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Der Roman erzählt die Geschichte des vierzehnjährigen Matthis. Aufgewachsen Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Hof seiner Eltern wünscht er sich nichts mehr, als seine Zukunft selbst zu gestalten. Anders als seine Brüder möchte er fort vom Hof. Der Zufall hilft ihm, als Lehrling in einer anderen Stadt zu leben, aber schon bald merkt er, dass auch dies nicht seine Bestimmung ist. Aber Matthis macht seinen Weg – mit einer ungewöhnlichen und neuartigen Lösung.
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Seitenzahl: 426
Veröffentlichungsjahr: 2022
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Anders Sein
Von Natascha Neumann
Buchbeschreibung:
Buchbeschreibung:
Der Roman erzählt die Geschichte des vierzehnjährigen Matthis. Aufgewachsen Ende des 19. Jahrhunderts auf dem Hof seiner Eltern wünscht er sich nichts mehr, als seine Zukunft selbst zu gestalten. Anders als seine Brüder möchte er fort vom Hof. Der Zufall hilft ihm, als Lehrling in einer anderen Stadt zu leben, aber schon bald merkt er, dass auch dies nicht seine Bestimmung ist. Aber Matthis macht seinen Weg – mit einer ungewöhnlichen und neuartigen Lösung.
Über den Autor:
Über den Autor:
Natascha Neumann ist 1963 geboren. Aufgewachsen in der Nähe von Bielefeld hat sie als Erzieherin gearbeitet, ihre Heimat aber verlassen und in Mainz neu angefangen. Nach einer Umschulung und jahrelanger Arbeit für den SWR wechselte sie ins Privatleben und widmete sich dem Schreiben.
Sie lebt noch immer mit Mann und Hund in Mainz.
Anders Sein
Der Weg
Von Natascha Neumann
. Auflage, 2022
© Natascha Neumann – alle Rechte vorbehalten.
1.
»Matthis!«
Der große, schlaksige Junge drehte sich zu seiner Mutter um, den einen Holzschuh in der Hand, den anderen am Fuß. »Hmm?«, knurrte er missmutig. »Ich bin auf dem Weg in den Schweinestall, ich will schnell fertig werden.«
»Du gehst heute nicht zu den Schweinen! Hier ist ein Beutel mit Äpfeln und Wein. Bring ihn zu Hannah und helf ihr ein wenig mit den Ziegen, ja? Sei aber zum Abendbrot zurück!«
Matthis Meyer zu Ollerdissen blieb der Mund offen stehen. Er starrte seine Mutter an, umarmte sie dann ungeniert und schleuderte die Holzschuhe von den Füßen. »Ja, Mutter, gern.« Er lachte übers ganze Gesicht, wahrend er sich umzog und auf den Weg machte. Fröhlich pfiff der Vierzehnjährige vor sich hin.
Die brachliegenden Felder glänzten schwarz vor Nässe, die Tautropfen auf der Wiese schimmerten in der Vorfrühlingssonne. Knapp eine Stunde würde er brauchen. Er freute sich auf seine Tante Hannah, die so anschaulich Geschichten erzählte, dass er alles vor sich sah, was sie beschrieb, und sogar nachts davon träumte. Feen und Zwerge, die Riesen und Räuber – Hannah ließ sie lebendig werden. Sie war die Einzige, die ihn immer wieder ermutigte, seine Träume zu verwirklichen. Ihr berichtete er alles, weil sie ihn ernst nahm. Außerdem liebte Matthis ihren Sohn, seinen Vetter Pauli, wie einen kleinen Bruder.
»Sie ist verrückt, eine sture, eigensinnige alte Vettel!«, hatte sein Vater vergangene Woche zu seiner Mutter gesagt. »Sorge endlich dafür, dass sie zur Vernunft kommt und sich benimmt, wie es sich für eine Witwe mit Kind gehört!«
Mutter hatte nur den Kopf geschüttelt, was seinen Vater weiter aufgebracht hatte. Matthis hätte nicht lauschen sollen, aber seine Neugierde hatte ihn überwältigt.
»Heutzutage ist es nicht so selten, dass Witwen im eigenen Haus bleiben«, gab Mutter scheinbar ruhig zurück.
»Aber es gehört sich nicht! Nur weil einige Weiber allein leben, muss deine Schwester es nicht tun! Was wirft das denn für ein Bild auf uns, auf mich? Und das mit diesem Balg?«
»Du darfst so nicht reden«, widersprach Mutter, »nicht einmal der Pastor findet Hannahs Verhalten sündhaft.«
»Halt deinen Mund, Weib. In meinem Haus hat nicht der Pfaffe das Sagen!« Er hatte einen knallroten Kopf und fuchtelte wild mit den Armen, um seinen Worten Nachdruck verleihen.
»Aber Karl«, Mutter tat einen weiteren Schritt auf Vater zu, vermutlich, um ihn zu beruhigen. Der jedoch stieß sie so kräftig vor die Brust, dass sie wankte und gegen den Tisch fiel. Während sie Halt suchte, war Vater mit großen Schritten zur Tür nach draußen gestürmt. Matthis hatte sich geduckt, damit er nicht erwischt wurde, aber der Bauer war so in seine Wut verstrickt, dass er blindlings hinaus gestapft war.
Die Pfützen auf dem Pfad waren voller Eis, an einigen Stellen auf den Äckern lag Schnee. Matthis fror ein wenig in seiner dünnen Joppe, es war seine beste Jacke – seine einzige, um genau zu sein, und er hatte sie letzten Monat zu seinem Geburtstag bekommen. Sicher, seine drei älteren Brüder hatten sie vor ihm getragen, aber seine Mutter hatte sie ausgebessert, dass sie so gut wie neu wirkte.
Er hatte nicht einmal die Hälfte des Weges geschafft, deshalb lief er nun ein bisschen schneller, die Bewegung würde ihn warm halten.
Schon bald gelangte er an den Schmiedebach, der zu dieser Jahreszeit jede Menge Wasser führte. Einige hundert Meter weiter unten gab es eine Holzbrücke. Matthis fand es wie immer überflüssig, diesen Umweg zu nehmen. Er nahm Anlauf, sprang und landete im feuchten Gras, kam aber ins Schliddern, versuchte, an den Ästen der alten Trauerweide Halt zu finden, doch hier war alles so glitschig, dass er erneut abrutschte. Der Sack glitt ihm aus den kalten Händen, er schnappte nach ihm, fiel dabei zur Seite und landete im Matsch. Einen Augenblick lang lag er dort und keuchte. »Mist«, dachte er im Aufstehen, »aber es ist ja noch mal gut gegangen.« Er griff nach dem Sack, der sich geöffnet hatte, und sammelte die Äpfel wieder ein. »Die Fallstellen werden Tante Hannah und Pauli nichts ausmachen, die Flaschen sind zum Glück heil geblieben. Aber wo ist meine Mütze gelandet?«
Er stapfte zwei Schritte vorwärts, zuckte dann wie von einer Schlange gebissen zurück. Was war das denn? Dort im hohen Ufergras im Gebüsch, da lag etwas Seltsames. Voller Spannung beugte er sich ein Stück vor und blickte auf ein stämmiges, überaus behaartes Bein.
»Allmächtiger!«, schrie Matthis auf und hob die Hände vor die Augen. »Was um Himmels willen - ?«
Sein Herz schlug wie wild, ihm war flau im Magen, aber die Neugier siegte, er senkte die Hände und schaute tapfer genauer hin.
Da lag ein Mann, bäuchlings und stumm. Sein anderes Bein lag in einem merkwürdigen Winkel, seine Kleidung war nass und schmutzig. Matthis schluckte, sein Mund war trocken.
Sicher, er hatte schon Tote gesehen, erst letztes Jahr seinen Großvater: fein aufgebahrt in seinem besten Hemd, die Hände gefaltet, der Bart gestutzt und gekämmt.
