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Ein Serienmörder versetzt die Costa del Sol in Angst und Schrecken: Er hinterlässt Leichenteile, die mit rätselhaften Botschaften versehen sind. Comisario Pedro Ximénez jagt den Täter vor einer fiebrigen Sommerkulisse aus Hitze, Flamenco und dem pulsierenden Leben Andalusiens. Zwischen weißen Dörfern, luxuriösen Villen und malerischen Stränden entfaltet sich ein düsteres Spiel voller Geheimnisse, Leidenschaft und Verrat. Ein Krimi, der Spannung mit der Magie Andalusiens verbindet - Urlaub für die Sinne!
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Seitenzahl: 358
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Diego Sánchez
Andalusische Sonne
Kriminalroman
Personen und Handlung sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
Telefon 0 75 75 / 20 95 - 0
Alle Rechte vorbehalten
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Satz/E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © venemama / iStock.com
ISBN 978-3-7349-3454-4
Er starb im Morgengrauen
Viermondnacht
Und ein einzelner Baum,
Mit einem einzigen Schatten
Und ein einzelner Vogel.
In meinem Fleisch suche ich
Die Spur deiner Lippen.
Die Quelle küsst den Wind,
ohne ihn zu berühren.
Dein abweisendes Nein
lastet in meiner Hand
wie eine blasse
Zitrone aus Wachs.
Viermondnacht
Und ein einziger Baum.
An der Nadelspitze
Dreht sich meine Liebe im Kreis.
(Federico Garcia Lorca, 1898 – 1936, Übertragung: Gert Weihsmann)
»Warum hast du unbedingt mit dieser Billig-Airline fliegen müssen?«
Ich war sicher, dass mir Julia diese Frage stellen würde. Mit einer Mischung aus Argwohn und leichtem Spott, was beides typisch für sie war. Ich rückte meine Sonnenbrille auf dem Nasenrücken zurecht und überlegte mir eine Antwort. Starrte auf das Gepäckband Nummer 13, leer und bewegungslos, umringt von Hunderten entnervten Touristen. Ländlich wirkende Familien mit geringem Urlaubsbudget, bärtige Einsiedlerkrebse auf dem Weg ins Nirvana und der eine oder andere Scheidungsfall mit dem herumlaufenden Infanten als Kollateralschaden. Natürlich fiel mir keine Antwort ein, außer das übliche Achselzucken, das halbe Lächeln, so zerknautscht wie eine weiche Zigarettenpackung mit den letzten beiden Kippen darin.
Keine Ahnung, warum ich Wizz-Air, Ryan oder Transavia Airlines gebucht hatte, ich war vor ein paar Wochen bäuchlings gegen Mitternacht auf meinem Bett gelegen, mit einem angerauchten Joint im Mundwinkel, und hatte den Flug nach Málaga gebucht, Hauptsache, die Startzeit war einigermaßen angenehm für einen Langschläfer wie mich. 12.30 Uhr. Das ging einigermaßen.
Jetzt stand ich hier, in der Ankunftshalle des andalusischen Flughafens, starrte auf den leeren Belt Nummer 13, umringt von ungeduldig wartenden Gestalten aus einem sozial wenig abgesicherten Leben, und überlegte mir eine Antwort auf die Eröffnungsfrage, die ich Julia in den Mund gelegt hatte: Weil es billig war. (Klingt genauso ehrlich wie bescheuert.) Weil ich keine Lust hatte, noch länger nach Flügen zu suchen. (Klingt nach der zweitbesten Ausrede.)
Weil ich den ganzen Scheiß hinter mich bringen wollte. Und zwar jetzt, 19 Tage nach dem bestandenen Abitur: Das alte Schülerleben war endgültig vorüber – und etwas anderes hatte noch nicht begonnen. Vielleicht würde sich das großspurig angekündigte Neue auch niemals ereignen. Was wusste ich schon? Passieren konnte mir wenig. Mein Vater hatte sich in der Immobilienbranche einen Namen gemacht, und Mama war Zahnärztin mit einer einzigen Kasse – nämlich der eigenen. Der unwiderlegbare Grund für meine perfekt polierten Zähne. Super gerade geschliffen. Einwandfrei gebleicht. Makellos. Zwei Reihen Zahnseide-Weiß zwischen den üppigen Lippen. Kein Wunder, dass mich dauernd irgendwelche Leute anstarrten. Männer, Frauen, Jungs, Mädels, sogar herrenlose Kampfhunde, angeleinte Perserkatzen oder sonst irgendwer. Was mir früher geschmeichelt hätte (mit ungefähr 14, als ich begriffen hatte, dass jede Beziehung, jedes Begehren, jeder Anflug von Sympathie eine beginnende Warenbeziehung war, die auf denselben Algorithmen wie Aktienkurse, Sterbetafeln oder Versicherungsfälle beruhte), war mir mittlerweile mehr als peinlich geworden.
Julia war die Einzige, die ich näher an mich heranließ. Zweieinhalb Jahre älter als ich. Ziemlich hübsch. Und eigentlich meine Cousine. Ihre Eltern waren vor einigen Jahren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen, und seit sie sich in die Volljährigkeit gebeamt hatte, saß sie auf einem riesigen Haufen Kohle. Einer Extraportion Einsamkeit. Und einem Napf voller Drogen. Meistens Amphetamine, Ecstasy oder sonst ein Holly-Bollywood-Scheiß. Offiziell studierte meine Cousine Jus, vor allem aber ging sie auf Partys, verkehrte mit lauter hippen Leuten (also den größten Maulhelden Wiens) – und hielt sich den dämlichsten aller Jungen als Freund oder Welpen – erraten: mich. Daniel W., 18 Jahre und drei Monate alt. Aus ebenso gutem Haus wie sie, nur noch mit beiden Eltern ausgestattet wie ein Luxuswagen mit Extralackierung. Was Liebe war, wussten wir beide nicht. Oder hatten es längst vergessen. Unsere Beziehung war auf dem Fundament von Drogen, Sex und Lügen gebaut. Notlügen meistens. Genauso funktionierte unsere Beziehung, die nie eine gewesen war. Allenfalls ein mäßig inzestuöses Verhältnis. Mit der eigenen Cousine. Was allgemeines Kopfschütteln hervorrief und meine Eltern alarmierte, nachdem sie dahintergekommen waren, wer meine Unschuld wie ein kopfloses Gespenst verjagt hatte.
Ich war 16 und sie bereits über 18 gewesen, als wir auf einem Familienfest aneinandergerieten. Im schlossähnlichen Prunkbau des gemeinsamen Großvaters, eines Papierindustriellen, mittlerweile 80 Jahre alt, aber immer noch gut aussehend, ein braun gebrannter Golfspieler, der im Sommer meistens in einem weißen Leinenanzug unterwegs war, der ihn ungefähr 15 Jahre jünger wirken ließ.
In einem der 100 Zimmer in Großvaters Twist vom Saltburn Estate wurde ich von Julia durchgenommen wie die sechste Lektion im Lateinbuch. Das Kapitel mit der Konjugation säuischer Verben: Sugere – suget – suxisti. Fottere – fotteste – fottutum. Und so weiter. Bis der Cunnilingus an die Reihe kam und noch einige andere Entdeckungen im Leben jenes überheblichen 16-Jährigen, der nur vom Nichts eine Ahnung hatte. Davon allerdings reichlich.
