Analytische Sozialpsychologie - Erich Fromm - E-Book

Analytische Sozialpsychologie E-Book

Erich Fromm

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Beschreibung

Um seinen sozial-psychoanalytischen Ansatz zu fundieren, entwickelte Erich Fromm das Konzept des „sozial-typischen Charakters“, das er später unter dem Begriff des „Gesellschafts-Charakters“ der Öffentlichkeit vorstellte. Die in diesem Band versammelten Beiträge zur Analytischen Sozialpsychologie zeigen die Fruchtbarkeit dieses Konzepts in unterschiedlichen Anwendungsbereichen. So enthält der Band Fromms 1936 formulierte Theorie des autoritären Charakters sowie erhellende Überlegungen zu der Frage, wie sich Kulturentwicklung sozialpsychologisch verstehen lässt. Insbesondere aber zeigen die Beiträge, wie sich das Konzept des Gesellschafts-Charakters für die empirische Sozialforschung fruchtbar machen lässt. Aus dem Inhalt – Psychoanalyse und Soziologie – Der Staat als Erzieher. Zur Psychologie der Strafjustiz – Politik und Psychoanalyse – Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil – Autorität und Familie. Geschichte und Methoden der Erhebungen – Die Arbeiter- und Angestelltenerhebung – Fragen zum deutschen Charakter – Über psychoanalytische Charakterkunde und ihre Anwendung zum Verständnis der Kultur – Zum Problem Psychologie und historischer Materialismus – Die autoritäre Persönlichkeit – Der Einfluss gesellschaftlicher Faktoren auf die Entwicklung des Kindes

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Seitenzahl: 282

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Analytische Sozialpsychologie

Erich Fromm(2016a)

Als E-Book herausgegeben und kommentiert von Rainer Funk[1]

Erstveröffentlichung als E-Book 2016 unter dem Titel Analytische Sozialpsychologie in der Edition Erich Fromm bei Open Publishing, München. Die einzelnen Beiträge dieses E-Book-Sammelbandes sind in Printform in der 1999 veröffentlichten Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) enthalten.

Die E-Book-Ausgabe der einzelnen Beiträge dieses Sammelbandes orientiert sich an den von Rainer Funk herausgegebenen und kommentierten Textfassungen in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden, München (Deutsche Verlags-Anstalt und Deutscher Taschenbuch Verlag) 1999.

Die Zahlen in [eckigen Klammern] geben die Seitenwechsel in der Erich Fromm Gesamtausgabe in zwölf Bänden wieder.

Copyright © als E-Book 2016 by The Estate of Erich Fromm. Copyright © Edition Erich Fromm 2016 by Rainer Funk.

Inhalt

Analytische Sozialpsychologie

Psychoanalyse und Soziologie

Der Staat als Erzieher. Zur Psychologie der Strafjustiz

Politik und Psychoanalyse

Studien über Autorität und Familie. Sozialpsychologischer Teil

1. Einleitung: Mannigfaltigkeit der Erscheinungen

2. Autorität und Über-Ich. Die Rolle der Familie bei ihrer Entwicklung

3. Autorität und Verdrängung

4. Der autoritär-masochistische Charakter

Autorität und Familie. Geschichte und Methoden der Erhebungen

Die Arbeiter- und Angestellten-Erhebung

1. Das Ziel der Erhebung

2. Der Fragebogen

3. Einige Ergebnisse

Fragen zum deutschen Charakter

Über psychoanalytische Charakterkunde und ihre Anwendung zum Verständnis der Kultur

Zum Problem Psychologie und historischer Materialismus

Die autoritäre Persönlichkeit

Der Einfluss gesellschaftlicher Faktoren auf die Entwicklung des Kindes

Literaturverzeichnis

Der Autor

Der Herausgeber

Impressum

Psychoanalyse und Soziologie

(1929a)[2]

Das Problem der Beziehungen zwischen Psychoanalyse und Soziologie[3], über das ich im Rahmen der Kurse dieses Instituts zu sprechen haben werde, hat zwei Seiten. Die eine ist die Anwendung der Psychoanalyse auf die Soziologie, die andere diejenige der Soziologie auf die Psychoanalyse. Es ist natürlich nicht möglich, in einigen Minuten auch nur die Fragestellungen und Themen aufzuzählen, die sich von beiden Seiten her ergeben. Ich will deshalb nur versuchen, einige grundsätzliche Bemerkungen zu machen über die Prinzipien, die uns für die wissenschaftliche Bearbeitung psychoanalytisch-soziologischer Probleme Geltung zu haben scheinen.

Die Anwendung der Psychoanalyse auf die Soziologie muss sich gewiss vor dem Fehler hüten, da psychoanalytische Antworten geben zu wollen, wo ökonomische, technische, politische Tatsachen die wirkliche und ausreichende Erklärung soziologischer Fragen geben. Andererseits muss der Psychoanalytiker darauf hinweisen, dass der Gegenstand der Soziologie, die Gesellschaft, in Wirklichkeit aus einzelnen Menschen besteht, und dass diese Menschen, und nicht eine abstrakte Gesellschaft als solche, es sind, deren Handeln, Denken und Fühlen Gegenstand soziologischer Forschung ist. Diese Menschen haben nicht eine „Individualseele“, die dann funktioniert, wenn der Mensch als Individuum agiert, und die Objekt der Psychoanalyse wäre, und daneben eine davon separate „Massenseele“ mit allerhand vagen Gemeinschaftsgefühlen, Solidaritätsgefühlen, Masseninstinkten usw., die in Aktion tritt, wenn der Mensch als Massenteil auftritt, und wenn der Soziologe sich einige Verlegenheitsbegriffe für ihm unbekannte psychoanalytische Tatsachen schafft. Diese zwei Seelen sind aber nicht in des Menschen Brust, sondern nur eine, in der die gleichen Mechanismen und Gesetze gelten, ob der Mensch als Individuum auftritt oder die Menschen als Gesellschaft, Klasse, Gemeinschaft oder wie sonst. Das was die Psychoanalyse der Soziologie zu bringen hat, ist die – wenn auch noch unvollkommene – Kenntnis des seelischen Apparates des Menschen, der neben technischen, ökonomischen und wirtschaftlichen Faktoren eine Determinante der gesellschaftlichen Entwicklung darstellt und nicht weniger Berücksichtigung verdient als die anderen eben genannten. Es ist die gemeinsame Problemstellung beider Wissenschaften, zu untersuchen, inwieweit und in welcher Weise der seelische Apparat des Menschen verursachend oder bestimmend auf die Entwicklung oder Gestaltung der Gesellschaft gewirkt hat. [I-004]

