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Gelangweilt von ihrem Alltagsleben, lässt sich die 31-jährige Elisa auf ein erotisches Abenteuer mit ihrem Ex-Liebhaber ein. Per Auto reisen sie nach Frankreich. In dem kleinen Küstendorf Vielle-Saint-Girons begegnen sie Maylène. Die geheimnisvolle junge Frau führt ein Restaurant, das sie von ihrem kranken Onkel Antoine übernommen hat. Von ihm stammt auch ein seltsames blaues Elixier, das eine bemerkenswerte bewusstseinserweiternde Wirkung besitzt. Zu ihrem 30. Geburtstag lädt Maylène neben einer Freundin auch das deutsche Liebespaar ein. Die folgende Nacht entwickelt sich für das Quartett zu einem betörenden Extrakt aus Genuss, Albtraum und einer kafkaesken Sinnesflut, bei der Dalis Werk "Die brennende Giraffe" eine tragende Rolle spielt. Spätestens am Tag danach wird klar, warum Antoine kurz vor seinem Tod an Maylène appelliert hatte, sie möge niemals Gott spielen.
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Seitenzahl: 267
Veröffentlichungsjahr: 2021
Das Buch:
Gelangweilt von ihrem Alltagsleben, lässt sich die 31-jährige Elisa auf ein erotisches Abenteuer mit ihrem Ex-Liebhaber ein. Per Auto reisen sie nach Frankreich. In dem kleinen Küstendorf Vielle-Saint-Girons begegnen sie Maylène. Die geheimnisvolle junge Frau führt ein Restaurant, das sie von ihrem kranken Onkel Antoine übernommen hat. Von ihm stammt auch ein seltsames blaues Elixier, das eine bemerkenswerte bewusstseinserweiternde Wirkung besitzt. Zu ihrem 30. Geburtstag lädt Maylène neben einer Freundin auch das deutsche Liebespaar ein. Die folgende Nacht entwickelt sich für das Quartett zu einem betörenden Extrakt aus Genuss, Albtraum und einer kafkaesken Sinnesflut, bei der Dalis Werk „Die brennende Giraffe“ eine tragende Rolle spielt. Spätestens am Tag danach wird klar, warum Antoine kurz vor seinem Tod an Maylène appelliert hatte, sie möge niemals Gott spielen.
Achim Goldenstein
Anfang Oktober
Elisa und die brennende Giraffe
Impressum:
© 2021 Achim Goldenstein
Neuauflage des Romans „Die brennende Giraffe“
Covergestaltung: Achim Goldenstein
Verlag und Druck:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
ISBN
Paperback:
978-3-347-38058-5
e-Book:
978-3-347-38060-8
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Für Konrad Lang
Kapitel 1 - Schweißperlen
Aus dem Fenster im ersten Stock des herrschaftlichen Anwesens an der Rue des Chênes ziehen grauweiße Rauchschwaden hinaus in die milde Frühjahrsnacht. Der Himmel ist sternenklar. Am Schlafzimmerfenster steht ein Mann und raucht. Er ist groß und von kräftiger Statur. Sein schütteres Haar ist sorgsam nach hinten gekämmt. Auf seiner Stirn haben sich Schweißtropfen gebildet. Ihm ist heiß, seine Haut glüht. Deshalb hat er das Fenster weit aufgerissen, nicht der Zigarette wegen. Soll seine Frau doch meckern.
Die Plumeaus des Ehebettes sind nach hinten geschlagen. Vier Kissen liegen aufgereiht nebeneinander.
Der Mann trägt einen hellblau gestreiften Pyjama aus feinstem Baumwollsatin. Die Paspeln am Reverskragen und an den Armabschlüssen bilden einen stilvollen Kontrast. Auf der Fensterbank liegt ein ledernes Zigarettenetui. Mit der freien Hand fängt der Mann eine Motte, die, angelockt vom Licht der Pendelleuchte unter der hohen Zimmerdecke, in den Raum flattern will. Er zerquetscht den Nachtfalter zwischen den Fingern und reibt die klebrigen Reste auf die Fensterbank. Dabei stößt er gegen das Zigarettenetui, das auf den Holzfußboden fällt. Im gleichen Augenblick ertönt das Mitternachtsläuten der unweiten Kirche und kündigt einen neuen Tag an – den 04. Mai des Jahres 2015.
