Anderer Leute Sommer - Cornelia Hollmann - E-Book

Anderer Leute Sommer E-Book

Cornelia Hollmann

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Beschreibung

Dies ist eine sachte Geschichte über den scheuen zwölfjährigen Mio, der in den Sommerferien von seiner Mutter zu Bekannten, die er noch nie sah, aufs Land in ein ehemaliges FDGB-Ferienheim geschickt wird, da sie ihn nicht von früh bis spät vor dem iPad sitzen sehen will. Sie möchte ihn an frischer Luft und unter Leuten sehen. Was sie nicht weiß, ist, dass alles, was Mio in seinem iPad schon hat sehen können, ihm Angst vor der Welt machte, sodass er überall Böses erwartet, sogar auf diesem stillen Hof im Wald. Mio lernt in diesem Sommer zum ersten Mal eine andere Art des Zusammenlebens, des Erwachsenseins und des Erwachsenwerdens kennen, die nicht beängstigend ist, aber dennoch auch nicht frei von Fragen und Herzklopfen.

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Cornelia Hollmann

Anderer Leute Sommer

Impressum

© NIBE Verlag © Cornelia Hollmann

Alle Rechte vorbehalten, insbesondere das des öffentlichen Vortrags sowie der Übertragung durch Rundfunk und Fernsehen, auch einzelner Teile. Kein Teil des Werkes darf in irgendeiner Form (durch Fotografie, Mikrofilm oder andere Verfahren) ohne schriftliche Genehmigung des Verlags und des Autors reproduziert oder unter Verwendung elektronischer Systeme verarbeitet, vervielfältigt oder verbreitet werden.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; Detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.

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Ich bleib’ einfach hier stehen, dachte Mio. Soll sie doch untergehen, die ganze blöde Welt. Ich bleib’ stehen und rühr mich nicht vom Fleck, und dann können sie alle mal sehen … und es fühlte sich gut an, das zu denken. Besser als all die Zeit vorher, in der er gesessen hatte mit seinem Knoten im Magen und den Fingern gekrallt um die weiche Tüte voller Haribo-Kirschen.

»Die magst du doch am liebsten«, hatte seine Mutter gesagt, als ob das etwas besser machte. Als sollte es ein Geschenk sein. Als würde er nicht wissen, das war nur ihr schlechtes Gewissen, denn dass sie das hatte, war ihm schon klar gewesen, als sie zu ihm kam und sagte: »Wir haben uns was ausgedacht für dich. Für die Ferien, denn wir sind doch nicht genug da. Wir haben doch diesmal keinen Urlaub, und du die ganze Zeit hier allein zu Hause … das geht nicht.«

Er hatte schon in dem Augenblick gewusst, sie tat nur, als glaube sie, das würde ihm eine Freude machen. Sie glaubte es selbst nicht. Sie wusste, er wollte nicht weg. Wusste es und schickte ihn trotzdem. Und wie überfröhlich sie geklungen hatte. Wie falsch dabei. Scheinheilig.

Er hatte kein Wort gesagt. Nur zugeguckt, wie sie mit Zettel und Stift zu planen begann, was er alles mitnehmen sollte und dann eine Tasche hervorholte, die er noch nie gesehen hatte, weil sie die extra gekauft hatte und auch wieder tat, als sollte das ein Geschenk sein, nur für ihn, und wieso denn bloß freute er sich darüber nicht?

Beim Einpacken hatte sie so oft gefragt: »Das hier oder lieber das?«, wenn sie etwas aus dem Schrank holte, Hosen, Shirts, Socken, dabei hatte er nicht mal gesehen, ob an dem einen etwas anders als am anderen war. Hatte sich an nur einem Gedanken festgehalten: Irgendwas passiert noch. Ich fahr’ da nicht hin. Das kann gar nicht sein. Irgendwann gibt sie nach und sagt, sie wollte mir nur einen Schreck einjagen. Durchziehen wird sie das nie. Geht gar nicht. Kann überhaupt nicht sein. Und als er dann auf dem Bahnhof gestanden hatte … ja, da war das alles in sich zusammengefallen, denn sie hatten nun mal dagestanden, sie beide. Auf dem Bahnsteig mit den vielen Schienen und den leuchtenden Zeitanzeigen und den Tauben, die irgendwas pickten, das keiner sah. Und da waren andere Menschen gewesen mit Taschen und auch Koffern und hatten einer wie der andere nur auf eines gewartet, und das war der Zug, von dem sie sagte, mit dem wäre sie früher auch oft gefahren. Nicht mit demselben, weil Züge damals noch anders aussahen, grün und schmutzig und mit hohen Stufen, über die man kaum hineinklettern konnte, ohne sich am Geländer festzuhalten, schon gar nicht mit einer Tasche. Heute war das einfacher und der Zug leise, quietschte nicht mal mehr beim Bremsen, denn da hatte sie sich immer die Ohren zuhalten müssen … All das hatte sie gesagt, weil sie nervös war. Hastig und mit diesem Lächeln, von dem sie glaubte, er wüsste nicht, es war nur gespielt. Und einen Brief hatte sie noch aus ihrer Tasche gezogen und erst in den Händen gedreht und ihm dann gegeben. Na ja, nicht ihm, sondern ihn in seine Reisetasche gesteckt und den Reißverschluss extrafest zugezogen und zehnmal gesagt: »Den gibst du Leni. Vergiss das nicht, ja? Gib ihr den unbedingt. Gleich, wenn du ankommst.« Fast hatte es geklungen, als meinte sie: Lass dir ja nicht einfallen, ihn heimlich vorher zu lesen. Darüber hatte er sich nur nicht aufregen können, weil im selben Moment der Zug angerollt kam, knallrot und nur ein wenig rumpelnd, ehe er stehenblieb mit einer Tür gerade da, wo sie beide waren. Die rutschte auf, Menschen strömten heraus, rannten links und rechts an ihnen vorbei, und kein einziger verwandelte sich in seinen Vater, um fröhlich zu rufen: Reingefallen! und zu lachen, die Mütze abzunehmen und herumzuwedeln oder eine Perücke sogar, die nur Verkleidung gewesen war.