Lautes Hupen ertönte, eine orangefarbene Signalleuchte begann hektisch zu flimmern – und das Gepäckband setzte sich ächzend in Bewegung. Unter den herumstehenden Familien brach mittlere Panik aus, die ADHS-Kinder stoben davon, diverse Frauen zwischen Wechsel und allgemeiner Zerrüttung bekamen Schreianfälle, und ihre noch traurigeren Männer hechteten nach den Gepäckstücken, die mit Textilbändern in Regenbogenfarben zusammengezurrt waren. Ein Bild für Götter – die ohnehin nicht existierten. Sofern man Nietzsche gelesen hatte. Woran sich die wenigsten der Mittelklasse-Touristen erinnern konnten. Deren Abitur war auch schon länger her, gute 20 Jahre vielleicht. Seitdem hatten sie verzweifelt versucht, sich in ihren freudlosen Jobs zu bewähren und die eigene Familie über die Runden zu bringen – wozu auch dieser Urlaub an der Costa del Sol gehörte. Der damit begann, am Gepäckband Nummer 13 nach ihren verdammten Koffern Ausschau zu halten wie Moses’ Gefolgschaft nach göttlichem Manna.
Da die meisten Gepäckstücke mittelgrau oder anthrazitfarben waren, kam es zu hektischen Tauschaktionen unter den fluchenden Familienvätern, die alle nur noch raus aus dem selbst gewählten Höllenkreis wollten: mithilfe von Fußball, alkoholischen Getränken und kostenlosen Pornoseiten im weltweiten Netz. Mein blöder Koffer fiel jedenfalls auf: ein pinkfarbener Trolley mit kleinen und großen Marienkäfern darauf, das Gepäckstück meiner jüngeren Schwester, die mittlerweile sauer auf mich sein musste. Sorry, Tamara, aber in der Eile hatte ich keinen anderen Rollkoffer gefunden.
Ihr handlicher Girlie-Trolley reichte mir völlig: Ich hatte sowieso nur Badeshorts, Bermudas, einige Polos und meine Havaianas dabei, den meisten Platz nahm eine riesige Toilettentasche mit Dutzenden Flacons und Hautcremen ein. Ich mochte diese elitären Düfte, die sich Babylon, Chrome Hearts oder Fuck Me Tender nannten und schamlos hohe Summen verschlangen. Dazu etwas Gleitcreme, einen Dildo, der einem ausgebleichten Gartenzwerg glich, und jede Menge schwarzer Kreditkarten in einem passenden Schlangenlederetui. Ausgestellt auf meinen dreckigen Namen, aber online mit den endlos kreditwürdigen Konten meines Vaters verbunden. Ich konnte ausgeben, was ich wollte – und es würde meinem Dad nicht einmal auffallen. Glaubte ich jedenfalls. Naiv wie ich trotz bestandenem Abitur immer noch war.
»Cooler Trolley, den du da abschleppst.«
Mein Sitznachbar im Flieger war wieder aufgetaucht, mit demselben pinkfarbenen Rollkoffer im Schlepptau, nur dass seiner mit Aufklebern von Regenbogengebieten wie Key West, Cartagena, Pattaya und der Castro Street in Frisco, California, aufgepeppt und nicht mit so dussligen Marienkäfern wie meiner übersät war.
»Das ist der Trolley meiner jüngeren Schwester.«
Der dünne Blonde mit den üppigen Tätowierungen und den hübschen schwarzen Strähnen im Haar bekam einen hysterischen Lachanfall, der sogar in einem Mädcheninternat ungut auffallen würde.
»Du fliegst mit einem pinkfarbenen Rollkoffer voller Marienkäfer nach Torremolinos und glaubst, dass ich dir die Geschichte von der süßen Schwester abkaufe – sorry, Baby, aber die kleine Tamara bist du: 18 Jahre und ein paar Monate alt, das ideale Frischfleisch für diese Raubtiere an der Costa del Sol.«
Danny, die Friseuse, nickte mit ihrem spitzen Kinn vielsagend Richtung Ausgang. Im Flugzeug hatte er oder sie oder es eine geschlagene Stunde vom freudlosen Aufwachsen in niederösterreichischen Dörfern und Bezirksstädten erzählt, unterstützt von Millionen aussagekräftiger Pics auf einem zerkratzten Smartphone, das schon Hunderte Male in einschlägigen Darkrooms auf den geteerten Asphalt geplumpst war. Ungefragt hatte Danny noch im Anflug auf Málaga von älteren Herrschaften mit Vollbart und Schmerbauch geschwärmt, von denen er sich anscheinend regelmäßig durchnehmen ließ, garniert mit satten Peitschenhieben und anderen Spanking-Manövern.
»Vielleicht sehen wir uns ja in einer der düsteren Bumsbuden«, lächelte Danny, streckte den tätowierten rechten Arm (ein Seemann mit Kugelbauch samt einer vielköpfigen Schlange darüber) nach dem Trolley aus und verschwand hinter massiven Schiebetüren mit der Aufschrift »Nada que declarar«.
Ich zuckte mit den Achseln, rückte die schwarze Ray-Ban noch einmal auf dem Nasenrücken zurecht und folgte den traurigen Feriengestalten in die Ankunftshalle, wo Julia bereits auf mich wartete, mit ihren langen blonden Haaren, der perfekten Figur, ihrem strahlenden Lächeln aus ebenso hinreißend weißen Zahnreihen wie meinen und diesem kleinen Grübchen am Kinn, in ein enges weißes Top und kurze beigefarbene Pants gehüllt, als ob sie gerade vom Tennisplatz käme. Sie winkte mir aufgekratzt zu, hüpfte wie ein hysterischer Cheerleader auf und ab und schien sich etwas zu sehr über meine Ankunft zu freuen. Als ich vor ihr stand, drückte sie mir das gewohnte Küsschen auf beide Wangen, bevor sie wie zuvor Danny in lautes Gelächter ausbrach.
»Was-ist-denn-das?« Womit sie den pinkfarbenen Rollkoffer mit den Marienkäfern darauf meinte.
»Der Trolley meiner kleinen Schwester«, antwortete ich wahrheitsgemäß und zuckte zur Abwechslung wieder einmal mit den Schultern. Im Achsel- und Schulterzucken war ich mindestens Vizeweltmeister.
»Sei froh, dass ich dich vom Flughafen abhole. Sonst würdest du von den Millionen Schwuchteln hier bei lebendigem Leib gefressen werden, du kleines süßes Monster.«
Seufzend nahm ich den verdammten Trolley und war froh, dass meine Cousine nicht die befürchtete Eröffnungsfrage gestellt hatte: »Warum zum Teufel hast du diese Billig-Fluglinie genommen?«
Ich hatte noch immer keine Antwort darauf. Aber Antworten spielten für uns beide ohnehin keine Rolle. Schließlich hatte uns das Leben noch nie eine Frage gestellt. Ich zuckte unbekümmert mit den Achseln und stolperte dem Ausgang entgegen, Julias Arm in der einen und den pinkfarbenen Trolley in der anderen Hand.