Im fahlen Licht betrachtet der Mann seine verschmierten Finger und riecht daran. Er rümpft die Nase. Sein Blick fällt auf das Zigarettenetui. Er hebt es auf. Seine Frau hat es ihm zu irgendeinem Weihnachtsfest geschenkt. Es graust ihn, nur daran zu denken. Er hasst Weihnachten. Das süßliche Gesülze vom Jesuskindlein in der Krippe geht ihm ebenso auf die Nerven wie das ewige Gedudel von Weihnachtsmusik. Egal wie die Stimmung ist, man muss immer auf Friede und Freude machen. Weihnachten ist was für Schwächlinge. Er schnipst die Zigarette hinaus in den Garten. Der Stummel fällt in Richtung der umgestoßenen Gartenmöbel und der in tausend Teile zerbrochenen Skulpturen auf der Terrasse. Die Skulpturen waren stumme Zeugen seines letzten Wutanfalls, bevor er sie eine nach der anderen zertrümmerte. Seine Gedanken vermischen sich mit dem Gebimmel der Kirchenglocken. Abreißen sollte man das alte Gemäuer. Er sieht seine Frau vor sich, wie sie ihre Hände schützend vors Gesicht hält, als er zulangt. Er hört ihr Geschrei, das verstummt, als er ein weiteres Mal zuschlägt. Diesmal mit der geballten Faust. Sie will es ja nicht anders. Was bildet sie sich auch ein, ihn auf dem langweiligen Fest bloßzustellen? Er sieht das hinabtropfende Blut ihrer aufgeplatzten Lippe und wie es Flecken auf dem marmorierten Boden hinterlässt. Irgendwann fällt sie um. Sie verschmiert mit ihrem nuttigen Kleid das Blut auf dem Boden, als er ihr den ersten Tritt verpasst und sich ihr Körper krümmt. Er sieht den hilflosen Ausdruck ihrer Augen, wie schon so oft, als das Gewebe um ihre Augenhöhlen rot und blau anschwillt. Er erinnert sich an das unterdrückte Wimmern seiner beiden Jungs, die durch das Küchenfenster lauern, und wie sie die Treppe hinaufschleichen, um sich in ihren Zimmern zu verstecken. Sollen sie ruhig sehen, dass der Mann der Herr im Hause ist. Das wird sie nur härter machen. Seine bornierte Frau hat die Burschen schon viel zu lang verwöhnt und verweichlichen lassen. Allein dafür sollte er ihr eine weitere Tracht Prügel verpassen. Er ballt die Finger zur Faust, bevor er sich mit dem Handrücken die Schweißperlen von der Stirn wischt. Seinen Körper durchzieht wieder eine hitzige Welle, und ihm bricht der Schweiß nun auch auf dem Oberkörper und an den Händen aus.
Er betrachtet seinen nagelneuen Maßanzug, der zerknüllt neben der kunstvoll gearbeiteten Kommode auf dem Boden liegt. Das Möbelstück würde er am liebsten aus dem Fenster werfen, doch seine Frau hält daran fest. Es sei ein Erbstück. Das Jackett hat er während des Abendessens im Lokal der deutschen Schlampe mit fettiger Sauce bekleckert. Schade um das gute Stück. Sie sind erst gut dreißig Minuten zurück, und seitdem steckt seine Frau im Bad und zupft und macht an sich rum. Sie soll sich bloß nicht so anstellen. Er und blickt hinüber zur Tür des Bades, die nur einen Spaltbreit geöffnet ist. Gerade weit genug, um zu erkennen, wie seine Gattin vor dem großen ovalen Spiegel steht, der über dem Waschtisch prangt. Er hört, wie das Wasser unentwegt läuft und ärgert sich über diese Angewohnheit jedes Mal aufs Neue. Hätte sie sich nicht mit der Schlampe eingelassen und ihn blamiert, müsste sie nun nicht ihre Blessuren pflegen und ewig das Bad blockieren. Ihm kommen die Leute aus dem Restaurant in den Sinn und wie alle nach seiner Frau gafften, die wieder eine ihrer bescheuerten Sonnenbrillen trug. Sollen sie sich doch um ihren Scheiß kümmern. Aber das Essen war verdammt gut. Kochen kann das Flittchen, das muss man ihr lassen. Der Schmortopf war besser als der, den seine Mutter zubereitet. Das will schon was heißen. Besonders gut waren die Cannéles mit Vanillegeschmack. Eigentlich steht er sonst nicht auf diesen Süßkram. Er hatte geplant, seine Frau nach dem Essen noch ordentlich ranzunehmen. Insbesondere jetzt beschleicht ihn die Geilheit, wo sie einen Fuß auf den Waschtisch gestellt hat, und ihr hübscher Arsch richtig zur Geltung kommt. Er will sich gerade in den Schritt greifen, da schießt ihm erneut die Hitze durch jede Faser. Er rätselt, ob er krank wird, oder ob mit dem Essen etwas nicht in Ordnung war. In diesem Zustand wird er garantiert keinen hochkriegen. Er bekommt Durst und verlässt das Schlafzimmer, um hinunter in die Küche zu gehen. Im Flur fällt ihm auf, dass an der rechten der beiden Kinderzimmertüren neuerdings ein Aufkleber heftet. Sein Sichtfeld ist eingetrübt. Es will ihm nicht gelingen, das Comicmotiv auf dem Aufkleber zu erkennen.
Und so sieht der Mann auch nicht den seltsamen, blau anmutenden Glanz, den seine Pupillen versprühen, als er am großen Wandspiegel vorbeischlurft. Am Treppengeländer muss er sich abstützen, weil sein linkes Bein lahmt. Seine Hände zittern. Mühevoll steigt er die Edelholztreppe hinab. Als er nur noch vier Stufen bis nach unten braucht, wird die Hitze unerträglich und zerfetzt ihm jede Faser im Leib. Er will schreien und reißt den Mund auf. Es gelingt ihm nicht, einen einzigen Ton herauszubringen. Er verliert das Bewusstsein und stürzt mit dumpfem Gepolter die restlichen Stufen hinab. Regungslos liegt er im Foyer auf der kleinen, handgeknüpften Matte vor dem Treppenaufgang. Durch die offenen Türen dringt das leise Rauschen des laufenden Wassers im Bad.
Kapitel 2 - Koordinaten
Über die zu oft gesehene Kommissarin im sonntäglichen Prime-Time-Krimi der Arbeitsgemeinschaft der öffentlich-rechtlichen Rundfunkanstalten der Bundesrepublik Deutschland hätte sich Elisa für gewöhnlich furchtbar echauffiert. Sie kann die herablassende Art zu Ermitteln noch weniger leiden als die arrogante Schauspielerin selbst. An diesem Abend aber wird ihre Abneigung überflügelt von Gleichgültigkeit. Gedankenverloren steht Elisa am Fenster und sieht hinunter auf die regennasse Straße. Ihr Blick folgt den an der Fensterscheibe hinabrinnenden Regentropfen. Die Wasserperlen brechen das Licht der flackernden Neonreklame an der Häuserfront der anderen Straßenseite und streuen es. Hunderte kleiner Lichtstrahlen spiegeln sich in Elisas Augen.