»Okay«, hatte seine Mutter gesagt. »Ich glaube, du solltest einsteigen.«

Er hatte gestanden und gestanden und den Zug angestarrt und dann am Ende sie, weil sie es doch auch sagen konnte, wenn sie wollte: Reingefallen. Du denkst doch nicht wirklich, wir würden dich den ganzen Sommer über irgendwohin verbannen, wo du nicht sein willst.

Nichts dergleichen hatte sie gesagt.

»Pass auf dich auf, ja? Und ruf an, wenn du da bist. Und grüß alle. Und vergiss nicht den Brief. Und kämm dich morgens, ehe du runtergehst. Und vergiss nicht, bitte und danke zu sagen. Mach mir bloß keine Schande, hörst du? Und … hier, na ja, für die Reise. Die magst du doch am liebsten.«

Und da war sie gewesen, die Gummibärentüte. Erst in ihrer Hand, dann in seiner, einfach hineingeschoben, und der Rest?

Der Rest war wie verschwommen. Er, der sah, wie sie ihn umarmte, es aber nicht fühlte. Sah, wie seine Füße gingen, auf den Zug zu und durch die Tür. Den Boden, der beige mit kleinen dunklen Punkten war und die blauen Sitze mit den hohen Lehnen.

Ans Fenster hatte er sich gesetzt, weil er das sollte, weil sie winken wollte. Oder wollte, dass er winkte. Das hatte er so genau nicht gehört.

Winkte auch nicht.

Saß nur und starrte.

Auf seine Mutter, die kleiner und kleiner wurde und winkte wie verrückt. Dann auf Hauswände und kleine mickrige Bäume, Gras, Steine, sonst nichts, nichts, nichts.

Hier war noch viel weniger.

Dieser Bahnhof war so klein.

Ein Schild nur, einfach in den Sand gehauen, mit dem Ortsnamen darauf, den er nicht lesen wollte.

Keine leuchtende Zeitanzeige.

Keine anderen Schienen.

Keine Bahnhofshalle.

Nicht mal Tauben.

Nur ein altes Backsteinhaus, das wie eine Ruine aussah.

Kein Mensch stieg ein und auch kein anderer aus. Nur er. Er war hier ganz allein und der Zug schon wieder fort. Einfach weitergefahren und hinter Gräsern und Büschen verschwunden.

Und wie still es plötzlich war.

Wie groß der Himmel.

Und blau.

Bäume standen überall.

Die Schienen zogen wie zwei Schlangen zwischen ihnen davon. Einmal in die Richtung, aus der er gekommen war, einmal in die, welche er nicht kannte.

Und wie sie in der Sonne glänzten.

Und wie viel größer der Knoten in seinem Magen noch wurde, während er sie ansah. Wie der einzige Mensch auf der Welt kam er sich vor. Als wäre er so weit weg von Zuhause wie die Erde vom Mond. Dabei war er kaum eine Stunde gefahren. Doch als er das zweite Mal ich bleib’ einfach hier denken wollte, kam es ihm lächerlich vor, denn jeder, der in seinem Auto über den Bahnübergang fuhr, würde ihn sehen können. Und hinter dem Bahnübergang stand ein einsames Haus, ehe Wald begann, und das hatte viele Fenster, hinter denen jemand stehen konnte und starren. Wenn er eins hasste, dann Leute, die auf ihn starrten.

Also was dann?

Was blieb ihm?

Hätte er nur schneller geschaltet und wäre im Zug sitzen geblieben. Da hätte er einer von vielen sein können, stillsitzen und selber starren. Zumindest so lange, bis die Endstation kam.

Wo die wohl war?

Außerhalb des Landes etwa?

Oder würde der Zug nach einer Runde einfach wieder dahin zurückfahren, woher er gekommen war?

Oder gab es eine Endstation, in der Züge nachts standen?

Kam dann der Schaffner noch einmal durch alle Wagen, entdeckte ihn und holte die Polizei, weil er ihm nicht sagen würde, was er da noch machte, und die Polizei rief bei seiner Mutter an, dann würde sie nicht mehr lachen. Dann würde sie gut nachdenken, ehe sie nochmal so was plante. Das würde der Schock ihres Lebens sein. Tolle Idee. Nur war es zu spät und vom Zug nichts mehr zu sehen, und schon fuhren da auf der Straße tatsächlich Autos. Drei Stück, vier, fünf, alle von links nach rechts vorbei, und in den Scheiben am Haus hinter der Straße spiegelte sich etwas buntes, über den Himmel rasten kreischend zwei Vögel, und das sechste Auto war gelb mit einem aufgedruckten Posthorn. Blinkte, bog hinter dem Backsteinhaus ein, und er wusste, das war für ihn. Auch das hatte seine Mutter gesagt.

