Anders Leben - Natascha Neumann - E-Book

Anders Leben E-Book

Natascha Neumann

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Beschreibung

Der zweite Teil der Reihe um den Bauerssohn Matthis, der nach abgeschlossener Tischlerlehre den ungewöhnlichen, neuen Weg geht. Er arbeitet fortan in den "von Bodelschwing'schen Anstalten", in Bielefeld. Das andere Leben verlangt ihm viel ab, Matthis schwankt zwischen Euphorie und Verzweiflung. Viele Widersprüche und Erlebnisse lassen Matthis zutiefst an seinem Glauben zweifeln. Wird er aufgeben und in die Tischlerei zurückgehen?

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Seitenzahl: 378

Veröffentlichungsjahr: 2023

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Kapitel 22
Kapitel 23
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Kapitel 25

Anders Leben

Von Natascha Neumann

Buchbeschreibung:

Der zweite Teil der Reihe um den Bauerssohn Matthis, der nach abgeschlossener Tischlerlehre den ungewöhnlichen, neuen Weg geht.

Er arbeitet fortan in den "von Bodelschwing'schen Anstalten", in Bielefeld.

Das andere Leben verlangt ihm viel ab,

Matthis schwankt zwischen Euphorie und Verzweiflung. Viele Widersprüche und Erlebnisse lassen Matthis zutiefst an seinem Glauben zweifeln.

Wird er aufgeben und in die Tischlerei zurückgehen?

Über den Autor:

Natascha Neumann ist in der Nähe von Bielefeld aufgewachsen und schon früh mit Bethel als Institution in Berührung gekommen. Das Leben derer, die sich der Arbeit für die Benachteiligten widmen, hat sie von jeher fasziniert.

Heute lebt sie mir ihrem Hund in Mainz, wo sie lange Zeit

beim SWR gearbeitet hat.

1. Auflage, 2023

© 2023 Natascha Neumann – alle Rechte vorbehalten.

»Matthis, schau, hier ist ein Brief für dich, von deinen Eltern, aus Holzkirchen!« Jonis Stimme überschlug sich, er war aufgeregt und zappelte hin und her, als müsse er austreten. Dabei war der Junge beinah elf Jahre alt.

»Leg ihn dort auf das Nussbaumschränkchen und komm hier neben mich. Ich zeig dir, wie die Intarsien gearbeitet werden.« Joni blieb, wo er war, an der offenen Werkstatttür. Er starrte Matthis an, schüttelte den Kopf und sauste davon.

»Den Brief hat er mitgenommen«, bemerkte Werner trocken und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

»Er hasst einfach alles, was mit der Tischlerei zu tun hat. Ist ja kein Wunder.« Matthis beugte sich näher über die Tür, an der er arbeitete. »Jakob sagt ihm ja oft genug, dass ein Kranker wie er nichts hier zu suchen hat.«

»Wir wissen bis heute nicht, warum er diese Anfälle hat. Aber wenn hier mit der Säge was passiert, oder er im Krampfen die Lampe herunterreißt, dann ist die Katastrophe da.«

Matthis zuckte unwillig mit den Schultern. »Schon recht. Aber der Junge sollte … «

» … etwas lernen. Ich weiß. Sagst du heute nicht zum ersten Mal.«

»Glaubst du, Jakob erlaubt, dass ich ihn mitnehme, wenn ich nach Bethel gehe?«

Jetzt war es an Werner, mit den Achseln zu zucken. »Er liebt den Kleinen, hat er immer getan. Aber seit Max auf der Welt ist … und Hannah ist wieder schwanger, oder?«

Vor Schreck ließ Matthis beinahe sein Werkzeug fallen. Mit offenem Mund und dümmlichem Gesichtsausdruck glotzte er den Altgesellen an.

Werner lachte. »Ja, hast du denn nicht gemerkt, wie sich ihre Blicke immer mehr nach innen richten?«

»Nein. Doch. Ich meine, natürlich habe ich vermutet, dass sie schwanger ist. Aber dass du das merkst?« Er zog das ›du‹ lang und hob dabei die Augenbrauen.

Wieder lachte der Altgeselle verhalten, wurde jedoch im Nu ernst. »Wann wirst du gehen?«

»Ich habe noch keine Antwort, aber ich denke, bald. Werner, ich muss das tun!« Leidenschaft, Verzweiflung und Hoffnung schwangen gleichzeitig in seiner Stimme mit. Er brannte darauf, seiner Berufung, die für ihn die Erfüllung seiner Sehnsüchte war, zu folgen. Sein geliebter Meister und Ziehvater Jakob begriff das nicht, er sprach nur noch das Nötigste mit ihm, seit der ihm von seinem Vorhaben erzählt hatte. Verrückt und undankbar hatte er ihn genannt. Matthis hoffte, dass wenigstens Werner ihn akzeptierte.

»Ja, Junge, du musst das tun. Ich bin hier, weil ich tun musste, was ich tat. Niemand hat es verstanden, und viele tun es bis heute nicht. Mach deinen Frieden mit Jakob, und dann geh. Meinen … «, er hüstelte, wischte mit dem Handrücken durch sein Gesicht, blinzelte, »meinen Segen hast du.«

Matthis Augen leuchteten auf. In seinem Hals war ein dicker Kloß, würde er antworten, müsste er flennen wie ein Wickelkind. Ohne ein weiteres Wort beugte er sich über seine Arbeit. Er war sicher, Werner fühlte mit ihm.

»Gibt es was Neues in Holzkirchen?« Hannah fragte gespannt, bis heute hatte sie hin und wieder Heimweh und sehnte sich nach Neuigkeiten ihrer Schwester, Matthis' Mutter. Der antwortete nicht gleich, sondern sah Joni lange an, bis dieser rot wurde und stammelte: »Ich habe ihn doch auf das Schränkchen gelegt?« Es klang wie eine Frage.

»Hast du das?« Werner starrte ebenfalls auf den Burschen.

»Äh, ich, äh, Matthis es tut mir Leid, ehrlich, ich wollte ihn ja auf das Schränkchen legen, aber …«

»Wo ist der Brief jetzt, Junge? Denk nach!« Jakob schüttelte unwillig den Kopf und wandte sich wieder seinem Essen zu. Matthis und Werner grinsten sich an, der Geselle hatte den Umschlag - verschlossen und fleckenlos - auf dem Boden des Abtritts gefunden und Matthis zugesteckt. Joni war in den letzten Wochen fahrig und schluderig, jederzeit mit dem Kopf in den Wolken. Niemand war darüber im Bilde, von was er träumte und was in ihm vorging, seine geistige Abwesenheit amüsierte die beiden Gesellen, wenn sie auch Nerven kostete. Jakob war eher hektisch, wann immer er seinen Sohn aus dem Weg schob, weil der herum stand und Löcher in die Luft starrte. Hannah steckte es weg, wie sie alles hinnahm, mit Geduld.