Diesen Mann hier am Wegesrand zu entdecken, jagte ihm Schauer über den Rücken.
Er fröstelte stärker, seine Nackenhaare stellten sich auf. Er zog seine Jacke enger um sich und traute sich dann noch einen Schritt weiter vor. »Komm, du bist doch kein Wickelkind mehr!«, sprach er sich selbst laut Mut zu. Fast hätte er dadurch das Wimmern überhört. Plötzlich war alle Angst wie weggeblasen. Er kniete sich hin, beugte sich nah zu dem Mann herunter, da spürte er an seiner Wange den dünnen Atem des Fremden. Der Mann war nicht tot. Matthis nahm seine Hand und hätte sie fast wieder fallen lassen, so heiß war sie. Er schaute zögerlich hinunter auf ihn und bemerkte getrocknetes Blut und eine Wunde am Hinterkopf. »Hallo?« Zaghaft zog er ein wenig am Ärmel des Fremden, der rührte sich nicht. »Ich bin Matthis, hören Sie?«, er rüttelte etwas stärker an dem Arm, bekam jedoch nur ein leichtes Wimmern als Antwort.
Wie würde Anna sich in so einem Fall verhalten? Er zog, innerlich ein bisschen widerstrebend, seine Jacke aus, um den Mann damit zuzudecken.
Dann griff er instinktiv in den wohl gehüteten Sack und holte eine Flasche heraus. »Wein stärkt«, hatte seine Mutter gesagt, wenn sie Opa ein Gläschen eingeschenkt hatte, immer nur einen winzigen Schluck, denn das Getränk kostete viel und es war schwer, überhaupt mal eine Flasche zu bekommen. Dies hier war ein Notfall, ganz sicher. Er hielt sie vorsichtig an den Mund des Verletzten und versuchte, mit der anderen Hand dessen Kopf zu stützen. Irgendwie gelang ihm dies Kunststück, der Mann trank ein wenig, ließ sich dann wieder ins Gras sinken. Er öffnete für einen Moment seine Augen, sah den Jungen dankbar an und hauchte etwas, dass wie ‚Danke‘ klang.
Um irgendetwas zu unternehmen, legte er dem Patienten die Hand auf die Stirn, trotz der Kälte war sie glühend heiß. Er schaute sich suchend um. »Wärme ist wichtig!«, erinnerte er sich an Annas Worte, »Kranke muss man warm halten«. Aber wie, und womit? »Denk nach!«, raunte er sich selbst zu, da fiel sein Blick auf den Beutel. Schnell leerte er ihn aus, trennte die Naht auf und legte sie dem Patienten über die Beine. »Und nun?« Matthis kratzte sich am Kopf, denn mehr fiel ihm beim besten Willen nicht ein. Der Mann sollte schleunigst hier weg, ohne Frage. Er war nicht in der Lage, ihn allein zu bewegen. Also musste er ihn hier lassen und Hilfe herbringen. Zögerlich stand er auf, drehte sich noch einmal um und sprach dem Mann mit seiner hellen Jungenstimme Mut zu: »Ich bin schnell zurück, ich hole nur Hilfe, ja? Bleiben Sie … äh, ich meine, es geht wirklich schnell«, dann rannte er los.
Normalerweise hätte er sicher fast eine halbe Stunde nach Hause gebraucht, aber diesmal beschleunigten die Angst und die Aufregung seine Schritte. Schon ein paar hundert Meter von Bauernhaus entfernt rief er. »Peter, Erich, Vater! Mama, kommt schnell!« Er hustete vor lauter Anstrengung, aber trotzdem schrie er weiter, so laut es ging. Der Hofhund hatte ihn schon gehört, er bellte aufgeregt. »Anna!«, fiel ihm ein, »wir brauchen auch Anna!«.
Der Platz vor dem Hallenhaus war leer und verschlammt, aber die ausladende Hoftür stand weit offen, Matthis lief kreischend und keuchend darauf zu. Seine erwachsenen Brüder Peter und Erich kamen mit großen Schritten, der Vater war kaum langsamer direkt aus dem Stall. Anna erreichte Matthis zuerst. Ein bisschen kurzatmig, weil der schwangere Bauch sie schon behinderte, fragte sie: »Was ist passiert?«
2.
Es dauert nicht lang, den Verletzten so schonend wie möglich mit einer eilig hergestellten Trage aus Decken und robusten Ästen auf den Hof zu bringen.
Hier legte Anna saubere Tücher bereit, schrubbte zusammen mit der Magd den großen Tisch in der Deele mit heißem Wasser und ließ dann den Kranken darauf legen. Auf dem kleinen Bord neben ihr hatte sie zahlreiche Säckchen und Tüten aufgereiht. Als Matthis daran vorbeiging, drang ihm der Geruch der Kräuter in die Nase: Kamille, Pfefferminze, Holunder und vieles, was er nicht erkannte. Er öffnete den Mund, um zu fragen, da wandte sich seine Schwägerin zu ihm um: »Das Bein muss geschient werden Ich brauche eine Latte, kannst du…«, bevor sie zu Ende sprechen konnte, flitzte der Junge los und kam rasend schnell mit einem recht geraden, beinlangen Brett zurück. Anna nahm Maß, »Passt wunderbar, Junge«, murmelte sie erstaunt. »Nun lauf!« Aber Matthis blieb stehen. Sein Vater schaute noch einmal auf den Verletzten, dann sagte er wortkarg: »Ruf mich!« Die Brüder waren nach Ablegen Ihrer Last gleich wieder verschwunden. Nur Anna, seine Mutter und Matthis waren auf der geräumigen Deele.
»Geh, mach einen großen Becher mit zwei Löffeln Weidenrinde und tu ein paar Holunderblüten hinzu!«, wies seine Schwägerin ihn an, ohne den Blick vom Verletzten zu nehmen. »Und bring Decken, viele Decken.«
Sie legte die Hand auf die Stirn des Unbekannten, er regte sich nicht, nur sein Brustkorb hob und senkte sich. Manchmal hustete er schwer, aber ein anderer Ton war bisher nicht über seine Lippen gekommen, er schien tief bewusstlos.
»Wird er es schaffen?«, fragte Matthis‘ Mutter leise.
»Das weiß Gott allein«, gab Anna stirnrunzelnd zurück, während sie die Brust des Kranken behutsam mit einer kräftig nach Fichte und Thymian riechenden Salbe einrieb. »Ich werde sein Bein schienen, die Wunden versorgen und versuchen, das Fieber zu senken. Er muss es ständig warm haben und viel, viel von dem Tee trinken. Dann müssen wir abwarten und beten.« Sie reichte Matthis die entsprechenden Säckchen.
Ihre Schwiegermutter nickte. Sie holte ein kleines Holzstück und schob es dem Kranken zwischen die Zähne, dann fragte sie so leise wie zuvor: »Brauchst du beim Einrichten Hilfe? Er ist ja recht stämmig.«
»Er schläft und ist ruhig. Es wird gehen«, sagte Anna überzeugt. Noch einmal prüfte sie die Länge des Brettes, tastete das gebrochene Bein ab und richtete es dann mit geübten Griffen.
Es dauerte mehr als drei Wochen, bis Anna verkündete, der Fremde sei jetzt über den Berg. Sie hatte sich trotz ihrer fortgeschrittenen Schwangerschaft intensiv um ihn gekümmert. Immer wieder hatte sie mit Matthis Hilfe die Wunden gewaschen, Wadenwickel gemacht, bis das Fieber gesunken war, hatte ihm Tee und später Fleischbrühe zu trinken gegeben. Das kleine Zimmer, in dem sonst im Herbst der wandernde Erntehelfer geschlafen hatte diente als Krankenlage. Sie hatte es in den ersten Tagen nur nachts verlassen, bis Peter ein Machtwort gesprochen hatte.