»Frau Ladenburg von der Post kann dich mitnehmen. Das passt so gut. Ihre Runde führt am Bahnhof vorbei, gerade wenn dein Zug da ankommt. Ist das nicht perfekt? Als sollte es genau so sein. Ich finde das unglaublich.«

Natürlich hatte auch das übertrieben geklungen. Normalerweise sprach seine Mutter nicht vom sogenannten Schicksal, weil sein Vater zu gern Scherze darüber machte und es Aberglauben nannte. Und es war ja nicht so, als würde der Postwagen nicht jeden Tag diesen Weg entlangfahren. Und wie sollte etwas Schicksal sein, dessen Ziel ein Gefängnis am Ende der Welt war? Denn das war alles, was er über seine Ferienunterkunft wusste: Sie lag außerhalb einer kleinen Stadt, die nur geradeso kein Dorf mehr war, in einem Wald auf einem Hügel, auf den es niemanden zog als die Leute, die seine Mutter Tante Hanni, Onkel Paul und Leni nannte, obwohl sie nicht mit ihr verwandt waren.

»Schön ist es da. Richtig schön. Ich kenne keinen Ort, der schöner wäre. Da wird’s dir gefallen«, hatte sie gesagt, tausendmal, und als der Tag seiner Abreise näherrückte auch irgendwann hoffe ich hintendran.

Sollte sie hoffen, wenn ihr das Spaß machte.

Er allein unter Fremden …

Er bei Leuten, die alt waren, denn mussten sie nicht schon im Großelternalter sein, wenn seine Mutter sie Tante und Onkel nannte? Und wer sonst lebte überhaupt noch so?

Abgeschieden.

Am Ende einer Straße, die nirgendwohin führte.

Mitten im Wald.

Ohne Internet.

Ja, auch das wusste er, denn das war, was seine Mutter wollte. Das war ihr wahrer Grund, ihn abzuschieben. Nichts von wegen schöner Gegend, Natur und dem tollen Feriengefühl, das hier angeblich aus den Büschen sprang. Sie wollte, dass er mal etwas anderes tat, als vor seinem Bildschirm zu sitzen. Genau so sagte sie das. Spitz und geziert, als handele es sich um eine schmutzige Pfütze, durch die er trabte von früh bis spät und die Schuhe, sogar die Hosenbeine, verdreckte und ihre gleich mit, ging sie denn zu nah neben ihm.

»Du musst mal was anderes machen. Das ist doch nicht das Leben. Vor allem in den Ferien. Glaubst du, ich kann ruhig arbeiten, wenn ich weiß, du sitzt von früh bis spät mit dem Ding in der Hand, wenn draußen das schönste Wetter ist und die ganze Welt auf dich wartet? Nee, das kann ich nicht. Dafür will ich nicht verantwortlich sein.«

Also schickte sie ihn weg. Verbannte ihn wie in ein Hexenhaus, in dem es womöglich nicht mal Kekse gab. Lebkuchen mochte er ja gar nicht, Kekse schon. Mit Schokolade drin und obendrauf … das war was … schon knurrte sein dummer Magen, und wahrscheinlich hatte sie ihm die blöde Gummikirschentüte statt eines richtigen Futterpaketes nur mitgegeben, weil sie gewusst hatte, das würde so kommen. Wer machte schon mit leerem Magen Dummheiten? Fing der Magen erst an zu knurren, gab es bald nichts anderes mehr zu denken, als nur, wie man ihn füllen konnte. Wer wollte dann schon lieber weglaufen, um Schrecken einzujagen oder auch nur still bis zum Ende aller Tage auf einem verdammten Bahnsteig stehen?

Warm war es, weil die Sonne so knallte ohne Dach für Schatten. Durst hatte er schon im Zug gehabt. Und was, wenn die Postautodame zu ihm kam, weil sie dachte, sie müsste ihn wie ein Kleinkind an die Hand nehmen, weil er den Weg zum Parkplatz nicht fand?

Das fehlte noch. Das konnte sie vergessen. Schließlich war er zwölf, nicht zwei. Löste sich von dem Fleck, auf den seine Füße beim Aussteigen gefallen waren, trabte los und um die kleine Backsteinruine herum bis zu dem Platz, auf dem das gelbe Auto stand.

Der war nicht mal gepflastert. Sand nur, mit tiefen Kuhlen und Grasbüscheln am Rand.

Die Fahrertür stand weit offen. Ein Bein sah er, dann einen Arm, einen Kopf mit dunklen krausen Haaren, ein Lächeln zwischen Wangen, die rot und rund waren.

»Hey, bist du Mio? Dann komm mal schnell rein. Die warten schon auf dich. Die reden seit Tagen von nichts anderem mehr, ach, seit Wochen. Bestimmt hat Tante Hanni dir zur Begrüßung extra was Feines gekocht. Die kann kochen, das sag ich dir. Ich bin übrigens Trude Ladenburg, aber das weißt du bestimmt schon.«

Sie gab ihm die Hand, als er endlich nah genug dafür war. Deutete auf die andere Wagenseite.

»Kannst vorn bei mir sitzen. Hinten ist alles voller Pakete. Für euch ist aber nichts dabei. Es sei denn, ich rechne dich als Frachtgut.«

Lachen tat sie, und wie viel runder die roten Wangen da noch wurden.