»Jetzt isst du erst einmal dein Abendbrot, und dann überlegen wir gemeinsam, was mit dem Brief passiert sein könnte, ja?« Joni nickte dankbar und atmete auf, wogegen sein Vater nicht zufrieden war. »Du weißt schon, wem der Brief gehört?«<<

»Matthis«, murmelte der gescholtene Junge der Tischplatte zu.

»Und ist ihm dieser Brief wohl wichtig?« Jakobs Stimme klang polternd und schärfer.

»Lass doch, wir regeln das nachher«, versuchte Matthis ihn zu besänftigen, aber ihm war sogleich klar, dass er es nicht besser für den Jungen machte.

»In meinem Haus nimmt niemand einem anderen etwas weg! Und jeder kümmert sich um den anderen!«

Hannah stand auf, ging in die Küche und kam mit einem gewaltigen Topf Apfelmus zurück. »Ja, sicher«, lächelte sie ihren Gatten sanft an, »aber erst nach dem Nachtisch!«

Es war Jakobs Leibspeise, kaum ein Essen liebte er so sehr. So ein Zufall, dass sie das Mus gerade heute zum Nachtisch bereitet hatte, dachte Matthis. Zugleich sah er das glückstrahlende Gesicht und die tiefe Seligkeit in ihrem Blick. »Zu Ostern, wenn der liebe Gott es will, werden wir ein weiteres Kind haben, Jakob. Joni, du bekommst wieder ein Geschwisterchen!«

»Aua! Verd… pass doch auf, du Dösbaddel!« Werner steckte die Finger in den Mund, während er schimpfte. »So was will Tischler sein? Du Nichtsnutz stierst schon den ganzen Tag Löcher in die Luft, und nun lässt du die Bretter geradewegs auf meine Greifer fallen. Du … «

Er musste Atem holen, und Matthis nutzte seine Chance.

»Das tut mir leid, ich habe nicht aufgepasst!«, gestand er gedrückt und mit dem Blick zu Boden. »Ja, das habe ich gemerkt«, Werner lutschte weiter an seinen Fingern, schien inzwischen jedoch beschwichtigt. »Was ist denn bloß los? Hast du wieder Streit mit Jakob?« Matthis schüttelte den Kopf, blieb allerdings stumm. Der Altgeselle gab vor, er den Kameraden nicht mehr zu beachten, putzte sich die Hände an der Arbeitshose ab und fing an, die Werkstatt aufzuräumen. Der Junge stand da, als sähe er so etwas zum ersten Mal und rührte sich nicht.

»Nun komm, hilf mit, desto eher können wir in der Schänke sein!«

»Schänke?« Matthis hob die Augenbrauen.

»Wir gehen jetzt was trinken, du und ich. Dann erzählst du mir, was los ist – oder ich lass dich morgen früh nicht in die Werkstatt.« Werner sprach kaum einmal viel, heute redete er mit erheblichem Nachdruck, überdies, ohne zu brummen. Matthis war gewohnt, ihm zu gehorchen, er hatte seinen Kollegen ins Herz geschlossen, und, eigentlich, fand er, war Bier eine gute Idee.

Seit letzten Monat war Matthis einundzwanzig, seine Lehre hatte er mit Bravour abgeschlossen, sein Meister Jakob hatte ihn vor etwa einem Jahr »frei von seinen Verpflichtungen« gesprochen. Trotzdem war der Geselle vorerst geblieben.

Es war erst Nachmittag, nur vereinzelt waren Menschen unterwegs. Die Bauern arbeiteten auf den Feldern oder im Stall, die Handwerker in den Werkstätten. Matthis genoss den Weg durch die frische Luft, dann und wann fiel ihm das Atmen in der von Holzstaub durchsetzten Umgebung schwer. Im Übrigen fehlte ihm seit einigen Tagen, da hatte der Altgeselle Recht, die Aufmerksamkeit. Er hatte sich beim Hämmern auf den Daumen gehauen, hatte die Nägel verschusselt und zum Schluss mit einem Stapel Bretter beinahe Werners Finger zerquetscht.

Im Augenblick war er auf dem Weg in die Schänke, wo er mit dem Kollegen verabredet war.

Gedankenverloren schaute er zu Boden und trabte vor sich hin, achtete nicht auf den Weg, versuchte, seine Gedanken zu sortieren. Er suchte eine Lösung, es gelang ihm nicht, auch nur an Luise zu denken, ohne zittrige, schweißige Hände zu bekommen. Sein Herzschlag verdoppelte sich und er wagte kaum, zu atmen. Sie hatten sich häufig gesehen im vergangenen Jahr, hatten einander wachsendes Vertrauen entgegengebracht. Zusammen besuchten sie Missionsfeste und Kirchenpicknicks. Ein letztes Mal hatten sie vor drei Wochen Oma Niehaus einen Besuch abgestattet, bevor die alte Frau am Tag darauf friedlich eingeschlafen war. Er nahm an der Beerdigung teil, hatte am äußersten Rand gestanden und versucht, unsichtbar zu sein und gleichzeitig Luise zu zeigen, dass er für sie da war.

Als im Ort bekannt wurde, dass die herzensgute Oma ihrer jüngsten Enkelin eine erkleckliche Aussteuer vererbt hatte, Land, Schmuck und Geld, da sah er Luise über Nacht kaum mehr. Sie besuchte keine der üblichen Veranstaltungen, sonntags in der Kirche saß sie zwischen ihren Eltern, warf ihm gelegentlich einen Blick zu und grüßte im Vorbeigehen zögerlich.

»Natürlich«, grübelte er, »sie ist ja mittlerweile reich.«

Eine gute Partie, sagten die Leute. Jakob hatte ihn damit aufgezogen.

»Deine Jugendfreundin ist jetzt eine feine, gutsituierte Dame, du aber bist eben nur Tischler.«

Der verträumte Junge litt wie ein Hund. Der Tod von Pauli, seinem Vetter, im letzten Jahr, der Weggang Antons zurück in die Heimat, und in diesen Tagen Luises abweisendes Verhalten machten ihm das Herz schwer. Dabei träumte er jede Minute davon, sie an seiner Seite zu haben, nicht ausschließlich heute oder morgen, sondern zu allen Zeiten.

Er wäre beinahe über seine eigenen Füße gestolpert.

»Hey, Junge, nimm dich in acht!«

Der dicke Fleischergeselle Mesters hielt ihn am Arm fest und schnauzte: »Bissu denn besssoffen?«

Matthis roch die Fahne des Anderen. Mit dem war nicht gut Kirschen essen, erst recht nicht, wenn er getrunken hatte. Er riss sich los, stolperte vorwärts und - wieder ein Rempler.