Ihre Wohnung liegt im zweiten Stock eines Mehrparteienhauses mit rot verklinkerter Fassade. Im Erdgeschoss befindet sich eine Bankfiliale. Die Namen der Menschen in der Etage oberhalb ihrer Wohnung kennt sie nicht, nicht einmal von den Briefkästen im Hausflur. Die Nachbarn in derselben Etage haben einen nervtötenden Hund, und Elisa siezt das ältere Ehepaar auch nach sieben Jahren noch. Und erst heute fällt ihr auf, dass die Werbetafel ein blaues Licht wirft.
Das Getöse eines anfahrenden Lastwagens lässt die Decken und die Wände vibrieren und reißt sie aus ihrer Lethargie. Sie nimmt die Fernbedienung vom Wohnzimmertisch, die zwischen Weinglas und einer Schale mit Kräckern liegt. Als sie das Programm umschaltet, informiert sie ein Mittfünfziger mit Dialekt darüber, dass die Wettervorhersage für den morgigen 26. September keine einzige Sonnenstunde verspricht. Elisa bringt den Fernseher zum Verstummen und lässt die Fernbedienung auf den Boden fallen. Sie lümmelt sich auf das Sofa und hebt die Beine, die sie hoch über die Lehne ausstreckt. Mit ihren nackten Füßen ertastet sie die kalte Wand, die sie vor Monaten hat streichen lassen. Das blasse Grün hat eine Freundin ausgewählt, der sich Elisa in Sachen Renovierung anvertraut hat. Eigentlich hätte an dieser Stelle längst ein Bild hängen sollen. Die kryptische Fotografie einer Metropolenskyline soll dem Raum Glanz und ihren Träumen Aufwind verleihen, doch das Kunstwerk liegt seit längerer Zeit zusammen mit angebrochenen Farbeimern und Teppichresten im unaufgeräumten Wirtschaftsraum - allein wegen des simplen Fehlens eines handelsüblichen Nagels. Einmal mehr nimmt sich Elisa vor, gleich morgen eine Packung Nägel zu kaufen.
Hin- und hergerissen zermartert sich Elisa den Kopf, wie sie sich entscheiden soll. Sie schwenkt das Glas und betrachtet den Riesling vom St. Urbans-Hof, als könnte ihr der edle Wein die Entscheidung abnehmen.
Am darauffolgenden Morgen fährt Elisa mehr aufgekratzt als aufgewühlt ins Büro. Sie hat trotz nur weniger Stunden Schlaf auffallend gute Laune. Dieser Umstand fällt, wie auch alle anderen Umstände, allerdings keinem ihrer Kollegen auf. Sie ist schon zufrieden, wenn jemand den Kopf hebt und einen Guten Morgen wünscht.
Sie begibt sich an ihren Arbeitsplatz, startet den Rechner und schreibt eine E-Mail an die Personalabteilung, in der sie für die kommende Woche aus familiären Gründen Urlaub anmeldet. Dann kramt sie einen braunen Umschlag hervor, der eine rätselhafte Einladung enthält. Elisa ist weniger über deren Inhalt erstaunt als darüber, dass er nicht per Post zugestellt wurde. Der Umschlag lag vor ein paar Tagen plötzlich auf ihrem Schreibtisch. Seitdem ringt sie tagein, tagaus mit der Frage, ob sie es tun oder bleiben lassen soll. Das Kuvert beinhaltet eine handgeschriebene Karte. Absenderangaben sind nicht zu finden, doch die Handschrift verrät Elisa den Verfasser. Säuberlich untereinander steht:
N 53 17.617 E 007 13.787
2 Stunden vor dem nächsten Neumond
Hab 168 Stunden im Gepäck
Als sie gestern Abend die Weinflasche leer getrunken hatte, war ihr Entschluss gefasst, ihn wiedersehen zu wollen. Sie sehnt den Tag herbei, auf die idyllische Plattform einer verlassenen Bohrinsel unmittelbar hinter dem Nordseedeich zurückzukehren. Dabei wird es nicht Tag sein, sondern Nacht. Will sie pünktlich zum genannten Zeitpunkt erscheinen, wird sie um etwa anderthalb Stunden nach Mitternacht den Treffpunkt erreichen müssen.
*
Der große schwarze Hund kneift die Augen zusammen, als ihn eine neuerliche Böe des zunehmenden Nordwestwindes mit feinkörnigem Sand piesackt. Aus der Ruhe kann es ihn nicht bringen. Stoisch liegt er seit Stunden auf den ausgetretenen Holzbohlen vor der leer geräumten Terrasse des Restaurants, dessen blaue Fensterläden allesamt geschlossen sind. Träge beobachtet das Tier die beiden Arbeiter des örtlichen Bauhofes, wie sie das urige und sehenswerte Strandareal winterfest machen. Tische, Bänke, Markisen, Papierkörbe, Informationstafeln, Holzdekorationen und jedes andere Utensil, das den kommenden Herbst- und Winterstürmen Angriffsfläche bietet, werden auf einem LKW verstaut oder in die Innenräume der wenigen Gebäude gebracht. Noch vor Zweiwochenfrist war die Mehrzahl der Plätze des Le Bleu Dans L’oeil Nord von einer Vielzahl Erholung suchender Badegäste belegt. Insbesondere an den Wochenenden des warmen Spätsommers gab es an den blau gefärbten Holztischen und den schwarz lackierten Bänken kaum einen Platz zu erhaschen. Nicht nur bei Touristen und Einheimischen, sondern weit über die Region hinaus, ist die Gaststätte besonders für den geräucherten Adour-Wildlachs bekannt, der mit einer hausgemachten Sauce Choron serviert wird. Das Geheimnis der Sauce liegt in einer zusätzlichen Prise Chili und weniger Tomatenmark. Das Restaurant bezieht die seltene Fischdelikatesse seit jeher von Familie Barthouil, deren Rezept das zwanzigstündige Räuchern in Erlenholz ein offenes Geheimnis im gesamten Departement ist.
