Anarchismus queeren -  - E-Book

Anarchismus queeren E-Book

0,0
15,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

›anarchismus queeren‹ führt nicht nur in queere und anarchistische Theorien ein, sondern zeigt darüber hinaus, wie beide Strömungen ihre jeweiligen Theorien zusammendenken können und somit für einander fruchtbar werden. Die Bandbreite der Beiträge reicht von theoretischen Diskussionen bis hin zu persönlichen Geschichten. Inhaltlich drehen sie sich um Ökonomie, Behinderung, Politik, soziale Strukturen, sexuelle Praktiken und zwischenmenschliche Beziehungen. Die vielfältigen Möglichkeiten, die im Konzept des Queerens liegen, werden ebenso beleuchtet, wie dominante, weitestgehend heteronormative Deutungsweisen und Identitäten auf den Kopf gestellt werden. Was bedeutet es, die Welt um uns herum zu queeren? ›anarchismus queeren‹ macht deutlich, dass sich das Konzept des Queerens nicht darin erschöpft, persönliche Vorlieben in Identitätspolitiken auszubuchstabieren. Vielmehr legen die Autor*innen dar, wie die Zusammenführung anarchistischer und queerer Ansätze eine völlig neue Sicht auf die Welt ermöglicht.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 397

Veröffentlichungsjahr: 2022

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



C. B. Daring, J. Rogue, Deric Shannon, Abbey Volcano (Hg.)

anarchismus queeren

Über Macht und Begehren in queeren und herrschaftskritischen Kontexten

Übersetzt aus dem Englischen

Bibliografische Information der Deutschen Bibliothek

Die Deutsche Bibliothek verzeichnet diese Publikation

in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische

Daten sind im Internet über http://dnb.ddb.de abrufbar

C. B. Daring, J. Rogue, Deric Shannon, Abbey Volcano (Hg.):

anarchismus queeren

1. Auflage, Juli 2017

Aus dem Englischen übersetzt von: Tobias Brück, Melike Cinar,

Jessica Eitelberg, Dietlind Falk, Rebecca Mann, Margarita Ruppel

Originalausgabe:

C. B. Daring, J. Rogue, Deric Shannon, Abbey Volcano:

Queering Anarchism. Addressing and Undressing Power and Desire

© 2012 C. B. Daring, J. Rogue, Deric Shannon, Abbey Volcano

© 2012 AK Press (Oakland, Edinburgh, Baltimore)

Die Autor*innen haben einer deutschsprachigen Veröffentlichung zugestimmt.

eBook UNRAST Verlag, Juni 2022

ISBN 978-3-95405-116-8

© UNRAST Verlag, Münster

www.unrast-verlag.de | [email protected]

Mitglied in der assoziation Linker Verlage (aLiVe)

Alle Rechte, insbesondere das Recht der Vervielfältigung und Verbreitung

sowie der Übersetzung, vorbehalten. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner

Form ohne schriftliche Genehmigung des Verlags reproduziert oder unter

Verwendung elektronischer Systeme vervielfältigt oder verbreitet werden.

Umschlag: Felix Hetscher, Münster

Satz: UNRAST Verlag, Münster

Inhalt

VorwortMartha Ackelsberg

Queerness trifft auf Anarchismus, Anarchismus trifft auf QueernessC. B. Daring, J. Rogue, Abbey Volcano und Deric Shannon

Homo-Ehe und queere LiebeRyan Conrad

Anarcha-Feminismus ohne Essenzialismus: Von trans-feministischen Bewegungen lernenJ. Rogue

BegrenzungspolizeiAbbey Volcano

Gendersabotagestacy aka sallydarity

Anarchie ohne OppositionJamie Heckert

Lektionen aus QueertopiaFarhang Rouhani

Die Tyrannei des Staates und die Trans-BefreiungJerimarie Liesegang

Schadensreduzierung als GenussaktivismusBenjamin Shepard

Radikale Queers und der KlassenkampfGayge Operaista

Die Vielfalt sexueller Praktiken. Teil 1CRAC Collective

Queere ÖkonomienStephanie Grohmann

heterosexualität queerenSandra Jeppesen

Polyamorie und Queer-Anarchismus: Unbeschränkte Möglichkeiten des WiderstandesSusan Song

Sex and the City: Von liberaler Politik zu einer ganzheitlich revolutionären PraxisDiana C. S. Becerra

Eine queere Analyse der Sexarbeit: Den Kapitalismus entblößenC. B. Daring

Reißen wir die Mauern ein. Queerness, Anarchismus und der gefängnisindustrielle KomplexJason Lydon

Anarchismus queer-crippen: Gedanken zur Überschneidung von Anarchismus, Queerness und BehinderungLiat Ben-Moshe, Anthony J. Nocella II und AJ Withers

Heteronormativität muss zerstört werdenSaffo Papantonopoulou

Anarchie, BDSM und Konsens-KulturHexe

Danksagungen

Die Autor*innen

Für alle, die für eine Welt ohneVorgesetzte, Grenzen undLangeweile kämpfen

Martha Ackelsberg

Vorwort

Anarchismus queeren? Was soll das bedeuten? Ist der ›Anarchismus‹ nicht schon Schreckgespenst genug in diesem Land, dass man ihn durch den Versuch, ihn zu ›queeren‹, noch weniger greifbar und für die Mainstream-Kultur irrelevanter machen muss, als er jetzt schon ist? Warum also? Und warum jetzt?

Weil wir – wie diese Anthologie mit ihrer facettenreichen Darstellung der vielen Dimensionen von Anarchismus und Queerness zeigt – gerade erst beginnen, die vielen Möglichkeiten zu erkennen, die ein gequeerter Anarchismus bietet, sowohl in Bezug auf die Kritik an bestehenden Institutionen und Praktiken als auch auf mögliche Alternativen dazu.

Mir ist es eine wahre Freude, zu sehen, dass diese Anthologie – an der so lange gearbeitet wurde – endlich der Leserschaft zur Verfügung gestellt werden kann. Wie die Autor*innen in ihrer Einführung erwähnen, gibt es etliche Bücher über Anarchismus und viele weitere über queere Politik und Theorie. Vor allem an der aktivistischen Seite des Anarchismus scheint das Interesse in den letzten Jahren gestiegen zu sein. Und auch die Aufmerksamkeit gegenüber queerem Aktivismus ist – zumindest in politisch progressiveren Kreisen – gewachsen. Dieses Buch bringt allerdings, so glaube ich, zum ersten Mal diese beiden Traditionen – sowohl in ihrer intellektuellen als auch aktivistischen Dimension – zusammen und in Austausch, insbesondere für Laien, also nicht-akademische Leser*innen. Das Projekt kommt sicherlich zur rechten Zeit und das Ergebnis der jahrelangen Planung zeugt sowohl von der Voraussicht der anfänglichen Ziele der Herausgeber*innen als auch vom Wert der Arbeiten, die sie angeregt haben.

Die Einführung der Herausgeber*innen gibt den Ton dieses Bandes an – es geht um die Mythen, die um den Anarchismus kreisen, und die Komplexität des Begriffs ›queer‹. Ich gebe zu, dass meine Begeisterung für ihre Einführung (und für den gesamte Band) damit zu tun hat, dass ich ihre Definition von ›Anarchismus‹ teile – dessen destruktives sowie konstruktives Begehren, seine Multidimensionalität und die Schaffung eines theoretischen Rahmens, innerhalb dessen beschrieben werden kann, was die neuste (feministische) Forschung als ›Intersektionalität‹ bezeichnet.[1] Obwohl der Anarchismus oftmals synonym mit dem Nihilismus verwendet oder als extreme Form des Libertarismus (à la Robert Nozick[2]) angesehen wird, gehen die meisten Essays in diesem Band von einer allgemeineren Tradition des Begriffs aus, die sich auf einen kollektiveren oder gemeinschaftlicheren Anarchismus bezieht und Individualität und Gemeinschaft eher als eine gegenseitige Bedingung sieht denn als einen Konflikt. Diese Tradition – dargestellt in den Werken von Michail Bakunin, Pjotr Kropotkin, Gustav Landauer, Errico Malatesta, Emma Goldman und den spanischen Anarchist*innen – schätzt Freiheit und Gleichheit, Individualität und Gemeinschaft, betrachtet Freiheit als gesellschaftliches Produkt anstatt als Wert / Ziel, der / das in unweigerlicher Spannung zur Gemeinschaft steht.[3] Dieser Ansatz – oftmals ein schwieriges Unterfangen innerhalb der liberal-individualistischen Kultur der USA – zeigt sich auf wundervolle Weise im ungewöhnlichen Format / Layout einiger Kapitel, zum Beispiel durch die grafische Darstellung von Sexualität des CRAC-Kollektivs in Die Vielfalt sexueller Praktiken. Teil 1, der Vermischung von persönlichem und analytischem Material in Sandra Jeppsens Essay über das Queeren der Heterosexualität oder in den Essays von Farhang Rouhani und Benjamin Shepard über Organisationsstrukturen.