Er sagte kein Wort, stieg ein, zog die Tür hinter sich zu. Doch es war nicht fest genug. Sie rastete nicht ein. Frau Ladenburg musste sich über ihn beugen und nochmal kräftig ziehen. Das klappte beim ersten Versuch, so starke Arme hatte sie. Na ja, wenn man täglich schwere Pakete schleppte …

Da waren tatsächlich viele. Gestapelt zu einer Mauer. Davor Taschen voller Briefe. An ihrem Autoschlüssel hing ein kleiner Plüschteufel mit roten Hörnern und schwarzen Schlenkerbeinen, der wild wackelte, als sie den Motor anwarf. Und wie ihre Arme flogen! Wie schnell sie auf dem Kuhlensandplatz wendete und halb über den Kantstein fuhr, da wo er nicht als Ausfahrt abgesenkt war. Die Pakete polterten kein bisschen dabei und verrutschten auch nicht. Nur vorn auf der Ablage klapperte etwas, aber er konnte nicht erkennen, was. Wollte es auch nicht. Und noch weniger wollte er, dass sie mit ihm zu reden begann, etwas sagte, worauf er würde antworten müssen. Drehte den Kopf zum Fenster und versuchte, versunken in die Landschaft auszusehen.

Die begann an ihnen vorbeizufliegen wie der Hintergrund eines langweiligen Filmes.

Einen Hügel zog die Straße hinauf, die eine, die es hier nur gab. Von oben konnte man weit sehen. Wiesen und Felder, die tiefer lagen. Mittendrin war ein See. Anders blau als der Himmel.

Dann kamen Häuser. Reihten sich erst rechts der Straße, dann auch links, ohne Seitenstraßen oder wenigstens Gassen. So klein war der Ort, der geradeso kein Dorf war.

Aber eine große Kirche gab es. Haarscharf fuhren sie an der vorbei. Rechts von ihr an einem der kleinen Wohnhäuser hing ein Schild mit aufgemalter Eistüte über einem Fenster, das offenstand, als würden sie das Eis da heraus verkaufen. Ob es in einer Kleinstadt wie dieser auch nur kleine Eiskugeln gab oder extragroße, um das, was fehlte, auszugleichen?

Seine Mutter hatte mal gesagt, in ihrer Kindheit hätte es nur drei Sorten gegeben. Schoko, Erdbeer, Vanille. Und Waffeln, die viel leckerer gewesen wären als heute, so wie vieles von früher, das ihr nun fehlte. Aber wenn sie so was sagte, meinte sie auch wieder nur, dass es in ihrem Früher keine Computerspiele und vor allem kein Internet gegeben hatte und nannte das Leben darum schöner. Sie war unheimlich versessen darauf, Computer und Internet schlechtzumachen. Ließ keine Möglichkeit aus, zu seufzen, fand sie ihn mit seinem iPad in der Hand. Und wie sie dann den Kopf schüttelte! So gequält, dass er es hasste, obwohl es ihm ja nicht wehtat oder beim Spielen störte.

Frau Ladenburg bog schwungvoll von der Straße in eine kleinere ein, in der zwischen grauen Häusern eine alte zerfallene Kaufhalle stand, die aus dem schönen Früher seiner Mutter übriggeblieben schien, aber gar nicht glücklich darüber aussah. Und dann kam endlich mal ein Haus, das neugebaut war und hell angestrichen mit Schildern von Arztpraxenöffnungszeiten neben der Tür. Doch schräg gegenüber musste wieder eine alte Tankstellenruine prangen, die ein Verwandter der halbzerfallenen Kaufhalle war und genauso kläglich dalag und so winzig war, als hätte damals nur eine Zapfsäule vor sie gepasst. Was ja gereicht haben mochte für die ganze tolle Stadt.

Und wieder bog Frau Ladenburg von der Straße in eine andere ein. Es blieb ihr nichts übrig, da hinter der Tankstelle schon das Ortsausgangsschild war.

In dieser Straße gab es viele Bäume, bunte Gärten vor Einfamilienhäusern.

»Gleich da«, sagte sie, drehte den Kopf zu ihm, lächelte. Immer noch oder schon wieder. »Freust du dich?«

Er zuckte mit den Schultern, weil ihm: Nein, wie sollte ich? Soll das ein Witz sein? frech vorkam und im Hals steckenblieb.

Als er wieder aus dem Fenster sah, war da ein Sportplatz, auf dem Fußballspieler herumrannten, und dann war auch hier die Stadt zu Ende und der Wald so plötzlich da, dass er schluckte, weil es in ihm dunkel war, was erdrückte.

So viele riesige Bäume.

Dicht an dicht standen sie.

Kein Fleck Himmel war mehr zu sehen. Sonne schon gar nicht. Die Luft sah aus, als hätte jemand sie grün angehaucht. Die Straße wurde schmal, finster, voller Löcher, durch die Frau Ladenburg raste, ohne sich um ihre Pakete zu scheren, die entweder zu eingeschüchtert waren oder aneinandergeklebt, denn keins rutschte, krachte, ließ seinen Inhalt klappernd aufbegehren, und auch der See, der sich links auftat, war grün.

Mio schluckte, denn an seinem Rand stand das kleine hölzerne Haus, von dem seine Mutter erzählt hatte. Schwalben wohnen unter seinem Dach, den ganzen Sommer lang, hatte sie gesagt und ihm ein Bild gezeigt in Schwarzweiß, und da musste er nochmal schlucken, weil er wusste, es war nun nicht mehr weit.