Es sei hier nur ein wesentliches konkretes Problem herausgehoben: Wir meinen die Untersuchung der Frage, welche Rolle das Triebhafte, Unbewusste im Menschen auf die Gestaltungen und Entwicklungen der Gesellschaft und auf einzelne gesellschaftliche Tatsachen spielt, und inwiefern die Veränderungen der psychologischen Struktur des Menschen im Sinne eines Wachstums der Ich-Organisation und damit der rationalen Bewältigung des Triebhaften und Natürlichen ein soziologisch relevanter Faktor ist.

Nun die andere Seite des Problems, die Anwendung soziologischer Gesichtspunkte auf die Psychoanalyse: So wichtig es ist, den Soziologen auf die banale Tatsache hinzuweisen, dass die Gesellschaft aus lebendigen Menschen besteht und die Psychologie einer der in der gesellschaftlichen Entwicklung wirksamen Faktoren ist, sowenig darf der Psychologe die Tatsache verkennen, dass der einzelne Mensch aber in Wirklichkeit nur als vergesellschafteter Mensch existiert. Die Psychoanalyse darf für sich in Anspruch nehmen, dass sie im Gegensatz zu manchen anderen psychologischen Schulen diese Tatsache von Anfang an verstanden hat. Ja, dass die Erkenntnis der Tatsache, dass es keinen homo psychologicus, keinen psychologischen Robinson Crusoe gibt, zu den Fundamenten ihrer Theorie gehört. Die Psychoanalyse ist vorwiegend genetisch eingestellt, sie widmet der Kindheit des Menschen ihr besonderes Interesse, und sie lehrt einen ganz wesentlichen Teil der Entwicklung des seelischen Apparates des Menschen verstehen aus seiner Verbundenheit mit Mutter, Vater, Geschwistern, kurz der Familie und damit der Gesellschaft. Die Psychoanalyse versteht die Entwicklung des Menschen gerade aus der Entwicklung seiner Beziehung zu seiner nächsten und engsten Umwelt, sie versteht den seelischen Apparat als durch diese Beziehungen aufs Entscheidendste geformt.

Dies ist gewiss nur ein Ansatz, und es ergeben sich von hier eine Reihe weiterer und wichtiger Probleme, die bisher kaum noch in Angriff genommen sind; z.B. die Frage, inwieweit die Familie selber das Produkt einer bestimmten Gesellschaftsform ist und eine durch die gesellschaftliche Entwicklung bedingte Veränderung der Familie als solcher von Einfluss auf die Entwicklung des seelischen Apparates des Individuums sein könnte. Oder etwa die Frage, welche Bedeutung das Wachstum der Technik, d.h. einer immer weiter gehenden Triebbefriedigung, bzw. geringer werdender Versagungen für die Psyche des Einzelnen hat.

Die Einteilung, von der wir eben ausgehen, in Probleme, die sich aus der Anwendung der Psychoanalyse auf die Soziologie und der Soziologie auf die Psychoanalyse ergeben, ist natürlich nur eine grobe, praktischen Bedürfnissen entsprechende. Der Tatsache der gegenseitigen Bedingtheit von Mensch und Gesellschaft entsprechend, gibt es natürlich eine ganze Reihe und gerade solche der wichtigsten Probleme, wo von einer Anwendung der einen auf die andere Methode nicht wohl gesprochen werden kann, sondern wo ein Tatbestand, der ebenso wohl ein psychologischer wie ein soziologischer ist, auch von beiden Methoden her untersucht und nur von beiden Seiten her verstanden werden kann. Ein solches Problem ist es, das den Gegenstand des letzten Buches von Freud[4] bildet, nämlich die Frage, inwieweit bestimmte psychische Inhalte, die zugleich auch gesellschaftliche Phänomene sind, wie die Religion, in ihrem Erscheinen und Vergehen von der materiellen Entwicklung der Menschheit [I-005] abhängig sind. Freud vertritt dort die Meinung, dass die Religion das psychische Korrelat der Hilflosigkeit der Menschen gegenüber der Natur sei. Er eröffnet von hierher den Ausblick auf ein Problem, das wohl zu den wichtigsten psychologisch-soziologischen Fragen gerechnet werden darf: die Frage, welche Zusammenhänge zwischen der gesellschaftlichen Entwicklung der Menschheit, speziell ihrer ökonomisch-technischen, und der Entwicklung des seelischen Apparates, speziell der Ich-Organisation, des Menschen besteht. Kurz, er stellt die Frage nach der Entwicklungsgeschichte der Psyche. Die Psychoanalyse hat diese Frage bisher nur für das Individuum gestellt und beantwortet. Freud hat in seinem letzten Buche diese genetische Fragestellung auf die seelische Entwicklung der Gesellschaft ausgedehnt und damit künftiger psychoanalytisch-soziologischer Arbeit wichtige Fingerzeige gegeben.