Im Großen und Ganzen bietet dieses Buch uns Leser*innen eine vielseitige Mischung von Themen sowie Genres, eine Mischung, die die vielen Perspektiven anarchistischer Theorien hervorhebt und offenbart, insbesondere da diese Theorien selbst ›gequeert‹ werden. Die Positionierung von traditionelleren, ›akademischen‹ Essays – wie beispielsweise von Jamie Heckert, J. Rogue und Diana Becerra oder Liat Ben Moshe, Anthony Nocella und AJ Withers – neben dem Beitrag des CRAC-Kollektivs oder dem, was wir als ›analytische persönliche Berichte‹ einiger Autor*innen bezeichnen können, bietet den Leser*innen die Chance, ihre eigenen Vorstellungen davon zu ›queeren‹, was ernsthafte intellektuelle Interventionen sind. Diese Herausforderung öffnet uns, so die anarchistische und die queere Theorie, für weitergehende Erkundungen sowohl der Theorie als auch der Praxis.

Ich werde hier nicht versuchen, die vielen theoretischen und praktischen Fragestellungen zu erläutern, die in den Essays dieses Bandes behandelt werden. Die Einführung der Herausgeber*innen verschafft schon einen hervorragenden Überblick. Ich möchte jedoch anmerken, dass ich mithin am meisten an diesem Buch schätze, welches Spektrum an Themen von den Autor*innen eingebracht wurde und die sprachlichen Mittel, mit denen sie ihre Ansichten auf eine Weise darstellen, die einerseits die Komplexität der diskutierten Erfahrungen berücksichtigt und andererseits deutlich ist. Vor allem Queer-Theorie ist oftmals schwerfällig und düster und scheinbar nur dazu gedacht, von Akademiker*innen gelesen (oder zumindest verstanden) zu werden, die bereit sind, stundenlang zu lesen (und aufs Neue zu lesen). Die Essays in diesem Band vermitteln jedoch Komplexität ohne Vagheit, denn viele von ihnen beziehen sich auf lebensechte, konkrete Erfahrungen, um das Hinterfragen feststehender Kategorien und des binären Denkens zu beleuchten, was Queer-Theorie traditionell kennzeichnet. Gleichzeitig betonen sie die Schwierigkeiten, die ein Aktivismus birgt, der vorankommen will, ohne im Kampf gegen diese Binarität selbige zu reproduzieren.

Diese Dimension sowohl anarchistischer als auch queerer Politik – der (anarchistische) Leitsatz, dass »die Mittel dem Zweck entsprechen müssen«, dass der Weg zu einer neuen Welt aus Schritten zu ihrer Erschaffung besteht, wir das Leben führen sollten, das wir wollen – stellt in meinen Augen sowohl den größten Beitrag zur Theorie und Praxis des sozialen Wandels dar als auch die größte Herausforderung für dessen Ingangsetzung. Ich glaube, das ist der Grund dafür, dass der Anarchismus (wie die Herausgeber*innen erklären) destruktive und konstruktive Dimensionen besitzt: Im Idealfall zerstört die Erschaffung des Neuen automatisch die alten Formen, indem sie irrelevant oder überholt werden. So sieht allerdings nur der Idealfall aus – wie viele der Essays in diesem Band (und auch die aktuellen Ereignisse um die Occupy-Bewegungen) zeigen, wird das ›bloße‹ Erschaffen von Alternativen oft als Gefahr und / oder Bedrohung für die bestehenden Mächte angesehen, die darauf mit Gewalt reagieren. Friedliche präfigurative Politik[4] – von den anarchistischen Kollektiven im revolutionären Spanien der 1930er, über die Kommunen in den USA der 1960er, bis hin zu den ›freien Räumen‹ der Lebensmittelkooperativen, kostenlosen Bücherbörsen und Kindertagesstätten oder ›radikalen queeren Räumen‹ – werden gerne ignoriert, bis sie erfolgreich sind. Dann aber wird ihnen die volle Macht der wirtschaftlichen, religiösen, sexuellen und / oder polizeilichen Kräfte entgegengesetzt, für die sie eine Bedrohung darstellen.

Wie können wir über diese Probleme sprechen – oder die Lösungen, die ihnen gegenüberstehen? Wenn wir die Sprache des ›Empowerment‹ verwenden – selbst im Sinne von ›Macht an‹, statt ›Macht über‹ – finden wir uns im Nullkommanichts im Diskurs über die ›Macht‹ wieder und womöglich genau inmitten der Binarität, die wir vermeiden oder infrage stellen wollen. Wie können wir diese Binarität – und andere – infrage stellen, ohne sie selbst zu verwenden? Wie Ryan Conrad es ausdrückt: »Wie wehren wir radikale queere und trans Leute uns gegen die aufkommende Hegemonie des regenbogenfarbenen Neoliberalismus und die Kanalisierung unserer Energien in kurzsichtige Kampagnen, die bloß die hierarchischen Systeme und Institutionen reproduzieren, die wir eigentlich abschaffen wollen? Wie bringen wir den Widerspruch unserer Wut und Kritik an der sogenannten Gleichberechtigung mit der Tatsache in Einklang, dass unser materielles Leben in den meisten Fällen davon abhängt, mittels genau jener Maßnahmen, die das Ziel unserer Kritik sind, Zugang zu Ressourcen zu erlangen?«.

Die Stärke dieses Bandes liegt nicht darin, dass er simple Lösungen für diese Fragen bietet (wenn es so wäre, hätten wir hier ein praktisches Handbuch für eine Revolution!). Vielmehr stellen die Essays – jeder auf seine eigene Art und Weise – beständig und beharrlich diese Fragen und erforschen die Antworten. In diesem Prozess queeren sie nicht nur den Anarchismus, sondern auch unsere Sichtweise und unser Verständnis der Verbindungen und gegenseitigen Verstärkungen zwischen politischen, religiösen, wirtschaftlichen, sexuellen und anderen Formen von Machtstrukturen in der Welt, die uns täglich umgibt.

Übersetzt von Margarita Ruppel

1      Siehe Crenshaw, Kimberlé (1994): Mapping the Margins. Intersectionality, Identity Politics, and Violence Against Women of Color. In: Martha A. Fineman und Roxanne Mykitiuk (Hg.): The Public Nature of Private Violence. New York: Routledge. S. 93–118; sowie Ackelsberg, Martha A. (1991): Free Women of Spain. Anarchism and the Struggle for the Emancipation of Women. Bloomington: Indiana University Press. (Neuauflage AK Press, 2004), insbesondere Kapitel 1; und Ferguson, Kathy (2011): Emma Goldman. Political Thinking in the Streets. Lanham, MD: Rowman and Littlefield, insbesondere die Einführung.

2      Siehe Nozick, Robert (1974): Anarchy, State and Utopia. New York: Basic Books. Ins Deutsche übersetzt von Hermann Vetter (2004): Anarchie, Staat, Utopia. München: Olzog.

3      Siehe ebenfalls: Martha A. Ackelsberg (1991), Kapitel 1; sowie unter anderem auch Ferguson, Kathy (2011) und Ward, Colin (1973): Anarchy in Action. London: George Allen and Unwin.

4      Dieser Begriff [im Original: prefigurative politics] stammt aus Epstein, Barbara (1993): Political Protest and Cultural Revolution. Nonviolent Direct Action in the 1970s and 1980s. Berkeley: University of California Press. Er wurde seither von vielen Theoretiker*innen, einschließlich einiger Autor*innen in diesem Band, verwendet.

C. B. Daring, J. Rogue, Abbey Volcano und Deric Shannon

Queerness trifft auf Anarchismus, Anarchismus trifft auf Queerness

Dieses Buch soll eine Art Einführung sein – eine ›Einführung‹ in zweifacher Hinsicht. Queere Politik und Anarchismus sind nicht völlig voneinander getrennte Themen, doch es ist keine leichte Aufgabe, Texte zu finden, die diese Verbindung artikulieren. Wir glauben, dass queere Politik und Anarchismus einander viel zu bieten haben und sind begeistert von den Verbindungen, die manche Menschen in ihren Texten, Organisationsformen, Kämpfen und täglichen Leben gezogen haben. Daher halten wir eine Einführung in die Schnittpunkte von anarchistischer und queerer Politik für sinnvoll.