»Junge, bist du wirklich völlig durch den Wind? Siehst und hörst nichts mehr, was?« Er war Werner in die Arme gefallen. Dieser

gab seinem früheren Lehrling einen Klaps ins Gesicht, Matthis schaute ihn verdattert an und murmelte »Mesters. Besoffen.«

»Ich verstehe«, Werner grinste, »aber du nicht, oder? Reiß dich zusammen, sonst gibt es kein Bier!«, er hakte den Gesellen unter und zog ihn mit sich fort. Erst in der Schänke hielt er an, setzte den Kameraden an einen Tisch und bestellte.

»Schnaps?« Der junge Mann staunte.

»Runter damit, und dann ezählst du mir alles. Es geht um Luise, oder?«

Matthis setzte sein Pinnchen an den Mund, legte den Kopf in den Nacken, trank bis zur Neige und schüttelte sich wie ein nasser Hund. »Ich mog ihn nich, abba hebben muss ich ihn!«, versuchte er den hiesigen Dialekt nachzuahmen. Auch nach fast acht Jahren gelang es nur mäßig. Werner lachte trotzdem mit ihm, und auf einmal floss Matthis Herz über.

»Luise trifft mich nicht mehr. Sie weicht mir aus. In der Kirche sitzt sie nur bei ihren Eltern, danach geht sie heim, sie besucht kein Kirchenpicknick mehr und … «, er holte Luft und seufzte schwer. Werner nutzte die Gelegenheit. »Sie ist in Trauer.«

»Ja, aber deshalb kann sie doch -«

»Sie verhält sich genau, wie es sich gehört. Sechs Wochen keine Vergnügung, zuhause der Toten gedenken, zur Kirche und sonst gar nicht ausgehen.«

Matthis sah vor sich auf den Tisch, hob den Humpen, trank einen langen Schluck. Ungläubig schüttelte er den Kopf. »Du meinst, das ist alles nur, weil die Oma gestorben ist?« Er schlug sich mit der Hand vor die Stirn. »Ich Dämelack!«

Werner schmunzelte. »Genau, weil es Brauch ist. Sitte, Anstand, das macht man so.« Er grinste breit und prostete seinem jugendlichen Freund zu. »Mit dir hat das gar nichts zu tun, du Esel!«

»Aber damals bei Pauli haben wir nach der Beerdigung gleich weitergemacht wie zuvor?«

»Männer machen das. Frauen legen sich meist größere Beschränkungen auf, das weißt du doch, oder?«

Matthis nickte. »Dann wird sie nach einiger Zeit wieder mit mir reden?«

»Wenn sie dich dann noch mag, ja«, Werner grinste seinen Freund an, »aber wer mag schon so einen dummen Jungen wie dich?«

Abends bummelte Matthis gern ein wenig an der frischen Luft. Einen Spaziergang wolle er machen, hatte er den anderen gesagt. »Den ganzen Tag in der staubigen Werkstatt, und immer über die Arbeit gebeugt, da tut es mir einfach gut, mal herumzulaufen.«

Niemand sagte etwas dazu, aber er merkte, dass sie ihm nicht glaubten. Hannah und Jakob grinsten sich wissend an, und Werner murmelte mit einem schiefen Grinsen »schöne Zeit der Jugend« in seinen Bart. Joni sprang auf, hüpfte wie ein Laubfrosch auf und ab und fragte: »Nimmst du mich mit?«

»Joni«, hob Hannah an, aber Matthis nickte. »Warum nicht, komm, Junge!«

Eine Weile liefen sie stumm nebeneinander her, bis der Kleine plötzlich stehen blieb und seinen älteren Freund an der Jacke zupfte. »Meinst du, es ist wegen der Krämpfe? Dass ich Dinge einfach vergesse, in Sekunden? Werde ich jetzt blöd?«

»Wie kommst du denn darauf?« Matthis riss die Augen auf und schlug die Hand vor den Mund. Zwar hatten sowohl der Pastor als auch der Doktor gesagt, dass Fallsucht diese Folgen haben könnte, ungeachtet dessen war Joni selbstverständlich nicht blödsinnig? Es drängten sich Bilder aus Bethel vor sein inneres Auge, sabbernde Idioten, die kaum in der Lage waren, den Kopf aufrecht zu halten konnten - aber Joni hüpfte hier neben ihm her, war ein meist fröhlicher, aufgeweckter Junge mit einer Leidenschaft für Zahlen. »Was gibt zweiunddreißig mal vierhundertsechzehn?«

»Dreizehntausenddreihundertundzwölf« der Kleine hatte kaum überlegt. »Siehst du?«

Joni schüttelte ratlos den Kopf. »Was sehe ich?«

»Na, wenn du blöd würdest, könntest du das nicht, oder?«

Der Kleine schwieg und trottete hinter seinem Ziehbruder her.

»Aber es passiert öfter. Es dauert länger.«

Matthis sah, dass Joni Tränen in den Augen hatte und sie mühsam zurückzudrängen versuchte. Er schaute rasch nach vorn, wies auf einen mächtigen Baum am weg und sagte: »Schau, viel zu trocken. Aber diese Buche wird herrliches Holz geben!« Er trat scheinbar absichtslos näher, betrachtete die Rinde und sah aus den Augenwinkeln heraus, dass Joni sich die Augen und Nase mit dem Ärmel abwischte. Nur einen winzigen Moment lang spürte er den inneren Drang, ihm ein Tuch aus der Tasche holen und den Rotz abwischen - aber schnell verschränkte er die Arme hinter dem Rücken, atmete tief ein und schluckte den dicken Kloß, den er in seinem Hals spürte, herunter. Fast ein Jahr war Pauli jetzt tot. Eine Weile spazierten sie schweigend nebeneinander her, jeder allein mit seinen Gedanken. Der Bach plätscherte, ein paar Blaumeisen sangen in den hohen Bäumen. Es würde bald dämmrig.

»Komm, setz dich hier her.«

Joni zögerte, aber er hatte immer getan, was der Geselle ihm sagte, also nahm er neben ihm im Gras Platz.

Matthis sprach langsam, legte jedes Wort zurecht. »Du weißt, dass ich in Bielefeld beim Pastor Bodelschwingh gewesen bin, nicht?« Der Jüngere nickte, der Ältere fuhr unbeirrt fort. »Dort leben Jungen, Mädchen und Erwachsene, die wie du die Fallsucht haben. Es gibt dort Werkstätten, Gärten, Wäschereien. Vater Bodelschwingh hat immer neue Ideen, damit die Menschen dort gut leben.«

Matthis bemerkte, dass Joni die Augenbrauen hochzog. Rasch sprach er weiter.

»Es gibt dort Menschen wie Pauli. Oder ganz alte Menschen, die sich allein nicht mehr helfen können und die niemanden sonst haben, der ihnen hilft. Es gibt - «

»Komm zum Punkt! Ihr wollt mich loswerden, und du sollst es mir sagen! Ist es wegen dem neuen Balg?« Joni war aufgesprungen, hatte einen knallroten Kopf und Schweiß auf der Stirn. Matthis legte den Arm um die Schultern des Jungen. »Setz dich. Reg dich wieder ab. Niemand will dich loswerden. Ehrlich gesagt wird Jakob mich wahrscheinlich prügeln, wenn er wüsste, dass ich mit dir darüber auch nur spreche!«

»Ja, aber, was willst du mir denn dann sagen?« Joni war im Nu wieder vernünftig,so flink, wie er aufgebraust war.