Das beschauliche Lokal ist leicht auszumachen. Auf dem Weg zum Strand ist es das letzte und obendrein einzige Gebäude in der spärlichen Häuserreihe mit einer weiß gestrichenen Holzbalustrade. Deren kleine, keinen Meter hohe Säulen verleihen dem Restaurant etwas Würdevolles und heben es ab von den Nachbarhäusern, zumeist Pensionen und Souvenirläden. Im Obergeschoss ist während der Saison ein Hotelbetrieb untergebracht. Die wenigen, individuell eingerichteten Zimmer verfügen über einen seitlichen Meerblick. Nun sind sie, wie das darunterliegende Restaurant, für die Winterpause eingepackt. Die Betten sind abgezogen, Wasser und Heizung wurden abgestellt. Erst nach dem Osterfest im kommenden Jahr wird den Dingen neues Leben eingehaucht werden. Der lang andauernde und sonnenreiche Sommer bescherte bis in die zweite Septemberhälfte hinein viele Gäste. Der traditionelle Saisonabschluss zum Erntedanktag, dem „jour d'action de gârce“, fiel allerdings ins sprichwörtliche Wasser des unaufhörlichen Regens. Seither hat ein ungemütlicher und ungewohnt kühler Herbst Einzug gehalten.
Dem Hotelbetrieb zugehörig sind außerdem vier der etwa zwanzig kleinen, am Strand gelegenen Backsteinbungalows. Diese sind nur mit dem Nötigsten ausstaffiert. Dass sie derart spartanisch ausgestattet sind, macht sie so exklusiv. Sie verfügen zwar über Fließendwasser, allerdings gibt es weder Strom noch Heizung. Letztere ist in der Hauptsaison von Juli bis Anfang September ohnehin weniger vonnöten. Lediglich auf gusseisernen Holzöfen lassen sich bei Bedarf Wasser erhitzen oder Essen erwärmen. Trotzdem sind die Bungalows nicht nur bei genügsamen und anspruchslosen Gästen, meist Alternative und Individualisten, überaus beliebt. Auch ein gut hundertfünfzig Meter entferntes, abseits gelegenes Blockhäuschen gehört dazu. An der Front ist ein Schild aus mit Muscheln gefertigten Buchstaben angebracht. Darauf steht der Name Nénuphar. Über Elektrizität verfügt es ebenfalls nicht. Dafür ist es, den Zimmern in der Hoteletage gleich, ausgestattet mit Bademänteln, Handtüchern und Toilettenartikeln. Sogar über eine holzofenbeheizte kleine Sauna verfügt es an der Außenseite. Eine weitere Annehmlichkeit ist ein mit Büchern prall gefülltes Regal.
Bevor die Bungalows vor vielen Jahren gefliest, isoliert, vertäfelt und zu kleinen Ferienappartements umgebaut wurden, fungierten sie als Geräteschuppen und Remisen, in denen die Fischer ihre Netze, Seile, Segel, Reusen und anderen Fischereibedarf den Winter über lagerten. Die nah an der wüsten Brandung des Ozeans gelegenen Häuschen werden regelmäßig bereits vierzehn Tage vor Saisonschluss nicht mehr vermietet und für die kühlere Jahreszeit vor Wind und Wellen gesichert. Einzig das kleine Blockhäuschen bleibt für dessen Besitzerin auch den Winter über zugänglich.
*
Trotz der schmalen Schutzbrille, die Elisa trägt, blendet das grelle ultraviolette Licht der Solarium-Glasröhren. Ihr Pupillenreflex kann den Lichteintritt nicht vollständig verhindern. Sie muss es in Kauf nehmen, ist sie doch der Meinung, die viele Zeit im Büro und die wenige in der Sonne hätte ihre Sommerbräune zu sehr ausgeblasst. Sie möchte vital und lebendig daherkommen, wenn sie ihm begegnet. Deshalb wird sie gleich nach Büroschluss ihren Friseur aufsuchen, um die Spitzen schneiden und den Ansatz blondieren zu lassen. Im Anschluss hat sie einen Termin zur Maniküre vereinbart.
Die linke Hand legt sie zum Schutz über ihre Augen. Vier Finger der Rechten und ein abgespreizter Daumen behüten, weniger zum Schutz, dafür mehr zum Selbstgefallen, ihre Scham, die, wie sie mit Daumen und Handballen ertastet, eine Rasur nötig hätte. Im Takt zum gleichmäßigen Gesumme des Ventilators des Belüftungsgebläses bewegen sich Mittel- und Zeigefinger ihrer Hand zunächst behände zwischen den äußeren, bevor sie geübt die inneren Schamlippen teilen. Dort verteilen die Fingerkuppen den feuchten Ertrag ihrer Erregung flink und wendig. Besonders über ihre Klitoris. Zwischendurch lässt sie immer wieder Finger um Finger in den heißen und schlüpfrigen Schoß eintauchen. Elisas Atem wird schneller, und als sie zum Höhepunkt kommt, streckt sie die Beine von sich, spannt die Bauchmuskulatur an und unterdrückt einen Aufschrei.
