Andrea Delfin - Paul Heyse - E-Book

Andrea Delfin E-Book

Paul Heyse

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Beschreibung

Ein Meisterwerk des Literaturnobelpreisträgers Paul Heyse in neu bearbeiteter Fassung. Andrea Delfin kommt nach Venedig. Mit sich führt er drei Dolche, jeder trägt die Inschrift: »Tod allen Inquisitoren« eingraviert. Die Inquisitoren sind im alten Venedig die Vollzugsbeamten der Mächtigen, sie sind Ankläger, Richter und Vollstrecker in einem. Ihre Herrschaft ist berüchtigt. Andrea Delfin will den Tod der Schwester und des Bruders rächen. Der Text ist eine spannende Schilderung der Herrschaftsverhältnisse, unter denen Bespitzelung, Verrat aber auch blankes Denunziantentum und politische Ränke und Meuchelmorde an der Tagesordnung waren. Eine schreckliche Zeit, in der nur Adlige und der Klerus frei waren, alle anderen Menschen mussten damit rechnen jeden Augenblick unter behördlicher Willkür für ewig weggesperrt oder gelyncht zu werden; ein falscher Verdacht, eine getuschelte Bemerkung – ob wahr oder nicht – waren genug. »Den Schafen aber ist es gleich, Herr Delfin, ob sie geschlachtet oder vom Wolf gefressen werden …« Null Papier Verlag

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Seitenzahl: 145

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Paul Heyse

Andrea Delfin

Eine venezianische Novelle

Paul Heyse

Andrea Delfin

Eine venezianische Novelle

Überarbeitung und Korrekturen: Null Papier VerlagHerausgeber: Jürgen Schulze Published by Null Papier Verlag, Deutschland Copyright © 2017 by Null Papier Verlag 1. Auflage, ISBN 978-3-954189-74-8

null-papier.de/450

Das hier veröffentlichte Werk ist eine kommentierte, überarbeitete und digitalisierte Fassung und unterliegt somit dem Urheberrecht. Verstöße werden juristisch verfolgt. Eine Veröffentlichung, Vervielfältigung oder sonstige Verwertung ohne Genehmigung des Verlages ist ausdrücklich untersagt.