*
Ihr Appartement befand sich in einem großen weißen Gebäude, das an eine orientalische Burg erinnerte: ein weiß getünchter, verschachtelter Gebäudekomplex mit dicken Mauern, durch die wahrscheinlich kaum ein Schrei drang. Meine Cousine lenkte ihren Mini Cooper mit den schnittigen Längsstreifen direkt in die Tiefgarage, nach einer achterbahnähnlichen Fahrt, die aus waghalsigen Überholmanövern, krassen Geschwindigkeitsübertretungen und anderen Verstößen gegen die Straßenverkehrsordnung bestand. Mindestens fünfmal hatte ich unterwegs Radargeräte aufblitzen sehen. Julia fuhr nicht einfach mit dem Auto, sie raste. Zeigte anderen Verkehrsteilnehmern den Mittelfinger und amüsierte sich über deren entsetzte Gesichter. Sie misshandelte ihren schnellen Flitzer wie ein Kerl, der seiner neuen Freundin zeigen wollte, was für ein toller Hecht er war – mit dem Unterschied, dass ich die Tussi sein musste: ein dunkelblondes, unterbelichtetes Ding, mit 18 Jahren gerade erst geschäftsfähig geworden, aber eigentlich noch immer plemplem.
Mit durchgeschwitztem T-Shirt stieg ich aus dem winzigen Geschoss, griff nach dem Marienkäfer-Trolley auf der Rückbank und sah mich in der düsteren Garage um: wenige Fahrzeuge, viel Asphalt und der Gestank fossiler Treibstoffe. Tiefstes 20. Jahrhundert. Weit und breit keine E-Steckdose. Mein Dad fuhr verschiedene Teslas und Mama eine chinesische E-Auto-Marke, die keine Sau kannte, aber ziemlich futuristisch aussah. Sogar mein Scooter verbrannte nichts Fossiles – außer gelegentlich meine Nerven.
Wie ein störrisches Kind führte mich Julia zum Lift ins dritte Geschoss hinauf: Eine Art Kreditkarte öffnete den Sesam, hinter dem 180 Quadratmeter Luxus lauerten. Großzügige, offene Räume, so sonnendurchflutet, dass meine Netzhaut zu schmerzen begann. Dazu ein versaut aussehendes Doppelbett im verspiegelten Schlafzimmer und eine Riesenterrasse, die mindestens 50 Meter über dem azurblauen Mittelmeer thronte.
»Was sagst du jetzt, kleiner Prinz?«
»Geil.«
Das war das einzige Wort, das ich im Augenblick herausbrachte. Diese Wohnung hatte sicher eine Million gekostet, vielleicht sogar drei. Eine irre Lage direkt auf dieser Klippe über dem Meer, nach Süden ausgerichtet, zentrumsnahe und doch ruhig, sehr ruhig sogar. Ich hörte mein Herz schlagen, aber vielleicht war es auch nur das Rauschen der Wellen. Alles schien hier so gedämpft zu sein, der öden Wirklichkeit entrückt, der fernen Welt da draußen abhandengekommen.
Ich trat auf die Terrasse und blickte nach links, wo ein Riesenhotel lag, auf dessen Dachterrasse eine mächtige Regenbogenfahne im leichten Wind wehte. Über die gesamte Front prangte der Name dieser Touristenenklave: TheRitual. Garantiert jener Schuppen, in dem dieser aufgedrehte Frisör aus dem Flieger untergetaucht war, der denselben pinkfarbenen Rollkoffer, nur ohne Marienkäfer, hinter sich hergezogen hatte und dessen rechter Arm mit einem fetten Matrosen und einer mehrköpfigen Schlange tätowiert war. Wahrscheinlich würde sich dort Danny bereits mehreren Fremden hingeben, die es ihm von vorne, von hinten, von oben und von unten oder sonst wie besorgten.
»Du bist so still, Daniel. Woran denkst du?«
»Äh, an nichts, irgendwie.«
Dieselbe Antwort hätte ich auch schon mit 14 auswendig hersagen können. An meiner pubertären Existenz hatte sich seitdem wenig geändert, außer dass ich gerade mein Abitur gemacht hatte, ein paar unendlich belastbare Kreditkarten besaß und langsam ahnte, was mir gegen Ende des Sommers bevorstand: die Inskription an einer Uni für BWL, Jus oder Medizin, etwas anderes kam in der Erwartungswelt meiner Eltern gar nicht vor. Zumindest für Medizin waren Aufnahmeprüfungen fällig, die irgendwann im Sommer stattfinden würden. Aber noch war das alles weit weg. Im Augenblick stand ich verlegen auf dieser Riesenterrasse herum und spürte die Lippen meiner Cousine am linken Ohr. Danach ihre Zunge. Und schließlich ihren Mund, der mir etwas vorschlug, zu dem ich kaum Nein sagen konnte.
Wir liebten uns so heftig wie immer, heftig im Sinne von krass. Manchmal überschritten wir dabei die engen Grenzen des bürgerlichen Geschmacks und gaben heftiges Stöhnen oder unterdrückte Schreie von uns, gefolgt von einem übermäßigen Austausch an Körperflüssigkeiten. Hinterher lackierte Julia lächelnd ihre Zehennägel und nippte an einem Glas Roederer Cristal. Ich sah ihr mit offenem Mund dabei zu, als ob ich wieder 13 wäre und mich ausschließlich für folgende drei Dinge interessierte: Spielkonsolen, Erdbeereis und warum ich noch nicht einen Meter 70 groß geworden war wie die meisten anderen Jungs in der Klasse.
Auf dem riesigen Bretz-Sofa im Wohnzimmer sah ich mir eine Netflix-Folge von irgendwas an und lachte zu Szenen, wo es nichts zu lachen gab. Nach dem Geschlechtsverkehr war ich zuverlässig bescheuert. Sah meinen glatten Body hinab und fühlte mich weder als Junge noch als Mann, meine Aura bewegte sich zwischen null und leicht negativ. Der Champagner schmeckte trotzdem gut, und nachdem Julia ihre Zehennägel feuerrot angemalt hatte, schlief ich beruhigt von gar nichts ein und erwachte gegen 2 Uhr früh inmitten der 100 Spiegel im Schlafzimmer.
Die Tür zur Terrasse stand offen, draußen schrien irgendwelche Vögel (oder waren es doch Menschen) – und Julia war weg. Schien irgendwohin gefahren zu sein, ohne eine Nachricht hinterlassen zu haben, weil sie annahm, dass ich wie ein Kleinkind bis 10 Uhr vormittags durchschlafen würde. Auch wenn nur zweieinhalb Jahre zwischen uns lagen, fühlte ich mich ihr kaum gewachsen und kam mir oft wie ein Zwerghase vor, der mit einem Raubtier im selben Gehege auskommen musste. Meine Brust war von tiefen Kratzern übersät, das rechte Ohr brannte von Julias scharfen Zähnen, und irgendwie hatte ich mir bei unseren Liebesmanövern beide Knöchel verstaucht.