Als ihre Atmung die Regelmäßigkeit zurückerlangt, meint sie, im Summen des Gebläses eine vertraute Melodie wahrzunehmen.
Während die künstlichen Sonnenstrahlen Elisas Muskulatur der Iris unablässig kontrahieren, überlegt sie, welche Dispositionen sowohl privater als auch dienstlicher Natur sie für die kommenden Tage verlegen oder absagen muss, bis schließlich die fünfzehn Minuten Bestrahlungszeit zu Ende gehen und sich die Röhren der Sonnenbank schlagartig abschalten.
Elisa ist nicht wenig darüber erstaunt, mit welcher Kaltschnäuzigkeit und Abgebrühtheit ihr die Absagen und das Verlegen ihrer Termine am nächsten Vormittag von der Hand gehen. Es gelingt ihr, sich den Freitag gänzlich frei zu halten.
Diese zeitliche Opulenz nutzt Elisa, um auszuschlafen und ausgedehnt zu frühstücken. Auf dem ausladenden Rattanstuhl am Küchentisch hockt sie in ihrem seidenen weißen Lieblingsnachthemd und kleckert mit der zu voll geschütteten Tasse Kaffee, doch es stört sie nicht. Wenn sich Elisa kostbare Zeit für ein ausgiebiges Frühstück genehmigt, gehören neben dem Kaffee ein Glas Orangensaft, Toast, Honig und ein gekochtes Ei zu den obligaten Standards. Es ist beinah Mittag, als sie sich aufrafft und Ordnung schafft. Sie lässt Badewasser ein, dreht den Regler des Handtuchheizkörpers auf die höchste Stufe und drapiert darauf zwei Frottiertücher. Elisa liebt es, sich nach dem Ausstieg aus der Wanne unvermittelt in ein warmes Tuch zu hüllen.
*
„Filou, allez!“, schallt es begleitet von einem lauten Pfeifton durch die verwaiste Strandgasse. Der große schwarze Hund spitzt die Ohren, bevor er sich mühsam aufrappelt, um Maylène träge entgegenzutapsen. Mit ihrem roten Fahrrad hat sie sich gegen den kräftigen Seewind die knapp fünf Kilometer lange Wegstrecke vom Dorf zum Strand gekämpft. Nun streicht sie dem alten Hund über das struppige Fell seines breiten Kopfes. Noch vor einem Jahr hätte Filou sie überschwänglich und freudig bellend in Empfang genommen. Es sind nicht nur die Jahre, die an ihm nagen. Aus den großen Hundeaugen spricht Traurigkeit. Maylène befürchtet das Schlimmste und wähnt, dass er den nächsten Sommer nicht mehr erlebt.
Filou war, und eigentlich ist er es immer noch, der treue Gefährte ihres Onkels Antoine, dem Gründer und ehemaligen Betreiber des Le Bleu Dans L’oeil Nord. Nachdem das regionale Sägewerk zahlungsunfähig und der junge Antoine arbeitslos geworden waren, hatte er in den frühen Siebzigerjahren begonnen, seinen Lebensunterhalt mit einer kleinen Snackbar zu verdienen. Er mietete in einem leer stehenden, am Strand gelegenen Haus eine kleine Fläche, die gerade genug Platz bot für eine winzige Küche und einen Tresen. Der Verkauf fand zur Straßenseite statt. Den Kunden wurden die kleinen Speisen auf Pappschalen in die Hand gereicht. Sitzgelegenheiten gab es anfangs keine, lediglich ein paar Stehtische, aufgestellt auf dem Trottoir, wurden vom Touristikamt geduldet. Schnell spezialisierte Antoine sein Geschäft auf vorwiegend Fischgerichte und Produkte der regionalen Küche. Binnen kurzer Zeit stieg die Snackbar zum Restaurant und das Restaurant zum Geheimtipp auf. Der Erfolg und Antoines lebensbejahender Mut ermöglichten alsbald den Erwerb des Gebäudes, in dem das Lokal untergebracht war. In unmittelbarer Strandnähe gelegen versprach es Zulauf und Rentabilität. Das jahrzehntelang nur als Lager genutzte Dachgeschoss des Hauses wurde einzig auf Drängen von Maylène zu einem Hotelbetrieb ausgebaut. Dies geschah im Jahr 2012 – und nur mit wohlwollender Unterstützung der örtlichen Crédit Lyonnais. Deren knorriger Filialleiter hatte an einem der Stehtische vor dem damals noch in den Kinderschuhen steckenden Le Bleu Dans L’oeil Nord seiner schwergewichtigen Liebsten einen Antrag gemacht. Nicht allein deren Jawort, auch die köstlichen und immer frischen Butter-Madeleines machten es fortan zum Stammlokal der Eheleute.
Vierundzwanzig Monate vor Beginn des Ausbaues war Maylène aus dem Norden Deutschlands hierhergekommen. Geplant war ihr Aufenthalt einzig für einen Sommer. Sie hatte in Lübeck nicht nur ihr Psychologie-Studium kurz vor dem Abschluss abgebrochen, sondern auch all ihre Zelte. Beweggrund dafür lieferte ihr Partner. Es missfiel Maylène nicht im Geringsten, dass er mehr Freiraum für sich beanspruchte. Dass er diesen einzig ihrer besten Freundin widmete, tolerierte sie keine Minute, als sie dahinterkam.
