Angekirrt - Ilse Wenner-Goergen - E-Book

Angekirrt E-Book

Ilse Wenner-Goergen

4,6

Beschreibung

Volker Lehmann, passionierter Jäger und Jagdpächter, fällt in seinem eigenen Revier einem brutalen Verbrechen zum Opfer. Der Täter legt gezielte Spuren, welche die Polizei schnell darauf schließen lassen, dass Volker Lehmann sein altes Leben hinter sich lassen und woanders neu beginnen will. Damit aber kann sich seine vermeintlich verlassene Frau Ina nicht abfinden. Als nach erfolglosem Suchen nach dem Verschwundenen die Polizei die Akte schließt, macht sie selbst sich auf die Suche nach Hinweisen über den Verbleib ihres Mannes. Jedem Anhaltspunkt geht sie nach, nicht ahnend, dass sie dabei dem Täter gefährlich nahe kommt.

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© 2012 eBook-Ausgabe 2012 1. AuflageRhein-Mosel-VerlagBrandenburg 17, D-56856 Zell/Mosel Tel. 06542-5151 Fax 06542-61158 Alle Rechte vorbehalten ISBN 978-3-89801-817-3 Ausstattung: Cornelia Czerny Endkorrektur: Melanie Oster-Daum Umschlaggestaltung mit Fotos von: Günter Havlena/pixelio.de, richy/pixelio.de

Ilse Wenner-Goergen

Angekirrt

Ein saustarker Jagdkrimi

RHEIN-MOSEL-VERLAG

Andreas gewidmet Ohne dich gäbe es diesen Roman nicht.

Bemerkung zur Einleitung

Auch wenn der Roman an authentischen Schauplätzen im Könener Wald und dem Umland von Trier spielt, so handelt es sich doch um frei erfundene Handlungen und Personen.

Ähnlichkeiten zu lebenden oder verstorbenen Personen sowie wahren Begebenheiten sind rein zufällig und unterlagen nicht der Absicht der Autorin.

***

Dass mir mein Hund das Liebste sei, sagst du oh Mensch sei Sünde, mein Hund ist mir im Sturme treu, der Mensch nicht mal im Winde. Franz von Assisi

***

Prolog

Die Junisonne stand tief und drang durch die dicht gewachsenen Baumbestände nicht mehr durch. Nur wenn er heraustrat auf eine Lichtung oder der Weg durch freies Feld verlief, war es ringsum noch taghell. Und auch das würde in kurzer Zeit anders sein. Dass die Dunkelheit bald einbrechen würde, verkündeten die Vögel des Waldes mit lautstarkem, beinahe aufgeregtem Gezwitscher. Die Abenddämmerung setzte ein. Und so, wie sich der Tag senkte, so veränderte sich auch die Stimmung im Wald bei Konz-Könen, einem kleinen Ort zwischen Trier und Saarburg, nahe der Saarmündung.

Endlich wieder zu Hause. Ganz bewusst ließ Volker Lehmann die Atmosphäre hier zwischen Bäumen und feuchter Erde auf sich wirken, sog ihre Ausstrahlung ganz und gar ein, während er langsam durchs Revier streifte. Hier war sie, seine Oase. Die Quelle seiner Energie. Der Wald würde eintauchen in majestätische Dunkelheit und für die Dauer einer Nacht sein Reich für sich alleine haben. Dann war er nur den Tieren vorbehalten. Für einen Naturfreund und leidenschaftlichen Jäger mit Leib und Seele konnte es keinen schöneren Ort geben. Seit er denken konnte war das schon so. Bereits als Junge war er mit seinem Vater, damals als Forstarbeiter tätig im Trierer Stadtwald, häufig draußen gewesen, hatte mit sechzehn Jahren den Jugendjagdschein gemacht und mit knapp fünfundzwanzig dieses Revier zwischen Konz und Wawern von einem alten Jäger übernommen. In der Zeit hatte er auch seine Frau Ina kennen gelernt, und sie beide hatten sich gemeinsam für ein Haus im angrenzenden Ort Könen entschieden.