In der riesigen, futuristisch eingerichteten Küche lag ein Schälchen mit bunten Tabletten. Rot, blau, grün, gelb-weiß gestreift – alles da, womit man die Stimmung in größte Höhen treiben oder erbarmungslos in den Mariannengraben der Depression scheuchen konnte: Uppers and Downers, wie ich sie seit der mittleren Kindheit inhalierte. Um bei Unterrichtsbeginn halbwegs munter oder bei Klassenarbeiten entspannt zu sein. Als Ärztin konnte mir Mama alle möglichen Psychodrogen verschreiben – mit dem Ergebnis, dass ich diesen Substanzen verfallen war. Mithilfe von Psychopharmaka, wilden Pornos, überwürzten Pringles-Rollen und einer Überdosis Wodka-Energy funktionierte ich seit der Oberstufe perfekt. Wie ein Spitzenathlet, der von der Außenwelt nichts mitbekam. Ich schrieb die Noten, die von mir erwartet wurden, und bumste mit Julia in einer Garage, im Gartenhäuschen, oder, wenn einmal sturmfrei war, in meinem dauerverwüsteten Zimmer herum. Eine stinknormale Jugend im bürgerlichen neunten Bezirk. Manchmal lutschte ich meinem besten Freund Stevie einen ab oder ließ mir von ihm einen blasen. Was uns so selbstverständlich vorkam wie das nächste Wochenende, das Wetter draußen oder die Party, die irgendein Freund auf der elterlichen Dachterrasse in der Innenstadt schmiss.
Ich griff nach den bunten Tabletten, warf ein paar blaue und gelbe in den Rachen und öffnete den übermannshohen Kühlschrank mit Dutzenden eingelagerten Flaschen: Champagner, Weißwein, Mineralwasser und diese Wodkamarke in einer Puff-Daddy-Edition. In einem anderen Fach gammelte eine braun gewordene Banane neben analogen Filmrollen vor sich hin – Julia hatte sich schon vor Jahren eine schöne Mittelformatkamera angeschafft und träumte davon, eine steile Karriere als Meisterfotografin ansteuern zu können.
Weiter hinten standen zwei Joghurtbecher, einer mit Marillen Geschmack und der zweite pur, mit einer Tonne Zucker angereichert, wie das hier üblich sein musste. Ich löffelte beide Becher leer und trank schweren Weißwein dazu. Schnappte mir das riesige Burgunderglas und balancierte es zur Terrasse hinaus, schaute nach links zum Ritual-Hotel, auf dessen Dachterrasse nackte Kerle herumstanden, Bier aus riesigen Krügen tranken, miteinander fickten und dabei gelle Schreie ausstießen wie irre gewordene Möwen. Wenigstens wusste ich jetzt, wo diese Geräusche herkamen.
Die Luft war gegen 2.30 Uhr früh immer noch lau, und die Tabletten begannen zusammen mit dem Chardonnay langsam zu wirken. Der Boden unter meinen Füßen gab nach, ein gewaltiger Regenbogen schien sich über den Nachthimmel zu wölben, und mehrere Fabelwesen aus Star Wars, Herr der Ringe und deutschen Mittelalter-Epen schienen durch Julias Wohnung zu schweben. Ich fühlte mich leicht wie eine Pfauenfeder und sank trotzdem zu Boden, der aus blutroter Zuckerwatte bestand, die denselben aufdringlichen Farbton wie Julias lackierte Zehennägel aufwies.
Meine Cousine musste sich für jemand anderen aufgebrezelt haben, jedenfalls war sie verschwunden, die Autoschlüssel ihres schnittigen Minis lagen nicht mehr im Vorzimmer, und aus dem begehbaren Wandschrank fehlten garantiert ein Paar hohe Stöckelschuhe, ein Cocktailkleid und einige Armreifen. Ohne mir eine Nachricht hinterlassen zu haben, war Julia weggefahren, aber bevor ich darüber nachdenken konnte, kippte ich auf der eingebildeten Blutzuckerwatte in den nächsten Schlaf, ausgelöst von unbekannten Tabletten und diesem schweren Chardonnay aus dem Kühlschrank.
*
Am nächsten Tag erwachte ich gegen Mittag. Die Sonne stand bereits hoch am Himmel, das Smartphone war mangels Stroms abgestürzt – und im Doppelbett lag nur ich. Julia hatte die Nacht woanders verbracht. Ich fühlte mich sediert, und im Magen dröhnte meine chronische Gastritis. Seit dem achten Lebensjahr mampfte ich Tabletten für und gegen alles, sie designten mein Innenleben und richteten es bei Bedarf so charmant ein, dass ich den braven Buben mit dem treuherzigen Augenaufschlag perfekt hinkriegen konnte: Ich gab den einflussreichen Bekannten meines Vaters artig die Hand, machte in den Pausensalons der Staatsoper und des Burgtheaters eine gute Figur und begnügte mich mit wenigen Häppchen auf den Soireen meiner Mutter. Die Lemuren der Nacht umgarnten mich dort und flüsterten mir Kosenamen wie einem teuren Schoßhündchen zu, das mindestens 10.000 Euro wert war und auf internationalen Tiermessen einen Schönheitspreis nach dem anderen erzielt hatte.
Seufzend stand ich auf und musterte meinen glatten Körper vor den zahlreichen Spiegeln: ein noch jugendlicher Zombie, der zum Frühstück dringend dünnes Blut und einen Napf Vitamintabletten brauchte. Natürlich fand sich nichts dergleichen in den Weiten der Wohnung. Im riesigen Salon lag ein Schlüpfer am Boden, den ich aufhob, ein paar Sekunden gegen mein Gesicht hielt und danach unter das Bretz-Sofa kickte. Dass Julia mir abging, konnte ich nicht gerade behaupten.
Im Vorzimmer betrachtete ich ein gerahmtes Plakat von den Filmfestspielen in Cannes anno 2016 – damals hatte ich die dritte Volksschulklasse besucht. Das monströse Poster war ganz in Gold getaucht, mit einer Steintreppe in der Mitte und stilisierten Grünpflanzen links und rechts – ein geradezu klassisches Bild. Seltsam entrückt und gediegen. Daneben hing ein weiteres Plakat von einem noch viel älteren Film, den ein gewisser Godard gedreht hatte: Eine nackte blonde Frau lag bäuchlings mitten in einem Salon mit irrer Aussicht auf das Meer und eine felsige Insel, ihr kleiner fester Po erinnerte mich an Julias Hintern, in den ich immer gern eindrang, weil er sich eng und trotzdem anschmiegsam anfühlte. »Le Mépris«, stand in sonnengelben Lettern über dem Standbild geschrieben, auf Deutsch »Die Verachtung«, wie eine kurze Recherche auf DeepL ergab.
Ich fragte mich, ob Julia diese Plakate gerahmt und mithilfe des Hausmeisters an die Dielenwand gepinnt hatte – diese penetrante Kunstbeflissenheit sah ihr ähnlich. Mein Smartphone war an der Ladestation beim Eingang angeschlossen und summte kurz auf – zum Zeichen, dass es aus dem künstlichen Tiefschlaf geholt worden war. Keine Nachrichten darauf, außer die meines alten Kumpels Stevie, der von einem Quickie mit einem amerikanischen Nachwuchsschauspieler fantasierte. »Er hat mich durchgerammelt war ein willenloses Stück Fleisch.«Genauso stand es in dieser verdammten WhatsApp-Nachricht – zusammen mit den Emojis einer Aubergine, der herausgestreckten Rolling-Stones-Zunge und mehreren roten Ausrufezeichen. Typisch Stevie. Er konnte von Schwänzen und Ärschen nicht genug kriegen. Während der Unterstufe war das gegenseitige Wichsen und Blasen gar nicht so ungeil gewesen, eine nette Abwechslung zwischen endlosen Online-Games und gelegentlichen Lernschüben.