Zusammenfassend möchte ich sagen: Die Psychoanalyse, die den Menschen als vergesellschafteten, seinen seelischen Apparat als wesentlich durch die Beziehungen des Einzelnen zur Gesellschaft entwickelt und bestimmt versteht, muss es als ihre Aufgabe ansehen, sich an der Beantwortung soziologischer Probleme zu beteiligen, soweit der Mensch, bzw. seine Psyche, überhaupt eine Rolle spielt. Sie darf bei dieser Bemühung die Worte – nicht eines Psychologen – sondern eines der genialsten Soziologen zitieren:

Die Geschichte tut nichts, sie besitzt keinen ungeheuren Reichtum, sie kämpft keine Kämpfe. Es ist vielmehr der Mensch, der wirkliche, lebendige Mensch, der alles tut, besitzt und kämpft. (K. Marx, 1962, S. 777.)

Der Staat als Erzieher.Zur Psychologie der Strafjustiz

(1930b)[5]

Es ist in letzter Zeit ein gesteigertes Interesse für das Problem der Psychologie des Verbrechers, des Richters, der Strafrechtsprechung und des Strafvollzugs festzustellen.[6] Das mag wesentlich drei Gründe haben. Einmal den der wachsenden Ausbreitung psychoanalytischer Einsichten und speziell des Erscheinens der das Problem der Psychologie des Verbrechers und Richters behandelnden Publikationen von F. Wittels (1928) und Alexander-Staub (1928). Zum anderen wird das gesteigerte Interesse wohl in der Tatsache liegen, dass sich eine Reihe von großen Kriminalprozessen aneinanderreihten (es sei nur an die Fälle Friedländer, Halsmann[7], Husmann erinnert), in denen die psychopathologischen Grundlagen des Verbrechens so offenkundig waren, dass sie zum Nachdenken über das theoretische Problem der Kriminalpsychologie reizen. Zu diesen mehr an der Oberfläche liegenden Gründen kommt als weiterer hinzu, dass die gesamte gesellschaftliche, politische und geistige Entwicklung es notwendigerweise mit sich bringt, dass altehrwürdige, autoritätsgetragene Institutionen, wie die Justiz, von den fortschrittlich gerichteten Teilen der Gesellschaft in ihrer Problematik durchschaut werden und dass man um eine theoretische Bewältigung der Probleme bemüht ist. Man hat vielfach geglaubt, dass den theoretischen Einsichten über die unbewussten Hintergründe des Verbrechens und den unbewussten Sinn der Strafe und Strafwirkung auch eine große praktische Bedeutung zukommen könne. Man hat geglaubt, dass, wenn es gelänge, dem Gericht nur deutlich genug zu machen, dass ein Verbrecher aus unbewussten, triebhaften Motiven handelt, es auch gelingen müsste nachzuweisen, dass eine Bestrafung auf diesen triebhaften Verbrecher eine bessernde Wirkung gar nicht haben könne, weil ja die Motive seines Handelns ihm selbst nicht bewusst und infolgedessen auch von seinem Willen nicht beherrschbar seien.

Man erwartete, dass ein einsichtiges Gericht aus diesen Erkenntnissen die entsprechenden Konsequenzen ziehen würde und als Maßnahme gegen den psychopathischen Verbrecher die allein zweckmäßige eines Heilungsversuches und nicht die unsinnige einer Bestrafung ergreifen würde. Es liegen mit solchen Versuchen, durch das psychoanalytische Verständnis des Verbrechers eine andere und zweckmäßigere Prozedur als die bisherige zu veranlassen, noch wenig Erfahrungen vor, so dass man aus der Praxis noch zu keinem Urteil über die Chancen dieser [I-008] Bemühungen kommen kann. Aber es gibt einige theoretische Erwägungen, die geeignet sind, innerhalb der heutigen Gesellschaft recht skeptische Gedanken über die Aussichten solcher Bemühungen aufkommen zu lassen. Da sie sich in mancher Weise mit pädagogischen Problemen berühren, dürften sie vielleicht das Interesse gerade der Leser dieser Zeitschrift beanspruchen.

Die moderne Strafjustiz fasst sich ja selbst als eine Art Pädagogik auf. Sie verzichtet offiziell auf den Gedanken der Rache und behauptet, dass ihre Absicht sei, den Verbrecher zu bessern und dass ihre Methode im Großen und Ganzen das zweckmäßige Mittel zur Besserung des Täters sei. Die Besserung wird auf eine doppelte Weise zu erreichen versucht: auf eine negative, indem man glaubt, den Täter durch die Strafe so einzuschüchtern und abzuschrecken, dass er in Zukunft ein ruhiger, gesitteter Bürger würde und auf eine positive, indem man sich bemüht, durch ein System von fein abgestuften Belohnungen für gutes Verhalten, durch Arbeitszwang, erbaulichen Zuspruch eines Geistlichen und manches andere mehr, den Verbrecher zu einem sozial brauchbaren Menschen zu erziehen. Die Erfahrung zeigt, dass diese Methoden, die ja nichts anderes sind als die üblichen Methoden der Erziehung (Strafandrohung, Versprechen von Belohnung und Zwang zur Arbeit) wenig Erfolg haben. Die theoretische Einsicht beweist, dass diese Methoden auch wenig Erfolg haben können. Insoweit Menschen gegen die Gesetze der Gesellschaft verstoßen, weil die Not von Hunger, Durst und anderen elementaren Bedürfnissen sie dazu drängt, kann nicht die Strafe das zweckmäßige Mittel sein, sie davon abzuhalten. In diesen Fällen gibt es nur eine Besserung, nämlich die, die wirtschaftliche Existenz des „Verbrechers“ so sicherzustellen, dass es eines Verbrechens zur Befriedigung seiner elementaren Bedürfnisse nicht bedarf. Insofern es sich aber nicht um „Notverbrecher“, sondern um „Triebverbrecher“ handelt, kann der heutige Strafvollzug im allgemeinen ebenso wenig als zweckmäßig angesehen werden. Die analytische Erfahrung hat ja zur Genüge gezeigt, wie wenig Handlungen, die in Wirklichkeit durch unbewusste Impulse bedingt sind, durch Beeinflussung des bewussten Teils der Persönlichkeit zu verhindern sind, und die Erfahrung zeigt, dass dies beim verbrecherischen Neurotiker ebenso wenig der Fall ist, wie beim nichtkriminellen.

