit gegeben, sich gut genug kennenzulernen, inzwischen wusste er, dass die Ehe für ihn nicht mehr als ein boulevardeskes Theaterstück war. Er hatte Linda oft angelogen, aber er hatte mit ihr den Alltag geteilt und damit eine Wirklichkeit erschaffen, an der sie beide festhielten und die dennoch unwahr war. Seit Jahren trieb er ein doppelbödiges Spiel, und das Verrückte war, er hatte verschiedene Wahrheiten in jeder einzelnen der ausgelebten Facetten wiedergefunden. Thorwald Grünental starrte gegen die Wand, an der ein vergrößertes Foto von ihrer Hochzeitsreise hing. Sie beide vor einem Schloss an der Rhône, auf diesen für Frankreich so typischen Eisenstühlen im Park sitzend. Immerhin hatte er nie Probleme mit seinen Gefühlen gehabt, der Sturz in emotionale Abgründe war ihm fremd geblieben. Manchmal war es zwar etwas kompliziert gewesen, das Organisatorische zu regeln, aber es war ihm gelungen, kein Misstrauen bei Linda zu wecken.

Als sein Atem wieder ganz und gar regelmäßig geworden war, ging er leise hinüber ins Bad, um sich den Schweiß abzuwaschen.

5. Kapitel

Nach einem Frühstück mit frischen Croissants und einem großen Milchkaffee fuhren Florian und Jana mit der Bahn ins Büro. Sie saß ihm gegenüber, überließ sich den ruckenden Fahrbewegungen und lächelte ihn satt und zufrieden an. Florian lächelte zurück. Nachdem sie zu ihm ins Bett geschlüpft war, hatte sie sich an ihn geschmiegt, und sie hatten sich wortlos geliebt. Er dachte, wie schön sie heute Morgen war.

In seinem PC fand Florian eine Nachricht von Curt, der mit ihm über die Arbeit des gestrigen Abends reden wollte, jedoch erst am späten Nachmittag, und so begann er damit, das Moderationsbuch für die nächste Sendung zu skizzieren. Die endgültige Version würde ein professioneller Autor verfassen.

In der Mittagspause machte er sich auf den Weg in die Rechtsmedizin. Dr. Clemens Sinzig schien keine Pausen zu kennen, er war wie immer bei der Arbeit. Als er aufblickte und Florian in der Tür zum Obduktionssaal stehen sah, spiegelte sich Freude in seinem Gesicht.

»Sind Sie es oder sind Sie es nicht?« Überrascht kam er auf ihn zu, das Obduktionsbesteck, an dem Blut und undefinierbare Gewebepartikel klebten, noch in der Hand.

»Kommen Sie, wir setzen uns einen Moment. Was führt Sie zu mir?« Mit diesen Worten warf er die Instrumente in eine Schale mit Sterilisationsflüssigkeit und streifte sich die Latexhandschuhe ab. Dann geleitete er Florian zu einem länglichen Tisch an der Wand und zog zwei Metallstühle mit Kunststoffsitzflächen heran. Florian nahm Platz, der Geruch im Raum war gewöhnungsbedürftig und rief unangenehme Erinnerungen in ihm wach: Blut und einsetzende Verwesung, dumpf und süßlich. Zum ersten Mal hatte er dieses Gemisch wahrgenommen, als er wegen seines besten Freundes Max in der Rechtsmedizin gewesen war, dann war ihm der Geruch auch noch in weit ausgeprägterer Form im Schlachthaus begegnet, wo er sich über die Arbeitsbedingungen von osteuropäischen Leiharbeitern in Deutschland informiert hatte.

»Gut schauen Sie aus«, sagte der Rechtsmediziner und klopfte ihm auf die Schulter wie einem guten alten Bekannten. »Wie wäre es mit einem Kaffee?«

Florian nickte, und Dr. Sinzig griff zum Telefonhörer, er bat die Sekretärin, ihnen zwei Becher zu bringen.

»Mit Milch?«

»Gern.«

»Ich trinke ihn immer noch schwarz, macht angeblich schön«, sagte er und gab der Sekretärin ihre Wünsche durch.

»Sie aber auch«, sagte Florian.

»Was?«

»Sie sehen auch gut aus«, erklärte er.

Der Rechtsmediziner grinste. »Sie lügen.«

»Nie.«

Sie lachten. Beide wussten, dass Florian ihn damals nach Strich und Faden belogen hatte, letztendlich hatte das die polizeilichen Ermittlungen rund um Max’ Tod auf die entscheidende Spur gebracht. Florian dachte, wenn er jetzt wieder log, so war es nicht mehr als eine Höflichkeitslüge, und die wog nicht schwer. Vielleicht würde das kleine Kompliment den Rechtsmediziner sogar gesprächsbereit stimmen. Er scannte Dr. Sinzigs Äußeres mit einem raschen Blick. Die Wahrheit war, dass seine Haut noch grauer und die Haare noch strähniger wirkten als vor drei Jahren. Florian vermutete, dass er inzwischen auch noch ausgiebiger dem Alkohol frönte, aber Sinzig war ein fähiger Mann, und er war sicher, dass sich zumindest an seiner Kompetenz nichts geändert hatte.