*
Aus ihren frisch gewaschenen blonden Haaren hat Elisa eine dezente Hochsteckfrisur geformt. Sie legt Wäsche, Kleidung, Schuhwerk und Kulturbeutel bereit. Auch den Tablet-PC und eine Schreibmappe fügt sie hinzu. Damit bestückt Elisa eine in die Jahre gekommene, lederne Reisetasche. Das stilvolle und gut erhaltene Accessoire hat sie vor etwa einem Jahr in einem maritimen Antiquitätengeschäft anlässlich eines Ausfluges an die Ostsee erworben. Es gab damals wie heute niemanden an ihrer Seite, dem sie für Anschaffungen dieser Art womöglich Rechenschaft hätte ablegen müssen.
Die Tasche deponiert sie auf der schmalen Rückbank ihres Wagens. Darüber legt sie den nagelneuen roten Dufflecoat mit windundurchlässigem Innenfutter, Schulterkoller, fest angebrachter Kapuze, taillierter Passform und schwarzen Knebelknöpfen aus gewachstem Horn. Den sündhaften Kaufpreis hat sie beim nachmittäglichen Bummel in der Innenstadt als nebensächlich betrachtet. Hauptsächlich war allein die Tatsache, dass ihr der Mantel besonders und auf Anhieb gefiel. Elisa hält an ihrem Leitgedanken, dass erlesene Anlässe nach angemessenen Investitionen verlangen, ein ums andere Mal zu starr fest. Bereut hat sie es allerdings noch nie.
Auf den verkrümelten Beifahrersitz legt sie eine Wasserflasche und etwas Proviant. Sie programmiert die Navigation ihres Smartphones. Es ist nach Mitternacht, als sie den Motor startet und den Parkplatz im Innenhof verlässt. Bevor sie auf die Straße fahren kann, muss sie einen Moment lang warten, denn zwei zankende Katzen hocken sich angestrengt begutachtend mitten auf der Ausfahrt. Sie blickt hinauf zu der blau leuchtenden Reklametafel, von der sie sich in Ermangelung eines menschlichen Geschöpfes grußlos verabschiedet. Ihr Herz wummert, und noch immer ist sich Elisa ihres Handelns nicht sicher. Notfalls kann sie schließlich noch kehrt machen. Sie steuert ihren Wagen in Richtung Autobahn. An der Anschlussstelle fährt Elisa gen Norden in die dunkle Nacht hinein. Über die Autolautsprecher begleitet sie einmal mehr Xavier Rudds phänomenales „Follow the sun“.
Kapitel 3 - Süße Spezialität
Zu Anfang hatte Maylène im Lokal ihres Onkels in der Küche und im Service geholfen und einfache Arbeiten erledigt. Sie spülte Geschirr, schälte Kartoffeln, gab Bestellungen auf, erledigte Besorgungen, polierte Gläser. Mehr und mehr jedoch fand sie Gefallen am Kochen. Und sie entdeckte ihr Talent. Die Kreation der wechselnden Tagesmenüs wurde Maylène alsbald übertragen. Ihr Onkel lehrte sie die Standards der Speisenzubereitung und weihte sie in die mystischen und raffinierten Rezepturen ebenso ein wie in die Geheimnisse der richtigen Würze. Er paukte ihr Verständnis dafür ein, eine schwere gusseiserne Pfanne stets einer modernen Edelstahlvariante vorzuziehen. Er instruierte sie, ausschließlich mit scharf geschliffenen Messern Kräuter zu hacken. Und er maßregelte sie, als sie sich anschickte, eine Bouillon in antihaftbeschichtetem Geschirr und nicht etwa im Kupfertopf kochen zu wollen. Nie konnte er indessen ganz verheimlichen, dass er sie um ihre vom Himmel verliehene Begabung insgeheim beneidete.
Antoine unterrichtete sie mit Eifer und Hingabe bis zu einem nebeligen Tag im April, als Maylène früh morgens mit Filou von einem Strandspaziergang zurückgekehrt war. Sie hatte Sand von ihren gelben Gummistiefeln geklopft und ihren mit markanten schwarzen Hornknebelknöpfen versehenen roten Düffelmantel an die Garderobe gehängt. Mit dem edlen Kleidungsstück, das zu leisten Maylène sich selbst nicht im Stande sah, war sie anlässlich des letzten Weihnachtsfestes von Antoine bedacht worden. Sie goss für den durstigen Hund frisches Wasser in dessen Schale und hielt Ausschau nach ihrem Onkel. Sie fand Antoine schließlich auf dem Boden des Warenlagers liegend im hinteren Teil der Küche. Unförmig und seltsam krumm waren die Arme und Beine unter seinem Körper verrenkt. Er regte sich nicht, doch er atmete.