Wenn die Dinge aber so liegen, dass die heutige Strafjustiz und selbst der moderne Strafvollzug unzweckmäßig sind und die von ihnen selbst gesetzten Ziele nicht erreichen können, so muss es wohl noch andere Gründe geben, die die Gesellschaft an diesen unzweckmäßigen Maßnahmen mit solcher Entschiedenheit festhalten lassen.

Eine Einsicht in diese Motive gewinnt man aber erst, wenn man berücksichtigt, dass die Strafjustiz gar nicht nur den Verbrecher zum Objekt hat, auch nicht nur den Unbescholtenen (bei dem aber zu befürchten steht, dass er ohne das abschreckende Beispiel kriminell würde), also den potenziellen Verbrecher, sondern, dass eine seiner wesentlichen Funktionen seine Bedeutung für die große Masse der Nichtverbrecher ist.

Was heißt das?

Die Festigkeit des Gefüges der gesellschaftlichen Struktur hängt keineswegs nur von der Stärke der äußeren Machtmittel ab, die für den Bestand der Gesellschaft sorgen sollen. Polizei und Militär sind zwar wichtige Stützen der Gesellschaft, aber sie [I-009] können – wie die Geschichte der Revolutionen zeigt – doch ihre Aufgabe nur erfüllen, wenn noch ein anderer Faktor hinzukommt. Dieser andere Faktor ist die psychische Bereitschaft der großen Mehrheit, sich in die bestehende Gesellschaft einzufügen und sich den in ihr herrschenden Mächten unterzuordnen. Welche psychischen und speziell libidinösen Tendenzen und Impulse diese gesellschaftliche Gefügigkeit hervorrufen, und welches die Mittel sind, durch welche eben diese Tendenzen provoziert werden, soll hier in der ganzen Ausgedehntheit und Kompliziertheit, die dieses Problem hat, nicht erörtert werden. (Vgl. die instruktive Behandlung dieses Problems bei S. Bernfeld, 1928[8])

Es soll hier nur insoweit das Problem berührt werden, als es mit der Strafjustiz zusammenhängt.

Die heutige, wie alle bisherige Gesellschaft, ist aufgebaut auf schweren Triebverzichten von Seiten der großen Masse, auf Unterordnung der Masse unter die herrschende Schicht, und, von der psychologischen Seite her gesehen, auf dem Glauben an die Notwendigkeit der bestehenden Verhältnisse bzw. an die überlegene Einsicht und Weisheit der Herrschenden. Diese psychische Einstellung hat ihr Vorbild und ihre Quelle in der Einstellung des Kindes zum Vater. Die reale Situation, in der sich das Kind dem Vater gegenüber befindet, macht es nötig, seine physische Überlegenheit zu fürchten, seine geistige Überlegenheit zu bewundern und zu verehren, und häufig wird das Kind am besten mit seiner Situation fertig, wenn es ihm gelingt, seine Abneigung gegen den verbietenden und Triebverzicht fordernden Vater in bewundernde Verehrung zu verwandeln.

Diese seelische Einstellung des Kindes gegenüber dem Vater ist diejenige, die dem Staat bei der großen Masse seiner Bürger erwünscht und notwendig ist. Er muss sich aller Mittel bedienen, um sich der Masse als Vaterimago darzubieten und es auf diese Weise zu bewerkstelligen, dass der Einzelne die Einstellung, die er einst zum Vater hatte, auf die Herrschenden überträgt. Die Mittel und Methoden, mit denen sich die Vertreter des Staates im Unbewussten der Masse als Vaterimago darzubieten versuchen, sind sehr mannigfaltige (in der Monarchie gipfeln sie auf eine sehr primitive und einfache Weise in der Verehrung der Person des Kaisers). Eine dieser Methoden ist die Strafjustiz. Was ist denn für das Kind eine der wesentlichen Qualitäten des Vaters, die ihm solche Angst, aber auch solche Ehrfurcht einflößen? Es ist die Tatsache, dass der Vater strafen kann, dass es ihm infolge seiner körperlichen Überlegenheit wehrlos ausgeliefert ist; es ist, kurz gesagt, die Kastrationsdrohung des Vaters und seine unbezweifelbare Potenz, sie auch zu realisieren, wenn er nur wollte. Dabei ist es im Prinzip für das Kind ebenso wenig von entscheidender Wichtigkeit, dass die Strafandrohungen auch realisiert werden, wie das für die große Masse mit Bezug auf die staatliche Autorität der Fall ist. Entscheidend ist die Fähigkeit zu drohen und zu strafen. Sie erst macht für das Kind den Vater zum Vater in dem speziellen psychologischen Sinn, von dem hier die Rede ist, und den Staat bzw. die in ihm und durch ihn herrschende Klasse zum Abbild des Vaters.

Es ist also klar, warum es, ganz unabhängig von dem Problem der Einwirkung auf die Verbrecher, eine Strafjustiz geben muss. Sie ist eine Institution, durch die sich der Staat dem Unbewussten der Masse als Vaterimago aufzwingt, indem sie eine wichtige [I-010] Funktion des Vaters, seine Straf- und Drohpotenz wiederholt. Am deutlichsten ist das bei der Todesstrafe. Die Fähigkeit zu kastrieren, d.h. schwerwiegende körperliche Verletzungen hervorzurufen, ist der Kernpunkt der väterlichen Strafpotenz. Es ist kein Zufall, dass dem Kaiser oder Präsidenten das Recht zusteht, die zum Tode Verurteilten zu begnadigen, dass man ihn also das Urteil über Leben und Tod letzten Endes aussprechen lässt. Er ist die sinnbildlichste Verkörperung der väterlichen Autorität und erweist sich als solche durch sein Recht, über Leben und Tod zu bestimmen.