»Sagt Ihnen der Name Victor Spangenberg etwas?«, fragte er.

»Ja. Ich wusste doch, dass Sie nicht nur auf ein privates Plauderstündchen aus sind.« Der Rechtsmediziner lachte. »Ich habe den Mann obduziert, Sie sind leider zu spät, wir haben ihn vor wenigen Minuten zurück ins Kühlfach geschoben. Beinahe wären Sie in den Genuss des Anblicks einer schönen Leiche gekommen.«

Florian zog die Augenbrauen in die Höhe. »Tatsächlich?«

»Ein attraktiver Mann, mit 73 Jahren, bis auf einen winzigen Bauch, gut in Form.«

Hatte Lisa nicht gesagt, er habe sich gehen lassen? Oder bezog sich diese Äußerung nur auf Victors Kleidung? »Wirklich schade, dass ich ihn verpasst habe.« Tatsächlich war Florian froh, dass ihm der Anblick erspart geblieben war. »Können Sie mir etwas über die Todesursache sagen?« Er erklärte Sinzig, warum er sich für den Toten interessierte. Er erzählte ihm, dass seine Frau in U-Haft saß, was der Rechtsmediziner bereits wusste, und dass er sich nicht vorstellen konnte, dass sie ihren Mann umgebracht hatte, sich aber selbst ein Bild machen und eins und eins zusammenzählen wollte. Der Rechtsmediziner hörte aufmerksam zu, reagierte jedoch zurückhaltend: »Sie wissen, dass ich Ihnen über Obduktionsergebnisse keine Auskunft geben darf.«

Florian nickte.

»Lassen Sie uns also besser über etwas anderes reden.«

»Woran ist Victor Spangenberg gestorben?«

Der Rechtsmediziner betrachtete ihn belustigt. »Ganz der Alte, was? Hartnäckig wie immer. Fragen Sie mich doch einmal, auf welche Art Frauen am häufigsten töten.«

Florian starrte ihn an und gab selbst die Antwort. »Sie greifen zu Gift.«

»Na also.« Der Rechtsmediziner nickte, und Florian nahm dies zum Anlass, weitere Fragen zu stellen. »Womit? Ich meine, welches Gift verwenden sie am häufigsten?«

»Kann man so nicht sagen, es gibt viele Möglichkeiten. Arsen, Belladonna, Nahrungsmittelgifte wie zum Beispiel das in Bittermandeln vorkommende Amygdalin, um nur einige zu nennen.«

Florian überlegte einen Moment. »Könnten Sie nicht etwas konkreter werden?«

Dr. Sinzig grinste, sagte aber nichts. Nach einem Moment startete Florian einen erneuten Versuch: »Gut, gehen wir noch einmal einen Schritt zurück. Nehmen wir an, ich bereite eine Sendung über Vergiftungen vor und hätte Sie gern als Experten dabei. Was würden Sie mir antworten, wenn ich Sie fragen würde, welche tödlichen Vergiftungen in unseren Gefilden am häufigsten vorkommen? Eine ganz allgemeine Frage.«

»Die ich problemlos beantworten kann. Alkohol- und Medikamentenvergiftungen führen häufig zum Tod, in Deutschland zählen wir etwa 75.000 alkoholbedingte Todesfälle pro Jahr.«

»Das ist viel.«

»Sie sagen es.«

»Victor Spangenberg ist aber nicht an einer Alkoholvergiftung oder einer Medikamentenvergiftung gestorben?«

Dr. Sinzig strich sich über sein Kinn, das sich heute ausnahmsweise einmal glatt anfühlte, er war früh aufgestanden und hatte Zeit für eine Rasur gefunden. Die Obduktionsergebnisse würden spätestens in zwei Tagen im Kölner Blick zu lesen sein, und im Grunde seines Herzens hatte er nichts dagegen einzuwenden, Florian weiterzuhelfen. Der Journalist hatte ihm vor einigen Jahren, als sein Freund Max ermordet worden war, als Experte bei Diens-Talk zu erheblicher Popularität verholfen, die über die Grenzen Kölns hinaus ihre Kreise gezogen und auch das Image des Instituts verbessert hatte. Mittlerweile verdiente er sich mit gut bezahlten Vorträgen ein ansehnliches Honorar dazu, in gewisser Weise schuldete er ihm also einen kleinen Gefallen.