Dann kamen Julia und noch ein paar andere weibliche Körper über mich – und ich wurde hetero. Oder bi. Oder einfach erwachsen. Trotzdem kam ich mir bei allen so fremd wie eine Packung Gummibärchen vor, die mitten in die Fischabteilung geplumpst war, zwischen tiefgefrorenen Garnelen und den panierten Dorschstäbchen.
Ich duschte mich eine halbe Stunde, salbte den mageren Körper mit verschiedenen Cremen ein und beträufelte die Haut mit einigen Tropfen Chrome-Heart-Parfüm. Die massive Zedern-Patschuli-Kombi passte zu einem blasierten Jungen aus besserem Haus, der später einmal Wirtschaftsberater werden würde. Oder Primar in einer Privatklinik. Oder Immobilientycoon. Irgendetwas in der mehr oder minder vorbestimmten Nachfolge meiner Erzeuger.
Kurz bevor ich die Wohnung verließ, flammte Julias Nachricht auf dem Display meines Smartphones auf. »Ich bin gegen 15 Uhr zurück. Wenn dir langweilig ist, schau dir den Ort an, du wirst aus dem Staunen nicht herauskommen.« Plus Kuss-Emoji und eine Zunge im rechten Mundwinkel. Sie erwähnte mit keinem Wort, wo sie über Nacht gewesen war. Und mit wem. Ein ordentlicher Liebhaber wäre zumindest eifersüchtig, aber mir waren ihre Pseudoaffären egal. Ich war eher der unaufgeregte Typ, den nicht einmal die Nachricht von einem atomaren Erstschlag aus der Fassung bringen könnte. Vielleicht würde ich Dad anrufen, weil er für jedes Scheißproblem eine Lösung parat hatte. Oder wenigstens das notwendige Kleingeld dafür. Mit Kohle konnte man alles in den Griff kriegen. In der Schule, im wirklichen Leben und erst recht im Jenseits, falls es so etwas gab.
Auf einer Ablage neben dem Eingang waren drei digitale Zutritt-Karten platziert, genauso weiß und unbeschriftet wie jene in den meisten Fünf-Sterne-Hotels. Ich probierte eine davon aus, und sie funktionierte perfekt – für die Eingangstür, die Tiefgarage, den Müllraum und die schmiedeeiserne Pforte am oberen Ende der Wohnungsanlage. Im Parterre gab es einen schläfrigen Typen, der in einer schlecht sitzenden Uniform und mit einer viel zu großen Kappe auf dem Kopf über das Kommen und Gehen in dieser Anlage wachte. Als ich ihn auf spanisch begrüßte, drehte er sich angeekelt um und öffnete einen leeren Schrank, in dem er nur nach dem Nichts suchen konnte.
Neben der Rezeption stand ein riesiger Spiegel. Ich erkannte meinen nach unten gekurvten Mund, die blaugrauen Augen und dichte blonde Strähnen, die mir wie Strohgarben in die Stirn fielen. Ein bisschen erinnerte ich an einen Nachwuchsfußballer aus der zweiten italienischen Liga. Oder an einen Kellner in einem teuren Fischrestaurant. Eine Spur zu beflissen, zu glatt, zu gefällig. Das Gesicht ohne Makel. Ein noch narbenloser Körper. Die blasse Haut unbehaart. Ein Leben ohne wirkliche Story dahinter. Nicht mehr Junge und noch lange nicht Mann. Eine grelle Sternschnuppe, die am Nachthimmel aufgetaucht war und für ungefähr drei Sekunden die Menschheit betörte. Bevor alles wieder verglühte und in die Ewigkeit abgetaucht war.
Draußen war es unwirklich hell. Der riesige Feuerball stand genau im Süden, knappe vier Lichtminuten von der Erde entfernt. Auf den Straßen wenig Verkehr und jede Menge abgestellter Autos. Ab und zu kamen mir Touristen entgegen, von denen es hier anscheinend nur zwei Gattungen gab: ältere Heteropaare und jede Menge Glatzköpfe mit Rauschebärten und Kugelbäuchen samt gewagten Tätowierungen und übertriebenen Piercings. Die sogenannten »Bären der Gayszene«, die alle ausnahmslos im Ritual-Hotel wohnten, wo es ganz schön abgehen musste. Zumindest hörte ich lautes Klatschen und heftiges Gestöhne durch die gekippten Fenster im Parterre, die per Sandstrahlung blickdicht gemacht worden waren. Privacy wurde in Großbuchstaben geschrieben. Es brauchte keiner zu wissen, dass der Buchhalter von nebenan heimlich in Strapsen herumlief oder sich die non binäre Marketingchefin in einer Swinger-Sauna durchnehmen ließ.
In einem Café, das Savoy hieß und sich als Original Wiener Kaffeehaus lobpreiste, trank ich einen doppelten Espresso, verschlang ein Brioche mit süßer Vanillecreme drin und hechelte an einer E-Zigarette herum, wie die meisten anderen hier, außer diesem älteren Typ schräg gegenüber, der an einer fetten Zigarre paffte und mit seinem hellen Leinenanzug und den weißen, ins Gesicht gerückten Borsalino wie ein Schriftsteller oder Literaturwissenschaftler aussah und vielleicht beides war, ein richtiger »Homme des Lettres«, wie meine frankophile Mutter diese distinguierte Gestalt bezeichnen würde – in ihrem exaltierten Französisch, das direkt der Sorbonne entlehnt worden war.
Genau in diesem Augenblick rief sie tatsächlich an. Ihr Vorname blinkte hysterisch auf dem Smartphone. Wenn ich nicht sofort abhob, würde sie mich innerhalb kürzester Zeit noch 100 Mal zu erreichen versuchen. Mamas Stimme klang entnervt und schrill, wie die Anführerin eines Suchtrupps, die endlich den flüchtigen Sohn gestellt hatte: »Wie geht es dir? Wie war der Flug? Hast du gut geschlafen? Ist es nicht zu heiß dort unten?«
Natürlich hatte sie zuvor Apps wie Accuweather, Flightradar und 25 verschiedene Webcams befragt. Wie ein Nachwuchspolitiker versuchte ich, ihre Fragen zu ignorieren und die angeborene Neugier trotzdem zu stillen. »Nein, es ist nicht zu heiß. Ja, der Flug war okay. Und ja, SIE ist auch hier.«
SIE – das war Julia natürlich. Die letzte Nacht bei wem auch immer gepennt hatte. Jedenfalls nicht bei mir. Meine Mutter hasste diese lose Beziehung, die nur auf Sex, Tabletten und teuren Drinks aufgebaut war. Vor allem war Julia meine Cousine. Und auch noch zwei Jahre älter. Eine – wie hieß noch das Wort, das meine Mama gerade inflationär, von verächtlichen Blicken begleitet, verwendete? Eine …, ja, genau, Nym-pho-manin. Was voll pervers klang. Und sicher zutraf. Ich beruhigte meine Produzentin mit einigen harmlosen Worten. »Wir haben nur ein paar Runden Canasta gespielt. Und dazu einen Joint – ups – eine Zigarette geraucht. Unsere Horoskope befragt – und sind dann in unterschiedliche Betten schlafen gegangen.«
So weit, so gelogen. Mama konnte erleichtert auflegen. Keine zwei Minuten später meldete sich Dad, mit seinen eigenen Fragen: ob ich mit den Kreditkarten klarkäme, mir die persönlichen Pins irgendwo notiert hätte, ob ich einen Mietwagen, Designer-Kleidung oder fünf Kisten Champagner benötigen würde, er kenne da jemanden in Málaga, und so weiter und so fort.