Von einem Berg hatte seine Mutter gesprochen und der Betonstraße, die sich in einer Kurve hinaufwand. Und genau so war es. Die Straße wurde betongrau mit scharfen Kanten und begann, eine Kurve zu ziehen, hinauf, hinauf, so dass man eigentlich bald denselben Weg zurückfuhr, den man gekommen war, nur höher nun, und links und rechts drängte sich Waldbaum neben Waldbaum. Dann kam ein langer Maschendrahtzaun, so plötzlich, Mio erschrak, weil da nun wieder Himmel war und viel, hinter dem Zaun eine Wiese, auf der kleine gelbe Bungalows standen. Dann begann eine graue Mauer, über die Hausdächer ragten, schließlich ein langes hölzernes Tor. Vor dem endete die Straße. Lief aus in einem Viereck aus Platten, die auch betongrau waren und voller Tannennadeln, Tannenzapfen, hohem Gras in den Ritzen. Frau Ladenburg bremste scharf.

Still wurde es, kaum hatte sie den Motor ausgeschaltet, öffnete die Tür, sprang heraus.

So still.

Sein Herz klopfte und klopfte und klopfte, als sie rief:

»Hey, hallo, der Urlauber ist da!«

Keinen Augenblick später schon standen sie da. Zwei Leute, die er nicht kannte. Warteten und lächelten und sahen zum Auto hin, in dem er saß und sich nicht rührte, obwohl er wusste, er musste, sonst würde es peinlich werden.

Frau Ladenburg schwatzte drauflos, als täte sie das alle Tage, und wahrscheinlich war es auch so und sie nicht nur Postlieferantin, sondern auch Unterhalterin. Die Einzige, die sie hier am Ende der Welt kannten.

Frauen waren es, die da standen und warteten, und er wollte selbst nicht starren, darum sah er nicht viel. Nur, dass eine größer und dünn war und die andere kleiner und … nun ja, rund eben. Beide trugen sie lange Kleider. Die Sonne schimmerte auf ihrem Haar, von welchem eines braun-blond und das andere braun-grau war.

Und wie sie lächelten und Frau Ladenburg die Hände reichten und sich irgendwas erzählen ließen, das er trotz Stille nicht verstehen konnte, weil seine Tür so fest zu war …

Wenn sie die nur gleich wieder mit aufgemacht hätte, ja, dann wäre ihm keine Wahl geblieben. Aber sie war einfach losgegangen, als wäre nichts dabei.

Ihm begannen die Hände zu zittern, und erst, als es dabei knisterte, merkte er, da lag noch die blöde Gummikirschentüte in ihnen. Er hatte sie die ganze Zeit gehalten und seine Hand sich nicht beschwert, weil sie sie mit dem iPad verwechselt hatte.

Dumme Hand.

Glückliche Hand …

Als er den Kopf wieder hob und aus dem Fenster sah, begegnete er Augen.

Denen der dünnen Frau.

Einfach durch die Scheibe sahen sie, obwohl sie fern am Zaun stand und er doch wusste, in Autos hineinzusehen war schwer, weil die Scheibe meist blendete.

Doch sie sah ihn an.

Und wie still ihr Blick war, und wie beschämt er sich fühlte und ärgerlich dann. Zwölf Jahre, nicht zwei, dachte er nochmal. Dass er sie glauben ließ, er wäre auch noch schüchtern, nachdem sie von seiner Mutter kaum anderes gehört haben konnte als: Ich schicke euch mein kleines dummes Kind, das nichts kann, außer mit seinem iPad dasitzen … das konnten sie allesamt vergessen. Und schon war sie auf, die Tür, und er draußen und versuchte, gerader zu stehen als jemals zuvor in seinem Leben.

Versuchte, nicht den Blick zu senken, als er auf sie zuging. Versuchte, Worte zu finden, die beweisen würden, er musste nicht bemuttert werden und würde sich auch nicht von ihnen wie ein Kleinkind herumtraktieren lassen, falls es denn das war, was ihnen vorschwebte oder was seine Mutter von ihnen verlangte in dem so ausdrücklich mitgegebenen Brief.

»Hi, ich bin Leni«, sagte die dünne Frau, als er kaum nah genug dafür war, und streckte ihm ihre Hand entgegen, und die andere sagte: »Ach, das weiß er doch, oder? Deine Mutter hat doch bestimmt alles von uns erzählt. Sie war doch immer so eine niedliche Plapperliese.«

Er wusste nichts zu erwidern, denn seine Mutter, eine Plapperliese, das wollte ja passen. Sie kannten sie. Und die Hand, die schmale, nahm seine gar nicht, um sie zu schütteln, sondern behielt sie, als wäre das normal und alles, was Hände je taten: Einander nehmen und halten, ob man den Handbesitzer nun kannte oder nicht.

Er kam nicht los.

Aber das stimmt nicht.