Ein leises Knacken im Unterholz holte ihn aus seinen Gedanken und ließ ihn aufhorchen. Aufmerksam lauschend atmete er die würzige Waldluft tief ein. Er versuchte zu riechen, was um ihn herum geschah. Am späten Nachmittag hatte es noch heftig geregnet und nun stieg dampfend der Duft von nassem Holz und Moos von der noch warmen Erde auf. Denn gleich nach dem ergiebigen Regenguss hatte sich die Junisonne wieder durchgesetzt für den Rest vom Tag und es war ein schwülwarmer Abend geworden. Doch noch ein anderer Geruch war es, der in der Luft lag. Volker schnupperte in die Richtung, aus der er ihn wahrnahm. Es war ein leicht modriger Geruch. Er schmunzelte und wusste sofort, wer nicht weit von ihm das Laub zum Rascheln brachte. Dann hörte er wieder ein Knacken, diesmal ganz dicht. Meister Reinecke schnürte in unmittelbarer Nähe durchs Unterholz.

Trotz der frühsommerlichen Schwüle war die Luft hier im Wald sehr viel frischer als unten im Dorf. Eine schwache Brise brachte die Wipfel der Bäume in Bewegung, sie rauschten sachte, während sie sich sanft hin und her wiegten. Herrlich. Wohlige Schauern ergriffen ihn. Einmal mehr spürte er ganz bewusst, wie wohl er sich hier fühlte. In »seinem Wald«, wie Ina immer zu sagen pflegte. Bei dem Gedanken an sie lächelte er. Unwillkürlich entfuhr ihm ein leiser Seufzer. Er wünschte, Ina hätte ihn heute Abend begleitet. Auch ihr hätten der Wald und die natürliche Ruhe gefallen. Es wäre ein schöner Abschluss ihres Sommerurlaubs gewesen. Denn schon am Montag musste er wieder in die Firma. Die Betriebsferien waren zu Ende und er war als verantwortlicher Leiter der technischen Abteilung einer großen Maschinenbaufirma unentbehrlich, wenn die Produktion wieder anlief.

»Schade«, sagte er zu sich selbst und setzte seinen Rundgang fort. Überall lagen heruntergefallene Äste auf dem Weg. Überbleibsel des heftigen Gewitters vor wenigen Stunden. Ein kleines Stück noch ging es bergan. Er wischte sich die Schweißperlen von der Stirn. Der Lodenmantel störte, weil er viel zu warm hielt. Er hatte ihn angezogen, um nicht von einem weiteren Regenschauer durchnässt zu werden. Er stieg den als »Saarweinwanderweg« ausgeschilderten Weg hinauf, was zusätzlich schweißtreibend war. Doch schließlich hatte er eine erste Anhöhe erreicht. Dicht neben ihm flatterte eine Amsel aufgescheucht hoch und schimpfte lautstark. Wieder musste er lächeln. Denn gegen all diese Geräusche stand rings um ihn eine beeindruckende Ruhe. Natürlich. Stimmungsvoll. Mächtig.

Ein Blick zum Himmel zeigte, dass es eine gute Nacht werden würde. Eine fast sternenklare Vollmondnacht bei milden Temperaturen. Nur ein paar kleine Schleierwolken zogen durch. Das heftige Gewitter vom Nachmittag war in diesem Augenblick kaum noch vorstellbar. Fast unwirklich, wäre da nicht der feuchte, dampfende Boden. Wie weiße Watte hoben sich die wenigen Wolkenfetzen in wunderschönem Kontrast gegen das Abendblau und die dunklen Wipfel der Bäume ab. Bessere Voraussetzungen konnte sich ein Jäger kaum wünschen. Dennoch war er nicht sicher, ob er sich gleich am ersten Abend bereits ansetzen sollte. Das würde er später entscheiden. Zunächst einmal wollte er sich im kleinen Rundgang einen Überblick über das Revier verschaffen.