Wochenlang lag Antoine auf der neurologischen Station des Bezirkshospitals. Zunächst hatten die behandelnden Ärzte noch Hoffnung gehabt, doch nach einem nächtlichen Rückschlag verschlechterte sich sein Zustand körperlich wie geistig zusehends. Er redete wirr und zusammenhanglos. Seine Stimme war kaum zu verstehen. Er beschimpfte das Pflegepersonal, sprach Maylène nicht nur einmal mit Célestine, dem Namen seiner Jugendliebe, an und plauderte eifrig von Gewürzen und Pflanzen, deren Namen sie nie zuvor gehört hatte und deren Existenz sie anzweifelte. Maylène hörte ihm trotzdem bei jedem ihrer Besuche aufmerksam und geduldig zu. Bei einem ihrer Aufenthalte an seinem Krankenbett sprach Antoine von einer außergewöhnlich bemalten Schatulle, die sich angeblich in einer alten Truhe befände. Er fantasierte von Feuer und davon, dass Dinge brennen müssen. Irgendetwas, das Maylène nicht verstand und auch nicht verstehen wollte, brächte Unheil. Fester als üblich drückte er an jenem Tag Maylènes Hand. „Ne jamais jouer à Dieu, mon enfant. Jamais!“, sagte er mit gequälter und heiserer Stimme.
Als am nächsten Tag das Telefon im Restaurant klingelte, offenbarten ihr die Ärzte, sie würden Antoine ob des Mangels einer positiven Prognose in ein Pflegeheim überstellen.
Von den Folgen des Hirninfarktes erholte sich Antoine nicht wieder. Bettlägerig und zunehmend geistesabwesend bewohnt Maylènes Onkel seither eine städtische Pflegeanstalt in einem benachbarten Arrondissement. Dort vegetiert er mehr als dass er lebt. Maylène vermisst seine Kauzigkeit und sein schrulliges Benehmen. An jedem ersten Sonntag im Monat, und manchmal auch unter der Woche, besucht ihn Maylène. Zu jedem Besuch bringt sie Antoine kleine Geschenke mit, und jedes Mal zermürbt sie sich den Kopf darüber, ob sie es ihrem Onkel gegenüber aus Freundlichkeit macht oder um sich selbst gut leiden zu können. Heute hat Maylène einmal mehr kandierte Pruneaux d'Agen im Gepäck. Die süße Spezialität hatte Antoine am liebsten nach einem deftigen Essen genascht. Er hatte die gezuckerten Pflaumen jedem noch so aufwendigen Dessert vorgezogen und sie stets gierig verschlungen. Heute muss man Antoine die Früchte einzeln zum Mund führen, und selbst das Kauen bereitet ihm große Mühe. Maylène hat den Verdacht, die meisten der Pflaumen wandern in die Münder der Schwestern des Pflegeheimes, sobald sie wieder den Heimweg angetreten hat.
Stets kehrt sie betrübt von ihren Besuchen zurück. Ihre Miene trübt sich noch mehr ein, wenn sie Filou auf dessen Stammplatz vor dem Lokal, unverdrossen auf sein Herrchen wartend, vorfindet. Beinah täglich schleppt sich der altersschwache Hund vom Ort über die kilometerlange Strandstraße dorthin und sehnt, nicht müde werdend, Antoine zurück.
*
Elisa ist mit ihren einunddreißig Jahren eine Angestellte höheren Kaders in einem Filialunternehmen, das der Finanzdienstleisterbranche nahesteht. Die schlanke, sportliche und aparte junge Dame weiß nicht nur um ihre geschäftlichen Kompetenzen. Sie hat auch das nötige Bewusstsein, was ihre Tragweite auf Männer betrifft. Darüber hinaus ist sie ein bisschen stolz auf ihre ausgeprägte Vorliebe für edle Dessous. Ihre schönsten und reizvollsten Exemplare befinden sich in der ledernen Reisetasche auf der Rückbank ihres Autos. Zu ihrem engen hellgrauen Pullover mit weitem Rundhalsausschnitt trägt sie einen dunklen Rock und darunter halterlose Strümpfe. Als Unterwäsche hat sich Elisa für das marineblaue transparente Höschen und den zugehörigen Büstenhalter entschieden. Beide sind mit goldfarbener floraler Stickerei besetzt. Ihr Ausschnitt gibt einen Blick auf die Träger ihres BHs frei, den ein moderner rot-gemusterter Schal verschleiert.
Seit mehr als zehn Kilometern ist Elisa auf den verschlafenen Straßen der Tiefebene kein Fahrzeug mehr begegnet. Die entvölkerte und menschenleere Gegend, durch die sie fährt, wird zunehmend umhüllt von Nebel, der von der nahen See aufzieht. Um kurz nach halb zwei Uhr nachts erreicht Elisa die Zufahrtstraße, die zu einer Plattform inmitten eines Naturschutzgebietes führt. Das Verkehrszeichen Nummer 251 untersagt es ihr, die Straße in der Zeit von 22:00 bis 9:00 Uhr zu befahren. Das Verbot ignorierend, fährt Elisa über den von Schlaglöchern und Bodenwellen geprägten Deichweg. Ihre Aufregung ist groß, als sie die Plattform erreicht. Sie betätigt das Fernlicht, das Mühe hat, die feinen Wassertropfen des dichten Nebels zu durchdringen. Elisa fährt langsam einmal quer über den Platz. Ein weiteres Fahrzeug kann sie nicht ausmachen. Sie ist offenbar allein auf dem Areal.
Elisa lässt den Fuß auf dem Bremspedal, und die drei Bremslichter tränken die Nebelschwaden in ein verschwommenes Rot. Sie schaltet das Autoradio stumm, tastet nach dem Schalter des Fensterhebers und lässt die Scheibe eine Handbreit herab, um hinauszulauschen. Bis auf ein paar Windgeräusche ist es still. Nicht einmal das sanfte Rauschen der brandenden Wellen ist zu hören. Der Nebel wirkt unheimlich, und Elisa ist mulmig zumute. Angespannt und nervös zugleich schaltet sie die Scheinwerfer nicht aus und lässt auch den Motor laufen, als sie es einige Minuten später wagt, aus ihrem Fahrzeug auszusteigen. Sie stellt sich hinter die beiden in Verfall geratenen Holzbänke. Bei Tageslicht hat man von hier einen beeindruckenden Rundumblick auf die gut hundert Quadratkilometer große Meeresbucht.