Noch eine andere Funktion der Strafjustiz sei hier kurz erwähnt. Sie bietet der großen Masse eine Befriedigung ihrer sadistischen Impulse – und es ist für die Herrschenden wichtig, diese Impulse von sich auf ein anderes Objekt abzulenken – und gleichzeitig damit ein gewisses Äquivalent für den eigenen Triebverzicht. Das was gemeinhin als das Gerechtigkeitsgefühl oder Rechtsbewusstsein der Masse bezeichnet wird, ist nichts anderes als der Ausdruck gewisser libidinöser Impulse sadistischer und aggressiver Art, und es ist sehr verständlich, wenn der Staat sich gerne auf dieses Rechtsgefühl beruft, weil er damit auf eine für ihn unschädliche Weise diese Impulse befriedigen kann. (Eine Teilfunktion des Krieges liegt ja ganz in derselben Richtung.)

Wir sehen also: Die Bedeutung der Strafjustiz liegt durchaus nicht nur darin, dass sie die Gesellschaft vor dem Verbrecher schützen und diesen bessern soll; eine ihrer wesentlichen Funktionen ist es vielmehr, die Masse in dem von den Herrschenden gewünschten Sinn psychisch zu beeinflussen. Die Strafjustiz ist gleichsam der Stock an der Wand, der auch dem braven Kinde zeigen soll, dass ein Kind ein Kind und ein Vater ein Vater ist.

Aus diesen Erwägungen ergibt sich, dass alle Einsicht in die Unzweckmäßigkeit der heutigen Strafjustiz mit Bezug auf den Verbrecher nur schwer dazu führen wird, prinzipielle Änderungen herbeizuführen, solange die Eigenart der Struktur der bestehenden Gesellschaft die Strafjustiz zu einem Zwecke braucht, der mit der Frage des zweckmäßigen Verhaltens dem Verbrecher gegenüber nichts zu tun hat: als Instrument der Erziehung der Masse im Sinne ihrer künstlichen Fixierung an die Situation, wo der Mensch „erzogen“ wird in die Situation des den Vater ehrfürchtenden Kindes.

Politik und Psychoanalyse

(1931b)[9]

Nachdem die Psychoanalyse den Schlüssel zum Verständnis des oft rätselhaften Handelns und Fühlens der Einzelpersönlichkeit geliefert hat, nachdem sie gezeigt hat, dass dieses irrationale Handeln und Erleben das Resultat bestimmter, dem Handelnden selbst oft unbewusster, aber ihn zwanghaft bestimmender Triebimpulse ist, lag es nahe, daran zu denken, dass die Psychoanalyse auch den Schlüssel zum Verständnis des oft ähnlich gelagerten gesellschaftlichen Handelns, des oft irrationalen politischen Geschehens liefern könne.[10] Man ging mit Recht davon aus, dass die Gesellschaft aus lebendigen Individuen besteht, die keinen anderen psychologischen Gesetzmäßigkeiten unterliegen können, als sie die Analyse der Einzelpersönlichkeit aufgezeigt hat; man konnte leicht sehen, dass es unvernünftiges, triebbedingtes, zwanghaftes Handeln auch im gesellschaftlichen Leben gibt, und versuchte bald religiöse Rituale, Dogmen, Kriege, gewisse Volkssitten und eine Reihe anderer offenkundig irrational gefärbter gesellschaftlicher Erscheinungen zu analysieren. Ja, hie und da ging man sogar noch einen Schritt weiter. Man glaubte, dass nicht nur das gesellschaftliche Geschehen ebenso zu verstehen sein müsse, wie das individuell-neurotische, sondern dass auch die Schäden und Missstände der Gesellschaft ebenso auf analytischem Wege beseitigt werden könnten, wie das mit dem Symptom oder Charakterzug des einzelnen Neurotikers möglich ist, dass man etwa den ewigen Frieden durch Massenanalyse herbeiführen könne, indem die blinde Aggression der Menschen „weganalysiert“ wird. Gewiss eine verführerische Perspektive! Ob sie aber richtig ist und welche Rolle die analytische Anschauung im Verständnis gesellschaftlicher Vorgänge spielen kann, sollen die folgenden Ausführungen kurz beleuchten.

Erinnern wir uns einen Augenblick an die Methode des analytischen Verständnisses der Einzelpersönlichkeit. Sie lässt sich auf die einfache Formel bringen: Verständnis der Triebstruktur aus dem Lebensschicksal; hierbei ist nur zu ergänzen, dass insbesondere die Erlebnisse der frühkindlichen Periode eine entscheidende Rolle für die Entwicklung der späteren Persönlichkeit spielen und ferner, dass die Konstitution des Individuums in einem bestimmten, von Freud als „Ergänzungsreihe“ verstandenen, Verhältnis zum Lebensschicksal steht und dass beide Faktoren, Konstitution und Erleben, die Triebstruktur bedingen. [I-032]

Handelt es sich um psychische Vorgänge – nicht im Individuum, sondern – innerhalb der Gesellschaft, so muss die Methode dieselbe sein (vgl. hierzu Die Entwicklung des Christusdogmas. Eine psychoanalytische Studie zur sozialpsychologischen Funktion der Religion, 1930a, GA VI, S. 11-68); auch hier ist die Aufgabe, die gemeinsamen, gesellschaftlich relevanten, seelischen Haltungen aus dem gemeinsamen Lebensschicksal der zu untersuchenden Gruppe zu verstehen. Das spezifisch Psychoanalytische ist hierbei die Zurückführung vieler Gefühle und Ideale auf bestimmte – körperlich verankerte – libidinöse Strebungen, das Verständnis verschleierter und entstellter Darstellungen unbewusster seelischer Inhalte und die Verbindung der Gefühlshaltungen der Erwachsenen mit den sie vorbereitenden und unterbauenden der Kindheit.