»Ich werde dort hingehen. Ich werde als Tischler arbeiten und den Kranken unser Handwerk zeigen. Sie arbeiten, und sie lernen.«

Er stand auf und ließ Joni mit diesem letzten Satz allein sitzen. Es dauerte eine kurze Weile, Matthis war ein paar Schritte gegangen, da hörte er ihn fragen: »Machen sie in dieser Anstalt die Menschen auch … gesund?«

Matthis sah dem Jungen in die Augen. Sie strahlten Hoffnung und Vertrauen aus, und zugleich unsagbare Angst. »Nein«, gab er zu, »nicht alle werden gesund. Manche gehen nach ein paar Jahren nach Hause, manche werden tatsächlich blöd. Aber«, er sprach ohne Umstände weiter, damit Joni gar nicht zu Wort kam, »aber sie haben alle ein gutes, lebenswertes Leben. Sie haben Arbeit, leben in einer Gemeinschaft, die sie anerkennt und spüren täglich die Liebe Gottes.«

Der Abend mit Werner hatte Matthis rundweg gutgetan. Er freute sich am nächsten Morgen wieder auf die Arbeit. Anschließend würde er spazieren gehen, es wäre nicht auszuschließen, überlegte er, dass Luise ebenfalls frische Luft schnappen müsste. Bei dem Gedanken lächelte er.

Tatsächlich dauerte es vier Tage, bis er sie sah. Jeden Abend war er lang durch den Ort gewandert, die Felder entlang, hatte den Kühen beim Weiden zugesehen und dem Korn beim Wachsen. Hin und her grübelte er, was er ihr sagen würde, wenn … Am vierten Tag stand sie vor ihm. Ihre Augen strahlten, aber sie schaute schnell zu Boden, als er zurücklächelte.

»Luise«, mehr fiel ihm nicht ein, und ihre Antwort war knapp, nichtsdestoweniger innig. »Matthis! Wie schön, dich zu sehen.«

Sie zog das schwarze Schultertuch enger um sich, scheinbar fror sie, obwohl es der Sommer in den letzten Tagen sein Bestes gegeben hatte.

»Es tut mir Leid wegen deiner Oma. Ich mochte sie.«

»Danke. Ja, ich mochte sie auch sehr.« Sie schwieg wieder und starrte weiter zu Boden.

»Meinst du, es schickt sich, wenn wir ein paar Schritte miteinander gehen?« Matthis hörte, wie zittrig seine Stimme war, aber Luise nickte.

»Gern.«

Sie wanderten gemächlich den Feldweg entlang, ließen den Ort hinter sich. Sie schlenderten eng nebeneinander, ab und an berührten sich ihre Fingerspitzen.

»Wie ein aufglimmender Funke, der auf die Haut trifft«, sann Matthis. Geschwind wurden dann die Finger weggezogen, aber ebenso flink fand die nächste Berührung statt. Nach einigen hundert Metern wagte er, die Hand in seiner festzuhalten. Sie schauten einander nicht an, ungeachtet dessen war ihm, als ginge er auf Wolken. Es fühlte sich so - so richtig an. Als sei dies das Normalste der Welt, als hätte er etwas wiedergefunden, ohne das er nicht vollständig gewesen war. Er blieb stehen und wandte sich, immer noch ihre Hand haltend, zu ihr. Sie sah wieder nur zu Boden, ihre Wangen waren rot, aber sie ließ ihn nicht los. Er wurde mutiger, er nahm ihre zweite Hand, stand dicht bei ihr und wusste nicht weiter. »Luise, ich …«

»Stimmt es, dass du«, sie stockte und setzte von neuem an, »Sie sagen, du gehst weg?«

»Hier weiß jeder immer alles, nicht?« Da – jetzt war es raus. »Ja. Es stimmt, ich werde bald in Bethel arbeiten. Aber erst im Sommer, nächste Woche besuche ich zunächst mal meine Familie.«

Luise starrte ihn an. »Bethel also, ja?« Ihr Gesicht war rot, ihre Stimme klang verschlossen und zornig, seine Hände hatte sie mit heftiger Geste abgeschüttelt. Matthis sah den Schlag kommen, er wusste nicht, wie ihm geschah, wich aber nicht aus. Zu entgeistert war er von dem Gewitter, das aus mehr als heiterem Himmel auf ihn niederging.

»Aber, Luise, ich …«

Sie war ein paar Schritte zurückgewichen, bleich und zitternd, Tränen rannen über ihr Gesicht.

»Was soll das alles hier? Diakone dürfen nicht …«, sie zerknüllte ein Taschentuch in ihrer Hand, war völlig aufgelöst und sprang ein paar Schritte fort. Aber er gab nicht auf, setzte ihr nach und fasste sie an der Schulter.

»Lass mich. Du wirst wie ein Mönch leben und ich muss den dicken Riepe heiraten. Lass mich in Ruhe!«

Wieder rannte sie ein paar Schritte, geriet ins Stolpern und fiel beinahe, wenn Matthis nicht schnell reagiert hätte. Diesmal schloss er sie in die Arme, hielt sie fest und war sicher, dass er sie nie wieder loslassen würde. Er begriff, dass die Angst, ihn zu verlieren dieses Unwetter ausgelöst hatte, und das stimmte ihn so froh, so leicht. »Luise, Liebes«, er trocknete ihre Tränen mit der Hand, strich ich zärtlich über den Rücken, drückte sie dann an sich. »Hast du mich denn so gern? Willst du diesen ungehobelten Lümmel wirklich haben?« Er lächelte.

»Haben?«, flüsterte sie kaum hörbar, »was meinst du, willst du, äh?«

»Heiraten, natürlich! Was hast denn du gedacht? Dass dich der dicke Riepe kriegt?« Er küsste sie, sanft und vorsichtig, auf den Mund. Zögernd erwiderte sie diesen Kuss. Trotz alledem blieb sie nüchtern.

»Aber, was ist mit Bethel?«

»Ich werde als Tischler in den Werkstätten arbeiten. Nicht als Diakon. Ich darf heiraten, wenn ich das will. Und wen ich will. Dich! Morgen?«, fragte er verschmitzt. Sie umarmte ihn aufs Neue, er drückte sie an sich. Nie zuvor, meinte er, hatte sich etwas passender angefühlt.

An diesem Abend blieben sie lange beieinander. Sie hatten ausschließlich ihr Glück im Sinn, vergaßen die Eltern, Jakob, die Werkstatt, vergaßen, dass es einen Morgen gab … die Welt war für sie beide erfunden, und sie war wundervoll.