Der Nebel ist so dicht, dass das Licht der Autoscheinwerfer, das Elisa wie eine einsame Künstlerin auf einer Bühne anstrahlt, keine Schatten wirft.
Als sich Elisa vor Jahren zum ersten Mal an diesem Ort befand, die Hände auf die Rückenlehne einer der Holzbänke abgestützt, stand er dicht hinter ihr. Dabei hatte er seine Hand unter ihren Rock geschoben, ihre Pobacken gestreichelt und geknetet und ihr seine Lust ins Ohr gehaucht. Diese konnte Elisa ebenso deutlich spüren wie hören, als er seinen Harten an sie presste. Wäre nicht zur selben Zeit ein Transporter eines handwerklichen Kleinbetriebes auf die Plattform gefahren, hätte er ihr seinen bereits aus der Hose befreiten Schwanz eingeführt. So jäh unterbrochen wurde damals schnell die Kleidung zurechtgezupft, und sie huschten zurück ins Auto, kurz bevor der Transporter in unmittelbarer Nähe parkte. Dieses Gefühl des Ertapptwerdens hatte Elisa seitdem nicht wieder losgelassen. Es lässt die lüsterne Spannung auf ein Höchstmaß anschwellen. Es kommt Elisa vor, als wäre sie an jenem Tag gebrandmarkt worden. Einen Partner, der diese Vorliebe mit ihr teilt, hat sie bis heute nicht gefunden. Dass ihre Suche danach als höchst unmotiviert beschrieben werden darf, liegt an ihrer unmissverständlichen Auffassung, dass sie dem Personenkreis zuzurechnen ist, der für gewöhnlich nicht gesucht, sondern vielmehr gefunden wird.
Aufgekratzt und etwas wehmütig denkt Elisa an diesen besonderen, hocherotischen Moment zurück. Nun aber fröstelt es ihr allmählich im nassen und kalten Nebel in der Nacht zum ersten Oktober. Ungeduldig wartend scharrt sie mit der Fußspitze über den Asphalt, als wollte sie eine glimmende Zigarettenglut austreten. Eine Zigarette würde sie in diesem Augenblick nicht ausschlagen, auch als überzeugte Nichtraucherin nicht, so unruhig und aufgeregt ist sie.
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Mit einem alten Benzinfeuerzeug unternimmt einer der beiden Arbeiter des Bauhofes den Versuch, dem Wind zu trotzen und sich eine filterlose Zigarette anzuzünden, bevor er sich diese zwischen die Lippen klemmt und beginnt, die mit Holz ummantelten Abfallbehälter, die am Strandweg aufgestellt waren, auf dem Lastwagen zu verzurren. Der andere Mann sichert die Fenster und Eingänge der dem Lokal gegenüberliegenden Pizzeria mit Brettern, die er in Streben darüber nagelt. Maylène grüßt die beiden von Weitem mit erhobener Hand. Sie hakt den Karabiner der Hundeleine an Filous Halsband ein, schwingt sich auf ihr Fahrrad und macht kehrt in Richtung Dorf. Der Wind von der Seeseite, den sie nun im Rücken hat und gegen den sie eben noch angekämpft hat, lässt Maylène schneller fahren. So schnell, dass Filou Mühe hat, Schritt zu halten. Als sie es bemerkt, zieht sie den Hebel der Bremse.
Der weitläufige Landstrich zwischen Dorf und Küste ist dicht bewaldet. Der sandige Boden der hügeligen Dünenlandschaft begünstigt es, dass der Mischwald überwiegend von anspruchslosen Kiefern und Pinien dominiert wird. Maylène radelt am rechts von ihr gelegenen Campingplatz vorbei, der in der Hauptsaison von Nudisten und FKK-Freunden besiedelt wird. Nun ist das Gelände verwaist und das große Eisentor am Eingang mit einer schweren Kette gesichert. Die Campingsaison beginnt traditionell wieder im Mai, während die Strandbungalows erst einen Monat später belegt werden.
Das Dorf erreichend, fährt sie vorbei an der weiß verputzten Kirche mit dem davor gelegenen Dorfplatz und dem Denkmal zum Gedächtnis der Gefallenen und Verschollenen beider Weltkriege. Oft hält Maylène inne, wenn sie sich fragt, ob es gleicherweise ein Ehrenmal für die Opfer eines Dritten Weltkrieges geben wird. Und ob noch ein Steinmetz lebt, der es meißelt. Und ob noch ein Platz existiert, auf dem es errichtet wird.
Östlich der Kirche, unweit der Gemeindebücherei auf der Ausfahrtstraße, erreicht sie mit dem hechelnden Hund das eingeschossige Haus von Antoine. Die kurze Ehe ihres Onkels war kinderlos geblieben. In dem Haus lebte er viele Jahre allein, bis Maylène eines Tages vor der Tür stand. Sie ist die Tochter seines jüngeren Bruders. Antoine richtete ihr ein Zimmer her und nahm sie bei sich auf. Wie ein eigenes Kind, das ihm nie beschert wurde, behandelte und behütete er sie vom ersten Tag an. Mit Maylène zog frischer Wind in Antoines eingefahrene und wenig abwechslungsreiche Welt ein. Er genoss die Veränderung. Anfangs verhalten, später in vollen Zügen.