Er beugte sich vor und sagte mit leiser Stimme: »Einverstanden, lassen wir das Schleichen um den heißen Brei, aber bitte behalten Sie, was ich Ihnen jetzt mitteile, noch ein paar Tage für sich. Solange, bis die Kripo dazu eine Pressemeldung verschickt.«

Florian spürte, wie eine Gänsehaut seinen Körper hochkroch, was allerdings nicht nur an seiner Erregung, sondern auch der kühlen Raumtemperatur lag. »Selbstverständlich.«

Die Sekretärin schwebte in den Raum und drückte jedem von ihnen einen Becher mit dampfendem Kaffee in die Hand. Sie blickten ihr hinterher, bis sie den Raum wieder verlassen hatte, und nickten sich einvernehmlich zu. Sie hatte schöne Beine. Florian nahm einige Schlucke von dem heißen Getränk und sah Dr. Sinzig über den Becherrand hinweg erwartungsvoll an.

»Victor Spangenberg starb an einer Pilzvergiftung. Schuld an seinem Tod waren Knollenblätterpilze, die unter Champignons gemischt und gedünstet, vermutlich als Auflauf serviert wurden.«

»Das hört sich nicht unbedingt nach einem Mordfall an«, erwiderte Florian sofort.

»Nein, Sie haben recht, es könnte auch ein furchtbares Versehen gewesen sein. Aber ohne ernstzunehmenden Verdacht locht die Kripo niemanden ein.«

Das habe ich heute schon einmal gehört, dachte Florian. Er betrachtete den Rechtsmediziner, der sich in seinem Stuhl zurücklehnte und auf seine Armbanduhr blickte. Die Uhr war kein teures Modell, sie sah aus wie eine Miniaturbahnhofsuhr, aber dass Sinzig so etwas trug, machte ihm den Träger nur sympathischer. Vielleicht hatte er dazu passend eine Spielzeugeisenbahn im Keller.

Pilzvergiftung.

Er fragte sich, welches die Verdachtsmomente waren, die ausreichten, um die Frau in U-Haft zu bringen. Was warf die Kripo ihr konkret vor?

»Ging es schnell?«, wollte er wissen.

»Sie meinen Victors Ende?«

»Ja.«

»Nun, das Vergiftungsbild zeigt einen Verlauf, der sich in verschiedene Phasen gliedern lässt«, erklärte Dr. Sinzig und holte aus: »Eine beschwerdefreie Zeit von bis zu 24 Stunden ist keine Seltenheit, doch dann treten Brechdurchfälle und krampfartige Bauchschmerzen auf. Ab dem zweiten Tag folgt die Phase der Leberschädigung, und in Folge kommt es häufig zu Leber- und Nierenversagen.«

»Das hört sich übel an.«

»Ja, der Tod ist qualvoll.« Der Rechtsmediziner beobachtete ihn. »Vermutlich ist er in der Nacht von Dienstag auf Mittwoch eingetreten, zwischen ein und drei Uhr morgens, was bedeutet, dass er die Pilze aller Wahrscheinlichkeit nach 28 bis 30 Stunden vorher gegessen haben muss, errechnet aus 24 Stunden Beschwerdefreiheit und vier bis sechs Stunden massiver Übelkeit mit Erbrechen, bis der Tod eintrat. Vermutlich hat er die Pilze also Montagabend gegessen. Bis dieser Laubennachbar ihn fand, hat er ungefähr sechs Stunden tot in seiner Hütte gelegen. Diesen Rückschluss kann ich aus verschiedenen Analysemethoden ziehen.«

»Interessant …«

Dr. Sinzig nickte. »Wir untersuchen diverse Zersetzungsvorgänge. Beispiel Totenstarre. Sie bildet sich 24 bis spätestens 48 Stunden post mortem zurück, der Körper wird wieder beweglich. Als Victor Spangenberg Mittwoch früh gegen neun Uhr von seinem Laubennachbarn gefunden wurde, war er bei der ersten manuellen Untersuchung noch stocksteif, im Labor haben wir dann weiterführende Gewebsanalysen in die Wege geleitet. Auch anhand von Material aus dem Auge lässt sich der Todeszeitpunkt recht genau bestimmen. Wir entnehmen dazu Proben aus dem sogenannten Glaskörper, der sich zwischen Linse und Netzhaut befindet. Die Analyse der einzelnen Bestandteile dieser gelartigen Substanz gibt uns die Informationen, die wir benötigen.«

Der Rechtsmediziner betrachtete Florian aufmerksam. »Sie sind auf einmal so blass.« Er erhob sich, ging hinüber zum Wandschrank, der sich in der Ecke des Raumes befand, holte eine Flasche und zwei Cognacgläser daraus hervor und stellte die Gläser entschieden auf den Tisch. Mit Kennerblick schenkte er ein. »Bitte greifen Sie zu.«