Ein kleines Stück hinter der Schutzhütte bog er also rechts ab Richtung dem Nachbarort Wawern und warf einen kurzen Blick auf die Wildäcker, die gegenüber angelegt waren. Der Schwarzhafer stand gut im Saft und würde bald schon seine Ähren ausbilden. Der Raps war verblüht und der rote Klee wurde noch zu dieser späten Stunde von ein paar fleißigen Honigbienen umflogen. Zufrieden ging er weiter und verließ zielstrebig linker Hand den Weg, um querfeldein mitten im Bestand seine Richtung fortzusetzen. Sicher schritt er durch dicht gewachsenes Gestrüpp weiter. Sein Ziel war der neueste Hochsitz im Revier: Der sogenannte Abi 2010. Jeder Sitz hatte einen Namen, meist den Beständen angepasst, in denen er stand. Oder auch der Gegend. Der Abi 2010 hatte seinen Namen von einer Gruppe Jungjäger bekommen, die im Frühjahr 2010 ihre Jagdscheinprüfung bestanden und anschließend alle zusammen diesen Hochsitz gebaut und aufgestellt hatten. Einer der Männer hatte aus Spaß »Abi 2010« in einen der Holzstämme geschnitzt, weil man die Jagdscheinprüfung auch grünes Abitur nennt. So war der Sitz zu seinem Namen gekommen und dabei war es dann auch geblieben. Ansonsten hätte man ihn wahrscheinlich Eichensitz genannt. Weil er im Eichenbestand seinen Platz hatte.

Eine nette Gruppe Männer war das vor knapp einem Jahr gewesen, Volker erinnerte sich an jeden einzelnen von ihnen. Und als am darauffolgenden Abend gleich der erste Bock geschossen war, zitterte der junge Schütze vor Aufregung und hatte plötzlich Angst vor seiner eigenen Courage. Unwillkürlich schmunzelte der Jäger bei diesen Gedanken. Ihn, wie einen großen Teil der anderen, hatte er während der gesamten Ausbildung begleitet und betreut und war als Mitglied im Prüfungsausschuss mit jedem einzelnen glücklich über ein gutes Ergebnis gewesen. Fast alle hatten bestanden. Nur sein Jagdhelfer nicht. Volker seufzte bei dem Gedanken an Bert. Bert Wahnke war sein Freund seit vielen Jahren. Und er begleitete ihn in den Wald, half mit, wo er konnte. War stets zur Stelle, wenn es etwas zu tun gab. Nur die Jagdscheinprüfung hatte er bis heute nicht geschafft. Trotz mehrerer Anläufe. Es war ein Rätsel. Dennoch war auch er beim Bau des Abi 2010 dabei gewesen. Wunderschön abseits vom Weg lag der Sitz, den Volker in diesen Sekunden erblickte. Angrenzend gab es dahinter einen großen Wildacker und davor eine gut besuchte Wildschweinsuhle. Und das Beste: von keiner Seite her war dieser Hochsitz einzusehen. Er lag optimal und die Stimmung hier war unbeschreiblich. Beeindruckend.

Dennoch würde Volker sich heute Nacht nicht ansetzen. Nein, er hatte seine Absicht soeben geändert. Es passte nicht. Er und Ina hatten Urlaub gehabt und waren noch nicht lange zurück. Eine Nichtigkeit hatte dazu geführt, dass er grummelnd das Haus verlassen hatte. Nach zwei vollen Wochen Urlaub, welche sie permanent zusammen verbracht hatten, brauchte wohl jeder von ihnen mal wieder ein paar Stündchen in seinem eigenen Reich. Völlig normal.

Und sein Reich war hier. An der See war es zweifellos schön. Doch um nichts in der Welt würde er seinen Wald missen wollen. Und er hatte ihn vermisst, seinen Wald. Nirgendwo anders war er der Natur näher, fühlte er sich dem Leben verbundener als hier. Aber heute würde er sich auf eine kleine Routinerunde beschränken, grob überschauen, ob im Revier während seiner Abwesenheit alles in Ordnung geblieben war und bald wieder nach Hause gehen. Und dann würde er für Ina und sich einen feinen Tropfen aus dem Keller holen und ihr endlich einmal wieder sagen, was für eine fantastische Frau sie doch ist. Das war etwas, was er viel zu selten tat. Ina ließ ihm alle Freiheit, die erforderlich war, um solch ein Revier halten zu können. Das hieß auch häufig, dass sie bis in die Nacht auf seine Rückkehr warten musste oder ganze Wochenenden allein war. Sie unterstützte ihn, wo immer sie konnte. Heute wollte er sie einmal verwöhnen, bevor nächste Woche der Alltag sie beide wieder einholen würde.