»Lass das den Jungen machen, der ist ja ganz anstellig, und wenn er was nicht kann, muss er halt Hilfe holen!«
»Das ist keine Aufgabe für den Jungen, ich brauche ihn auf dem Feld!«, hatte der Vater gesagt, aber die sonst so sanfte und zurückhaltende Anna widersprach ihm.
»Matthis ist gelehrig, hilfsbereit und besonnen. Außerdem ist die Arbeit langsam tatsächlich etwas zu viel für mich«, sie schaute dem Älteren erst ins Gesicht, dann auf ihren schwelenden Bauch unter der Schürze. »Das Kind kommt bald und ich schaffe es nicht alles allein!«
Matthis stand daneben, die Hände in den Hosentaschen, den Blick gesenkt. »Warum fragen sie mich nicht wenigstens, was ich will?«, dachte er trotzig, aber er sagte nichts. Matthis war froh, zusammen mit Anna zu arbeiten. Eine Abwechslung im ständigen Einerlei Kühe füttern, melken, Ställe ausmisten, dann wieder füttern, melken. Anna zeigte ihm, wie man Wunden reinigte und behandelte, aus welchen Kräutern Tees bereitet wurden und warum, das hatte ihm bisher niemand gezeigt. Er lernte gern Neues.
Schließlich stellte sich auch Mutter auf Annas Seite, der alte Bauer murrte, drehte sich um und stapfte mürrisch davon. Vor der Tür zündete er seinen Stumpen an, dann setzte er seinen Weg fort.
Der Fremde schlief viel, sprach kaum und regte sich nur selten. Er ließ alles geschehen, bei den schmerzhaften, unangenehmen Verrichtungen schloss er die Augen, und manchmal stöhnte er.
3.
Jakob Sieker packte ein frisches Hemd, eine Hose und allerlei Kleinigkeiten in seinen Reisebeutel. In der Küche suchte er einige Würste, ein Stück Käse und ein paar Äpfel zusammen, als Frieda unerwartet im Raum stand.
»Wohin gehst du? Und warum ausgerechnet jetzt?« Jakob antworte nicht. Er schnürte sie Lebensmittel in ein Tuch, das er oben auf seine Sachen legte und verließ schweigend den Raum. Frieda stapfte hinter ihm her.
In der Werkstatt winkte er die beiden Gesellen heran. »Ich besuche meinen alten Freund Johannpeter, der im weiten Umkreis das beste Holz hat. Wir benötigen Stieleichen – je gerader, desto besser. Ich werde sie aussuchen und bestellen.
Es sind nur drei Tagesreisen, und nächste Woche bin ich wieder da, und auf uns wartet viel, viel Arbeit, aber auch gutes Geld. Also genießt meine Abwesenheit!« Daraufhin hatte er schief gegrinst und sich seinem Sohn zugewandt.
»Joni, du bist schön brav, ja, und tust, was Tante Agnes und Onkel Ernst dir sagen, nicht?« Der Kleine hatte ihn umarmt und versucht, nicht zu weinen. Dabei war er erst fünf Jahre alt! Ein tapferer Junge. Bei dem Gedanken an seinen Sohn wurde ihm warm ums Herz, er seufzte tief und sorgenvoll. Es war ein paar Tage vor seiner Reise etwas geschehen, so entsetzlich, dass er dringend fortmusste, weg von alldem, um einen klaren Kopf zu bekommen. Da kam der Auftrag zur rechten Zeit. Agnes hatte ihm ins Gesicht gesagt: »Du kannst nicht davor weglaufen! Es ist passiert und vielleicht – wahrscheinlich! - wird es wieder vorkommen. Der Junge braucht dich jetzt. Ihm hat das doch noch viel mehr Angst gemacht als dir und mir!«
Aber Jakob hatte nur den Kopf geschüttelt und ihr das Versprechen abgenommen, niemandem etwas von dem, was sie gesehen hatte, zu erzählen.
»Kümmere dich um ihn und pass gut auf ihn auf. Wenn ich das Holz gekauft habe, sehen wir weiter!«
Dann war er fortgegangen. Hatte bei jedem Schritt mehr Abstand gewonnen, hatte dabei geweint, geflucht, mit seinem Herrgott gehadert.
»Warum? Warum muss dieser kleine Junge so leiden, so etwas Schreckliches erleben? Gibt es nicht genug Menschen, die so etwas verdient hätten? Du hast mir schon die Frau genommen und nun machst du auch noch meinen Sohn krank?« Die Tränen liefen ihm über das Gesicht, aber er scherte sich nicht darum. Er war allein hier auf weiter Flur, er konnte meilenweit sehen, niemand war bei ihm. Sein Gott womöglich ebenso nicht, er bekam keine Antwort auf seine bohrenden Fragen. »Habe ich nicht immer versucht, alles zu tun, was gut und recht ist? Jeden Sonntag gehe ich in die Kirche, bringe meinen Sohn mit, mein Gesinde. Ich gebe den Armen und helfe, wo immer ich kann, und nun ist Joni krank! Warum?«
Die Wut und die Verzweiflung hatten ihn vorangetrieben, sodass er den ersten Streckenabschnitt in sechs Stunden zurücklegte, sonst brauchte er wenigstens acht. Er kehrte in einen kleinen Gasthof ein, den er von früheren Reisen kannte, nahm ein spärliches Mahl ein und zog sich dann sofort zurück. In dieser Nacht schlief er das erste Mal seit dem Vorfall wieder tief und fest, die Erschöpfung zeigte Wirkung. Am nächsten Tag ging es ihm schon besser, er fand erneut Trost in der Landschaft, an der er sich zu keiner Jahreszeit sattsehen konnte. Jetzt, im Vorfrühling, sah die Welt frisch gewaschen aus, die Sonne schien, nur vereinzelt wuchs schon frisches Grün an den Zweigen der Büsche. Hier und da gab es große Flecken Schneeglöckchen, ab und zu sah er bereits das leuchtende Gelb des Löwenzahns. Aber die Bilder seines Sohnes, der sich in quälenden Krämpfen auf dem Boden wand, wie er den Kopf hin und her geschlagen hatte, dazu der starre Blick – das alles vermochte er nicht aus seinen Gedanken drängen.
»Früher haben die Menschen geglaubt, so jemand sei vom Teufel besessen«, hatte Agnes ihm voller Entsetzen zugeflüstert, als das Kind unvermittelt aufhörte zu krampfen, sich benommen an die Stirn fasste, dann zusammenrollte und sofort einschlief.
»Was ist es denn, das du von mir willst, Gott? Du kannst doch nicht wollen, dass ich dieses Kind verliere? Was willst du mir sagen?«, so fragte Sieker sich am zweiten Tag seiner Wanderung. Er hatte seine Frau Johanne verloren, als das Kind zwei Jahre alt war, vor drei Sommern, aber wenn er ehrlich mit sich war, hatte er sie nie geliebt. Es war eine arrangierte Ehe gewesen, Nachbarskinder, die einander schon früh versprochen worden waren, ihre Eltern hatten etwas Geld, sein Vater die gut gehende Schreinerei, so war für alle gesorgt. Er hatte sie gemocht, sie waren Freunde, ein prima Gespann. Sie vertrugen sich, ihr früher Tod hatte ihm leid getan. Liebe jedoch hatte er für sie nie gefühlt. Nur als sie ihm vor fast sechs Jahren zum ersten Mal seinen Sohn in den Arm gelegt hatte, da hatte er Glück empfunden, Liebe, Verantwortung, Stolz. Dieses überwältigende Gefühl hatte er immer, sobald er an den Kleinen dachte. Er merkte, dass er wieder zu weinen angefangen hatte.