Inhaltsverzeichnis

1

2

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4

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1

In je­ner Gas­se Ve­ne­digs, die den freund­li­chen Na­men Bel­la Cor­te­sia trägt, stand um die Mit­te des vo­ri­gen Jahr­hun­derts ein ein­fa­ches, ein­stö­cki­ges Bür­ger­haus, über des­sen nied­ri­gem Por­tal, von zwei ge­wun­de­nen höl­zer­nen Säu­len und ba­rockem Ge­sims ein­ge­rahmt, ein Ma­don­nen­bild in der Ni­sche thron­te und ein ewi­ges Lämp­chen be­schei­den hin­ter ro­tem Glas her­vor­schim­mer­te. Trat man in den un­te­ren Flur, so stand man am Fuße ei­ner brei­ten, stei­len Trep­pe, die ohne Win­dung zu den obe­ren Zim­mern hin­auf­führ­te. Auch hier brann­te Tag und Nacht eine Lam­pe, die an blan­ken Kett­chen von der De­cke her­ab­hing, da in das In­ne­re nur Ta­ges­licht ein­drang, wenn ein­mal die Haus­tür ge­öff­net wur­de. Aber trotz die­ser ewi­gen Däm­me­rung war die Trep­pe der Lieb­lings­auf­ent­halt von Frau Gio­van­na Da­nie­li, der Be­sit­ze­rin des Hau­ses, die seit dem Tode ih­res Man­nes mit ih­rer ein­zi­gen Toch­ter Ma­ri­et­ta das er­erb­te Häu­schen be­wohn­te und ei­ni­ge über­flüs­si­ge Zim­mer an ru­hi­ge Leu­te ver­mie­te­te. Sie be­haup­te­te, die Trä­nen, die sie um ih­ren lie­ben Mann ge­weint, hät­ten ihre Au­gen zu sehr ge­schwächt, um das Son­nen­licht noch zu ver­tra­gen. Die Nach­barn aber sag­ten ihr nach, dass sie nur dar­um von Mor­gen bis Abend auf dem obe­ren Trep­pen­ab­satz ihr We­sen trei­be, um mit je­dem, der aus- und ein­gin­ge, an­zu­bin­den und ihn nicht vor­über­zu­las­sen, ehe er ih­rer Neu­gier und Ge­sprä­chig­keit den Zoll ent­rich­tet habe. Um die Zeit, wo wir sie ken­nen ler­nen, konn­te die­ser Grund sie schwer­lich be­we­gen, den har­ten Sitz auf der Trep­pen­stu­fe ei­nem be­que­men Ses­sel vor­zu­zie­hen. Es war im Au­gust des Jah­res 1762. Schon seit ei­nem hal­b­en Jahr stan­den die Zim­mer, die sie ver­mie­te­te, leer, und mit ih­ren Nach­barn ver­kehr­te sie we­nig. Dazu ging es schon auf die Nacht, und ein Be­such um die­se Zeit war ganz un­ge­wöhn­lich. Den­noch saß die klei­ne Frau be­harr­lich auf ih­rem Pos­ten und sah nach­denk­lich in den lee­ren Flur hin­ab. Sie hat­te ihr Kind zu Bett ge­schickt und ein paar Kür­bis­se ne­ben sich ge­legt, um sie noch vor Schla­fen­ge­hen aus­zu­ker­nen. Aber al­ler­lei Ge­dan­ken und Be­trach­tun­gen wa­ren ihr da­zwi­schen ge­kom­men. Ihre Hän­de ruh­ten im Schoß, ihr Kopf lehn­te am Ge­län­der, es war nicht das ers­te Mal, dass sie in die­ser Stel­lung ein­ge­schla­fen war.

Sie war auch heu­te nahe dar­an, als drei lang­sa­me, aber nach­drück­li­che Schlä­ge an die Haus­tür sie plötz­lich auf­schreck­ten. »Mi­se­ri­cor­dia!«,1 sag­te die Frau, in­dem sie auf­stand, aber un­be­weg­li­che ste­hen blieb, »was ist das? Hab’ ich ge­träumt? Kann er es wirk­lich sein?«

Sie horch­te. Die Schlä­ge mit dem Klop­fer wie­der­hol­ten sich. »Nein«, sag­te sie, »Orso ist es nicht. Das klang an­ders. Auch die Sbir­ren2 sind es nicht. Lass se­hen, was der Him­mel schickt.« – Da­mit stieg sie schwer­fäl­lig hin­un­ter und frag­te durch die Tür, wer Ein­lass be­geh­re.

Eine Stim­me ant­wor­te­te, es ste­he ein Frem­der drau­ßen, der hier eine Woh­nung su­che. Das Haus sei ihm gut emp­foh­len; er hof­fe, lan­ge zu blei­ben und die Wir­tin wohl zu­frie­den zu stel­len. Das al­les wur­de höf­lich und in gu­tem Ve­ne­zia­nisch vor­ge­tra­gen, so dass Frau Gio­van­na, trotz der spä­ten Zeit, sich nicht be­dach­te, die Tür zu öff­nen. Der An­blick ih­res Gas­tes recht­fer­tig­te ihr Ver­trau­en. Er trug, so­viel sie in der Däm­me­rung se­hen konn­te, die an­stän­di­ge schwar­ze Klei­dung des nie­de­ren Bür­ger­stan­des, einen le­der­nen Man­tel­sack un­ter dem Arm, den Hut be­schei­den in der Hand. Nur sein Ge­sicht be­frem­de­te die Frau. Es war nicht jung, nicht alt, der Bart noch dun­kel­braun, die Stirn fal­ten­los, die Au­gen feu­rig, da­ge­gen der Aus­druck des Mun­des und die Art zu spre­chen müde und über­lebt, und das kurz ge­scho­re­ne Haar in selt­sa­mem Ge­gen­satz zu den noch ju­gend­li­chen Zü­gen völ­lig er­graut.