Er wusste, er hätte gekonnt, einfach mit einem Ruck. Doch da war etwas, das ihn spüren ließ, täte er es, wäre das schlimm wie ein Verbrechen und durfte darum nicht sein. Dann lieber ergeben. Also ließ er ihr seine Hand, während die andere Frau, die also Tante Hanni war, sich von Frau Ladenburg verabschiedete und sich seine Tasche in die ihre drücken ließ. Die hatte er im Auto vergessen und fand sich wieder in einer Zwickmühle, denn er wusste doch, er hätte sie ihr abnehmen müssen und selbst tragen, sagen: Lassen Sie mal, das mach ich schon, das fehlt noch, so wie sein Vater es tat, wenn Frau Gruber, ihre Nachbarin von links gegenüber, im Winter ihren Fußweg selbst vom Schnee freizuschaufeln versuchte, obwohl sie fast achtzig war. Ob Tante Hanni so alt war, ließ sich schwer sagen. Sie war älter als Leni an seiner Hand und auch älter als seine Mutter, aber ähnelte doch kaum seinen Großeltern, die beide fast siebzig waren. Vielleicht war es das Kleid, das lange, über dessen Rock eine Schürze mit kleinen Rüschen am Rand hing und sie zumindest altmodisch aussehen ließ.

Seine Oma trug Röcke nur zu besonderen Anlässen und auch nie welche, die braun und so lang waren, dass man gerade noch die Schuhspitzen darunter erkannte. Ihre Röcke waren buntgemustert und sie pausenlos besorgt, etwas könnte draufkleckern oder krümeln, so dass sie oft mit den Händen über ihren Schoß wischte und sich beim Essen besonders weit über Tisch und Teller beugte, damit ja nichts passierte.

Tante Hannis Schürze hatte Flecken. Einen großen, der nur wenig dunkler als der Stoff war, und einen kleinen, der seltsam glänzte, und als ihm bewusst wurde, dass man wahrscheinlich nicht auf die Schürze einer fremden Frau starren sollte, sah er rasch auf den Boden. Sah seinen Füßen dabei zu, wie sie neben Lenis herzulaufen begannen, die auf das Haus zustrebten. Sah, Lenis Füße waren ohne Schuhe und starrte schon wieder.

»Es ist so schön, dass du da bist«, sagte Leni, während ihre nackten Füße einfach über die Steinplatten traten, die klein und quadratisch waren, mit Kanten, denen sie nicht auswich, obwohl er glaubte, sie müssten einem ungeschützten Fuß wehtun. Kleine Steine lagen auch hier und da. Sand. Piekte der nicht?

Sie ging einfach und redete mit ihm.

»Wir haben uns so gefreut, dass du kommen wolltest. Jetzt müssen wir nur noch unser Bestes tun, dass es dir auch gefällt.«

»Wenn er nur ein bisschen wie seine Mutter ist, wird es das schon. Wie geht es denn der lieben Moni?«, mischte Tante Hanni sich ein, deren Schritte pochten, als würde sie unter den langen Rockfalten Hackschuhe verbergen, die er nicht sehen konnte, weil sie so rund war und der Rock darum so weit um sie herum, und erst, als es so plötzlich still wurde, dass er merkte, da wurde auf eine Antwort gewartet, merkte er auch, er starrte schon wieder und riss sich los. Versuchte, sich an die Frage zu erinnern.

»Ja, hat sie dir was mitgegeben? Sie wollte einen Brief mitschicken«, sagte Leni mit seiner Hand in der ihren. »Da wird bestimmt drinstehen, was sie so macht.«

Er nickte und flehte, das möge als Antwort auch für Tante Hanni reichen. Die hatte den Kopf abgewandt und rief plötzlich so laut etwas, er zuckte.

»Paul! Monis Junge ist da! Komm und guck ihn dir an, und hör endlich auf, da rumzukramen. Das musst du doch nun wirklich nicht gerade jetzt machen. Wir haben einen Gast!«

Lächeln tat sie dabei und den Kopf schütteln und seufzen auch, alles zusammen.

»Ach, Männer und ihre Basteleien. Immer hat er was zwischen den Fingern in seinem Kabuff und vergisst alle Zeit darüber. Ist dein Vater auch so, Mio? Oder dein Opa?«

Er wusste es nicht. Zuckte mit den Schultern und spürte, wie leicht Lenis Hand in seiner dabei war.

Paul, der Onkel Paul war, kam hinter einer Ecke hervor auf den Hof, der groß war vor dem Haus, das wie eine Villa aussah mit einem Vorbau voller Fenster und drei schmalen Treppenstufen, die zu seiner Tür hinaufführten. Die hatte zwei Flügel. Einer von ihnen stand offen, und Tante Hanni blieb vor den Stufen stehen, stellte die Tasche auf ihnen ab, sah Onkel Paul an und deutete mit dem Kopf auf Mio, als wollte sie fragen: Na, was sagst du? Kann er vor deinen Augen bestehen? Und wieder wollte Mio den Kopf senken und im Boden versinken, aber Lenis Hand hielt noch seine, und sie lächelte nicht Onkel Paul an, sondern ihn.

Onkel Paul hatte schmutzige Hände.

Groß waren die.

Braun, als wären sie von früh bis spät in der Sonne und würden auch im tiefsten Winter noch genauso aussehen. Eine Latzhose trug er. Aus den Taschen guckten Werkzeuge hervor, die Mio nicht benennen konnte. Vielleicht Schraubenzieher, Zangen oder so was. Eins war ein Bleistift, den kannte er natürlich. Sah, der rosa Radiergummi war am Ende abgebröselt.

Onkel Pauls Hand hörte nicht auf, zu warten, und als er seine endlich hineinlegte, hatte die nie winziger ausgesehen. Und so bleich. Und wie fest er zudrückte … wahrscheinlich, weil er seine Hand gar nicht fühlte, immerzu dachte: Nanu, da muss doch was zurückkommen, irgendeine Kraft?