»Joni ist noch so klein, Gott, lass ihn doch am Leben, bitte!«, betete er, und aus heiterem Himmel fiel ihm Hiob ein. Wie viele Töchter und Söhne waren ihm genommen worden? Haus, Hof, alles, was er hatte, war verloren gegangen und Hiob hatte nicht geheult wie ein Kleinkind! Und er, Sieker, zweifelte schon jetzt an seinem Gott? Die Sonne kam hinter den Wolken hervor und brachte das vor ihm liegende Wäldchen zum Leuchten. »Der Junge hat einen Anfall gehabt. Einen! Danach hatte er ruhig geschlafen, am nächsten Tag mit großem Appetit gegessen und nicht mehr gewusst von dem, was geschehen war. Er war so fröhlich und munter gewesen wie sonst. Er ist klug, mutig und geschickt. Wenn er tatsächlich krank ist, wird ihm das helfen, damit umzugehen, und wenn das etwas Einmaliges war, um so besser. Am besten, wir vergessen das erst einmal und leben weiter wie bisher. Der liebe Gott wird es schon richten!«
Die Geschäfte mit Johannpeter dauerten nicht lange und obwohl der Waldbauer in einlud, über Nacht zu bleiben, war Sieker doch gleich wieder aufgebrochen. Er wollte nach Hause, zu seinem Kind.
Es war Nachmittag, als er erneut an dem Wäldchen vorbeikam, das gestern so bezaubernd im Sonnenlicht geleuchtet hatte, jetzt wirkte der Weg, der durch den Wald führte, beinah schon dunkel. Sieker hatte keine Angst, so oft war er nach seiner Lehrzeit gewandert, hatte im Freien genächtigt und die meisten Wege allein zurückgelegt. Er summte vor sich hin, hatte seinen Seelenfrieden halbwegs wiedergefunden und war eins mit sich und der Welt. Hinter dem Wald breiteten sich Felder aus, dort drüben war ein Bach. Er beschloss, seine Wasserflasche zu füllen. Bis zum Gasthof dauerte es vielleicht ein, zwei Stunden, er würde erst im Dunkeln eintreffen. Er setzte seinen Rucksack ab und legte den Wanderstock zur Seite, holte die Flasche heraus und kniete sich an die Bachböschung, um Wasser zu schöpfen, als er es hinter sich knacken hörte. Er drehte sich um, was aber in seiner knienden Stellung nur halb gelang, da waren sie schon über ihm. Es waren drei Männer, bärtig, ungepflegt. Er spürte die Schläge und Tritte, er roch ihre ungewaschen Leiber, er hörte, wie sie im Weggehen leise fluchten: »Verdammt, da ist ja nichts drin!«
Dann wurde er bewusstlos.
4.
In der ersten Woche hatte Matthis oft neben dem Kranken gesessen, ihm vorsichtig Wasser gereicht, wenn dieser erwachte, seinen Puls gefühlt – Anna hatte es gezeigt und ihm aufgetragen, sie sofort zu rufen, sobald der Puls auffällig schnell würde.
»Ein Psalm Davids. Nach dir, Herr, verlanget mich.
Mein Gott, ich hoffe auf dich. Lass mich nicht zuschanden werden, dass sich meine Feinde nicht freuen über mich! Denn keiner wird zuschanden, der dein harret; aber zuschanden müssen sie werden, die losen Verächter.«
Matthis las den Psalm langsam, gleichwohl mit Betonung. Die altmodische Sprache der Bibel störte ihn nicht. Er liebte die Psalmen, obwohl er nicht immer verstand, was dort zu lesen war. Der Kranke rührte sich nicht, hatte die Augen geschlossen und atmete gleichmäßig, nur ab und zu hustete er.
»Herr, zeige mir deine Wege und lehre mich deine Steige! Leite mich in deiner Wahrheit und lehre mich; denn du bist der Gott, der mir hilft; täglich harre ich dein.« Wieder ein Hustenanfall, diesmal etwas heftiger. Der Junge legte die schwere Bibel auf den Hocker neben sich, holte ein feuchtes Tuch aus der Schüssel und wischte dem Patienten die schweißnasse Stirn ab. Als er sich zurück auf seinen Platz setzten, griff der Kranke nach ihm.
»Wie - alt - bist - du?«, fragte er, und seine Stimme war so kraftlos und leise, dass Matthis sich tief in den Alkoven hinein beugen musste.
»Ich bin im Januar vierzehn geworden«, antwortete er. »Ich bin Matthis, ich hab Sie am Bach gefunden«, erklärte er dann.
»Jakob - Sieker«, sagte sein Patient mit tonloser Stimme, er versuchte, sich ein wenig aufzurichten, aber das gelang ihm nicht.
»Bleiben Sie ruhig liegen! Sie brauchen viel Ruhe, hat Anna gesagt!«
»Mein Sohn …ich«, er hustete heftig. Matthis schob seinen Arm unter die Schulter des Kranken, stützte seinen Kopf mit seiner eigenen Brust und flößte ihm etwas Tee ein. Dann ließ er ihn zurück ins Bett sinken, nahm erneut das Tuch, wischte ihm erst den Mund und danach die Stirn ab und wusch anschließend den Lappen aus. Sieker hatte die Augen geschlossen und atmete wieder gleichmäßiger. Matthis betrachtete ihn eine Weile und fuhr schließlich mit seiner Lektüre fort.
»Gedenke, Herr, an deine Barmherzigkeit und an deine Güte, die von der Welt her gewesen ist. Gedenke nicht der Sünden meiner Jugend und meiner Übertretung; gedenke aber mein nach deiner Barmherzigkeit um deiner Güte willen! Der Herr ist gut und fromm, darum unterweiset er die Sünder auf dem Wege. Er leitet die Elenden recht und lehret die Elenden seinen Weg. Die Wege des Herrn sind eitel Güte und Wahrheit denen, die seinen Bund und Zeugnis halten. Um deines Namens willen, Herr, sei gnädig meiner Missetat,die da groß ist!«
Zu Ostern würde er, mit Abschluss seiner Schulzeit, konfirmiert werden, und die Lektüre der Bibel war für ihn nichts Ungewöhnliches. Er las im Gegensatz zu seinen Brüdern gern, wie auch immer, außer dem heiligen Buch und dem Katechismus gab es zu Hause kaum etwas zu lesen. Von eigenen Büchern träumte er. Der Pastor und der Lehrer liehen ihm mitunter Lesestoff, aber er hatte neben Schule und Hofarbeit ohnehin wenig Zeit. Seit er vier war, half er Mutter, die Hühner zu versorgen, mit sechs war diese Aufgabe seine allein. Er hatte gelernt, die Ställe auszumisten, die Schweine zu mästen, die Kühe zu melken - kurz, er war jetzt vierzehn und wusste alles über die Arbeit auf dem Hof. Er konnte ein Gespann lenken, durfte das aber nie, denn seine Brüder waren die Älteren, sie hatten eben ältere Rechte. Beim Ausbauen des Schweinestalls hatte er die Arbeit mit Holz gelernt, das hatte ihm gefallen, aber er durfte nur flicken und ausbessern und seine Zeit nur ‚nützlich‘ verbringen. Er hatte seit jeher Aufgaben auf dem Hof, mit jedem Jahr wurden diese mehr.
Gern wäre Matthis weiter zur Schule gegangen, aber dafür gab es weder Geld noch Gelegenheit, es war überhaupt nie darüber gesprochen worden. Nun, da er bald nicht mehr zur Schule gehen musste, war er für den Vater und die älteren Brüder endlich eine vollwertige Kraft. Aber wenn er sich nach getaner Arbeit mit einem Buch, das der Pastor ihm geliehen hatte, in eine Ecke am Ofen zurückzog, begann gleich die Spöttelei.