»Gute Frau«, sag­te er, »ich habe Euch schon im Schla­fe ge­stört, und so­gar viel­leicht ver­ge­bens. Denn, um es gleich zu sa­gen, wenn Ihr kein Zim­mer habt, das auf einen Kanal hin­aus­geht, bin ich nicht Euer Mie­ter. Ich kom­me von Bre­s­cia, mein Arzt hat mir die feuch­te Luft Ve­ne­digs emp­foh­len für mei­ne schwa­che Brust; ich soll überm Was­ser woh­nen.«

»Nun Gott sei Dank!«, sag­te die Wit­we, »so kommt doch ein­mal ei­ner, der un­se­rem Kanal Ehre an­tut. Ich hat­te einen Spa­nier vo­ri­gen Som­mer, der aus­zog, weil er sag­te, das Was­ser habe einen Ge­ruch, als wä­ren Rat­ten und Me­lo­nen dar­in ge­kocht wor­den! Und Euch ist es emp­foh­len wor­den? Wir sa­gen wohl hier in Ve­ne­dig:

Was­ser vom Kanal. Ku­riert ra­di­kal.

Aber es hat einen ei­ge­nen Sinn, Herr, einen bö­sen Sinn, wenn man be­denkt, wie man­ches Mal auf Be­fehl der Obe­ren eine Gon­del mit Drei­en auf die La­gu­nen hin­aus­fuhr und mit Zwei­en wie­der­kam. Da­von nichts mehr, Herr – Gott be­hüt’ uns alle! Aber habt Ihr Eu­ren Pass in Ord­nung? Ich könnt’ Euch sonst nicht auf­neh­men.«

»Ich hab’ ihn schon drei Mal prä­sen­tiert, gute Frau, in Me­stre, bei der Wacht­gon­del drau­ßen und am Traghet­to. Mein Name ist An­drea Del­fin, mein Stand rechts­kun­di­ger Schrei­ber bei den No­ta­ren, als wel­cher ich in Bre­s­cia fun­giert habe. Ich bin ein ru­hi­ger Mensch und habe nie mit der Po­li­zei gern zu schaf­fen ge­habt.«

»Um so bes­ser«, sag­te die Frau, in­dem sie jetzt ih­rem Gas­te vor­an die Trep­pe wie­der hin­auf­stieg. »Bes­ser be­wahrt als be­klagt, ein Aug’ auf die Kat­ze, das an­de­re auf die Pfan­ne, und es ist nütz­li­cher, Furcht zu ha­ben als Scha­den. O, über die Zei­ten, in de­nen wir le­ben, Herr An­drea! Man soll nicht drü­ber nach­den­ken. Den­ken ver­kürzt das Le­ben, aber Kum­mer schließt das Herz auf. Da seht, und sie öff­ne­te ein großes Zim­mer, ist es nicht hübsch hier, nicht wohn­lich? Dort das Bett, mit mei­nen ei­ge­nen Hän­den hab’ ich’s ge­näht, als ich jung war, aber am Mor­gen kennt man nicht den Tag. Und da ist das Fens­ter nach dem Kanal, der nicht breit ist, wie Ihr seht, aber de­sto tiefer, und das an­de­re Fens­ter dort nach der klei­nen Gas­se, das Ihr zu­hal­ten müsst, denn die Fle­der­mäu­se wer­den im­mer dreis­ter. Seht da überm Kanal, fast mit der Hand ab­zu­rei­chen, der Palast der Grä­fin Ami­dei, die blond ist wie das Gold und durch eben­so viel Hän­de geht. Aber hier steh’ ich und schwat­ze, und Ihr habt noch we­der Licht noch Was­ser und wer­det hung­rig sein.«