Wir meinen ›Einführung‹ aber auch in einem anderen Sinne. Wir möchten unsere anarchistischen Genoss*innen besser mit queerer Politik und unsere queeren Freund*innen besser mit Anarchismus vertraut machen, weil wir diese Verbindung für enorm fruchtbar halten. Wir hoffen, dass diese Sammlung in dem Sinne eine Einführung darstellt, dass sich zwei Ideen begegnen oder besser kennenlernen, denn wir meinen nicht, dass Queers und Anarchist*innen zwei separate unterschiedliche Gruppen sind (das sind sie nicht). Noch wollen wir behaupten, dass Queers und Anarchist*innen stets eine fundierte Ahnung von der jeweils anderen Politik haben.

Wir behaupten nicht, dass diese Idee vollkommen neu ist. Diese Arbeit wird bereits von vielen wahrgenommen. Wenn wir nur mal etwa die letzten fünf Jahre betrachten, wird deutlich, dass sich Gruppen mit einer Vielfalt von Theorien, Praktiken und Lebensweisen – von Bash Back! über Black and Pink bis hin zu Queers Without Borders, um nur einige zu nennen – bereits auf den Weg gemacht haben, den Anarchismus zu queeren. Zu dieser Essay-Sammlung, die du nun in Händen hältst, haben Menschen mit unterschiedlich starkem Engagement in diesen und anderen Gruppen beigetragen.

Wir haben diesen Band zusammengestellt, um einige der Ideen und Debatten dieses Zusammendenkens zu präsentieren. Dabei haben wir wohlgemerkt versucht, Texte auszuwählen, die nicht für eine akademische Leserschaft geschrieben wurden. Viele queere Theorietexte sind kompliziert und schwer zu verstehen. Wir finden zwar, dass komplizierte, schwierige Texte sehr wohl ihren Platz haben, wollten hier jedoch eine Sammlung für eine breite Leserschaft zu Verfügung stellen.

Nach diesen Worten wollen wir kurz in dieses Buch einführen. Der Anarchismus ist von Fehlinformationen und Verzerrungen geprägt, also sollte jeder Text, der Überlegungen zum Anarchismus vorstellt, eine kurze Erklärung zum Standpunkt der Autor*innen enthalten. Zugegebenermaßen ist der Anarchismus ein diverses Gebiet und keine einheitliche Bewegung. Obwohl auch wir, als Herausgeber*innen dieses Bandes, keine einheitliche Sichtweise auf die Bedeutung und Dimensionen des Anarchismus haben, hoffen wir, dass eine kurze Erläuterung des Begriffs jenen Leser*innen die Inhalte der Essays besser verständlich macht, die mit dem Anarchismus wenig vertraut sind. Ebenso ist ›queer‹ ein kontroverser Begriff, der in vielen verschiedenen Bedeutungen verwendet wird und einer Ausdifferenzierung bedarf. Wir wollen mit dieser Einführung nicht die großen Debatten über Definitionen und Bedeutungen in den anarchistischen, queeren und anarchistisch-queeren Kreisen beenden, sondern eher den Zugang zu den Texten in diesem Band erleichtern und bestenfalls noch einen Rahmen für notwendige weitergehende Diskussionen schaffen.

Anarchismus

Im Laufe der Geschichte wurden viele Werke über den Anarchismus geschrieben und die Bewegung hat viele historische Phasen des Rückzugs und des Wiederauflebens gesehen. Im Moment beobachten wir ein Wiederaufleben des Interesses an anarchistischen Ideen. Seit dem Kampf von Seattle 1999 – als eine lockere Koalition aus Umweltschützer*innen, Gewerkschafter*innen, Anarchist*innen, Feminist*innen und vielen anderen die Konferenz der Welthandelsorganisation blockierte – hat der Anarchismus eine offenkundige Renaissance erlebt, welche in vielen Fällen mit der Bewegung der Globalisierungskritiker*innen und -gegner*innen in Verbindung steht. Ebenso wurde die Occupy-Wall-Street-Bewegung unter anderem von Anarchist*innen initiiert, die sich im Weiteren stark an ihr beteiligten.[1] In beiden Fällen haben die etablierten Medien uns Anarchist*innen verteufelt und Falschinformationen über uns verbreitet.

Das ist gewiss nichts Neues. Schon 1928 erklärte Alexander Berkman in seiner Einführung in den Anarchismus: »Der Anarchismus hat viele Feinde, die natürlich die Wahrheit verschweigen werden. […] Ihre Zeitungen und Publikationsorgane – die kapitalistische Presse – sind ebenfalls gegen ihn.« [2] So begann er sein Buch mit einer Liste dessen, was der Anarchismus nicht ist:

Er bedeutet nicht Bomben, Aufruhr oder Chaos. Er bedeutet nicht Raub und Mord. Er bedeutet nicht einen Krieg jeder gegen jeden. Er bedeutet nicht eine Rückkehr zur Barbarei oder in die Anfänge der Menschheit. Anarchismus ist das genaue Gegenteil all dessen. Anarchismus heißt daß Sie frei sein werden; daß niemand Sie versklaven, Sie herumkommandieren, Sie berauben oder mißbrauchen wird.[3]

Es gibt eine lange Geschichte der Verzerrungen des Anarchismus und viele anarchistische Autor*innen haben Jahre damit verbracht, diese Missverständnisse richtigzustellen.

»Die Lust der Zerstörung …«

Versucht man jedoch, den Anarchismus mit ausschließlich friedlichen Begriffen zu beschreiben, vernachlässigt man seine destruktiven Impulse. Damit meinen wir natürlich nicht, dass Anarchist*innen sich an mutwilliger Zerstörung weiden, wie es oft in den Karikaturen in den Massenmedien dargestellt wird. Anarchist*innen kritisieren jedoch die bestehende Gesellschaft und jeder Versuch, das zu leugnen oder zu ignorieren, setzt dem Anarchismus unnötige Grenzen. Wir wollen uns lieber anschauen, was genau der Anarchismus ablehnt und zerstören will.

Die anarchistische Analyse der heutigen Gesellschaft kommt beispielsweise zu dem Schluss, dass die kapitalistischen Eigentumsverhältnisse auf einer Art legalisiertem Raub basieren. Das heißt, dass wir ein System unterhalten (und mit unseren Gesetzen schützen), in dem Dinge wie Wohnraum, Essen, Wasser – Dinge, die alle Menschen brauchen, um ein würdevolles und selbstbestimmtes Leben zu führen – sich in Privatbesitz befinden und für Profit gehandelt werden. Gleichzeitig lassen wir zu, dass sich die Mittel zur Produktion dieser Dinge, wie auch alles andere, in Privatbesitz befinden. Und indem die meisten von uns arbeiten gehen, machen wir die Besitzer*innen dieser Mittel mit unserer Arbeit noch reicher. Anarchist*innen fordern dazu auf, sich gegen diesen legalisierten Raub zu stellen – gegen das System, das wir Kapitalismus nennen.

Außerdem leben wir in Gesellschaften, in denen wir uns von den Entscheidungsprozessen entfremdet haben. Während wir in unserem Arbeitsleben von Bossen gemietet werden, werden wir in anderen Bereichen von politischen Bossen regiert. Wenn wir uns gegen die Befehle dieser politischen Bosse auflehnen, kann die Polizei uns schlagen, entführen, einsperren oder sogar töten. Die Entscheidungen, die unser Leben bestimmen, werden derweil von Politiker*innen getroffen, die uns angeblich ›repräsentieren‹. Anarchist*innen sind der Meinung, dass wir die politische Repräsentation abschaffen sollten – die Institution, die wir Staat nennen.