»Wahrscheinlich will er Pastor werden!«
»Unser kleiner Neunmalkluger!«
»Wie man die Mistgabel richtig hält, das weiß er nicht, nur die Bibel, die kennt er!«, veralberten die Brüder ihn, fast liebevoll, aber sein Vater fand diese ‚Unart‘ gar nicht lustig. »Ein Bauer braucht keine Bücher, draußen gibt es genug zu tun. Diese ganze Gelehrsamkeit ist weibisch und nichts für unsereins! Ein richtiger Junge würde jetzt draußen mit seinen Kameraden zusammen sein …«
Diese Zeit am Bett des Fremden war daher für Matthis etwas Besonderes.
Mittlerweile hatte er fast jede Scheu verloren, der Mann schlief ja meistens und er – Matthis – wurde gebraucht. Eines Tages in der zweiten Woche war der Patient wieder aufgewacht, wie schon beim ersten Mal, als Matthis ihm etwas vorgelesen hatte. Er hatte eine ganze Weile mit offenen Augen da gelegen und völlig unvermittelt zu reden begonnen. Seine Stimme war schon etwas kräftiger als zuvor, aber immer musste Matthis gut hinhören.
»Ich war Bäume kaufen. Jakobpeter … und dann … drei Männer …«, er hustete, Matthis gab ihm Tee.
»Soll ich jemanden rufen? Anna?« Matthis wollte aufstehen und seine Mutter oder seine Schwägerin holen, aber der Fremde hielt ihn zurück.
»Matthis, nicht?« Der Junge nickte. »Da waren drei Männer … Und dann … kalt …«
Wieder hustete er heftig, Matthis sah, dass er kaum Luft bekam und Schmerzen hatte. Er gab ihm erneut von dem Tee, dann aber öffnete er die Tür des kleinen Raumes und trat auf die Deele.
»Anna«, rief er, »schnell, er ist wach!«
Anna kam aus der Küche, langsam, behäbig, den großen, schweren Bauch haltend. Es dauerte jetzt nicht mehr lange, dachte der Junge, dann bin ich Onkel. Anna trat in die Kammer, aber Sieker war wieder eingeschlafen. Sie schaute erst ihn an, dann sah sie sich im Zimmer um.
»Du machst das richtig gut. Es scheint ihm besser zu gehen, aber den Schlaf braucht er weiterhin. Er hat ja einiges durchgemacht!«
Matthis lief wegen des Lobs rot an und nickte.
»Er ist wohl überfallen worden, er sprach von drei Männern, aber mehr hat er nicht gesagt. Er hustet so schlimm.«
»Das wird, das braucht seine Zeit. Gib ihm nur weiter Tee, kühl ihm die Stirn, wenn er fiebert und ruf mich, wenn was ist.«
Sie stützte mit der Hand ihren Rücken, streckte sich und watschelte davon.
Der Kranke schlief weiterhin die meiste Zeit und war in seinen wachen Stunden äußerst wortkarg. Er starrte an die Decke, schaute kaum auf, wenn jemand in den Raum kam und nickte nur dankbar, wenn ihm Wasser oder Brei gereicht wurde. Matthis half ihm beim Essen und Trinken, kämmte ihm Haar und Bart, leerte fast ohne Murren die Bettpfanne, die Sieker ihm verschämt hinhielt und fühlte sich wichtig. Erst am Ende der dritten Woche begann der Kranke, seinen jungen Pfleger öfter mal leicht gequält anzulächeln und mehr als »Bitte« oder »Danke« zu sagen. Matthis erfuhr, dass Sieker Tischler war, und bald führten sie Gespräche über die Bearbeitung von Holz. Das heißt, Matthis sprach und sein Patient nickte, lächelte, schüttelte den Kopf und ließ nur selten eine Frage hören. Neben dem Lesen war die Arbeit mit Holz immer Matthis stille Leidenschaft gewesen, die er vor seiner Familie aber wohlweislich so gut wir möglich verborgen gehalten hatte. Die Brüder hätten ihn mal wieder ausgelacht und so mit anderer Arbeit vollgepackt, dass er Säge, Holz und Nägel in den nächsten Jahren nicht mehr zu sehen gekriegt hätte.
»Immer geben sie mir Aufgaben, die jeder Trottel erledigen kann oder für die selbst der Knecht sich zu schade ist«, berichtete er seinem Patienten. »Als ich noch sehr viel kleiner war, hat Anton mir das Schnitzen beigebracht, aber seit der weg ist, nimmt keiner mich hier ernst!«
Wie fast immer nickte der Genesende nur.
An diesem Abend durfte Sieker das erste Mal aufstehen, die Kammer, die man für ihn gerichtet hatte, verlassen und am Abendessen seiner Gastgeber teilnehmen.
Matthis trat ein bisschen verlegen und mit rotem Kopf in das Krankenzimmer und hielt etwas hinter dem Rücken versteckt. Er fand es anmaßend, dem Fremden so ein Geschenk zu machen, aber Mama hatte gesagt, das sei in Ordnung, eine nette Geste sogar. Trotzdem war es dem Jungen peinlich und er glaubte, er würde gleich stolpern, da lächelte der Patient das erste Mal.
»Was hast du denn da?«, fragte er, seine Stimme klang ein wenig heiser und so, als hätte er die Worte mühsam suchen müssen. Diese Unsicherheit machte Matthis Mut, er streckte die selbstgebauten Krücken, die er in den vergangenen Tagen gefertigt hatte, Herrn Sieker entgegen.
»So können Sie sich besser bewegen, in der ersten Zeit«, murmelte er mit gesenktem Kopf. Der so Beschenkte nahm die erste Krücke in die Hand, strich über das Holz, hielt sie hoch, und legte sie nahezu behutsam zur Seite. Dann nahm er die Zweite genau so unter die Lupe.
»Hast du die gemacht?«, fragte er dann in der gleichen, etwas schleppend wirkenden Sprechweise. Matthis nickte.
»Ja«, antwortete er schüchtern, »ich dachte, Sie könnten sie gebrauchen, wenigstens am Anfang. Anna meint, Sie werden irgendwann wieder richtig laufen können, aber es braucht Zeit!«.
»Die sind richtig gut!«, staunte Sieker und tat dabei so, als hätte er die letzte Bemerkung gar nicht gehört. Wieder nickte der Junge, bevor er auffordernd die Tür der Kammer ein Stück aufstieß.
»Sind Sie bereit? Die Familie wartet!«
Mühsam stemmte sich der Patient hoch, aber die Krücken passten so gut zu seinem Körper, dass er es schaffte, die paar Schritte bis zum Küchentisch der Familie zu schaffen. Mit stolzgeschwellter Brust folgte Matthis ihm. Es wurde still, als sie eintraten. Fürsorglich rückte Matthis einen Stuhl vom Tisch ab, Papa sah auf und sagte: »Willkommen an unserem Tisch!«, dann wartete er, bis der Gast sich mit Matthis Hilfe hingesetzt hatte. Er schaute in die Runde, faltete die Hände und sprach das Tischgebet.
5.