Was heißt gemeinsames Lebensschicksal? Es sind jene Lebensumstände, die über die individuellen Unterschiede im Leben der Einzelnen hinaus – also etwa die Frage, ob jemand erstes oder mittleres Kind ist, einen strengen oder schwachen Vater hat oder was sonst an ähnlichem – die Lebensweise und Lebensbedingungen der Angehörigen einer gesellschaftlichen Schicht bestimmen. Es sind also in erster Linie die wirtschaftlichen, gesellschaftlichen und politischen Verhältnisse, unter denen eine Gruppe lebt. Für die Gesellschaft gilt, dass die Ökonomie ihr Schicksal ist.

Kommen wir so zu dem Ergebnis, dass die Sozialpsychologie versuchen muss, sozialpsychische Erscheinungen aus der sozial-ökonomischen Situation zu verstehen, so taucht hier die Frage auf, in welchem Verhältnis eine so verstandene Sozialpsychologie zur soziologischen Methode des historischen Materialismus steht.

Der historische Materialismus lehrt das gesellschaftliche Geschehen aus den ökonomischen Bedingungen verstehen.

Die Weise, in der die Menschen ihre Lebensmittel produzieren, hängt zunächst von der Beschaffenheit der vorgefundenen und zu reproduzierenden Lebensmittel selbst ab. (...) Wie die Individuen ihr Leben äußern, so sind sie. Was sie sind, fällt also zusammen mit ihrer Produktion, sowohl damit, was sie produzieren, als auch damit, wie sie produzieren. (...) Die Menschen sind die Produzenten ihrer Vorstellungen, Ideen usw., aber die wirklichen, wirkenden Menschen, wie sie bedingt sind durch eine bestimmte Entwicklung ihrer Produktivkräfte und des denselben entsprechenden Verkehrs bis zu seinen weitesten Formationen hinauf. Das Bewusstsein kann nie etwas anderes sein als das bewusste Sein, und das Sein der Menschen ist ihr wirklicher Lebensprozess. (K. Marx, 1971, S. 347 und 349.)

Es ist nicht das Bewusstsein der Menschen, das ihr Sein, sondern umgekehrt ihr gesellschaftliches Sein, das ihr Bewusstsein bestimmt. (K. Marx, 1961, S. 9.)

Auf den ersten Blick scheint die Psychoanalyse mit dem historischen Materialismus viele Berührungspunkte zu haben. Ja, beide Lehren scheinen sogar in einem Punkte ganz das Gleiche zu sagen, nämlich in der Beurteilung der Rolle des Bewusstseins. Beide Theorien stürzen das Bewusstsein von seinem Throne, von dem aus es die Handlungen der Menschen zu leiten und ihre Gefühle darzustellen schien. Lässt diese Frage also eine Übereinstimmung beider Standpunkte vermuten, so scheint die weitere Frage, nämlich die nach den das Bewusstsein bestimmenden Kräften diese schöne Übereinstimmung rasch wieder zu zerstören. Eine vulgäre Auffassung beider Theorien kommt zum Ergebnis, dass in der Frage nach den das Bewusstsein bestimmenden Kräften ein unüberbrückbarer Gegensatz zwischen der Psychoanalyse und dem historischen Materialismus bestehe. Dieser nehme an, es seien die ökonomischen [I-033] Interessen, das Erwerbsinteresse, das in erster Linie das bewusste Handeln und Fühlen der Menschen bestimme, jene teile der Sexualität die entsprechende Rolle zu. Selbst ein Autor wie Bertrand Russell spricht in einem Vergleich zwischen Marx und Freud in einem Bild, das zwar geistreich, aber ganz im Sinne der eben gekennzeichneten vulgären Auffassung ist. Er spricht

von der Eintagsfliege, die im Larvenstadium nur Organe zum Fressen, nicht aber zum Lieben hat, während sie als vollentwickeltes Insekt (Imago) im Gegenteil nur über Organe zur Fortpflanzung, nicht aber zur Ernährung verfügt. Sie braucht letztere nicht, da sie in diesem Stadium nur einige Tage am Leben bleibt. Was würde geschehen, könnte die Eintagsfliege theoretisch denken? „Als Larve würde sie ein Marxist sein, als Imago ein Freudianer.“ Russell fügt hinzu, Marx, „der Bücherwurm des britischen Museums“, sei der richtige Repräsentant der Larvenphilosophie. Russell selbst fühle sich von Freud mehr angezogen, denn er sei für die Freuden der Liebe nicht unempfänglich, verstehe sich dagegen nicht aufs Geldmachen, also nicht auf die orthodoxe Ökonomie, die von ausgetrockneten älteren Herren geschaffen wurde. (Zit. nach K. Kautsky, 1927, Band 1, S. 341.)

Es ist leicht einzusehen, dass diese banale Auffassung aus einem groben Missverständnis sowohl der Psychoanalyse als auch des historischen Materialismus hervorgeht. Soweit es die Psychoanalyse angeht, nicht in erster Linie deshalb, weil Freud neben den über das Genitale hinaus verstandenen Sexualtrieben dem Selbsterhaltungstrieb eine entscheidende Rolle beimisst, sondern vor allem darum, weil er die Triebstruktur eines Menschen, wie schon oben angedeutet, gerade aus der Einwirkung seines Lebensschicksals auf die mitgebrachten Triebe versteht.