Anarchist*innen plädieren weiterhin für Veränderungen unserer selbst und haben immer wieder argumentiert, dass der Prozess der Loslösung von Institutionen ebenso einen Prozess bedeutet, in dem wir unseren Alltag und unsere Weltsicht verändern. Der italienische Anarchist Errico Malatesta schrieb zum Beispiel: »Zwischen dem Menschen und seiner sozialen Umgebung besteht ein wechselseitiger Aktionsbezug. Die Menschen machen die Gesellschaft zu dem, was sie ist, und die Gesellschaft macht die Menschen zu dem, was sie sind, und das Ergebnis ist folglich ein Teufelkreis. Um die Gesellschaft zu verändern, müssen die Menschen geändert werden, und um die Menschen zu ändern, muß die Gesellschaft geändert werden.«[4] Das setzt den Kampf gegen und in manchen Fällen auch das Verlernen der Herrschaftsverhältnisse voraus, zu denen wir Rassismus, Ableism, Sexismus, Heterosexismus und viele weitere zählen. Anarchist*innen sind für die Abschaffung aller Arten von Macht über andere – der Systematisierung der Herrschaft, die wir oft als Hierarchie bezeichnen.

Anarchist*innen verkörpern also in der Tat eine destruktive Lust – die Lust, der Herrschaft ein Ende zu setzen, jede Macht über andere zu zerstören, die Mittel zu vernichten, mit denen arbeitende Menschen beraubt und ausgebeutet werden. Darin besteht der negative Aspekt des Anarchismus. Versuche, dies zu beschönigen, was oftmals zu Zwecken populistischer Propaganda geschieht, verleugnen die lange Geschichte tapferer Kämpfe gegen ausbeuterische Systeme und Herrschaftsbeziehungen. Es ist jedoch nicht so, dass der Anarchismus ein rein negatives Projekt ist. Wir sollten uns also nicht nur anschauen, wogegen, sondern auch, wofür Anarchist*innen kämpfen.

»… ist zugleich eine schaffende Lust.«

Zwar ist es wichtig anzuerkennen, dass Anarchist*innen mit der bestehenden Gesellschaft brechen wollen und dies eine negative Politik beinhaltet, doch genauso sollte man berücksichtigen, dass sie, historisch gesehen, eine produktive Politik verfolgt haben. In der Zerstörung liegt auch die Schöpfung. Der Anarchismus ist also ebenso ein schöpferisches Unternehmen – das zeigten historische Versuche der Anarchist*innen, alternative Institutionen zu errichten, oder, um es mit den Worten der International Workers of the World auszudrücken: »Eine neue Gesellschaft in der Hülle der alten zu erschaffen.«

Anstelle des Privateigentums und des systematisierten Raubs fordern Anarchist*innen ein kollektives Eigentumsrecht der Gesellschaft beziehungsweise die völlige Abschaffung von Eigentum. Das mag in einer Gesellschaft, die Eigentum als heilig betrachtet, absurd klingen, doch Anarchist*innen arbeiten mit einer speziellen Definition von Eigentum: Eigentum meint den Anspruch auf Dinge, die man weder benutzt noch in seinem Besitz hält. Das Konzept des Eigentums wird dem des Besitzes gegenübergestellt, also Dingen, die wir benutzen, oder Häusern, in denen wir wohnen (kein Anarchist und keine Anarchistin will dir also dein Haus oder deine Gitarre wegnehmen). So beuten Arbeitgeber*innen und Hausherr*innen die Arbeiter*innen aus, indem sie Eigentum an den Dingen und Orten beanspruchen, die sie weder nutzen noch bewohnen, und dann Mieten und Wertschöpfung von denjenigen beziehen, die die eigentlichen Nutzer*innen sind. Anstelle des Privateigentums stellen sich die Anarchist*innen ein Gesellschaftssystem vor, in dem die Produktion den Bedürfnissen der Menschen dient statt den Profiten von Kapitalist*innen.

Außerdem fordern die Anarchist*innen anstelle eines Staates, der über der Gesellschaft steht und sie regiert, von den Bürger*innen selbstverwaltete Gremien wie Nachbarschaftsversammlungen, Arbeitsvereinigungen, Gemeinderäte und dergleichen. Wir würden Entscheidungen, die unser Leben bestimmen, kollektiv fällen, anstatt sie Politiker*innen oder den Launen des Marktes zu überlassen. Die öffentliche Sicherheit sowie die kollektive Entscheidungsfindung würden dann durch partizipatorische Netzwerke, die auf einer Selbstverwaltung durch direkte Demokratie in nachbarschaftlichen und kommunalen Graswurzelversammlungen basieren, organisiert werden, anstatt durch Repräsentation, Polizei und Gefängnisse – sprich: Bürokratie.[5]

Hierarchischen Gesellschaftsverhältnissen setzen Anarchist*innen eine menschliche Gemeinschaft entgegen, die auf Autonomie, Solidarität und gegenseitiger Hilfe basiert. So bedeutet der Kampf gegen Staat und Kapitalismus gleichzeitig einen Kampf gegen die weiße Vorherrschaft, das Hetero-Patriarchat und alle anderen Formen der Unterdrückung und Ausbeutung. Anarchist*innen fordern eine Gesellschaft, die auf einem hochgradig egalitären Ethos aufbaut, weil kein menschliches Wesen Macht über ein anderes haben sollte. Anarchist*innen argumentieren, dass »der Kampf gegen den Kapitalismus gleichzeitig ein Kampf gegen die Zwangsinstitutionen der politischen Macht sein muß, da in der Geschichte die ökonomische Ausbeutung Hand in Hand mit politischer und sozialer Unterdrückung gegangen ist«.[6] Anstelle der weißen Vorherrschaft, einer Welt der Menschen ohne Behinderung, des Patriarchats, der Heteronormativität und aller anderen Herrschaftsverhältnisse würden eine Reihe von Gesellschaftsverhältnissen treten, in denen Gruppen nicht hierarchisch in Bezug auf ihren Zugang zu wirtschaftlicher, politischer und kultureller Macht organisiert sind.

Diese kurze Einführung verschafft bloß einen sehr groben Überblick über den Anarchismus und wir empfehlen jedem* und jeder* Interessierten, sich selbst mit den vielen Webseiten, Büchern, Zeitschriften etc. zu beschäftigen, die es zu dem Thema gibt. Manche Anarchist*innen mögen mit unserer Darstellung nicht einverstanden sein – wie gesagt, der Anarchismus ist eine vielfältige Strömung. Wir wollen daher betonen, dass wir hier nicht für die gesamte Strömung sprechen, sondern unsere eigenen Interpretationen darlegen.

Queer

Der Begriff ›queer‹ ist nicht weniger kontrovers. Er wurde im Englischen traditionell zur Beschreibung von etwas Komischem oder Schrägem verwendet. In neuerer Zeit wurde der Begriff als Schimpfwort gegenüber Menschen verwendet, die als lesbisch und / oder schwul wahrgenommen werden – insbesondere gegenüber effeminierten Männern. Im modernen Sprachgebrauch wird ›queer‹ oft als Überbegriff für viele verschiedene Identitäten der LGBT-›Buchstabensuppe‹ verwendet – die aus unterschiedlichen Gruppierungen sexueller Minderheiten besteht, welche wiederum selbst kontrovers darüber diskutieren, wer ›ein Recht‹ auf diese Identitätskategorien hat und wer nicht.

Ein Grund, weshalb ›queer‹ zum Überbegriff für viele Arten sexueller und geschlechtlicher Minderheiten wurde, waren eben jene Debatten über Zugehörigkeit, Kontexte und Denkweisen über unser sexuelles und geschlechtliches Selbst, die nicht auf Identitäten basierten. Diese Flut an Schriften über Theorie, Körper, Geschlechter, Begierden, Sexualität und vieles mehr wird oft als ›Queer-Theorie‹ bezeichnet, mit der eine ›queere Politik‹ verbunden ist und die häufig in denselben historischen Momenten zutage trat. Gruppen wie ACT UP und Queer Nation oder Events wie die Queeruption-Festivals, die an verschiedenen Orten stattfanden, hatten oftmals einschneidende Auswirkungen auf die Sichtweise der Teilnehmer*innen bezüglich (der Grenzen von) Identität.

Begleitend dazu nahm die an Bedeutung gewinnende Queer-Theorie Identitätskategorien kritisch unter die Lupe. Die Flut an queeren Theorien basiert zum Teil auf der Arbeit des französischen Intellektuellen Michel Foucault. In seiner berühmten Studie der Sexualität fand er heraus, dass ›Homosexualität‹ als Identitätskonstruktion bis zu den Anfängen der Sexualwissenschaft zur Mitte des 19. Jahrhundert zurückverfolgt werden konnte.[7] Homosexualität ist also eine Erfindung. Das bedeutet nicht, dass es vor dieser Zeit keine gleichgeschlechtlichen sexuellen Aktivitäten gegeben hat, sondern dass diese Aktivitäten erst durch komplexe historische Prozesse in eine Identität verwandelt wurden – einschließlich sie umgebender Grenzen und in manchen Fällen strenger Unterscheidung zwischen Zugehörigen und Nichtzugehörigen. Das, was eine Person tut (eine Handlung), wurde zu dem, was diese Person ist (einer Identität). Foucault zufolge wurde die Homosexualität zu einer Kategorie der menschliche Spezies.