Hannah Ahrendt wohnte in einem Kotten, genau zwischen dem Hof ihres Schwagers und der kleinen Stadt Berghausen. Zu diesem Häuschen gehörte eine alte Schmiede, die seit etlichen Jahren nicht mehr in Betrieb war, der Schmied aus S. kam alle paar Monate mit dem Wagen über Land, um die Pferde zu beschlagen. Außerdem stand ein großer Schuppen daneben, in dem Hannah ihre Ziegen hielt. Er beherbergte im Winter die Hühner und bei schlechtem Wetter auch mal die kleine Herde. Allerlei Zeug stand darin herum, das Matthis zum Spielen angeregt hatte, als er jünger war. Früher war er mindestens zwei, dreimal die Woche hier gewesen, hatte seiner Tante in ihrem großen Gemüsegarten hinter dem Haus geholfen, beim Trocknen der vielen Kräuter und bei den Ziegen, beim Käsen und allem, was dazu gehörte. Trotzdem hatte Tante Hannah ihm und seinem Vetter Paul immer Zeit gelassen, miteinander zu spielen, zu stöbern und zu toben. Anna, Peters Frau, war oft mit ihm hierhergekommen. Sie hatte vor ihrer Heirat in Berghausen gewohnt, ihre Mutter war Hannahs Freundin gewesen. Alles, was Anna über die Heilkunst wusste, hatte sie hier gelernt. Sie hatte den Kräutergarten mit angelegt und dabei Peter kennengelernt, bei einem der seltenen Male, in denen er seine Tante besuchte.
Seit ein, zwei Jahren aber spannte Matthis Vater ihn immer mehr im elterlichen Betrieb ein, und Hannah musste sehen, wie sie allein zurechtkam. Matthis hatte nie gefragt, warum Vater so entschieden hatte, obwohl er sich hier draußen immer wohlgefühlt hatte, war das Wort seines Vaters Gesetz. Er kam nur noch ein paar Mal im Monat her, wenn die Mutter ihn schickte, um ihrer Schwester etwas zu bringen. Seit dem Tag, an dem er auf dem Weg hierher Herrn Sieker gefunden hatte, wusste er ja, dass es um Ansehen, Anstand und Tugend ging, Werte, die seinem Vater außerordentlich wichtig waren. Vater konnte Tante Hannah nicht leiden, aber er hätte es trotzdem lieber gesehen, wenn sie bei ihnen auf dem Hof wohnte – Matthis verstand das nicht hinreichend. Sicher, er würde sich freuen, schließlich liebte er Hannah und ihren Sohn ja.
Matthis lief langsamer und hatte den Kotten fast erreicht, als er seine Tante aus dem Ziegenstall kommen sah. Noch halb in Gedanken platzte er heraus:
»Tante Hannah, warum wohnst du hier allein, nur mit Paul, und nicht bei uns?« Matthis hörte selbst, dass seine Frage wie die eines Kleinkinds klang, aber er wollte die Antwort endlich wissen.
Die Tante lächelte, antwortete aber nicht. »Komm mal erst herein und verschnaufe, bist ja bestimmt wieder die ganze Strecke gerannt?«
Er nickte und sie fuhr fort: »Setz dich drinnen an den Tisch!«, und folgte ihm ins Haus. Sie holte einen großen Krug aus der Speisekammer und einen kleinen Vorratsbehälter aus dem Schrank und redete vor sich hin. »Für eine Milch mit Zucker bist du noch nicht zu alt, oder? Auch wenn du ja jetzt beinah erwachsen bist? Warst ja eine Ewigkeit nicht mehr hier.« Sie fuhr dem Jungen mit der Hand durchs Haar – nur bei ihr duldete er das, bei seiner Mutter schon längst nicht mehr. Dabei musste Hannah sich recken, wenn er saß, und wenn er stand, erreichte sie seinen Kopf gar nicht. Sie war klein, rundlich, trug ihr langes, dichtes Haar in einem dicken Dutt auf dem Hinterkopf, darüber ein unter dem Kinn geknotetes Tuch, sodass man nur in der Stirn und über den Ohren ihre dunkelbraunen Haare sehen konnte. Das Kopftuch nahm sie jetzt jedoch ab.
»Paul und ich waren im Stall«, erklärte sie und setzte sich auf einen Hocker, um die schweren Holzschuhe auszuziehen. »Dorchen hat ein Zicklein bekommen. Magst du es sehen? Paul konnte ich gar nicht aus dem Stall fort bekommen!«
Matthis hatte Mühe, nicht sofort aufzuspringen und loszurennen. Er war schließlich schon vierzehn und sollte bald aus der Schule kommen, da ging das doch nicht, dass er wegen eines Zickleins …
»Na, lauf schon«, zwinkerte die Tante ihm zu, »die Milch kannst du später trinken. Ich erzähle es auch keinem weiter!«
Im Stall war es dunkel, aber Matthis hatte keine Schwierigkeiten, sich zurechtzufinden. Er war früher oft hier gewesen, erst in den letzten Jahren hatte er nicht mehr sooft Zeit gehabt. »Der Vater hat nicht gewollt, dass ich gehe«, dachte er. »Zeit hätte sich schon gefunden.« Im Ziegenabteil saß ein Junge, etwas größer und schwerer als er, die dunklen Haare lagen wirr und feucht auf seinem Kopf. Er hatte beide Beine ausgebreitet und zog mit sanfter Gewalt das neugeborene Tierchen zu sich heran.
»Vorsichtig, du tust ihm ja weh!« Der Junge - sein Vetter Pauli – drehte sich um, strahlte über das ganze Gesicht. »This! This ist gekommen! Sieh mal, Zicklein!« Der Junge hatte scheinbar Mühe, alles deutlich auszusprechen, es klang so, als hätte er etwas im Mund. Matthis aber verstand ihn problemlos.
»Hallo, Pauli! Deine Mama hat es mir schon erzählt, was ist es denn, ein Mädchen oder ein Junge?« Paul hatte das Kleine losgelassen, als er sich zu seinem Vetter umgewandt hatte. Jetzt klopfte er auf den Boden neben sich, streckte dann die Hand aus, als wolle er nach Matthis greifen und sagte: »Komm, This, sieh mal das Zicklein!« Er lachte über das ganze Gesicht, seine Hände waren ständig in Bewegung, aber er grapschte unbeholfen nach dem jungen Tier, das sich zu seiner Mutter geflüchtet hatte. Matthis setzte sich neben ihn und legte ihm den Arm um die Schulter. Sofort kuschelte sich der Andere an ihn und drückte ihn fest. »Mensch, Paul, du bist ja noch stärker geworden!«, stöhnte Matthis lächelnd auf und versuchte sich, aus der stürmischen Umarmung zu lösen.
»Guck mal, da kommt das Tierchen auf uns zu. Ein kleiner Junge! Was meinst du, wie willst du ihn nennen?«
Paul legte den Kopf schief und die Finger seiner rechten Hand an den Mund. »Brauner?«, nuschelte er und Matthis grinste. »Nee, der ist doch gar nicht braun! So heißt doch das Pferd von Schulze! Denk dir was Anderes aus!«
»Wolfi?« Jetzt musste Matthis laut lachen. »So heißt der Hund von Kramers. Das Zicklein braucht doch einen eigenen Namen! Was hältst du von Flecki? Schau, er hat ganz viele Flecken auf dem Rücken!« Er deutete auf die Stellen, das Gesicht seines Vetters strahlte.
»Genau. Flecki!« Aus seinem Mundwinkel lief ein wenig Speichel. Matthis griff, einer alten Gewohnheit folgend, in Pauls Latzhose, holte sein Taschentuch heraus und wischte ihm die Spucke ab.
»This, kann ich Flecki schreiben?«
»Klar, Junge. Ich zeig’s dir! Siehst du«, er zeichnete die Buchstaben in den Staub, »F wie Feder, L wie Leder«, Paul fing an zu kichern, er liebte Reime, »E wie Erde, dann das schwere ck und noch ein I wie Igel, Flecki ist fertig. Jetzt du.«
Paul konnte schreiben, wenn er auch weitaus mehr Zeit brauchte, und Matthis übte gern mit ihm. Jedes Mal, wenn der Junge ein Wort fertigbrachte, wurde ihm warm ums Herz und er war irrsinnig stolz, weil er, Matthis, ihm das beigebracht hatte. Jetzt freute er sich über die ungelenken Buchstaben im Dreck. »Toll, das hast du gut gemacht!«
»This?« Paul kuschelte sich enger an ihn.