Ich nippte an meinem Espresso und betrachtete den älteren Herrn im Leinenanzug und seinem in die Stirn gerückten Borsalino. Der Typ war sicher ein Schriftsteller, der einen Bestseller nach dem anderen veröffentlicht hatte. Gelassen rauchte er die fette Zigarre, trank uralten Weinbrand aus einem riesigen Schwenker und notierte sich etwas in ein aufgeschlagenes Notizbuch. Beeindruckend. Vor allem, wenn man gerade 18 Jahre alt geworden war und keinen blassen Schimmer hatte, wie es weitergehen würde in diesem Scheißleben. Das von außen betrachtet so wunderbar schien: ein billiger Oberflächenglanz aus teuren Haarschnitten, einbalsamierter Haut und jeder Menge Designerklamotten.
Dads nächste Fragenlawine rollte unbarmherzig heran: ob ich mich schon für diverse Aufnahmeprüfungen angemeldet hätte – du weißt schon: Medizin, Jus, BWL, Architektur, Technische Mathematik und so weiter. Ich seufzte, bestellte einen Gin ohne Tonic und schüttete mir den gebrannten Wachholder pur in den Rachen – in meinem Schädel flammte ein brennender Schmerz auf, dann war der Anruf meines Vaters Geschichte.
Wahrscheinlich hatte ich ihn genauso angelogen wie zuvor seine Gattin. Ich zuckte mit den Achseln und verwarf den Gedanken an Aufnahmeprüfungen, kompliziert klingende Wissenschaften und den anderen Scheiß. Stattdessen beschloss ich, eine Runde durch das überfüllte Städtchen zu machen. Ich war von Natur aus neugierig. Trieb mich gerne irgendwo herum. Ohne Richtung und Ziel. Julia würde sowieso erst am Nachmittag zurückkehren.
Ich bezahlte im Savoy und erreichte nach zehn Minuten ein Einkaufszentrum, das so erbarmungslos heruntergekommen war, dass es nur noch entfernt an ein Shoppingparadies erinnerte. Wo früher schicke Geschäfte gewesen sein mochten, gab es jetzt finstere Diskotheken, zwielichtige Bars und Dutzende weitere Einrichtungen für gewisse Neigungen und Fetische. Da gerade erst Mittag vorüber war, schlich außer hungrigen Katzen und mir keine Menschenseele herum, die meisten Geschöpfe der Nacht lagen noch in ihren verdammten Wasserbetten, träumten von wilden Eskapaden oder schliefen ganz harmlos ihren Rausch aus.
Während ich die Graffitis neben einer schwarzen Tür mit der Aufschrift »F*CK YOU« betrachtete, fiel mir mein alter Freund Stevie ein, der seit ein paar Wochen untergetaucht war. Manchmal meldete er sich mit kryptischen Botschaften, in denen es hauptsächlich um flüchtige Eskapaden mit mindestens Halbgöttern ging, aber eigentlich wusste niemand genau, wo Stevie gerade steckte. Nach dem Abitur schien er in eine Sinnkrise geraten zu sein und stellte sich Fragen, die niemand beantworten konnte, der noch alle Tassen im Schrank aufbewahrte. Ob das Leben einen Sinn hatte. Wer man überhaupt war. Wofür zum Teufel die eigene Existenz taugte.
Vor einem geschlossenen Kiosk standen ein paar Schautafeln mit den Schlagzeilen lokaler Tageszeitungen. Besonders viel bekam ich nicht mit, aber die Berichte schienen sich um zwei vermisste Touristen zu drehen. Genau hier, in Torremolinos. Leute, die man zuletzt in dieser Shoppingmall, in einem finsteren Fetisch-Schuppen oder auf der Dachterrasse des Ritual-Hotels gesehen hatte. Unter den Kinderarm dicken Schlagzeilen waren schlecht aufgelöste Fotos von Leuten zu sehen, die hier in Massen herumliefen: die Kugelbauch-Glatzen und Bärenbärte, jene Geschöpfe des etwas härteren Nachtlebens. Stevie hatte mir öfters davon erzählt, weil er schon als Minderjähriger mit einem gefälschten Ausweis in solchen Lokalen gewesen war. Ich hatte ihn verblüfft angestarrt und seinen Geschichten mehr oder weniger schockiert gelauscht. Schockiert war nicht das richtige Wort: eher auf mysteriöse Weise angezogen, obwohl ich das gar nicht wollte. Ich war schon immer der Angsthase gewesen, der sich zwar eine Menge wildes Zeug vorstellen konnte, aber nichts davon umzusetzen verstand. Außer mit Julia, die ohnehin die treibende Kraft war. Ich ließ sie einfach machen und dachte mir nichts dabei. Wenn die Dinge zu sehr eskalierten, zog ich mich in mein Zimmer zurück und dachte über das Leben nach, das wie ein breiter Strom an mir vorüberzufließen schien: mächtig, still und ereignisarm.
Jenes vage Gefühl, dass mein altes Leben aufgehört hatte, ohne dass ein neues anfangen wollte, holte mich ausgerechnet hier in der heruntergekommenen Shoppingmall ein. Ich war jung, sah gut aus und hatte die schwarzen Kreditkarten meines Alten dabei – eigentlich konnte ich machen, was ich wollte. Aber ich tat nichts. Lief mit einer Ray Ban auf dem Nasenrücken durch die schmutzigen Gänge des Einkaufszentrums und überlegte, ob ich hier einmal nachts vorbeischauen sollte. Wenn Julia in ihrem Mini Cooper unterwegs war, um einflussreiche Leute mit ihren großformatigen Bildern zu bezirzen. Als künftige Meisterfotografin benötigte sie Beziehungen, Referenzen und andere gute Kontakte. Was wohl der Grund war, wieso sie in Torremolinos diese Wohnung gekauft hatte. Málaga lag gleich nebenan, und dort gab es die Centre Pompidou Dependance, eine Thyssen-Stiftung, das Picasso-Museum und viele Kunstagenten, Mäzene und andere solvente Liebhaber bildender Kunst.