Die verfügbaren Kategorien für das, was wir mittlerweile ›sexuelle Orientierung‹ nennen, entwickelten sich in diesem historischen Prozess der Identitätsformung. Sie reduzieren komplexe Begehren und Beziehungen darauf, welches Geschlecht eine Person und die von dieser begehrten Person haben. Das ist insofern von großer Bedeutung, als dass Identität eine entscheidende Rolle in der Selbstwahrnehmung spielt, sowie in dem Prozess, in dem wir »zu sozial lebensfähigen Wesen werden«.[8] Diese sozial konstruierten Identitäten führten dazu, dass manche Menschen unsichtbar gemacht wurden – was ein weiterer Auslöser für die Entwicklung der queeren Theorie und Politik war.

Denkt mal darüber nach: Uns wird eingeredet, dass wir entweder hetero, homo oder bi sind – also uns zu 100% vom anderen Geschlecht, zu 100% vom selben oder 50 / 50 von beiden Geschlechtern angezogen fühlen. Das sind wir. Ein Gutteil der Gesellschaft hat diese Einteilung verinnerlicht und sogar eine repressive Hierarchie daraus gemacht. Das Verständnis von Sexualität und Geschlecht in Form von strikten, leicht identifizierbaren und streng kontrollierten Identitäten beraubt also Menschen ihrer Sichtbarkeit, die nicht in unsere engen verfügbaren Kategorien für eine lebensfähige soziale Existenz passen – das gilt nicht nur für Sexualität, sondern auch (und natürlich damit einhergehend) für das soziale und biologische Geschlecht. Diese Kategorisierung schließt Menschen aus, deren sexuelles Begehren wandelbar ist oder deren Genderinszenierung nicht unseren begrenzten Wahl- und Selbstverständnismöglichkeiten in Bezug auf ›Sexualität‹ entsprechen. Menschen, die ihr Geschlecht auf eine Weise wahrnehmen, die sich nicht in diesen engen Schubladen wiederfindet, wurden unsichtbar gemacht. Eine flexiblere, durchlässigere, weiter gefasste, inklusive Kategorie war notwendig, und so stellte ›queer‹ in vielen Fällen einen Versuch dar, diesen Raum zu schaffen – in gewissem Sinne eine Anti-Identität. ›Queer‹ war ein Wort, mit dem man spielen konnte.

Ein Adjektiv und ein Verb

›Queer‹ bot Raum für Kritik an Identität und spielte mit Theorie, Körpern, Macht und Begehren, ohne auf einfache Definitionen zu reduzieren. Die Sichtweisen auf Sexualität, das soziale und biologische Geschlecht sowie unzählige weitere Ideen in Bezug auf queere Theorie und Politik bieten noch immer viel Stoff für Diskussionen. Wir hoffen, dies in diesem Sammelband deutlich zu machen. Das Wort ›queer‹ weist auch in seiner Verwendung eine hohe Flexibilität auf – so wird es (im Englischen) zuweilen noch als Substantiv verwendet, jedoch auch als Adjektiv und als Verb.

Anstelle des Substantivs – ein weiterer Marker von Identität – wird ›queer‹ oft als Adjektiv benutzt. Dann ist es vielmehr ein Ausdruck der Positionierung, anstatt dass das Wesen einer Person beschrieben würde. ›Queer‹ kann also als Verhältnis, als kontextabhängiger Gegenpol zum Normalen betrachtet werden.[9] Halperlin beschreibt dies am besten: »Queer ist per Definition etwas, das nicht normal ist, nicht legitim oder dominant. Es bezieht sich nicht auf etwas Bestimmtes. Es ist eine Identität ohne Essenz. So markiert ›queer‹ also keine Positivität, sondern eine Positionierung gegenüber der Norm – eine Positionierung, die sich nicht auf Lesben und schwule Männer beschränkt, sondern jeder*m offen steht, der*die sich aufgrund seiner*ihrer Sexualpraktiken ausgegrenzt fühlt.«[10] Die normativen Erwartungen der Gesellschaft schaffen eine binäre Spaltung zwischen Verhaltensweisen, die jeweils als ›normal‹ und ›abnormal‹ gelten. Verhaltensweisen (oder Begehren, Gedanken etc.), die in die Kategorie ›normal‹ fallen, sind dominant, verständlich, sichtbar und vielfach mit Macht verbunden. Andere Verhaltensweisen fallen in die Kategorie ›abnormal‹ und sind somit untergeordnet, unverständlich, unsichtbar, werden unterdrückt, verdrängt und verfolgt.

Was dabei als ›abnormal‹ gilt, hängt davon ab, was als ›normal‹ gilt. Veränderungen auf der einen Seite bewirken also Veränderungen auf der anderen. In diesem Sinne bildet ›queer‹ eine Parallele zur Kategorie ›abnormal‹ und steht dem entgegen, was ›normal‹ ist. So wie sich das Normale verändern kann, kann sich auch das Abnormale, das Queere verändern. Daher kommt die Definition von ›queer‹ als Positionierung – was als queer gilt, ist nicht festgelegt, sondern vom Kontext abhängig und von dem, was als normal bezeichnet wird. Die Bezeichnung ›queer‹ beschränkt sich nicht nur auf ›Schwule‹ oder ›Lesben‹, weil viele Sexualpraktiken als abnormal gelten – manche davon haben nicht primär mit dem Geschlecht zu tun (zum Beispiel bestimmte Sexpraktiken wie BDSM und Arten, sich zu kleiden oder sexuelle Beziehungen zu führen, wie Nicht-Monogamie oder Sexarbeit). Normale Sexualität in unserer Gesellschaft meint nicht nur, hetero zu sein, sondern zielt darüber hinaus auf eine bestimmte Form der Heterosexualität ab – das glückliche Ehepaar in einer langjährigen Beziehung. Sie ist mit einer Reihe weiterer Normen verbunden, sodass man von ›Heteronormativität‹ spricht – einer ganz bestimmten Form der Heterosexualität, die die mit ihr verbundenen Normen verstärkt: Lebensgemeinschaft, Fortpflanzung, Ehe, monogame Beziehung etc. Dementsprechend können wir queere Sexualpraktiken und Geschlechtsformen analysieren, die davon zeugen, dass »Hierarchien innerhalb der Heterosexualität existieren«. Damit schaffen wir uns die Rahmenbedingungen, um Nicht-Monogamie, Sexarbeit, BDSM und vieles mehr sowohl im Hinblick auf gleichgeschlechtliche als auch auf andere Beziehungen zu diskutieren.[11]

Das bedeutet nicht, dass all diese Sexual- und Geschlechtspraktiken auf dieselbe Art und Weise erlebt oder im selben Maße unterdrückt werden. Auch das ist vom Kontext abhängig und steht mit anderen Identitäten oder Klassenzugehörigkeiten in Verbindung, die Menschen zugeschrieben werden. Es ist also für alle vom Heteropatriarchat Marginalisierten und Unterdrückten strategisch sinnvoll, sich zum Kampf zusammenzuschließen. Dazu brauchen wir eine Herangehensweise, unter der wir die vielfältigen marginalisierten Sexual- und Geschlechtspraktiken untersuchen können. Das bedeutet nicht, dass das Heteropatriarchat alle Abweichler*innen gleich behandelt, sondern dass es viel zu tun gibt und dass eine Befreiung uns alle einschließen muss, wenn sie von Bedeutung sein soll.

Neben der gesellschaftlichen Konstruktion von Sexualität und Gender können wir auch das biologische Geschlecht selbst aus einer kritischen Perspektive betrachten, wie uns die intersexuelle Bewegung gelehrt hat. Das biologische Geschlecht wird in unserer Gesellschaft in ein binäres System gepresst – männlich und weiblich – welches die Vielfalt an möglichen hormonellen, sexuellen und sogar chromosomalen Zusammensetzungen von Menschen verkennt sowie die Zwanghaftigkeit der staatlichen Bemühungen, unsere Geschlechter bei der Geburt festzulegen, ignoriert. Das anzuerkennen, ermöglicht uns eine ganzheitlichere Politik in Sachen Sexualität, biologischem und sozialem Geschlecht. Außerdem schafft es einen theoretischen Raum, in dem wir unsere naturalisierten Vorstellungen über andere Identitäten queeren können. Dies hilft beispielsweise, wenn wir Menschen, die zwischen den verfügbaren Kategorien von ethnischer Zugehörigkeit existieren und deren Identität sich in Abhängigkeit vom jeweiligen Kontext verändert, betrachten – vielleicht sind sie in einem bestimmten Kontext weiß und in einem anderen Latino. Wie könnte eine Politik aussehen, die Identitäten nicht als festgelegt, monolithisch und dauerhaft betrachtet?