Der Frem­de hat­te gleich beim Ein­tre­ten das Zim­mer mit ra­schem Blick ge­mus­tert, war von Fens­ter zu Fens­ter ge­gan­gen und warf jetzt sei­nen Man­tel­sack auf einen Ses­sel. »Es ist al­les in der bes­ten Ord­nung«, sag­te er. »Über den Preis wer­den wir uns wohl ei­ni­gen. Bringt mir nur einen Bis­sen und, wenn Ihr ihn habt, einen Trop­fen Wein. Dann will ich schla­fen.«

Es war et­was selt­sam Ge­bie­te­ri­sches in sei­ner Ge­bär­de, so mil­de der Ton sei­ner Wor­te klang. Ei­lig ge­horch­te die Frau und ließ ihn auf kur­ze Zeit al­lein. Nun trat er so­fort wie­der ans Fens­ter, bog sich hin­aus und sah den sehr en­gen Kanal hin­ab, der durch kein Zit­tern sei­ner schwar­zen Flut ver­riet, dass er teil­ha­be an dem Le­ben des großen Mee­res, dem Wel­len­schlag der al­ten Adria. Der Palast ge­gen­über stieg in schwe­rer Mas­se vor ihm auf, alle Fens­ter wa­ren dun­kel, da die Vor­der­sei­te nicht dem Kanal zu­ge­kehrt war; nur eine schma­le Tür öff­ne­te sich un­ten, dicht über dem Was­ser­spie­gel, und eine schwar­ze Gon­del lag an­ge­ket­tet vor der Schwel­le.

Das al­les schi­en den Wün­schen des neu­en An­kömm­lings durch­aus zu ent­spre­chen, nicht min­der auch, dass man ihm durch das an­de­re Fens­ter, das nach der Sack­gas­se ging, nicht ins Zim­mer se­hen konn­te. Denn drü­ben lief eine fens­ter­lo­se Wand ohne an­de­re Un­ter­bre­chung als ei­ni­ge Vor­sprün­ge, Ris­se und Kel­ler­lö­cher hin, und nur den Kat­zen, Mar­dern und Nacht­vö­geln konn­te die­ser düs­te­re Win­kel an­ge­nehm und wohn­lich er­schei­nen.

Ein Licht­strahl aus dem Flur drang ins Ge­mach, die Tür öff­ne­te sich, und mit der Ker­ze in der Hand trat die klei­ne Wit­we wie­der ein, hin­ter ihr die Toch­ter, die in der Eile noch ein­mal hat­te auf­ste­hen müs­sen, um beim Empfang des Gas­tes zu hel­fen. Die Ge­stalt des Mäd­chens war fast noch klei­ner als die der Mut­ter, er­schi­en aber doch durch die höchs­te Zier­lich­keit und kaum ge­reif­te Schlank­heit al­ler For­men grö­ßer und wie auf den Fuß­spit­zen schwe­bend, wäh­rend man auch im Ge­sicht die­sel­be Ähn­lich­keit und den­sel­ben Un­ter­schied, der auf Rech­nung der Jah­re kam, auf den ers­ten Blick er­kann­te. Nur der Aus­druck in bei­den Ge­sich­tern schi­en nie­mals ein­an­der ähn­lich wer­den zu kön­nen. Es war zwi­schen den dich­ten Brau­en der Frau Gio­van­na ein Zug von Span­nung und kum­mer­vol­lem Har­ren, der auch mit den Er­fah­run­gen des Al­ters auf Ma­ri­et­tas kla­rer Stirn nie dau­ernd eine Stät­te fin­den konn­te. Die­se Au­gen muss­ten im­mer la­chen, die­ser Mund im­mer ein we­nig ge­öff­net sein, um je­den Scherz un­ver­züg­lich hin­aus­zu­las­sen. Es war un­end­lich drol­lig zu se­hen, wie jetzt in die­sem Ge­sicht­chen Ver­schla­gen­heit, Über­ra­schung, Neu­gier und Mut­wil­le mit­ein­an­der kämpf­ten. Sie bog beim Ein­tre­ten den Kopf, des­sen lose Flech­ten mit ei­nem schma­len Tuch um­wun­den wa­ren, seit­wärts, um den neu­en Haus­ge­nos­sen zu se­hen. Auch sei­ne erns­te Mie­ne und sein grau­es Haar stimm­ten ihre Mun­ter­keit nicht her­ab. Mut­ter, flüs­ter­te sie, in­dem sie einen großen Tel­ler mit Schin­ken, Brot und fri­schen Fei­gen und eine halb vol­le Fla­sche Wein auf den Tisch stell­te, er hat ein ku­rio­ses Ge­sicht, wie ein neu­es Haus im Win­ter, wenn der Schnee aufs Dach ge­fal­len ist.