»Hmm?«
»Bleibst du jetzt bei mir?«
»Bis nach dem Abendessen, wie immer, denke ich.«
»Nein, immer!« Pauls Babygesicht lachte, der ganze Junge strahlte. Matthis schüttelte den Kopf.
»Du weißt doch, dass das nicht geht!« Sofort verschwand das Strahlen. Paul kämpfte sich unbeholfen hoch, das Zicklein und Dorchen hatte er längst vergessen. Als er endlich stand, stemmte er die Hände in die Seite und schimpfte, immer lauter werdend: »Ich bin sauer! Du sollst bleiben! Mama hat es gesagt!« Er stampfte mit dem Fuß auf und ging davon.
Kopfschüttelnd folgte Matthis ihm. Er wusste, Paul würde zu seiner Mutter gehen, weglaufen täte er nicht. Er kannte den Jungen in- und auswendig und er liebte ihn mindestens genauso wie seine eigenen Brüder, obwohl Paul so … anders war. Ein Trottel, Idiot, Wechselbalg, Monstrum, Missgeburt. Es gab viele, bitterböse Bezeichnungen für ihn, die Dorfkinder waren oft hinter ihnen her gerannt und hatten Paul verspottet und ihn, Matthis, beschimpft.
»Was gibst du dich mit so einem ab? Bist selber ein Idiot!«, das war noch das freundlichste, was er zu hören bekommen hatte. Aber er hatte immer zu Paul gehalten, seine Hand genommen, wenn der Junge sich vor den Kindern fürchtete, und hatte ihnen nach gerufen: »Haut ab, geht, und fragt den Pastor. Paul ist etwas ganz Besonderes!«
Aber Paul vor den Nachbarskindern verteidigen, war nur das eine. Selbst sein Vater und die älteren Brüder sprachen voller Abscheu und Hass von ihrem Neffen und Vetter, schimpften über Tante Hannah und zogen ihn, Matthis, auf.
In dem kleinen Kotten saß Paul am Küchentisch und trank die Zuckermilch, die Matthis hatte stehen lassen. Er grinste zufrieden und unbekümmert vor sich hin, den Ärger hatte er längst vergessen. »Matthis bleibt heute bis abends, dann geht er heim, kommt aber immer wieder!«, erklärte er seiner Mutter gerade. Hannah nickte und ergänzte:»Ja, Matthis ist dein Freund und Vetter, und er wird dich nicht im Stich lassen.«
»Die bösen Jungs …«
»Matthis passt auf dich auf und Mama passt auf, Anna passt auf. Der Pastor …«
»…und alle!« Paul klatschte in die dicken Hände, lachte und forderte Matthis auf: »Komm, erzählen!«
»Ja, erzähl mir von Anna. Wann kommt das Baby? Du musst mich holen, wenn es kommt, ja?«
Auf dem Heimweg ließ Matthis sich jede Menge Zeit, er rannte nicht, er schlenderte. Er nutzte den Fahrweg, statt über die Wiesen zu laufen und zottelte, tief in Gedanken versunken, am Rand der breiten Fahrspur. Nur ab und zu hob er den Kopf, wenn ein Vogel vor ihm aufflog oder ein Feldhase über den Acker sprang. Alles war noch leer, nur die Obstbäume und Hecken zwischen den einzelnen Parzellen wurden langsam grün.
Er hatte seiner Tante alles erzählt, von Sieker, wie er ihn gefunden hatte und Anna bei seiner Pflege geholfen hatte, und dass ihm das Freude bereitet hatte. »Ich helfe gern im Stall und auf dem Feld, ehrlich, Tante, ich bin nicht faul« – sie hatte den Kopf geschüttelt, nachdem er sie fragend angesehen hatte – »aber dabei zu sein, wie ein Mensch gesund wird, ihm dabei zu helfen, zu unterstützen …«, ihm hatten die Worte gefehlt, er redete selten viel. Die Tante hatte in seine glänzenden Augen gesehen und verstanden. Sie kannte dieses Glücksgefühl ja selbst. Sie hatte ihm – und unzähligen anderen Kindern – in die Welt geholfen, hatte den Alten Kräutertees gegen ihre Schmerzen gebracht und sich um die kleinen Verletzungen ihrer Nachbarn gekümmert. Allerdings nur bis … ja, bis sie Paul bekam. Niemand beanspruchte eine Hebamme, die ein Wechselbalg geboren hatte, niemand nahm Arzneitee von einer, die ein Monstrum großzog. Sie erschrak und wurde rot, als sie merkte, dass sie all dies laut ausgesprochen hatte. »Anna sagt, sie will, dass ich komme. Aber ob Peter und dein Vater das erlauben werden? Ich müsste ja Paul mitbringen, du weißt ja, dass man ihn nicht allein lassen kann!«
Matthis war in höchstem Maße erschüttert. »Tante Hannah, es tut mir so Leid. Ich wollte nicht….«
Nie zuvor hatte sie so mit ihm geredet, von sich.
Sie hatte ihn abgelenkt, ohne auf seine tröstenden Worte einzugehen. »Sieh mal, Paul!«, hatte sie gerufen, und gelacht, weil der große, schwere Junge wie ein Kätzchen zusammengerollt vor dem Küchenherd eingeschlafen war. Dann hatte sie gesagt: »Das ist die Antwort auf deine Frage. Aber jetzt wird es Zeit, dass du nach Hause kommst, du weißt, der Vater wird sonst wütend! Ich komme in den nächsten Tagen vorbei, ich helfe deiner Mutter bei den Vorbereitungen. Nun lauf!« Sie hatte ihm quasi die Jacke angezogen und zur Tür hinausgeschoben, ehe er bemerkt hatte, wie ihm geschah.
Der Fahrweg bog hier nach rechts ab und führte direkt ins Dorf, Matthis aber wendete sich nach links in den schmalen Pfad zwischen den Feldern. Man gelangte geradeso auf dem breiten Weg zum Hof, – die Fuhrwerke und Heuwagen, und natürlich die Sonntagskutsche benötigte einen befestigten Weg - aber der Fußweg war kürzer. Noch zehn Minuten, vielleicht fünfzehn, und er wäre zu Hause. Er verlangsamte sein Tempo, betrachtete eingehend den Löwenzahn auf dem Weg. Wieso erkannte er das Besondere, das Gute in Paul, und die meisten anderen, allen voran sein Vater, sahen nur mit Abscheu und Ekel auf seinen Vetter?
6.
»Schau, wenn du den Hobel so hältst, hast du es wesentlich leichter!« Sieker zeigte Matthis den entsprechenden Handgriff und beobachtete dann, wie dieser vorsichtig und gewissenhaft an dem Brett entlang fuhr. »Ja, genau, und jetzt hier an diesem Teil. Da ist es etwas schwieriger!«
Seit er vor etwa zwei Wochen zum ersten Mal am Familientisch gesessen hatte, hatte sich sein Zustand stetig verbessert. Er lernte mit Matthis an der Seite das Gehen neu, schulte seine Muskeln, die durch die Zeit im Liegen gelitten hatten und half in Haus und Stall mit. Anna riet ihm, da sein Husten hartnäckig anhielt, l viele Pausen einzulegen. Den Weg nach Hause könne er erst in ein paar Wochen antreten, wenn seine Lunge frei und er insgesamt kräftiger sei. Vor einigen Tagen hatte er einen Brief an seine Familie geschickt, damit diese endlich wusste, wo er war und was passiert war. Er hatte er an jenem Abend seinen Gastgebern erzählt, dass er auf dem Heimweg von einem Besuch von, als drei Männer scheinbar grundlos angegriffen und verprügelt worden war. »Sicher, ich hatte etwas Reisegeld dabei und Proviant, eine kleine Tasche mit Werkzeugen – aber das alles war es kaum wert, mich zu berauben«, hatte er erklärt, dann aber auf weitere Fragen zu diesem Überfall nicht antworten können. »Ich bin Tischler und Zimmermann, ich arbeite mit Holz, manchmal auch bei Leuten zu Hause. Mein Sohn wird ja gut versorgt, auch wenn seine Mutter tot ist. Ich habe zwei Schwestern, die sich um ihn kümmern.« Er schüttelte den Kopf, wandte sich seinem Essen zu und sagte leise: »Ich weiß einfach nichts mehr.«
Heute hatte er sich wieder einmal mit Matthis in den Holzschuppen begeben. Die beiden arbeiteten an einem Regal für die Küche. Mutter hatte schon lange gesagt, dass sie zusätzlichen Platz brauche, und nun half Matthis Sieker dabei, das Alte zu erweitern. »Ich würde gern mehr über Holz und über das Tischlern lernen«, hatte Matthis dem Genesenden erklärt, und der wiederum war froh, dass er sein Wissen weitergeben durfte. Der Junge war willig und begabt, darüber hinaus freundlich und höflich. Warum nicht, so lange er hier war?