Ein Blick nach vorn ließ ihn jedoch irritiert innehalten. Der Abi 2010 lag vor ihm. Dahinter der Wildacker. Doch die Pflanzen, die um diese Jahreszeit mindestens einen halben Meter hoch stehen müssten, waren größtenteils umgeknickt, wirkten von hier wie niedergetrampelt. Er setzte sich wieder in Bewegung, wollte näher heran. Über die gesamte Fläche des Ackers lagen dicke Baumstammstücke verstreut und ließen ihn staunend seine Schritte beschleunigen. »Das gibt’s doch nicht. Das darf doch nicht wahr sein!« Langsam begriff er, was hier jemand getan hatte. Dann entdeckte er Trittsiegel im Boden. Sauen. Und nicht wenige. Er ging in die Knie, um die Abdrücke näher betrachten zu können. In unterschiedlichen Größen waren Spuren im weichen Waldboden eingedrückt. Das musste eine ganze Rotte sein. Der Jäger trat an den nächstliegenden Holzklotz heran und tippte vorsichtig mit dem Fuß dagegen. Der Stamm kippte zur Seite und tatsächlich kam darunter ein ganzer Haufen goldgelber Maiskörner zum Vorschein. Eine Maus stieb zur Seite und verschwand im Gras. »Was ist hier los?« Alarmiert richtete er sich auf und sah sich um. Jemand hatte seinen Wildacker, der dem Rehwild als Äsungsfläche dienen sollte, in eine Kirrung umgewirtschaftet. Sein Blick streifte hastig die Ferne, dann wieder den gesamten Acker. Dass jemand nicht weit von ihm auf seinem Hochsitz war und ihn beobachtete, bemerkte er nicht. Noch nicht. Er kickte einen weiteren Stamm zur Seite. Und noch einen. Unter jedem lagen große Mengen Mais verborgen. Verboten große Mengen.

Und dort, die beiden Kabel, die unter einem schweren Ast am Boden eingeklemmt waren. Er kniete sich abermals und sah genau hin. Die Kabel verliefen etwas verdeckt direkt über der Erde und verloren sich in dichtem Wuchs aus hohem Farn und Brennnesseln. Er schob das Grün zur Seite und fand ein verschlossenes Einmachglas. Es war undurchsichtig, von innen mit Feuchtigkeit beschlagen, doch ihm war klar, was sich darin befand. Völlig eindeutig hielt er hier eine Wilduhr in Händen. Marke Eigenbau. »Verdammt, wer war das?«, fluchte er, während er das Glas zurückwarf und sich erhob. Systematisch hatte hier jemand Schwarzwild angefüttert und die Fresszeiten kontrolliert. Und das mit Erfolg, wie die Trittsiegel belegten. Aber wer? Und mit welchem Ziel? Sein Jagdhelfer kam ihm in den Sinn. Seit seiner Rückkehr gestern war es ihm noch nicht gelungen, ihn zu erreichen. Zu blöd, dass er noch nicht mit Bert hatte sprechen können, vielleicht wusste der was? Oder hatte er diesen Eingriff ins Revier möglicherweise noch gar nicht bemerkt? Er klopfte sich losen Dreck von der Kleidung. Immer noch bemerkte er nicht, dass man ihn hier erwartete. Das Zielfernrohr war auf ihn gerichtet. Jemand sah ihm wohlwollend dabei zu, wie er seine Entdeckung machte und sich wunderte.

In dem Moment, in dem er erneut seinen Blick in die Ferne schweifen ließ, nach seinem Glas griff und es an die Augen setzte, durchdrang explosionsartig ein Knall die Stille des abendlichen Waldes. Er begriff noch, dass jemand von vorne auf ihn geschossen hatte und sah an sich herunter. Bruchteile von Sekunden später verließ ihn die Kontrolle über seinen Körper. Er sackte zusammen, ging erst in die Knie und dann zu Boden. Verdammt, was war hier los? Es war genau, wie man immer erzählte, obwohl sein Körper ihm nicht mehr gehorchen wollte, spürte er keinen echten Schmerz. Nur einen dumpfen Druck. Einen Widerstand, der ihn unbeholfen machte. Lähmungsartig. Und er begriff sehr wohl seine Lage. Mühsam hob er den Kopf und sah zu dem Sitz. Schemenhaft nahm er nun dort oben eine Gestalt wahr.