»Schweig, du schlim­me Hexe!«, sag­te die Mut­ter rasch. »Wei­ße Haa­re sind falsche Zeu­gen. Er ist krank, musst du wis­sen, und du soll­test Re­spekt ha­ben, denn Krank­hei­ten kom­men zu Pfer­de und ge­hen zu Fuß, und Gott be­hü­te dich und mich, denn die Kran­ken es­sen we­nig, aber die Krank­heit frisst al­les. Hole nur ein we­nig Was­ser, so­viel wir noch ha­ben. Mor­gen müs­sen wir früh auf und neu­es kau­fen. Sieh, er sitzt da, als ob er schlie­fe. Er ist müde von der Rei­se, und du bist müde vom Still­sit­zen. So ist die Welt ver­schie­den.«

Wäh­rend die­ser halb­lau­ten Re­den hat­te der Frem­de am Fens­ter ge­ses­sen und den Kopf in die Hand ge­stützt. Auch als er jetzt auf­sah, schi­en er die Ge­gen­wart des zier­li­chen Mäd­chens, das ihm eine Ver­beu­gung mach­te, kaum zu be­mer­ken.

»Kommt und esst et­was, Herr An­drea«, sag­te die Wit­we. »Wer nicht zu Nacht isst, hun­gert im Traum. Seht, die Fei­gen sind frisch, und der Schin­ken zart, und dies ist Zy­per­wein, wie ihn der Doge nicht bes­ser trinkt. Sein Kel­ler­meis­ter hat ihn uns selbst ver­kauft, eine alte Be­kannt­schaft noch von mei­nem Mann her. Ihr seid ge­reist, Herr. Ist er Euch nicht ein­mal be­geg­net, mein Orso, Orso Da­nie­li?«

»Gute Frau«, sag­te der Frem­de, in­dem er ei­ni­ge Trop­fen Wein ins Glas goss und eine der Fei­gen auf­brach, »ich bin nie über Bre­s­cia hin­aus­ge­kom­men und ken­ne kei­nen die­ses Na­mens.«

Ma­ri­et­ta ver­ließ das Zim­mer, und man hör­te sie, wäh­rend sie die Trep­pe hin­un­ter­flog, ein Lied­chen mit hel­ler Stim­me vor sich hin sin­gen.