Nichts kam da, nur Schmerzen, als er endlich wieder frei war und sie nicht mal wegreiben konnte, weil seine andere Hand doch in Lenis lag.

Die war kühl und immer noch so sacht. Nie hatte er eine sachtere Hand gefühlt als ihre in diesem Augenblick und wusste, er würde es auch nie wieder und wurde traurig, auf einen Schlag.

»So, und jetzt wollen wir mal gucken, was wir dir Gutes tun können. Du hast bestimmt Hunger, oder?«, löste Tante Hanni den Moment auf, deutete auf die Tasche auf der Treppe, damit Onkel Paul sie an sich nahm. »Du weißt, wohin damit.« Ging vor ihnen durch den offenen Flügel der großen Tür.

Onkel Paul nahm die Tasche, und natürlich schaukelte sie in seiner Hand leicht wie ein Kinderspielzeug, während er knurrte: »Weißt, wohin damit … ja, ja, das konnte ich mir gerade noch merken mit meinem Holzkopf.«

Aber er zwinkerte dabei, als er Mios Blick sah. Folgte Tante Hanni durch die Tür hinein in ein Dunkel, das gewaltig schien im Vergleich zu all dem Licht, das hier draußen auf dem Hof lag. Ihre Stimme kam zu ihnen zurückgeflogen, klang aber mit jedem Wort ferner.

»Ich hab versucht, rauszufinden, was du gern isst, aber Moni hat das immer zu beantworten vergessen. Also musst du wohl …«

Der Rest war nicht mehr zu hören, und Leni deutete lächelnd auf die Tür und ließ seine Hand los.

*

Drinnen war ein Vorhang, der Licht stahl und den Vorbau mit den vielen Fenstern vom Rest des Hauses trennte. Türen sah er hinter ihm, links, rechts, geradeaus, und eine breite Treppe, die nach oben führte. Alle Türen bis auf die links waren geschlossen. Durch die fiel Licht. Er hörte etwas klappern und folgte dem Geräusch, fand sich gleich darauf in der Küche, die er nur am Kühlschrank erkannte, denn sonst sah sie anders aus als die Küchen, in denen er bisher gewesen war. Die Schränke waren wuchtig, klobig, mit Türen, die wie Fenster aussahen, Schubladen mit abgestoßenen Kanten, Nischen, in denen Krüge standen und Vasen mit getrockneten Blumen. Einer stand hier, einer da, ein dritter neben dem Fenster. Bei ihm zu Hause floss die Küchenzeile nahtlos rings um drei von vier Wänden herum, und auch der Herd und die Spülmaschine waren miteingebaut. Hier stand er einzeln und sah auch sonderbar aus mit vier kleinen runden schwarze Plättchen, über die sich Gitterarme stülpten, statt einer glänzenden Gesamtfläche. Eine Spülmaschine sah er nicht.

In der Zimmermitte stand ein Tisch, auch riesig, voller Ritzen und Flecken, weil Mio anscheinend in der Zeit zurückgereist war, zweitausend Jahre. Was, wenn seine Mutter recht gehabt hatte, als sie sagte, hier gäbe es kein Internet? Denn im ersten Moment hatte er es natürlich für einen Scherz gehalten, einen ganz gemeinen. Für eine Drohung. Sie versuchte so oft, ihn aufzurütteln, wie sie es nannte. Wollte ihn begreifen sehen, das Internet ständig vor der Nase zu haben, sei schlecht für ihn. Für sein Leben. Das glaubte sie nämlich. Damit verdirbst du dir die Zukunft, sagte sie sogar, und er musste nicht begreifen, warum sie das fand, er musste dann nur tun, als würde er zuhören und manchmal Besserung geloben, war er guter Laune. War er es nicht, saß er nur und ließ sie reden und versuchte die Minuten zu zählen, die es dauerte, bis sie fertig war. Und wenn sie dann endlich von ihm abließ, ohne ihm das iPad abzuverlangen, holte er es wieder hervor, während sie glaubte, er mache Hausaufgaben. Machte er ja auch, nebenbei. Es war ja nicht so, als wäre er sehr schlecht in der Schule. Sich verbessern konnte wohl jeder noch, solange er nicht alles Einsen hatte. Dass es Haushalte gab, in denen das Internet kein Teil der Einrichtung wie jeder Tisch und Stuhl und Sessel war, hatte er da nicht gelernt. Das kam ihm unglaublich vor, und wenn er ehrlich war, wartete er nur darauf, Leni sagen zu hören, es wäre ja auch gar nicht wahr. Sie hätte zumindest ein Smartphone in einer verborgenen Rocktasche oder einen Computer in ihrem Zimmer, der ja alt sein konnte, wenn er das unbedingt wollte, mit so einem dicken Bildschirm getrennt von der Tastatur, auf dem die Bilder unecht und wie aus einem Minipuzzle zusammengesetzt aussahen, aber immerhin, einen Computer. Ob er sich dann auch daransetzen durfte und seine Zeit vertreiben, war natürlich eine andere Frage. Aber das wollte er schon sehen, denn eins wusste er: Sechs Wochen ohne, das würde er nicht überstehen, und das durfte auch niemand von ihm verlangen, denn grenzte das nicht an Kindesmisshandlung? Wenn er den Computer erst mal gefunden hatte, würde er Google sofort danach fragen.