Wahrscheinlich war sie von Opa mit entsprechenden Informationen versorgt worden. Sein ländliches Anwesen ging jedenfalls vor Kunstwerken über. Mir sagten diese Maler, Bildhauer und Videokünstler nicht viel, aber manchmal war ich mit Opa durch die langen Gutshof-Korridore geschlendert und hatte mir die Bedeutung von diesem oder jenem Bild in den beruhigenden Worten des alten Herrn erklären lassen. Ich mochte Opas tiefbraune Haut, die dünnen weiß gewordenen Haarfäden auf seinem Kopf und stand vor allem auf seine beigefarbenen Leinenanzüge und den Geruch des aufgetragenen Männerparfums, das seit mindestens 100 Jahren auf dem Markt sein musste. Sich von Opa die ausgestellten Kunstwerke erklären zu lassen war so langweilig wie cool. Danach ging es zuverlässig in ein Drei-Hauben-Lokal oder ins Clubhouse eines Golfplatzes, wo sich noch langweiligere Leute herumtrieben, die von ihren Luxuskreuzfahrten und den niedrigen Handicaps schwärmten, während die Zeit kaum verging und der Champagner einsam in einer Sektflöte perlte. Wie in einem Thomas-Mann-Roman auf Seite 251. Von gefühlten 2000.
Die in den Schaukästen präsentierten Vermissten waren seit mehr als einer Woche verschwunden. Ich hatte die verdammten Schlagzeilen gescannt und überflog die maschinelle Übersetzung: ein 48jähriger Versicherungsvertreter aus Großbritannien und ein niederländischer Gastronom, der in der Nähe von Utrecht drei Steakhäuser betrieb. Die beiden Kerle waren spurlos verschwunden, und die örtliche Polizei stand vor einem Rätsel.
Ich setzte meine schwarze Sonnenbrille auf und schlenderte weiter. Setzte mich in die nächstbeste Bar und bestellte sehr viel Gin mit sehr wenig Tonic. Betrachtete die Leute um mich und fühlte mich so geborgen wie fremd. Wie eine Fata Morgana, die sich selbst irritierte.
Julia kam erst gegen Abend zurück. Ich lag auf dem Doppelbett und spielte eins von den besonders dämlichen Videospielen. Als die Eingangstür aufgestoßen wurde, verließ ich seufzend das Bett und schleppte mich in die Diele hinüber. Der lange Korridor. In dezente Farben getaucht. Diese Farben waren auch das einzige Dezente an dieser Wohnung. Schön zentriert im Türrahmen stand Julia, ließ die Autoschlüssel um ihren rechten Zeigefinger kreisen und lächelte, so falsch sie nur konnte. Natürlich verriet sie mit keinem Wort, was sie letzte Nacht so gemacht hatte. Wo sie mit welchen Leuten gewesen war und so weiter. Nicht dass ich besonders scharf darauf gewesen wäre – aber ein wenig eingeschnappt war ich doch.
Julia begann mit leuchtenden Augen von Kulturmäzenen und anderen Koryphäen zwischen Málaga und Marbella zu erzählen. Obwohl sie es nicht direkt erwähnte, musste sie jemanden kennengelernt haben, der ihr die Türen zu Influencern, Galeristen und Museumsleuten aufstoßen würde. Für sie hörte sich das alles spannend an, aber ich zog nur den üblichen Schmollmund und dachte, wie bescheuert ich sein musste, kurz vor Level zehn mit dem Gamen aufgehört zu haben.
»Hast du mich vermisst?«, fragte meine Cousine, und ich schüttelte ein wenig trotzig den Kopf.
»Ich habe Fortnite gespielt. Zwei Pringles-Dosen geleert. Den Champagner im Kühlschrank ausgetrunken. Und davor war ich – wie soll ich es ausdrücken – im Ort.«
»Im Nogalera-Einkaufszentrum? Bei den Gays? Oh mein Gott, wie viele Kerle haben dich da angemacht, Daniel?«
Ich zuckte mit den Achseln und genoss es, Julia im Unklaren zu lassen. Hoffte, dass sie dadurch eifersüchtig wurde, entnervt mit den Augen rollte, Sekunden später die Schnappatmung bekam und mir noch vor dem Schlafzimmer die verdammten Bermudas vom Leib riss.
Genau das passierte.
Wir gingen in die verspiegelte Gruft hinüber und trieben es miteinander: hart, unpersönlich und mit den Gedanken irgendwo anders. Als ob wir ein altes, aufeinander eingespieltes Ehepaar wären. Ich machte es ihr gern in den Po. Weil Julia da richtig eng war. Wenn ich ihn hinterher rauszog und noch ein paar braune Klumpen dran klebten, erregte mich das noch mehr. Ich mochte das Schmutzige, weil alles andere in meinem Leben so verdammt sauber war. Wie Mamas Arztpraxis. Oder das riesige Immobilien-Büro meines Dads im ersten Bezirk.
Nach dem Sex lagen wir auf dem Doppelbett und verwalteten unsere Insta-Accounts. Das heißt, ich checkte meine gesammelten Likes, und Julia probierte neue künstliche Fingernägel aus. Ein bisschen kam sie mir dabei wie eine Manga-Version von Edward mit den Scherenhänden vor. Nachdem alles angeklebt war, lackierte sie die neue Errungenschaft mit demselben Höllenrot, das schon ihre Zehen erstrahlen ließ. Ab und zu hob sie ihren Blick und lächelte mir zu, was mich immer noch so verdammt anmachte.
Als Mädchen war Julia hochgradig authentisch, das musste ich zugeben. Sie hatte eine perfekte Figur, nicht zu viel Brust, schöne Nippel, einen straffen, durchtrainiert wirkenden Bauch, enge Taille, schöne Hüftformen und sehr lange Beine. Mit Leichtigkeit konnte sie als Model durchgehen – obwohl sie immer sauer wurde, wenn ich sie darauf ansprach. Sie wollte eine bedeutende Fotografin werden oder zumindest eine erfolgreiche Juristin. Sie wollte ernst genommen werden und nicht als Blickfang auf gewissen Empfängen enden.
Inzwischen war es draußen dämmrig geworden. Julia hatte ihre künstlichen Fingernägel fertig lackiert, und ich dachte darüber nach, was ich mit meinem Leben anstellen sollte. Wenn ich mit solchen Betrachtungen anfing, wurde ich nie fertig. Ich lag ausgestreckt auf dem Sofa im Wohnzimmer herum und starrte gegen die Decke. Hier ein schlanker Riss, dort die Reste eines Spinnennetzes. Mein Blick glitt wie nasse Farbe von den Wänden herab, streifte die Oberkanten der Sitzmöbel und blieb an einem zerknautschten Zigarettenpäckchen unter dem Fauteuil gegenüber hängen. Eine leichte Depression perforierte meine Gedanken. Während vom Ritual-Hotel dumpfe Beats herüberwehten und Julia die nächste Flasche Champagner öffnete. Sich zu mir auf das Sofa setzte und wie eine Gouvernante in meinen dunkelblonden Haaren wühlte. Ich war nur eine Art Spielzeug für sie, ein Stofftier oder eine Puppe, etwas Schnuckeliges jedenfalls, mit dem sie herumspielen und Sex machen konnte. Wofür das alles gut war, wussten wir beide nicht mehr.