»Hört Ihr das Kind?«, frag­te Frau Gio­van­na. »Man hiel­te sie nicht für mei­ne Toch­ter, ob­wohl auch eine schwar­ze Hen­ne ein wei­ßes Ei legt. Im­mer sin­gen und sprin­gen, als wä­ren wir hier nicht in Ve­ne­dig, wo es gut ist, dass die Fi­sche stumm sind, weil sie sonst re­den wür­den, was ei­nem das Haar sträub­te. Aber so war ihr Va­ter auch, Orso Da­nie­li, der ers­te Ar­bei­ter auf Mu­ra­no, wo sie die bun­ten Glä­ser ma­chen, wie nir­gend auf der Welt. Ein fröh­lich Herz macht rote Wan­gen, das war sein Spruch. Und dar­um sag­te er ei­nes Ta­ges zu mir, ›Gio­van­ni­na‹, sag­te er, ›ich hal­t’ es hier nicht aus, die Luft schnürt mir die Keh­le zu, ges­tern erst ist wie­der ei­ner er­dros­selt und mit dem Fuß an den Gal­gen ge­henkt wor­den, weil er freie Re­den ge­führt hat ge­gen die In­qui­si­to­ren3 und den Rat der Zehn4. Man weiß, wo man ge­bo­ren wird, aber nicht, wo man stirbt, und man­cher denkt auf dem Pfer­de zu sit­zen und sitzt auf der Erde. Also, Gio­van­ni­na‹, sag­te er, ›ich will nach Frank­reich, Kunst bringt Gunst, und der Hel­ler läuft dem Bat­zen nach. Mei­ne Sa­che ver­ste­he ich, und wenn ich’s drau­ßen zu was ge­bracht habe, kommst du nach mit un­se­rem Kind.‹ – Das war da­mals acht Jah­re alt, Herr An­drea. Es lach­te, als es der Va­ter zu­letzt küss­te; da lach­te er auch. Ich aber wein­te, da muss­te er wohl mit­wei­nen, ob­wohl er ganz lus­tig weg­fuhr in der Gon­del, ich hör­t’ ihn noch pfei­fen, als er schon um die Ecke war. So ging es ein Jahr. Und was ge­sch­ah? Die Si­gno­ria ließ nach ihm fra­gen; es dür­fe kei­ner von Mu­ra­no sein Ge­werk ins Aus­land tra­gen, da­mit sie es dort ihm nicht ab­sä­hen; ich soll­t’ ihm schrei­ben, dass er wie­der­käme, bei To­dess­tra­fe. Über den Brief lach­te er; aber den Her­ren vom Tri­bu­nal war’s nicht spaß­haft. Ei­nes Mor­gens, da wir noch zu Bett wa­ren, wur­de ich ab­ge­holt, das Kind mit mir, und hin­auf­ge­schleppt un­ter die Blei­dä­cher, und muss­te ihm wie­der schrei­ben, wo ich wäre, ich und un­ser Kind, und dass ich da blei­ben wür­de, bis er sel­ber mich ab­for­der­te in Ve­ne­dig. Nicht lan­ge, so hat­te ich sei­ne Ant­wort, das La­chen sei ihm ver­gan­gen, er wan­de­re dem Brief auf den Fer­sen nach. Nun, ich hoff­te täg­lich, dass er es wahr­ma­chen wer­de. Aber Wo­chen und Mon­de ver­gin­gen, und mir ward im­mer we­her ums Herz und krän­ker im Haupt, denn da dro­ben ist die Höl­le, Herr An­drea, nur dass ich das Kind hat­te, das nichts von dem Jam­mer be­griff, au­ßer dass es schlecht aß und über Tag heiß hat­te; aber den­noch sang es, um mich lus­tig zu ma­chen, dass mich’s vollends an­griff, die Trä­nen zu ver­hal­ten. Erst im drit­ten Mo­nat wur­den wir her­aus­ge­holt, es hieß, der Glas­blä­ser Orso Da­nie­li sei in Mai­land am Fie­ber ge­stor­ben, und wir könn­ten nach Hau­se ge­hen. Ich habe es auch von an­de­ren ge­hört – aber wer das glaubt, kennt die Si­gno­ria nicht. Ge­stor­ben? Stirbt man auch, wenn man Frau und Kind un­ter den Blei­dä­chern sit­zen hat und sie her­aus­ho­len soll?«

»Und was meint Ihr, dass aus Eu­rem Mann ge­wor­den sei?«, frag­te der Frem­de.