Sie schmiedeten Pläne, träumten von der Zukunft, redeten über ihre Träume. »Eines Tages werden wir nach Afrika reisen, werden missionieren. Du baust mit den Schwarzen Hütten, ich lehre sie lesen, schreiben und rechnen. Und abends sitzen wir alle unter einem großen Baum mit mächtiger Krone und singen gemeinsam. Unsere Kinder werden mit den kleinen schwarzen Kindern spielen, ihnen ein Vorbild sein und … «

»Würdest du wirklich mit mir in ein so fremdes Land wollen? Missionieren? Wir könnten es uns auch hier schön machen, könnten gemeinsam viel Gutes bewirken … «

»Ach, wenn wir doch schon bald heiraten könnten.«

»Ein wenig müssen wir noch warten. Ich werde ja erst zu meinen Eltern reisen. Hoffentlich vergisst du mich in der Zeit nicht und nimmst doch den Riepe?« Er lächelte sie schelmisch an.

Sie versprach ihm unter unzähligen Küssen und scheuen, ungeübten Zärtlichkeiten, ihn stets zu lieben und nie zu vergessen. Keinem der beiden kam nur entfernt der Gedanke, dass Matthis ein mittelloser Geselle war, und Bauer Niehaus ihm seine Tochter sicher nicht geben würde.

Kapitel 2

Am späten Abend beim Schein der Petroleumlampe las Matthis den Brief seiner Mutter. Sie bat ihn, zum Geburtstag seines Vaters zu kommen, der in drei Wochen gefeiert würde. »Du weißt, er wird fünfzig Jahre alt, die Zipperlein machen ihm zu schaffen und er ist auch nicht damit zufrieden, deinen Brüdern bei der Arbeit zuzusehen. Ab und zu besucht er Anton«. Sein Bruder hatte vor ein paar Monaten zwei Dörfer vom Elternhaus entfernt eine winzige Tischlerei aufgemacht und reparierte Schränke, Betten und Tische - neue zu kaufen kam den schwerfälligen Bauern kaum in den Sinn, das war nicht üblich. »Aber auf die Feier freut er sich. Anna, Elsa und ich bereiten schon allerhand vor.«

Versonnen legte Matthis den Brief fort. Ein Geburtstag, der gefeiert wurde, anscheinend mit richtig vielen Gästen? Die Familie beisammen, Eltern, Kinder, Onkel und Tanten? Das war nicht Sitte in Holzkirchen, selbst, wenn es sich um den Fünfzigsten handelte. Er lächelte bei dem Gedanken und nahm sich vor, gleich morgen zuzusagen - und natürlich Hannah und Jakob zu Bescheid zu sagen, die ebenfalls eingeladen waren. Wie würde seiner Tante das Freude bereiten!

»Nein, das werden wir nicht!« Der Tischler schüttelte den Kopf und schaute Matthis ins Gesicht. »Hannah bekommt ein Kind, und da will ich kein Risiko eingehen. Die Aufregung der Reise, das Holpern des Wagens - nein, wir bleiben zu Hause!«

Matthis zuckte mit den Schultern. »Aber sie hat Heimweh, manchmal, und Mutter ist ihre Schwester!«

»Dann soll deine Mutter hierher kommen, Hannah, die Kinder und ich, wir fahren nicht!«

»Jakob, meinst du nicht, du solltest sie wenigstens fragen?«

Der Tischlermeister schüttelte den Kopf. »Junge, sie ist meine Frau, sie tut, was ich sage! Und ich sage, wir fahren nicht! Du darfst gern deine Eltern besuchen und feiern, bleib ein, zwei Wochen, ist ja ruhig in der Werkstatt.«

»Ich werde danach nicht mehr lange hier sein, du weißt, im Herbst fange ich in Bethel als Tischler an.«

»Darüber ist das letzte Wort noch nicht gesprochen, oder?«

»Doch, es steht fest. Das ist, was ich möchte, was ich machen muss!« Matthis starrte seinen Freund und Lehrherren an. Jakob war kein schlechter Mensch, jedoch er war eigensinnig geworden in den letzten Jahren, und neuen Ideen stand er nicht mehr wie einst aufgeschlossen gegenüber. Was war mit ihm passiert? Eigentlich müsste er froh sein, dass alles glücklich für ihn verlief. Der kleine Max entwickelte sich prächtig, Hannah war wieder schwanger, das Geschäft lief trotz der Manufaktur in Herford gut. Aus dem benachbarten Spenge hatte sich ein Geselle bei Jakob vorgestellt, den er gleich eingestellt hatte, sodass sie im Augenblick zu viert in der Werkstatt waren. Auf Dauer gab es gar nicht genug Arbeit für so viele Männer.

»Geh nicht. Ich hatte gedacht … ich meine, wir sind verwandt. Du bist wie mein Sohn. Ich, äh«, Jakob suchte nach Worten. Matthis merkte, dass dies nicht Widerspruch aus Rechthaberei war, sondern dass Jakob ihm Wichtiges sagen wollte. Darum schwieg er und blickte vor sich hin. Jakob redete, ohne Luft zu holen. »Vielleicht wird Joni ja wieder ganz normal. Bis dahin, dachte ich, kannst du uns mit ihm helfen, und bis er - oder Max - soweit ist, könntest du als Altgeselle die Werkstatt führen und … «

»Ach Jakob!« Matthis seufzte. Sie hatten nie offen über Joni gesprochen, auch nicht über die Möglichkeit, dass der Junge wieder genesen könnte. »Ich gehe auf jeden Fall. Aber«, jetzt war er es, der nach Worten suchte, sie behutsam zurechtlegte, sie nur zögerlich aussprach, »aber ich könnte Joni mitnehmen.«

Er sah, dass Jakob die Hände zu Fäusten ballte, öffnete, mit der Linken die Rechte knetete. Er hörte, wie sein Meister die Luft tief einzog und langsam, ganz bedächtig, wieder ausatmete. Matthis nahm die Geräusche, die von draußen in die Werkstatt drangen, mit einem Mal als sehr laut wahr. In seinen Ohren rauschte es. Durch das schmutzige, winzige Oberlicht schien das eindringende Sonnenlicht gelblich, und es wirbelten klitzekleine Staubkörner im Licht. Dass er die Luft anhielt, merkte er nicht.

»Nimm ihn mit zu deinen Eltern. Danach«, Jakob hob die Arme, ließ sie kraftlos wieder fallen und wandte sich ab, »danach sehen wir weiter.«

Joni war begeistert. Er jubelte, tanzte durchs Haus, sang vor sich hin. Er hatte die Erlaubnis, mit Matthis unterwegs zu sein! Sein Vater ließ ihn mit ihm reisen! Ein Abenteuer, wie in den Büchern über Lederstrumpf, und er würde es erleben!

Der Ältere versuchte, den Jungen zu beruhigen, aber Joni war so ausgelassen, dass er allen im Haus immer wieder davon erzählte. Es war ein Kreuz mit ihm.