Nach Mitternacht gingen wir aus. Die Luft war noch immer ölig und warm. Wir setzten uns in ein Tapas-Lokal und probierten 100 Monate gereifte Pata Negra, noch länger gelagerten Käse und diese versalzenen Sardellen, aber eigentlich tranken wir vor allem Sangria: billigen Rotwein mit eingelegten Früchten darin. Julia rauchte ihre E-Zigarette und verstreute im Sekundentakt Kurzbotschaften auf ihren Social Media Accounts. Sie netzwerkte wie besessen, suchte nach Kontakten, bedeutenden Persönlichkeiten und anderen Mistkäfern mehr. Die Tapas-Bar lag schräg vis-à-vis von einem Fetisch-Klub, vor dem gestandene Lederkerle herumstanden, breitbeinig, mit gepiercten Oberkörpern und krassen Tattoos. Im sogenannten wirklichen Leben waren die meisten von ihnen Buchhalter oder Flugbegleiter, aber hier, in voller Ledermontur, wirkten sie wie Krieger einer geheimen Armee. Gegenüber standen einheimische Jungs herum, die entweder Marihuana, den eigenen Körper oder beides zusammen verkauften. Sie erinnerten mich an Stevie, der vor Jahren dasselbe in Wien gemacht hatte. Nur ich hatte gewusst, wo er sich nachts herumtrieb und mit wem er was machte, während er tags darauf im Unterricht kein Wässerchen trübte und auf die meisten Fragen die richtige Antwort parat hatte. Ein talentierter Komparse der doppelten Wahrheit.
»Woran denkst du?«, fragte Julia und versuchte, mir tief in die Augen zu sehen. Ich schüttelte den Kopf, als könnte ich damit meine verdammten Gedanken vertreiben. Leider wurde es davon noch schlimmer: Kaum sah Julia nicht mehr her, fiel mir die nächste Story zu Stevie ein, und zwar die mit dem ersten Porno, den ich in meinem Leben anschaute, während einer besonders öden Lateinstunde in der siebenten Klasse: da, schau her, du Penner – Stevie und sein breites, irgendwie dreckiges Grinsen. Ich strich mir eine Strähne aus der Stirn und schaute in die angegebene Richtung. Auf das zerkratzte Handy, das Stevie unter der Bank aktiviert hatte. Auf dem Display war im Vollbildmodus eine Wiese zu sehen. Darauf ein riesiges Wollschwein und dahinter ein grindiger Dickwanst mit heruntergelassenen Hosen. Der Typ näherte sich dem Tier, holte seinen Schwengel aus der dreckigen Unterhose und … – und Sekunden später fielen mir die Augen aus dem Kopf. Buchstäblich. Ich würgte, wollte wegschauen und schaffte es nicht. Zehn Minuten später kotzte ich das Klo im Erdgeschoss voll und wurde vom Klassenvorstand wegen hartnäckiger Übelkeit nach Hause geschickt. Stevie hielt sich den Bauch vor Lachen. Und zeigte mir später noch wildere Pornos. Bis seine Hand an meiner Hose war und ich nichts mehr verstand. Weil es Stevie war, machte ich mit, fand sein heftiges Reiben aufregend und ließ mich noch öfter dazu hinreißen. Obwohl ich es gar nicht wollte, spritzte ich nach kurzer Zeit ab. Mit 13 hatte das nichts zu bedeuten: Man konnte an verstümmelte Zombies denken und bekam trotzdem zuverlässig die Latte.
Jedenfalls wurde Stevie mein bester Freund, zu dem ich irgendwie aufsah. Er stellte jeden Scheiß der Welt an und schaffte die Schule trotzdem mit links. Mit 16 hielt er sich einen 60-jährigen Liebhaber. Und weil ich dabei mithalten wollte, begann ich eine Affäre mit meiner Cousine, die zweieinhalb Jahre später immer noch meine Freundin war. Oder zumindest so tat. Wie sie so dasaß, in diesem Tapas-Lokal, ihre Häppchen verdrückte und literweise Sangria inhalierte, kam sie mir fremd und unnahbar vor, als ob ich mit meiner Lateinlehrerin unterwegs wäre – sie Mitte 40 und in antike Ausgrabungsstätten vernarrt, und ich 14 1/2, der die römischen Kaiser, Pompeji und generell Geschichte kaum ausstehen konnte.
Später gingen wir in eine Bar, die La Habana hieß, und füllten uns dort mit süßen Rum-Cocktails ab. Julia kippte einen El Presidente nach dem anderen hinunter, und ich mehrere mit Champagner aufgepeppte Old Cubans. Irgendwann machten sie den Laden dicht, und wir schleppten uns kichernd und knutschend die immer noch vollen Straßen entlang und kehrten am frühen Morgen in Julias Appartement zurück. Meine Freundin schlief sofort ein, aber in meinem Kopf lärmten noch immer Alkohol, Zucker und Kohlensäure zusammen, also blieb ich in der Diele stehen und betrachtete das riesige Filmplakat, das heißt, eigentlich waren es zwei. Das eine von den Filmfestspielen in Cannes und das andere von einem gewissen Godard. Als die ersten Sonnenstrahlen über das riesige Meer unter den Klippen strichen, fiel mir wieder ein, dass Le Mépris auf Deutsch die Verachtung bedeutete, was ungefähr mein Gefühl für meine Cousine beschrieb. Ich liebte Julia nicht, ich hatte sie eigentlich nie richtig gemocht. Sie hatte mich aufgerissen und instandgesetzt wie ein leer stehendes Haus in einem heruntergekommenen Vorort. Wir bumsten miteinander, probierten Fesselspiele aus und hatten es manchmal sogar mit anderen Pärchen getrieben. Wir führten eine ausschließlich sexuelle Beziehung. Unsere Körper verstanden einander, aber unsere Gedanken und Träume, unsere Vorstellungen und Sehnsüchte waren so verschieden, dass es für uns nicht den kleinsten gemeinsamen Nenner gab: außer diese aggressive Langeweile vielleicht, die uns beide zu hohlen Statuen absoluter Empathielosigkeit formte.
Hinter meinem Rücken hörte ich das sanfte Rauschen einer Regenbogendusche. Ich sah auf die Uhr, es war beinahe schon Mittag, ich musste Stunden vor den beiden Filmplakaten in der Diele zugebracht haben. Der Aschenbecher auf der Ablage neben dem Eingang war jedenfalls voll, und auf dem Boden stand eine umgeworfene Flasche Moët & Chandon. Aus dem Reich der Körperpflege drang das Surren des Föhns, danach raschelten Kleiderstücke an Julias makellosem Leib.
Die Türschnalle wurde nach unten gedrückt, und meine Cousine verließ das Badezimmer, griff nach der Umhängetasche mit ihrer Mittelformatkamera, warf mir eine rasche Kusshand zu und verschwand. Wenig später hörte ich ihren Mini Cooper mit quietschenden Reifen davonrasen, ich schaute kurz aus dem Fenster und sah die Rücklichter des Straßenflitzers an der Kreuzung vor dem Ritual-Hotel aufleuchten, dann war die Karre mit den blau-roten Längsstreifen verschwunden.
Ich schraubte mir ein paar Espressi in den Rachen, rief auf dem Tablet abonnierte YouTube-Channels auf und versank in Musikempfehlungen zu Bands, von denen nicht einmal die wildesten Nerds gehört hatten. Japanischer Rap, Folkbands vom Polarkreis, finnischer Tango. Und Dark-Metal-Ensembles, deren tätowierte Frontmänner gegen das Fegefeuer, die Hölle oder den Absinth-Rausch anschrien.