Sie sah mit ei­nem Blick ihm ins Ge­sicht, der ihn dar­an ge­mahn­te, dass die arme Frau lan­ge Wo­chen un­ter den Blei­dä­chern ge­lebt hat­te. »Es ist nicht rich­tig«, sag­te sie. »Man­cher lebt und kommt doch nicht wie­der, und man­cher ist tot und kommt doch wie­der. Aber da­von wol­len wir schwei­gen. Ja, wenn ich es Euch sag­te, wer steht mir da­für, dass Ihr nicht hin­geht und es vor dem Tri­bu­nal aus­plau­dert? Ihr seht aus wie ein Galan­tuo­mo; aber wer ist noch recht­schaf­fen heut­zu­ta­ge? Von tau­send ei­ner, von hun­dert kei­ner. Nichts für un­gut, Herr An­drea, aber Ihr wisst wohl, wie es in Ve­ne­dig heißt:

Mit Lug und Lis­ten kommt man aus, Mit List und Lü­gen hält man haus.«

Es ent­stand eine Pau­se. Der Frem­de hat­te längst den Tel­ler weg­ge­scho­ben und der Wit­we ge­spannt zu­ge­hört.

»Ich ver­den­ke es Euch nicht«, sag­te er, »dass Ihr mir Eure Ge­heim­nis­se nicht an­ver­trau­en wollt. Sie ge­hen mich auch nichts an, und zu hel­fen wüsst’ ich Euch oh­ne­dies nicht. Aber wie kommt es, Frau, dass Ihr die­ses Tri­bu­nal, un­ter dem Ihr so viel ge­lit­ten, den­noch Euch ge­fal­len las­set, Ihr und al­les Volk in Ve­ne­dig? Denn ich weiß zwar we­nig, wie es hier aus­sieht – ich habe mich nie in po­li­ti­sche Fra­gen ver­tieft – aber so viel habe ich doch ge­hört, dass erst im vo­ri­gen Jahr hier ein Tu­mult war, um das heim­li­che Tri­bu­nal ab­zu­schaf­fen, dass ei­ner vom Adel selbst da­ge­gen auf­trat und der Gro­ße Rat eine Kom­mis­si­on wähl­te, die Sa­che zu be­den­ken, und al­les in Be­we­gung ge­riet für und wi­der. Ich hör­te da­von so­gar in mei­ner Schreib­stu­be zu Bre­s­cia. Und als end­lich al­les beim al­ten blieb und die Macht des heim­li­chen Ge­richts fes­ter ge­grün­det stand als je, warum zün­de­te da das Volk Freu­den­feu­er an auf den Plät­zen und ver­höhn­te die vom Adel, die ge­gen das Tri­bu­nal ge­stimmt hat­ten und nun sei­ne Ra­che fürch­ten muss­ten? Wa­rum war nie­mand, der es hin­der­te, dass die In­qui­si­to­ren ih­ren küh­nen Feind nach Ve­ro­na ver­bann­ten? Und wer weiß, ob sie ihn dort am Le­ben las­sen, oder ob die Dol­che schon ge­schlif­fen sind, die ihn für im­mer stumm ma­chen sol­len? Ich – wie ge­sagt – weiß nur we­nig hier­von; ich ken­ne auch je­nen Mann nicht, und es ist mir al­les sehr gleich­gül­tig, was hier ge­schieht, denn ich bin krank und wer­de es in die­ser bun­ten Welt oh­ne­hin nicht mehr lan­ge trei­ben. Aber es wun­dert mich doch, die­ses wan­kel­mü­ti­ge Volk zu se­hen, das heu­te die­se drei Män­ner sei­ne Ty­ran­nen nennt und mor­gen frohlockt, wenn die un­ter­ge­hen, wel­che der Ty­ran­nei ein Ende ma­chen woll­ten.«