Hannah hingegen war still und in sich gekehrt, faltete die Hände über ihrem noch nicht sichtbar gewordenen Bauch und sprach kein Wort, als Jakob beim Mittagessen des folgenden Tages seine Entscheidung verkündet hatte. Sie schwieg auch am Abend, als der Hausherr alle einlud, ein weiteres Abenteuer des besagten Lederstrumpf aus seinem neu erworbenen Buch zu lesen.

»Ich gehe heute früh zu Bett«, sagte sie, gähnte, küsste Matthis auf die Stirn und winkte ihrem Gatten im Vorbeigehen zu, »schlaft alle gut.«

Joni begriff die Welt nicht mehr. »Aber Mama, Papa liest aus Lederstrumpf. Weißt du, Matthis und ich wir -«

»Ich weiß, ihr werdet auch wunderbare Abenteuer erleben, wenn ihr gemeinsam nach Holzkirchen reist. Aber nun gehe ich schlafen. Nach einem Kapitel heißt es auch für dich Bettzeit, ja? Versprichst du mir das?« Sie wandte sich an Matthis, der betreten nickte. »Ja klar, ich kümmer mich drum. Schlaf gut.«

In zwei Tagen würde Matthis aufbrechen. Er hatte beschlossen, die gesamte Strecke zu Fuß zurückzulegen. »Ich kann dann noch einmal in Ruhe über alles nachdenken, Joni und ich haben viel Zeit miteinander, und mehr als drei Tag sind wir ja nicht unterwegs.«

Jakob nickte. »Ja, Junge, mach das so«, sagte er und wandte sich wieder seiner Arbeit zu.

Joni war nicht erfreut. Er hatte eine Kutsche im Sinn gehabt oder eine Strecke mit der Bahn. Seine Enttäuschung hielt nur kurz, die Vorfreude auf die Reise siegte.

»Matthis, wie lange werden wir unterwegs sein?« Joni hüpfte neben seinem Ziehbruder her, während dieser versuchte, den schweren Wallach vor den Wagen zu spannen. Bevor er nach Holzkirchen wanderte, hatte er zwei Schränke auszuliefern, einen davon nach Mennighüffen zu Pastor Schmalenbach. Joni war es vergönnt, auch hier dabei sein, Jakob erlaubte alles, was in irgendeiner Form mit der Tischlerarbeit zusammenhing.

»Nun, bis zu Pastor Schmalenbach sind es gut zwei Stunden. Ich denke, wir werden bei ihm etwas trinken und ein wenig klönen, aber heute Abend werden wir zurück sein.« Er grinste breit.

»Nein, zu deinen Eltern. Wie lange werden wir dorthin unterwegs sein?«

Matthis seufzte, vermochte sich aber mühelos daran erinnern, wie aufgeregt er sich gefühlt hatte, als er das erste Mal verreiste - damals, mit Jakob, von Holzkirchen hierher, nach Enger. Er war zwar zu der Zeit drei Jahre älter als Joni heute, aber auch er hatte das große Abenteuer gewittert - und es letztlich ja selbst erlebt. Was war nicht alles geschehen seitdem. Milde gestimmt erklärte er es dem Jungen zum wiederholten Mal. »Wir werden zu Fuß gehen, wie dein Vater es damals tat. Wir werden dafür mindestens drei Tage brauchen. Vielleicht nimmt uns ein fahrender Händler ein Stück mit, aber meist wirst du laufen müssen. Bei Vater und Mutter bleiben wir dann wieder drei Tage, vielleicht vier. Dann geht es zurück, wieder zu Fuß, wieder mindestens drei Tage. Also sind wir -«

»Zehn lange Tage. Nur du und ich. Zehn Tage Abenteuer!« Der Kleine fiel fast vom Bock, so hampelte er herum.

Matthis betrachtete ihn lächelnd, drückte ihm die Zügel in die Hand und zog den Hut in die Stirn. »Hier, du Held. Bring uns erst einmal sicher nach Mennighüffen.«

Kapitel 3

Matthis war merkwürdig befangen in den ersten Stunden ihrer Wanderung. Sie waren zeitig aufgebrochen und hatten schon eine ordentliche Strecke zurückgelegt, dabei kaum ein Wort miteinander gesprochen. Er vermochte einfach kein Thema finden, über das sie sprechen sollten.

Auch Joni schwieg eine ganze Weile, schließlich aber brach sein Temperament durch. »Ach, Matthis schau doch nur, wie schön!« Er wies mit der Hand auf einen Bauerngarten, an dem sie vorbei kamen. »Schau, die schönen Dahlien! Sieh doch nur, wie schön die Astern sind, und so viel verschiedene Farben. Dahinten«, er stand noch immer begeistert an dem Jägerzaun, der den Garten vom Weg abgrenzte, »dahinten, das sind Herbstanemonen.«

Matthis blieb ein bisschen unwillig stehen und drehte sich zu dem Jungen um. »Wenn du in jeden Garten schaust, schaffen wir es nie nach Holzkirchen«, brummte er missgelaunt und winkte. »Nun komm schon, weiter.«

Joni lief ein paar Schritte, hatte Matthis schnell erreicht und plapperte weiter, als hätte er den Ärger in dessen Stimme gar nicht gehört. »Weißt du, dass man Dahlien im späten Herbst aus der Erde nehmen muss? Sonst gehen sie kaputt. Hat mir Margarete erklärt.« Er schaute fragend zu Matthis auf.

»Mag sein, aber was spielt das für eine Rolle?«, brummte dieser weiterhin knurrig.

»Hm, wohl keine, außer dass Dahlien halt sterben, wenn man sie nicht richtig behandelt.« Joni redete leise und eindringlich. Matthis fragte sich, warum der Junge wohl über Blumen sprach. Er zuckte die Schultern, griff mit seiner linken Hand ans Kinn, begann es zu kneten, hörte gleich wieder damit auf, als er aus den Augenwinkeln wahrnahm, dass Joni ihn lächelnd beobachtete.

»Hast du lang nicht mehr gemacht.«

»Was?«

»Na, du weißt schon… « Joni imitierte Matthis' Geste und verzog dabei das Gesicht zu einer Fratze.

Matthis wollte aufbrausend, aber Joni sah so albern aus, dass er geräuschvoll losprustete, den Kleinen anstupste und ihm zu rief: »Komm schon, du Dölmerkopp, versuch', mich zu fangen!«

Sie rannten ein paar Schritte, Matthis ließ zu, dass Joni ihn fing und sie wieder in den langsamen, raumgreifenden Wanderschritt fielen. Matthis atmete tief durch. Auch für ihn war diese Wanderung und die freien Tage etwas Besonderes, es war das erste Mal, seit er aus Holzkirchen fort war, dass er tagelang Muße hatte, tun konnte, was er wollte und auf nichts und niemand Rücksicht nehmen musste. Er schaute grinsend zur Seite - na ja, auf beinahe keine Menschenseele.