»Ist der Junge schon wieder mit Sieker zusammen? Ich will das nicht!« Der Bauer lief in der Küche auf und ab, stampfte mit dem Fuß auf und schimpfte. »Du verwöhnst den Jungen viel zu sehr. Er kommt bald aus der Schule, er ist kein Säugling mehr. Aber nein, der Junge muss ja mindestens zweimal im Monat seinem vertrottelten Vetter den Arsch abwischen gehen und dann die Pflege von Sieker, ja ich weiß, Anna ist schwanger, aber das hätte sie doch wohl allein geschafft! Und nun rennt der Junge - dein Sohn! - dem hinterher wie ein Hündchen und springt, wenn der ruft. Und ich, sein Vater, muss sehen, wer mir bei der Arbeit hilft! Warte es ab, der setzt ihm irgendwelche Flausen in den Kopf! Dabei hat er davon wirklich schon genug!«
Martha schwieg. So ein Wutanfall ging wieder vorüber, nie so schnell, wie er gekommen war, meist völlig aus dem nichts, aber er verging. Früher hatte sie dagegengehalten, versucht, sich und ihren Standpunkt zu verteidigen, jedoch wenn Karl so schimpfte, war er Worten nicht mehr zugänglich. Sie holte das Mehl aus dem Schrank, bestäubte die Arbeitsfläche vor sich und nahm stumm den Brotteig in Angriff. Karl stapfte weiterhin in der Küche hin und her. Manchmal musste sie heimlich in sich hinein lächeln, denn er wirkte dann oft wie ein Kind, das seinen Willen nicht bekommt, und diese Reaktion kannte sie. Anton, ihr dritter Sohn, hatte sich, wenn sein Zorn zu groß wurde, sogar hingeworfen und mit den Fäusten den Boden bearbeitet … Da war er vier oder fünf gewesen. Was er jetzt wohl macht? »Lieber Gott, gib, dass es ihm gut geht und an nichts fehlt«, betete sie im Stillen, wie mehrmals am Tag, seit er damals seinen Sachen gepackt und verschwunden war. Sie hatte ihn nicht wiedergesehen, fünf Jahre war das jetzt her.
»Hörst du mir eigentlich zu? Dein Sohn …«
»Hallo! Ist jemand da? Hallo!« Von der Deele her hörten sie jemanden rufen. Scheinbar bekamen sie Besuch, ungewöhnlich um diese Zeit. Martha lugte vorsichtig hinaus, erschrak und band in Windeseile ihre Schürze ab.
»Schnell, Vater, zieh dir ein Hemd an und wasch dich, es ist der Pastor!« Fahrig wusch sie sich die Hände in der Waschschüssel, strich sie ihr Kleid glatt, und stand Sekunden später auf der Deele dem Pastor gegenüber. Sie begrüßte ihn freundlich, aber ein wenig verlegen.
»Herr Pastor Keller, was bringt sie denn hierher, wir waren gar nicht, wir haben nicht …«
Sie streckte ihm beide Hände zum Gruß entgegen, versteckte sie aber schnell wieder hinter dem Rücken und lief rot an. Auf ihren Armen klebten deutliche Spuren des Teigs, den sie soeben geknetet hatte. Zum Glück trat jetzt auch Karl zu ihr und dem Geistlichen.
»Pastor! Komm, wir gehen in die gute Stube, und die Frau macht uns ’nen Kaffee. Und bring uns den Klaren dazu, hörst du?«, gab er an seiner Frau auf. Er hob seinen Arm, als wolle er ihn dem Pastor um die Schulter legen und wandte sich dem Wohnzimmer zu. Martha verschwand schnell wieder in der Küche. In der Stube hatte Karl dem Pastor inzwischen Platz angeboten und holte aus dem Schrank ein schmales Holzkistchen, das er öffnete und auf den Tisch stellte. »Schau, Pastor, nur das Beste! Kaffee ist auch gleich soweit, die Frau …«
»Nun bleib mal ruhig, Bauer. Ich möchte, dass deine Frau auch dabei ist, wenn ich euch sag, warum ich gekommen bin.« Er sprach Hochdeutsch, aber man hörte ihm seine rheinische Heimat an. Das hiesige Platt beherrschte er gar nicht.
Er saß dort auf dem selten benutzten Sofa, roch genüsslich an er dicken Zigarre, die er aus dem Holzkästchen genommen hatte, nahm ein Streichholz aus der Schachtel, die er einstecken hatte und zündete die Zigarre an. Er nahm sich Zeit dazu und konzentrierte sich scheinbar ganz auf die Zigarre. Der Pastor war jung, Anfang dreißig, hatte eine recht grobschlächtige, kräftige Figur und schon nur wenig Haare auf dem Kopf, diese aber waren dicht und dunkel. An den Falten in den Augen- und Mundwinkeln sah man, dass er häufig gelacht hatte in seinem Leben, auch die großen, rauen Hände passten nicht so recht in Karls Bild von einem Geistlichen. Der Pastor war er vor zwei Jahren hierher versetzt worden, als der alte Decimus mit bald achtzig Lenzen zu seinem Schöpfer gegangen war. Decimus, das war ein Pastor gewesen, so wie es sich gehört: alt, klein, feinsinnig, ein bisschen schwächlich und beinahe zart. Dieser hier hatte die Landbevölkerung gleich zu Anfang in Aufregung versetzt, weil er sich nicht wie ein Pastor verhielt. Er trug wochentags keinen schwarzen Anzug, eigentlich gar keinen Anzug, sondern oft billige Arbeitskleidung, wie Karl selbst. Als er im Herbst vor ein paar Jahren beim Presbyter Niehaus vorstellig wurde, war dieser dabei, Kartoffeln auszumachen. Eine nervtötende, anstrengende Arbeit, zumal der Boden nass und schwer gewesen war durch den beständig fallenden Regen. Pastor Keller hatte seinen Mantel ausgezogen und dann nach Kräften mitgeholfen. Erst nachdem die Erdäpfel aus der Erde und die Helfer in der Scheune waren, um sie zum Trocknen auszubreiten, hatte er sich Niehaus vorgestellt. Dieser war fast aus allen Wolken gefallen, die Geschichte hatte sich damals wie ein Lauffeuer verbreitet. Vielleicht war seine Kirche deswegen immer gut besucht. Erst war es nur die Neugier auf den Neuen, die Lust an der Sensation, nun kamen sie, weil er offene Worte fand in der Sprache, die hier ein jeder verstand. Karl hatte eine Schwäche für den Mann, aber ein Pastor war das nicht. So hatte ein Geistlicher nicht zu sein!