Jenes antagonistische Verhältnis zum Normalen hat zu einer Anti-Vereinnahmungs-Ethik geführt, welche oftmals queere Politik von der schwul-lesbisch-bi-trans-Mainstream-Politik unterscheidet.[12] So wird die ›Heilige Dreifaltigkeit‹ schwul-lesbischer Politik – gleichgeschlechtliche Ehe, die Aufhebung des Verbots von Homosexuellen in der US-Armee sowie die Inklusion von Homosexuellen in den strafrechtlichen Tatbestand der Hasskriminalität – häufig von queeren Aktivist*innen abgelehnt und kritisiert.[13] Das spiegelt sich auch in der Tendenz zur radikalen Politik und Kritik am Staat wider. Schließlich zwingt der Staat uns mit aller Macht Identitätskategorien auf und seine Bediensteten folgen dabei einer Logik, nach der alle Arten von Körpern und Begehren in diese engen Kategorien passen müssen. Ebenso wie unsere Gesellschaft Identitäten fest eingrenzt, ahndet der Staat mit aller Härte jede Grenzüberschreitung. Queere Menschen leiden besonders in den Gefängnissen des Staates.[14] Diese Ambivalenz gegenüber dem Staat ist ein verbreitetes Merkmal queerer Politik. Zudem sind queere Communitys oft vom Antikapitalismus und vom Kampf für die Befreiung der Arbeiterklasse geprägt, was sich gut mit anarchistischen Werten verträgt (ein weiterer Grund dafür, dass diese Sammlung längst überfällig war!).

Jene Positionierung in Bezug auf die Norm wirkt sich auch auf die Bedeutung von ›queeren‹ als Verb aus. Da queere Theorie und Politik hauptsächlich aus den Forschungsbereichen Sexualität, Gender und Geschlecht entstanden sind, bezeichnet der Prozess des Queerens oft das Hinzufügen einer fehlenden Analyse in diesen Bereichen zu einer bestehenden Theorie oder Gedankenkonstruktion. So wollen wir also das Queeren des Anarchismus beginnen, indem wir fehlende Analysen über Gender, Sexualität und Geschlecht dort hinzufügen, wo sie überholt scheinen oder nicht existieren. Genauso gut kann das Verb aber auch einen Prozess beschreiben, in dem eine Gedankenkonstruktion ins Eigenartige gerückt wird, um dominante Sichtweisen und unterschwellige Annahmen zu destabilisieren. Das Queeren des Anarchismus kann also auch bedeuten, den Anarchismus eigenartig zu machen, durch Erkenntnisse aus der queeren Theorie und Politik neue Sichtweisen auf den Anarchismus zu schaffen, die ihn neu definieren / weiterentwickeln.

Anarchismus queeren

In diesem Band finden sich all diese Verwendungen von ›queer‹ – als Substantiv, Adjektiv und Verb. Anstatt alle Texte auf eine einzige, einheitliche Verwendung des Wortes festzulegen, haben wir unterschiedliche Kapitel in dem Wissen zusammengestellt, dass sie nicht immer kohärent sind. Das Ziel dieses Buchs ist es, Gespräche voranzubringen, deshalb haben wir eine große Vielfalt von Ansätzen und Ausdrucksweisen zugelassen. Die Leser*innen werden daher auch Texte hierin finden, die sozusagen den Theoriediskurs queeren, indem sie ihre Ideen nicht als theoretischen Essay, sondern auf kreativere Arten formulieren. Dieser Prozess des Zusammentragens und Lektorierens dauerte mehr als drei Jahre, überdauerte Wechsel im Herausgeber*innen-Kollektiv und sah manche Autor*innen bis zum Schluss an unserer Seite sowie andere, zu denen wir den Kontakt in diesem langen Zeitraum verloren.

Im Anfangsstadium beschlossen wir, dieses Buch wie die meisten Anthologien in Abschnitte zu unterteilen. Wir wollten das Material in theoretische Texte, praktische Texte und Reflektionen eigener Lebenserfahrungen sortieren. Am Ende stellten wir jedoch fest, dass fast jedes Kapitel alle drei Elemente enthielt. Wir beschlossen also, die Texte in einer sinnvollen Reihenfolge anzuordnen, die die Gedankenvielfalt zur Schau stellt, aber nicht auf eine feste Aufteilung beschränkt ist – selbst wenn wir Letzteres versucht hätten, wären die Übergänge fließend geworden. Was wir allerdings versucht haben, war, die Texte so anzuordnen, dass sie zunächst in den theoretischen Hintergrund einführen, auf dem im weiteren Verlauf aufgebaut wird, sodass den Leser*innen hoffentlich ein besseres Verständnis ermöglicht wird, wenn sie chronologisch vorgehen.

Wir beginnen mit Ryan Conrad, der viel Kritik an den Eingliederungssstrategien und der Gleichberechtigungsrhetorik der lesbisch-schwulen Mainstream-Bewegung äußert. Conrad will mit seiner Kritik an den Eingliederungszielen aufzeigen, dass wir mehr einfordern können als Gleichberechtigung in den bestehenden Institutionen – wir könnten sogar eine neue Welt erschaffen. J. Rogue benennt Lehren, die Anarchist*innen aus der trans-feministischen Bewegung ziehen können, und zeigt dadurch auf, wie wir unseren Feminismus erneuern und eine anarchistische Gender-Politik aufbauen könnten, die differenziert und ganzheitlich ist. Abbey Volcano begibt sich in die radikale queere Theorie und plädiert dafür, beim Umkehren von Hierarchien Vorsicht walten zu lassen und unsere Politik nicht nur auf simpler Opposition zu begründen. Stacy alias sallydarity untersucht bestehende Gender-Theorien und leistet eine queere anarchistische Analyse, die als Anregung für Auswege aus unseren aktuellen Denk- und Verhaltensweisen im Bezug auf Gender dienen kann. Jamie Heckert erforscht Wege, wie wir den Anarchismus queeren und eigenartig machen können. Dabei benennt er das Bedürfnis nach kreativen Arten von Politik, die nicht nur auf antagonistischer Opposition beruhen. Farhang Rouhani erzählt, wie er ein queeres Gemeindezentrum eröffnete und welches Chaos mit dem Aufbau und Betrieb solcher Räume verbunden ist – wo Identitätskategorien gleichzeitig hinterfragt, erschaffen, destabilisiert und manchmal von den Teilnehmer*innen gefeiert werden. Jerimarie Liesegang verbindet den Kampf gegen den Staat mit dem Kampf für die Befreiung von trans Menschen. Jerimarie argumentiert, dass der Staat eine zwanghafte Geschlechterzuordnung betreibe und eine Trans-Befreiung somit die Abschaffung des Staates voraussetze.

Anschließend tritt Benjamin Shepard für das Queeren der anarchistischen Organisationsstrukturen ein, was uns zu einem Genussaktivismus führen könnte. Das geht einher mit dem Prinzip der Schadensreduzierung, das wir in unseren Kämpfen für eine bessere Welt und in unseren Konzeptionen queerer Strategien berücksichtigen sollten, um zu ermöglichen, dass politische Interventionen anders wahrgenommen werden. Gayge Operaista ist der Meinung, dass der Klassenkampf eine zentrale Komponente queerer Organisationsformen sein sollte, da Klasse keine simple ›Identität‹ sei und wir uns als eine Klasse gegen den Kapitalismus organisieren sollten. Das CRAC Collective queert die Theorie, indem es einen Comic beisteuert. Darin unterhalten sich Menschen darüber, wie Gender-Fragen ihre politische Aktivität sowie ihr Leben als Radikale und Anarchist*innen beeinflussen. Stephanie Grohmann untersucht, welchen Einfluss die Wirtschaft auf unsere heutigen Konzepte von Sexualität und Gender hat und schlägt vor, dass wir »die Ökonomie queeren« oder unser Verständnis von der Wirtschaft verändern sollten, um deren Auswirkungen auf andere Bereiche unseres Lebens zu erkennen – vor allem im Bezug auf unser biologisches und soziales Geschlecht. Sandra Jeppesen berichtet aus ihrer persönlichen Erfahrung darüber, welche Rolle das Queeren des Anarchismus im Leben von Menschen einnehmen kann, die zwar vermeintlich heterosexuelle Beziehungen haben, sich aber nicht mit Heterosexualität identifizieren.