»Wir machen kurz vor Salzuflen Rast. Dort suchen wir uns einen Bauern, der uns erlaubt, in seiner Scheune zu übernachten, ja?« Joni sagte nichts, wie könnte er auch?

»Das ist noch gut eine Stunde Weg. Schaffst du das?«

»Klar! Mir geht es gut. Also los, weiter.«

Am späten Nachmittag hielt Matthis Ausschau und fand bald ein Gehöft mit hohen Ulmen vor dem heimelig anmutenden offenen Tor. Der Hund, der an einer langen Kette lag, hob das Augenlid, um danach weiter in der bislang milden Abendsonne zu dösen. Ein paar Hühner pickten aufgeregt gackernd unsichtbare Körner vom Boden, und seitlich vom Wohngebäude erkannte man eine Scheune. Alles sah gepflegt, behaglich und einladend aus, nur war kein Mensch zu sehen. Auf der Bank, die vor dem Wohnhaus im Schatten einer Buche aufgestellt war, lag ein Schultertuch aus Wolle, und ein Korb mit Bohnen stand auf dem Tisch. Aus dem gößten Stall auf der anderen Seite des Hauses hörte man deutlich Kühe, die auf den Melker warteten. Niemand war zu sehen.

»Hallo?« Matthis rief aus voller Kehle, bekam aber keine Antwort. Er schritt weiter auf das Haus zu, schrie erneut, aber wieder keine Antwort.

»Wo sie wohl alle sind?«, fragte er Joni, der verwundert guckte. »Du bleibst hier, siehst dich höchstens ein wenig um und wartest, ob jemand kommt. Ich gehe nur hinter das Haus, und schaue, ob ich jemanden finde, ja?«

Joni nickte, aber Matthis sah, dass er sich nicht wohl fühlte. »Ist alles in Ordnung?«, fragte er daher wiederum. Joni bejahte, räusperte sich, schluckte. »Geh nur. Ich, äh,ich schau mir die Prachtspieren an. Sie sind ungewöhnlich hoch, findest du nicht?« Matthis hatte die mannshohen Büsche mit den federweichen rosa Blütenständen nicht bemerkt, aber er war froh, dass Joni eine Beschäftigung hatte. So war er in der Lage, ihn hier für eine kurze Weile allein zu lassen. Er wandte sich nach links und meinte, gedämpfte Stimmen zu hören. Dann eine Art Lachen, oder war es mehr ein Schrei? Da - da war das Geräusch wieder, und etwas raschelte. Matthis schlich langsam weiter, bog behutsam voraus spähend um die Hausecke und - lachte aus voller Kehle. Zwei Bürschchen versuchten, an ein Ziegenpärchen zu gelangen, das auf dem Dach eines Hühnerstalls stand. Die Ziegen meckerten, das klang, als würden sie gleichzeitig jammern und lachen. Die beiden Jungen, sieben oder acht Jahre alt, schlichen von hinten an die Tiere, um ihnen eine Art Halfter über zu werfen. Eine Frau im Alter von Matthis' Mutter saß vor dem Ställchen auf dem Boden und hielt sich das Bein, sie schien Schmerzen zu haben.

»Holt mal eine Schale oder Schüssel mit etwas Salz aus der Küche«, rief der den Jungen zu, die ihn zuerst verdutzt ansahen, dann aber losrannten. Die Alte starrte ihn an, als er auf sie zuging und schüttelte den Kopf. »Salz?«

»Ziegen lieben Salz.«

Er nahm den Kinder, die gerade mit Joni im Schlepptau auf ihn zu kamen, das Gefäß aus der Hand. Die beiden Tiere kauten derweil genüsslich an den Blättern, die sie von Apfelbaum bei der Hütte pflückten.

Matthis setzte sich auf den Boden neben die Frau, hielt die Schüssel mit dem Salz auf seinem Schoß und lockte die Tiere mit leisen Geräuschen an. Neugierig geworden sprang die Braune vom Dach herunter und kam meckernd auf ihn zu. Er blieb still sitzen, wartete, bis das Tier den Kopf in den Napf hatte und zog ihr mit einer flinken Bewegung das Halfter über. Dann stellte er die Schüssel beiseite, packte das Seil und brachte die Ziege in das Gehege. Dort band er sie fest.

»Willst du die andere nicht auch holen?« Die Jungen hatte nahezu gleichzeitig gefragt.

»Die kommt nach, die folgt dieser hier, seht ihr?« Schon stand die gefleckte Ziege neben der braunen hinter dem Zaun. »Wir können sie jetzt losmachen«, eines der Kinder nestelte am Seil.

»Lass das. Das Gatter ist viel zu niedrig. Was glaubt ihr denn, wie die auf den Hühnerstall gekommen sind?«

Die Frau hatte die ganze Zeit geschwiegen, versuchte, aufzustehen, schaffte es aber nicht. Sie wandte sich Matthis zu. »Ich danke dir für deine Hilfe. Ich bin Frau Höhner, und diese Bengels hier sind Stephan und Gustav, meine Enkel. Sie haben die Ziegen hier angeschleppt, und dann…«

»Dann hat der Bock die Omma umgeschmissen, mit Wucht, und nun kann sie nicht mehr auf!« Die beiden Kinder lachten übermütig, hüpften auf und ab und um ihre Großmutter herum.

»Ihr seid nur zu klein und zu schwach, mir zu helfen, und eure Schwester liegt da drinnen im Haus und heult, ihr Lumpenpack!« Frau Höhner schimpfte halbherzig. Sie verzog das Gesicht, als Matthis ihr aufhalf und sie, das verletzte Bein angewinkelt, vor ihm stand.

Sie lächelte mühsam und zog die Augenbrauen hoch. Matthis hob seine Hand zum Kinn, massierte es und stellte sich und Joni höflich vor. Dabei führte er sie zu einem Hauklotz. »Hier, setzen Sie sich.«

»Ach, was,›Sie‹. Wir sind auf dem Land. Sag Maria zu mir.«

Matthis nickte. »Wir sollten ins Haus gehen, dein Bein hochlegen. Die Kühe müssen gemolken werden, sie schreien schon und -«

»Mariechen. Vor allem muss Mariechen versorgt werden.«

»Mariechen?«

»Ist unsere Schwester. Die ist im Haus. Omma war die ganze Zeit bei ihr.« Die Jungen tobten noch immer durch den Garten, versuchten, Joni zum Mitmachen zu bewegen, und kicherten und feixten die ständig. Matthis gefiel nicht, wie sie mit ihrer Oma umgingen, über ihren Schmerz lachten und dass ihnen die kleine Schwester egal war. Er richtete sich auf und sagte mit Nachdruck: »Schluss jetzt! Ihr werdet jetzt mit dem albernen Gehopse aufhören. Du -« er zeigte auf Gustav, »wirst jetzt ins Haus gehen und einen Verband holen, deine Oma hat sich den Fuß verknackst. Und du schaust nach deiner Schwester. Joni, geh mit und pass ein bisschen auf, ja?«