Aber so weit war es noch nicht. Hier und jetzt wurde sein Magen zum Verräter, denn in dieser kurzen Zeit hatte Tante Hanni den Tisch gefüllt. Da standen nun Schälchen und Becher und Teller und große Schüsseln sogar, und alle sahen sie lecker aus und dufteten verführerisch. Sein Magen knurrte. Alle drei hörten es, lachten, und im nächsten Moment schon wurde er auf einen Stuhl gedrückt, und Tante Hanni sagte: »Lang zu, Junge«, und seine Hände griffen zu, wie von allein. Und wie gierig sie waren! Wie schnell sie griffen, und wie wenig sie sich daran störten, dass es ungeschickt war und mancher Krümel fiel. Er schmeckte nicht mal, was er da in sich zu stopfen begann. Lecker war es, süß und sauer und frisch und knackig, alles auf einmal. Stunden schienen zu vergehen, in denen er nichts anderes tat, als Essen zu schaufeln, und der Magen glaubte von jedem einzelnen Bissen, er täte ihm gut. Er behauptete sogar, alles würde danach besser sein. Und er glaubte ihm einfach, schaufelte und schaufelte, selbst wenn er das blanke Entsetzen seiner Mutter spürte, ihre Stimme hörte: Du machst mir Schande! Kaum fünf Minuten da, und benimmst dich wie ein Flegel! Womit hab ich das verdient?

Tante Hanni sagte etwas, das er aber nicht hörte. Leni antwortete, und Onkel Paul brummte auch etwas und ging dann durch eine Hintertür wieder nach draußen. Irgendwo bellte ein Hund, und Onkel Paul sagte auch was zu dem, so dass er wieder aufhörte. Tante Hanni und Leni sprachen noch weiter, aber auch das verstand er nicht, weil er es gar nicht wollte. Er wollte nur sitzen, bis er satt war, und dann einfach wieder nach Hause zurückfahren dürfen.

***

Natürlich durfte er das nicht. Er durfte für den Rest dieses Tages nur dankbar sein, dass diese Leute ihn nicht kannten. Dass sie Fremde waren, die alles glauben würden, was sie glauben wollten, wenn er sie ließ. Darum ließ er sie vor allem glauben, sie hätten recht, als sie irgendwann sagten, bestimmt sei er müde von der Reise und all der Aufregung des Tages und wolle gar nichts anderes mehr als in sein Bett. Musste kaum nicken und schon gar nichts sagen, sich nur aus der Küche führen lassen, über den Flur und hinauf die vielen Treppen zu wieder anderen Türen, die auch geschlossen waren. Eine von ihnen öffneten sie, und Tante Hanni sagte: »So, dann mach’s dir gemütlich. Wir sehen uns dann später. Oder auch morgen Früh. Wie du willst. Wir sind auf jeden Fall alle unten.«

Leni ging mit ihm hinein. Ging bis zum Fenster, durch das Sonne strömte und sie golden schimmern ließ, so dass er sie nicht ansehen konnte, ohne die Augen zusammenzukneifen. Sie sagte etwas, aber auch das hörte er nicht, nickte nur und senkte den Blick, und da kam sie auf ihn zu und blieb vor ihm stehen, fuhr mit der Hand über seine Wange, sagte: »Morgen wird’s besser.« Und diesmal verstand er es.

Dann war auch sie fort und die Tür hinter ihr zu und groß und weiß dabei, blendete auch, weil die Sonne nun auf sie fiel und von ihr abprallte.

Er musste woanders hinsehen.

Ließ seinen Blick einmal durch das Zimmer kreisen, das trotz seiner Größe erdrückend war. Ein Bett, ein Schrank, ein Regal, alles braun, ein Bild an der Wand mit hügeligen Wiesen darauf und einem kleinen roten Kirchturm in der Ferne. Mehr gab es nicht zu sehen.

Vor dem Fenster stand ein gewaltiger Baum. Einer seiner Äste reichte bis fast an die Scheibe heran, wollte locken, flüstern: Kannst doch an mir runterklettern und abhauen, wenn du dich traust. Und wie gemein war das, wenn er doch keine Möglichkeit hatte, dann weiter und bis nach Hause zu kommen ohne Geld, ohne Ahnung, wann ein Zug fuhr, ohne Möglichkeit, es herauszufinden ohne Internet … und, ja, das Trauen kam auch noch dazu. Es klang leicht, aber getan hatte er so was noch nie. Aus einem Fenster, über einen Baum, so wie Leute in Filmen, wo es gar nicht echt war, nur gespielt und oft getrickst und meistens sogar auch am Computer manipuliert, damit es cool aussah.

Ans Fenster heran ging er trotzdem, traute sich nur nicht, es zu öffnen, denn was, wenn die unten es hörten und sich wunderten oder sogar plötzlich draußen auftauchten und zu ihm hoch sahen?

Wer wusste schon, was sie jetzt taten.

Zusammensitzen und über ihn reden bestimmt.

Und den Brief seiner Mutter hatte er auch vergessen, Leni zu geben. Der lag noch in seiner Tasche, und die Tasche stand vor dem Bett und sah schuldbewusst aus und dann auch ein bisschen verärgert, weil er in Gedanken gegen sie trat, mit beiden Füßen, nicht sacht.

Nochmal runtergehen würde er nicht.