Schließlich schreibt Susan Song über die Überschneidungen von anarchistischer Politik und polyamoren Sexualpraktiken sowie Beziehungen. C. S. Becerra führt eine Medienanalyse am Beispiel von Sex and the City durch und untersucht, wie die Pop-Kultur unser Verständnis von Geschlechtern und Sexualität prägt. Sie legt überzeugend dar, dass Anarchist*innen solche Analysen nutzen können, um aufzuzeigen, wie die Kultur unsere Sichtweisen auf uns selbst und unsere Beziehungen beeinflusst. C. B. Daring argumentieren, dass Anarchist*innen Sexarbeit nicht moralistisch betrachten sollten, wie es bei ›radikalen‹ Positionen zur Arbeit in der Sexbranche allzu oft der Fall ist. Jason Lydon bringt queere anarchistische Politik mit dem Kampf gegen den gefängnisindustriellen Komplex in Verbindung. Liat Ben-Moshe, Anthony J. Nocella II. und AJ Withers zeigen Parallelen zwischen Behinderung und Queerness auf und schlagen vor, dass wir die Kämpfe gegen Heteronormativität und andere Formen der Unterdrückung und Ausgrenzung mit dem Kampf gegen Ableism (die Diskriminierung von Behinderten) vereinen sollten. Saffo Papantonopoulos ist der Meinung, dass Heterosexualität keine Identität, sondern eine Reihe von sozialen Beziehungen ist, und eine umfassende Befreiung nach anarchistischen Prinzipien somit bedeutet, dass diese sozialen Beziehungen an der Wurzel gepackt, offengelegt und zerstört werden müssen. Hexe verbindet BDSM-Praktiken spielerisch mit dem Anarchismus und nutzt die sexuelle Analogie, um den Anarchismus zu queeren.

Wir halten diese vielen starken Verbindungen zwischen anarchistischer und queerer Politik für bemerkenswert. Aber, wie man so schön sagt, probieren geht über studieren. Wir hoffen, dass es dieser Anthologie in ihrer Vielfältigkeit gelingt, Wege aufzuzeigen, wie wir es schaffen können, die oft traurigen, gewalttätigen und langweiligen Landschaften dieser Welt zu verändern und neue Welten zu erschaffen. Wir sind der festen Überzeugung, dass aus diesem Zusammentreffen von Anarchismus und Queerness viele weitere fruchtbare Projekte – und mit diesen auch eine Vielzahl an Partnerschaften – entstehen werden.

Übersetzt von Margarita Ruppel

1      Siehe z.B. Aragorn!, (Hg.) (2012): Occupy Everything: Anarchists in the Occupy Movement, 2009–2011. Berkeley, CA: LBC Books.

2      Berkman, Alexander (1928): ABC des Anarchismus. Zitiert nach: https://anarchistischebibliothek.org/library/alexander-berkman-abc-des-anarchismus.pdf (S. 5).

3      Ebd.

4      Malatesta, Errico (1977): Gesammelte Schriften Band 1. Berlin: Karin Kramer Verlag.

5      Siehe hierzu »An Anarchist FAQ« auf http://infoshop.org/AnAnarchistFAQ.

6      Rocker, Rudolf (1938): Anarchismus und Anarcho-Syndikalismus. Original London. Hier zitiert nach: https://www.marxists.org/deutsch/referenz/rocker/1938/anarsyndik/kap1.htm

7      Siehe Foucault, Michel (1983): Sexualität und Wahrheit: Der Wille zum Wissen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

8      Butler, Judith (2009): Die Macht der Geschlechternormen und die Grenzen des Menschlichen. Frankfurt am Main: Suhrkamp.

9      Siehe insbesondere Warner, Michael (1999): The Trouble with Normal: Sex, Politics, and the Ethics of Queer Life. Cambridge, MA: Harvard University Press.

10    Original: Halperin, David (1995): Saint Foucault: Towards a Gay Hagiography. Oxford: Oxford University Press. S. 62.

11    Original: Heckert Jamie (2004): »Sexuality / Identity / Politics«. In: Changing Anarchism: Anarchist Theory and Practice in a Global Age. Hg. von Jonathan Purkis und James Bowen. Manchester, UK: Manchester University Press. S. 111.

12    Siehe vor allem Bernstein Sycamore, Mattilda, Hg. (2004): That’s Revolting!. Queer Strategies for Resisting Assimilation. Brooklyn, NY: Soft Skull Press.

13    Siehe insbesondere Conrad, Ryan (Hg.) (2010): Against Equality. Queer Critiques of Gay Marriage. Lewiston, ME: Against Equality Press; sowie Conrad, Ryan (Hg.) (2011): Against Equality. Don’t Ask to Fight Their Wars Lewiston, ME: Against Equality Press.

14    Siehe z.B. Stanley, Eric A. und Smith, Nat, Hg. (2011): Captive Genders. Trans Embodiment and the Prison Industrial Complex. Oakland, CA: AK Press.

Ryan Conrad

Homo-Ehe und queere Liebe

Liebe, das stärkste und größte Element allen Lebens, Vorbotin der Hoffnung, Freude, Ekstase; Liebe, die alle Gesetze und Konventionen herausfordert; Liebe, die freiste, mächtigste Formerin menschlichen Schicksals; wie kann eine so allumfassende Macht in gleicher Bedeutung verwendet werden mit jenem kleinen, armseligen Unkraut, das Staat und Kirche ausgesät haben, der Ehe?

Emma Goldman, Ehe und Liebe (1911)

Mainstream-Organisationen für die Rechte von Schwulen und Lesben wenden in den USA zuweilen eine verwirrende und widersprüchliche Rhetorik an, um im kontroversen Streit um die Homo-Ehe ihre moralische Überlegenheit zu demonstrieren. Diese Organisationen bemühen einerseits das affektive Argument, dass jeder Mensch das Recht hat, zu lieben, wen er will, und andererseits sachlichere Argumente, die den gleichberechtigten Zugang zu einer Vielzahl von staatlichen Vorteilen und Privilegien einfordern. Durch diese Gefühlsschiene und den Appell an unseren Sinn für Gleichberechtigung wurden viele dazu verleitet, sich in die kurzsichtige Debatte um die Homo-Ehe zu stürzen, anstatt ihre Energien in sinnvollere Bahnen zu lenken. In ihrem Essay Ehe und Liebe riss Emma Goldman 1911 die Ehe in Stücke, indem sie scharf deren Verstärkung vorgeschriebener Geschlechterrollen, patriarchaler Strukturen und der Kleinfamilie kritisierte. Sie beschrieb ebenso kritisch und ausführlich, wie der Begriff der Liebe herangezogen wurde, um das staatliche und kirchliche Zwangskonstrukt zu rechtfertigen, das wir Ehe nennen. Ich setze heute mit Queerness dort an, wo sie vor hundert Jahren aufgehört hat.

Als 2009 die nationale Kampagne für die Einführung der Homo-Ehe in meinem überwiegend armen und ländlichen Bundesstaat Maine Fuß fasste, wehrte ich mich verzweifelt mit Händen und Füßen dagegen. Selbst nun nach dieser gescheiterten, abartig elitären Kampagne[1] weigern sich die lesbisch-schwulen Organisationen und die professionellen Aktivist*innen, die sie tragen, vehement, kritisch zu hinterfragen, in Bezug worauf wir, als queere und trans Akteure, überhaupt Gleichheit anstreben. Wollen wir wirklich die Inklusion in die Institution Ehe, einen gesellschaftlichen Vertrag, der uns explizit darin einschränkt, wie wir unser erotisches und emotionales Leben organisieren? Wollen wir zudem wirklich eine gesellschaftliche Institution stärken, in der unsere direkten Bedürfnisse und der Zugang zu kollektiven Vorteilen von dieser einen Artikulation der Partnerschaft abhängen? Oder haben sich einfach viele von uns von einer vagen Vorstellung von Gleichberechtigung mit all ihren leeren Versprechungen[2] zu dem Glauben verleiten lassen, dass die Homo-Ehe ein erstrebenswertes Ziel sei?