Es bedarf nur einer konsequenten Überlegung, um die Fehlerhaftigkeit der oben skizzierten vulgären Auffassung des historischen Materialismus einzusehen. Der historische Materialismus ist durchaus keine psychologische Theorie. Er hat eine einzige psychologische These als Voraussetzung seiner Auffassung, nämlich die, dass die Menschen es sind, die ihre Geschichte machen und dass die Menschen aus der Notwendigkeit der Befriedigung ihrer Bedürfnisse heraus handeln. Wenn aber im historischen Materialismus von der Wirtschaft die Rede ist, so nicht als von einer psychologischen Kategorie, also nicht vom wirtschaftlichen oder Erwerbsinteresse der Menschen, sondern als von einer rein sozial-ökonomischen Erscheinung, die die Bedingung aller menschlichen Aktionen darstellt. Es handelt sich also im historischen Materialismus nicht um die ökonomischen Interessen als psychische Motive, sondern um die ökonomischen Bedingungen aller menschlicher Lebensäußerungen einschließlich der sublimsten kulturellen Leistungen.[11] Da die Menschen leben und lieben wollen, müssen sie für die Befriedigung dieser Bedürfnisse tätig sein. Das Wie dieser Tätigkeit ist aber nicht nur von ihrer eigenen körperlichen und seelischen Konstitution, sondern von den Eigenschaften der natürlichen Umwelt, bzw. dem Entwicklungsstand der Produktivkräfte bedingt. [I-034]

Der historische Materialismus hat die Abhängigkeit nicht nur der sozialen und politischen, sondern auch der ideologischen Tatbestände von den ökonomischen Bedingungen aufgezeigt. Er hat, wie Engels (in dem bekannten Brief an Mehring vom 14. Juli 1893) ausdrücklich betont,

zunächst das Hauptgewicht auf die Ableitung der politischen, rechtlichen und sonstigen ideologischen Vorstellungen und der durch diese Vorstellungen vermittelten Handlungen aus den ökonomischen Grundtatsachen gelegt und legen müssen.

Dabei wurde ein anderes Problem „vernachlässigt: die Art und Weise, wie diese Vorstellungen zustande kommen“. An diesem Punkt kann die Forschungsarbeit der Psychoanalyse einsetzen. Sie kann zeigen, in welcher Weise bestimmte ökonomische Bedingungen auf den seelischen Apparat des Menschen einwirken und bestimmte ideologische Resultate erzeugen, sie kann über das Wie der Abhängigkeit ideologischer Tatbestände von den sie bedingenden ökonomischen Auskunft geben. Sie verfolgt den Weg von der ökonomischen Bedingung durch Kopf und Herz des Menschen hindurch bis zum ideologischen Resultat und verfährt dabei nach keiner anderen Methode als der, die sie bei der Analyse der Einzelpersönlichkeit angewandt hat: Verständnis der Triebstruktur aus dem Lebensschicksal. Wobei unter Triebstruktur die Gesamtheit der einer Klasse, Nation, Berufsstand usw. eigentümlichen Gefühlseinstellungen zu verstehen ist, unter Lebensschicksal die ökonomische, gesellschaftliche, politische Situation eben jener Gruppe. Die Psychoanalyse wird dabei der Soziologie einige wichtige Dienste deshalb leisten können, weil der Zusammenhang und die Stabilität einer Gesellschaft durchaus nicht nur von mechanischen und rationalen Faktoren (Zwang durch Staatsgewalt, gemeinsame egoistische Interessen usw.) gebildet und garantiert wird, sondern durch eine Reihe libidinöser Beziehungen innerhalb der Gesellschaft und speziell zwischen den Angehörigen der verschiedenen Klassen (vgl. etwa die infantile Gebundenheit des Kleinbürgertums an die herrschende Klasse und die damit verknüpfte intellektuelle Einschüchterung). Jede Gesellschaftsform hat nicht nur ihre eigene ökonomische und politische, sondern auch ihre spezifische libidinöse Struktur, und die Psychoanalyse kann gerade gewisse Abweichungen von der aus den ökonomischen Voraussetzungen zu erwartenden Entwicklungsrichtung erst ganz verständlich machen.[12]

Es versteht sich von selbst, dass bei der Analyse sozialpsychologischer Erscheinungen ebenso gründliche und umfangreiche Kenntnisse des „Lebensschicksals“ nötig sind, wie bei der Analyse einer Einzelpersönlichkeit, d.h. aber praktisch die genaue Kenntnis der ökonomischen, sozialen und politischen Situation der zu untersuchenden Gruppe. Es ist ebenso klar, dass die Analogiebildung zwischen neurotischen Symptomen und sozialpsychischen Erscheinungen und Versuche, diese durch jene zu erklären, von noch geringerem wissenschaftlichen Wert sein müssen, als etwa die Deutungen, die ohne Kenntnis des Lebensschicksals und der Lebenssituation eines Menschen von seinen Symptomen, Charaktereigenschaften oder Träumen gegeben werden, rein aus der Analogie mit anderen bereits analysierten Fällen.

Ergibt sich so die Brauchbarkeit der Analyse, wenn sie nur richtig angewandt wird, für die Erforschung sozialpsychologischer Phänomene, so mag vielleicht die Erwartung nicht so unberechtigt erscheinen, dass sich die Psychoanalyse auch als eine Art politisch-sozialer Therapie brauchbar erweise. Man könnte vielleicht mit Recht [I-035] erwarten, dass die Gesellschaft alle zweckwidrigen Handlungen aufgäbe, wenn es nur gelänge, ihr den unbewussten, irrationalen Sinn dieser Handlungen bewusstzumachen.

So verlockend diese Perspektive ist, so wenig hält sie einer näheren Nachprüfung stand.

Was ist das Wesentliche des neurotischen Reagierens und inwiefern ist es durch die Analyse heilbar? Es ist gewiss nicht irrationales, triebhaftes Fühlen und Handeln an und für sich. Es ist vielmehr ein solches psychisches Verhalten, welches in Widerspruch zu den wirklichen Bedürfnissen und Notwendigkeiten der Gesamtpersönlichkeit steht und welches durch ein Fortbestehen und Haftenbleiben solcher Triebregungen bedingt ist, die einmal angepasste Reaktionen in der Kindheit waren, aber inzwischen längst den Charakter der Angepasstheit und Zweckmäßigkeit verloren haben. Die Neurose lässt sich als ein Spezialfall jener krankhaften Störungen verstehen, die auf einer mangelnden Fähigkeit des Organismus zur Anpassung an neue Lebensbedingungen beruhen. Die analytische Therapie versucht bis auf jene verdrängten Fixierungsstellen zurückzugehen, die Anlässe der Fixierung wieder bewusstzumachen und so dem nunmehr erstarkten und erwachsenen Ich der Persönlichkeit die Bewältigung jener Erlebnisse und Eindrücke zu ermöglichen, an denen das Ich einst gescheitert ist. Das Ziel der analytischen Therapie ist also Beseitigung unangepasster, anachronistischer Verhaltensweisen und ihre Ersetzung durch zweckmäßige und der Realität angepasste.