Joni nickte widerwillig, folgte den beiden jedoch ins Haus. Kurze Zeit später kam er zurück, den einen der Jungen am Ohr hinter sich her ziehend. Der Kleine zeterte und schimpfte, aber Joni war erbarmungslos. »Du gehst jetzt hierher und bleibst bei Matthis, und ich werde deine Schwester versorgen. Pass bloß auf, was du tust!«

Maria Höhner seufzte. »Was hat Gustav denn ausgefressen?«

»Omma, dieser fremde Junge, der reißt an meinem Ohr, und geschlagen hat er mich auch und - aua!« Joni hatte ihm eine Ohrfeige gegeben, dass es nur so knallte. Matthis staunte über seinen sonst friedliebenden Ziehbruder, der jetzt gelassen verkündete: »Ich habe dich gewarnt, Kleiner. Eine Schande ist das. Wie du hier mit deiner Oma umgehst, ist ihre Sache, die kann sich wehren. Aber einem kleinen Mädchen, das noch nicht mal laufen kann, Hagebutten in die Wiege zu legen, das geht zu weit!«

»Ach, das war doch nur Spaß.« Trotzig, die Unterlippe vorgeschoben, aber mit vor Übermut blitzenden Augen stand der Junge da und sah seine Großmutter an. »Omma, du weißt doch, dass ich Mariechen gern habe, nicht? Schau, ich wollte doch nur einen Streich mit ihr spielen.« Er versuchte, sich an die Oma zu kuscheln, ungeachtet dessen hielt Joni ihn weiterhin am Ohr.

Matthis hatte nichts gesagt, er fand Jonis Vorgehen völlig in Ordnung. Gustav war zu weit gegangen, und alt genug, das zu wissen. Maria Höhner indes schien unter dem Blick ihres Enkels zu schmelzen. Gerade noch hatte sie zustimmend genickt, als Joni den Bengel ausgeschimpft hatte, nun wurde ihre Miene weich und sie streckte den Arm nach dem Kind aus. »Na komm, erzähl der Omma mal alles.«

Joni ließ das Ohr los. Er heftete den Blick auf die Frau, die ihren Enkel umarmte, mit aufgerissenen Augen sah er ihr ins Gesicht. Er leckte über seine Lippen, schluckte trocken und sah sie unverwandt an.

»Was ist los?« Matthis war beunruhigt, aber Joni gab keine Antwort. Er starrte die Frau und das Kind an, sank aus heiterem Himmel kraftlos nach vorn, seine Knie knickten ein. Er fiel zu Boden. Arme und Beine zuckten in wilden Bewegungen, sein Kopf bewegte sich hin und her, Speichel rann ihm aus dem Mundwinkel. In Windeseile kniete Matthis sich neben ihn und versuchte, den Schädel zu halten. Er hörte das Kreischen der Oma und das Gebrüll der Jungen nicht, hielt seinen Freund nur, so gut es ihm möglich war.

Ein paar Augenblicke später war der Spuk vorbei. Joni lag friedlich, atmete schwer, wie nach einem anstrengenden Lauf, drehte den Kopf zur Seite und übergab sich. Matthis griff in seine Tasche und gab ihm ein Tuch, um sich den Mund abzuwischen. Langsam nahm er die Welt um sich herum wieder wahr. Er half Joni, aufzustehen, und führte ihn zum Wassertrog, damit er trinken und das Gesicht waschen konnte.

Maria Höhner kreischte nicht mehr, sondern saß mit offenem Mund da und hielt die sichtlich erschütterten Kinder im Arm.

Als Matthis mit Joni zurückkam, hatte die Alte sich erhoben, wobei sie sich auf die Jungen stützte. Sie streckte den Arm aus und schrie: »Schert euch fort! Was fällt dir ein, hier mit einem Besessenen um Obdach zu bitten? Liederliches Pack!« Stephan hielt sie fest, Gustav hatte Erdklumpen aufgerafft, die er nach Matthis und Joni warf. »Fort!«, schrie er, und »Weg mit euch!«, sein Bruder.

Joni wurde womöglich bleicher, als er schon war. Matthis hielt ihn eisern fest, flüsterte, ohne die Lippen zu bewegen: »Halt jetzt bloß noch einen Moment durch. Ein paar Minuten.« Joni nickte unmerklich. So schnell es möglich war, schnappten sie sich ihre Sachen und eilten ums Haus herum, durchs Tor und mitten ins hohe Maisfeld hinein. Hier ließ Matthis Joni los. Völlig außer Atem, blutleer und vom Schrecken wie gelähmt warf der Junge sich zu Boden und weinte. Er schluchzte nicht, wimmerte nicht, nur Tränen flossen ohne Unterlass seine Wangen herab. Er zitterte am ganzen Körper. Lange saßen sie reglos da, Matthis hielt seinen Ziehbruder in den Armen. »Keine Angst. Du musst keine Angst haben. Sie sind unwissend und böse, aber der liebe Gott wird dich beschützen. Er hält seine Hand über uns. Er passt auf. Du musst keine Angst haben.«

Es dämmerte, Joni war, wie oft nach einem Anfall, letztlich eingeschlafen. Matthis wollte weg, fort aus dem Maisfeld, eine Scheune suchen oder einen Unterstand. Aber der Kopf des Jungen lag in seinem Schoß, und Joni hatte genug mitgemacht für heute. Ein aufregendes Abenteuer hätte es werden sollen, nicht eine erneute Schmach. Matthis zog seinen Rucksack näher heran, versuchte, sich bequem daran zu lehnen, und schloss die Augen.

Sie erwachten früh am nächsten Morgen, zu unbequem war ihr Quartier im Maisfeld. Zwar hatte Matthis sich seinen Reisesack unter den Kopf geschoben, den Jungen und sich zugedeckt und versucht, zu schlafen, aber es war zu kalt, der Boden zu hart. Die ersten Sonnenstrahlen kamen heraus, und für September war es sommerlich, trotz allem war die Erde, ihre Kleidung, die Haare - feucht vom Morgentau. Sie teilten sich ein Stück Käse, machten sie sich, stumm und jeder in seine Gedanken versunken auf den Weg. An einem Bächlein hielten sie, um zu trinken und sich zu waschen, aber dies lief nahezu geräuschlos ab.

»Schau, jetzt noch hier durch das Dorf, da, meine alte Schule. Die Kirche, schau nur!« Matthis merkte selbst, dass er in seiner Aufregung wie ein Kind herum hüpfte und Joni ganz verlegen machte. Der schaute betreten zu Boden, während einige Leute stehen geblieben waren, um den baumlangen Kerl zu betrachten, der sich so wild gebärdete.

»Matthis?«, hörten sie hinter sich rufen. »Der kleine Ollerdissen, ich glaub es ja nich’! Überragt alle seine Brüder, aber ’nen bisschen blöd scheint er geworden zu sein?«