Schwul-lesbische Mainstream-Organisationen bauen ihre Kampagnenstrategie und ihre beschämende Rhetorik auf zwei konkurrierenden Diskursen auf, die hier grob untersucht werden sollen. Wenn man diese konkurrierenden Diskurse zerlegt, erkennt man, dass die Ehe nur wenig mit Liebe zu tun hat und der Kampf der schwul-lesbischen Mainstream-Organisationen um die Homo-Ehe die Chancen auf eine gleichberechtigte queere Zukunft weiter in die Ferne gerückt hat – eine Zukunft, die einst in den mutigen Köpfen von radikalen queeren und trans Leuten entstand, die sich in ACT UP, Queer to the Left oder der George Jackson Brigade organisierten, und auch heute noch bei radikalen Graswurzelorganisationen wie Queers for Economic Justice, La Gai – Queer Insurrection oder Gay Shame präsent ist, um nur einige von ihnen zu nennen.

Der erste Diskurs beinhaltete eine hoch affektive und emotional geladene Rhetorik, die das Recht betonte, alle dürften lieben, wen sie wollten. Die Botschaft der Kampagnen für die Homo-Ehe reproduziert aktiv das Bild der Ehe als Institution, die durch und um den Begriff der Liebe organisiert ist. Protest-Slogans wie »Wer sonst kämpft für die Liebe!?« oder »Ich habe das Recht, zu lieben, wen ich will!« vermitteln den Eindruck, dass es bei der Debatte um die Homo-Ehe vorrangig um Liebe geht. Wie etliche Historiker*innen jedoch aufgezeigt haben,[3] ist Liebe nie das zentrale Element der Ehe gewesen, sondern der Handel mit Frauen als Besitztümern mittels eines patriarchalen Mitgiftsystems, welches sich zur abgemilderteren häuslichen Vertragsknechtschaft entwickelte, die Goldman in ihrer Schrift so überzeugend dekonstruiert hat. Auch wenn die meisten offenkundig gewalttätigen Dynamiken der Ehe heutzutage in den USA nachgelassen haben, setzen sich die strukturelle und individuelle Gewalt fort.

Fast die Hälfte aller Erst-Ehen wird geschieden.[4] Wenn die Ehe tatsächlich das liebevolle, fürsorgliche, soziale Sicherheitsnetz ist, als das die Anwält*innen der Familienwerte sie darstellen, dann fragt man sich doch, wie es zu dieser erstaunlich hohen Scheidungsrate kommt. Mögliche Gründe sind vielleicht, dass in den USA fast 7,8 Millionen Frauen bereits Opfer einer Vergewaltigung durch ihren Partner geworden sind[5] oder dass häusliche Gewalt die häufigste Ursache von Verletzungen bei Frauen zwischen 15 und 44 Jahren ist.[6] Vielleicht liegt es auch daran, dass in 68 Prozent aller Fälle von sexuellem Kindesmissbrauch die Täter*innen Familienangehörige sind.[7] Empirismus mal beiseite, die sogenannten gesunden und privatisierten Familienstrukturen, durch die die eheliche Institution Gewalt minimieren will, dürfen nicht nachgeahmt werden, wenn wir uns als radikale queere und trans Gemeinde der Gewalt in unseren eigenen Kreisen und Familien (ob selbst gewählt oder nicht) entgegenstellen wollen.

Dem eben besprochenen, affektiven Diskurs wird noch ein sachlicherer Ansatz hinterhergeschoben. Diese Argumentation stützt sich auf einen krassen US-amerikanischen Individualismus, der schwule und lesbische Organisationen hervorgebracht hat, die ihren Diskurs auf Rechte fokussieren, um das zu erreichen, was in ihren Augen absolute Gleichberechtigung ist. Hier finden wir zahlreiche LGB- und manche T-Aktivist*innen, die verbissen um die 1.138 Rechte kämpfen, welche ihnen die staatlich anerkannte Ehe bringen würde. Diese staatlichen Vorteile und Privilegien, wie sie im Defense of Marriage Act[8] enthalten sind, betreffen in großer Mehrheit den Transfer von Geld und Eigentum (einschließlich der Kinder, da im Rahmen der Ehe Kinder nur als Eigentum betrachtet werden können). Der klare Schwerpunkt auf Eigentumsrechten zeigt deutlich, dass die Ehe wenig mit Liebe zu tun hat, sondern eher mit Vorteilen und Privilegien, die vom Staat an diejenigen ausgeteilt werden, die bestimmten, von der Kirche festgelegten moralischen Vorstellungen folgen.

Organisationen für die Homo-Ehe benutzen also diesen Diskurs über ›gleichberechtigten‹ Zugang zu staatlichen Vorteilen und Privilegien in einem Zuge mit einer überaus effektiven Liebesrhetorik. So erzeugen sie einerseits emotionale Reaktionen und setzen andererseits strategischere / sachlichere Argumente für die Homo-Ehe ein. Diese zweigleisige Kampagne hat erfolgreich viele LGBT-Aktivist*innen für sich gewinnen können, die ihre Energien besser in andere Projekte hätten stecken können. Warum fordern wir als queere und transgender Bewegung für soziale Gerechtigkeit nicht den Zugang zu den verbotenen Früchten der Ehe (z.B. Krankenversicherung, Reisefreiheit usw.) für alle Menschen, ob homo- oder heterosexuell oder sonst was, und nicht nur für Bürger*innen in ehelichen Partnerschaften?

Glücklicherweise wird dieser Diskurs auf lange Sicht scheitern, denn die Behauptung, die Ehe basiere auf Liebe, ist haltlos, wenn sie nur durch eine Nachahmung der hyperkonservativen Werterhetorik der christlichen Rechten aufrechterhalten werden kann. Die normalisierende Funktion der Behauptung, dass liebevolle Familien nur in den engen Grenzen einer klassischen Kleinfamilienstruktur (homo- oder heterosexuell) existieren können, wird stets bestimmten Familien das Existenzrecht zusprechen und andere als tödliche Bedrohung darstellen.[9] Wie der Historiker John D’Emilio in seinem Artikel The Marriage Fight Is Setting Us Back feststellt, finden Schwule und Lesben meist größere Akzeptanz bei solchen Heteros, die von konservativen Familienbildern abgerückt sind und weniger traditionelle, queere Arten gefunden haben, ihr erotisches sowie familiäres Leben zu organisieren.[10]

Die lächelnden, weißen Familien in idyllischen Vorstadtgärten auf den Plakaten der Kampagnen für die Homo-Ehe unterschieden sich nicht von den lächelnden, weißen Familien in idyllischen Vorstadtgärten auf den Plakaten der Propaganda gegen die Homo-Ehe. Nicht nur visuell gab es zwischen den Kampagnen keinen Unterschied als den der Geschlechterverteilung der Paare, auch die begleitende Rhetorik der Familienwerte war nahezu identisch. Die betonte Darstellung der Kleinfamilie (homo- oder heterosexuell) als Garant für finanzielle Sicherheit, moralische Werte und die physische Sicherheit des Kindes sollte uns alle zutiefst bestürzen. Diese Logik der familiären Sicherheit wird seit drei Jahrzehnten von feministischer Kritik infrage gestellt, die die Kleinfamilie als Haupttatort von sexueller Gewalt gegen Kinder problematisiert. Kein rhetorischer Appell kann das verschleiern oder aus der Welt schaffen.[11]

Diese neoliberale Vorstellung der Kleinfamilie als einzigem Ort, an dem emotionale und wirtschaftliche Sicherheit erzeugt wird, wird von der aktuellen Bewegung für die Rechte Homosexueller wiederbelebt. In einer bizarren historischen Wendung kehren Schwule und Lesben den radikalen neuen ›Familien‹-Konstruktionen, die viele Heterosexuelle befreit haben, den Rücken.

Der Neoliberalismus, den ich hier grob als konzentrierte Privatisierung jeglichen Aspekts unseres täglichen Lebens definiere, benötigt diesen affektiven Diskurs, der beteuert, dass die Kleinfamilie eine problemfreie Festung der Sicherheit und des Schutzes sei, während der Rest der Welt als Bedrohung von außen angesehen wird. Indem sie den Schutz der schwulen und lesbischen Kleinfamilie fordern (eine rückständige Nachahmung der heterosexuellen Forderungen aus den 1950ern), bringen die Aktivist*innen der Homo-Ehe die Privatisierung des sozialen Sicherheitsnetzes voran.