Warum sollte nicht derselbe Weg auch als Therapie der Massen gangbar sein?

Die Masse ist kein Neurotiker.[13] Gewiss weist sie starke Reaktionen der verschiedensten Gefühlsarten auf, wie Liebe, Hass, Verehrung, Verachtung, Freude, Trauer und andere mehr. Gewiss auch sind die Gefühlshaltungen der Masse zu verstehen als Fortsetzung und Wiederholung bestimmter, in der Kindheit ausgebildeter Einstellungen. Aber welche Gefühlseinstellung bei den Angehörigen einer Gruppe dominierend wird und zu welchem Zeitpunkt dies geschieht, hängt von den realen Lebensbedingungen der Masse und deren Veränderungen ab. Sowenig die Trauerreaktion eines Menschen auf den Verlust eines geliebten Angehörigen oder die Wut eines Untergebenen gegen einen ihn peinigenden Vorgesetzten „neurotisch“ zu nennen und durch Analyse „heilbar“ sind, ebenso wenig ist es neurotisch, wenn sich eine unterdrückte Klasse gegen ihre Unterdrücker erhebt und in diesem Kampfe starke sadistische Impulse betätigt. Oder, um noch ein anderes Beispiel zu nennen: Das Auftauchen eines neuen religiösen Glaubens, wie etwa des Urchristentums, ist kein krankhaftes Phänomen, das aus der Fixierung bestimmter Strebungen in der Kindheit der einzelnen Massenangehörigen zu verstehen wäre, sondern ein adäquates gefühlsmäßiges Reagieren auf die ökonomisch-politisch bedingte Verelendung der bäuerlich-proletarischen Klasse innerhalb des römischen Imperiums. Um es nochmals zu betonen, alle solche Erscheinungen wie religiöse Riten, Revolten, Kriege usw. sind nicht denkbar ohne das Vorhandensein triebhafter, in der Kindheit vorgebildeter seelischer Einstellungen (sowenig wie ein Krieg geführt werden kann ohne Waffen), aber diese Gefühlshaltungen sind ubiquitärer Natur und das Wann und Wo ihres Auftauchens ist die Folge sozialer Veränderungen; es sind aber nicht realitätsunangepasste, [I-036] an infantilen Fixierungsstellen haftende neurotische Reaktionen im oben beschriebenen Sinne.

Das quasi-neurotische Verhalten der Massen, das ein adäquates Reagieren auf aktuelle, reale, wenn auch schädliche und unzweckmäßige Lebensbedingungen ist, wird sich also nicht durch „Analysieren“, sondern nur durch die Veränderung und Beseitigung eben jener Lebensbedingungen „heilen“ lassen. Man kann zwar eine Reihe politischer Erscheinungen mit Hilfe der Psychoanalyse besser verstehen, aber es wäre eine verhängnisvolle Täuschung zu glauben, dass die Psychoanalyse die Politik ersetzen kann.

Diese schroffe Ablehnung der Psychoanalyse als Mittel der Veränderung gesellschaftlicher Zustände bedarf in einem Punkte der Modifizierung.

Es geschieht nicht selten im gesellschaftlichen Leben, dass die Veränderung bestimmter Einrichtungen nicht deshalb unterlassen wird, weil die realen Verhältnisse es nicht gestatten, sondern weil bestimmte Illusionen die Menschen auch dann noch daran hindern, das für sie Zweckmäßige zu tun, wenn die realen Bedingungen, die diese Illusionen entstehen ließen, schon längst verschwunden sind. Der ideologische Überbau bleibt oft länger bestehen, als es der ökonomisch-soziale Unterbau notwendig machte. Indem die Psychoanalyse als Theorie geeignet ist, gewisse gesellschaftlich relevante Illusionen genetisch zu erklären und zu zerstören, kann sie in gewissen gesellschaftlichen Situationen auch eine politische Funktion bekommen, eine Funktion, die auch die wesentliche Ursache ihrer Ablehnung durch die offiziellen Stellen der Gesellschaft und insbesondere deren wissenschaftliche Beamte sein dürfte.

Das theoretische und praktische Verhältnis von Psychoanalyse und Politik birgt eine Fülle hier nicht berührter oder nur gestreifter Probleme in sich. Zweck der Ausführungen an dieser Stelle konnte nur der Versuch sein, die gröbsten Missverständnisse richtigzustellen und einige einfache Andeutungen für eine positive Bearbeitung des Problems zu machen.

Studien über Autorität und Familie.Sozialpsychologischer Teil

(1936a)[14]

1. Einleitung: Mannigfaltigkeit der Erscheinungen

Bei vielen Menschen ist ihr Verhältnis zur Autorität der hervorstechendste Zug ihres Charakters[15]: Sei es, dass die einen nur dann eigentlich glücklich sind, wenn sie sich einer Autorität fügen und unterwerfen können, und umso mehr, je strenger und rücksichtsloser diese ist, sei es, dass andere sich auflehnend und trotzig verhalten, sowie sie sich auch nur irgendwo Anordnungen fügen sollen, und wären es auch die vernünftigsten und für sie selbst zweckmäßigsten. Während aber andere Charakterzüge wie etwa Geiz oder Pünktlichkeit eine relativ einheitliche Erscheinung darstellen, ist das Bild, das uns die Aufzählung auch nur weniger Beispiele von verschiedenen Arten der Autorität und der Einstellung zu ihr ergibt, so mannigfaltig und verwirrend, dass der Zweifel entstehen muss, ob wir es überhaupt mit einem Tatbestand zu tun haben, der einheitlich genug ist, um zum Gegenstand einer psychologischen Untersuchung gemacht zu werden.