Diese Gestalt lud im selben Augenblick die Waffe nach, setzte an und hielt sich zu einem weiteren Schuss bereit. Eine Weile verharrte der Schütze in dieser Stellung, das Fadenkreuz ständig auf den Mann am Boden gerichtet.

Dessen Erstaunen war dem Überlebenstrieb gewichen. Die Konturen des Schützen auf dem Hochsitz wurden unscharf, der Jäger glaubte einen Moment, bewusstlos zu werden. Doch er fühlte, dass er kein zufälliges Ziel und dem Schützen hilflos ausgeliefert war. Schon allein deshalb wollte er kämpfen. Freie Fläche ringsum, er war in eine Falle gegangen. In eine ihm gestellte Falle. Denn der Mann auf dem Hochsitz wusste, dass er an dieser präparierten Stelle nicht achtlos vorbeigehen würde. Der Jäger ahnte inzwischen, wer der Mann auf dem Sitz war. Nur begriff er nicht, warum er das tat. Er versuchte, das Gewicht seines Oberkörpers etwas zu verlagern, sich auf einem Ellbogen abzustützen. Ein Fehler, wie ihm schlagartig bewusst wurde, denn im gleichen Moment erschütterte ein weiterer Schuss die Ruhe. Instinktiv rollte er sich jetzt schutzsuchend zu dem Farn, unter dem die Wilduhr versteckt lag, versuchte so, sich dem Blick des Schützen zu entziehen. Er wusste nicht, ob er ein weiteres Mal getroffen war, suchte Deckung. »Du mieses Schwein! Warum?«, schrie er in die Richtung des Hochsitzes. »Was habe ich dir denn getan?« Es knallte abermals. Er musste getroffen sein, denn jetzt spürte er den Schmerz. In seiner linken Schulter. Stöhnte laut auf. Rollte sich hinter dem Farn zusammen. Versuchte, abermals zum Hochsitz zu schauen. Und ein weiteres Mal krachte ein unerträglich lauter Schuss durch die Stille. Ihm schwanden die Sinne, er konnte nicht mehr klar denken.

Und noch als es ihm schwarz vor Augen wurde, war das Zielfernrohr auf ihn gerichtet. Lange verharrte der Schütze in dieser Position. Sein Puls raste, er stand unter enormer Anspannung. Es war eine Sache, so ein Ding hier zu planen. Es durchzuführen, war hingegen eine ganz andere. Der Herzschlag pochte durch seinen ganzen Körper. Dies hier war die erste Kreatur, die er in seinem Leben zur Strecke gebracht hatte. Falls er sie zur Strecke gebracht hatte. Abermals kroch die Panik in ihm hoch, wenn er darüber nachdachte, dass nicht gleich der erste Schuss tödlich gewesen war. Glatter Blattschuss, wie aus dem Lehrbuch, so hatte er sich das vorgestellt. Nicht eine solche Metzelei. Sein Opfer hatte sogar noch nach ihm gerufen. Ob ihm wohl klar geworden war, wer sein Mörder war? Es schauderte ihm bei dem Gedanken, dass Volker ihn erkannt haben könnte. Immer noch hielt er mit zitternder Waffe auf den regungslos am Boden liegenden Mann.

Der Puls pochte gegen seine Schädelwand, sein Kopf drohte zu explodieren, er atmete stoßartig, wie nach einem langen Sprint. Er hielt die Waffe im Anschlag. So lange, bis sein Puls nicht mehr raste und er ganz allmählich wieder ruhiger atmete. Dabei bemerkte er nicht, dass mehr als eine halbe Stunde so vergangen war. Ihm schmerzten die Arme von der verkrampften Haltung, als er die Waffe schließlich absetzte. Die gesamte Armmuskulatur war ein einziger Krampf. Kraftlos ließ er die Waffe, einen verhältnismäßig kurzen Repetierer, auf die kleine Holzbank neben sich sinken. Seine KR 1 Tracking war fast baugleich mit Volkers Jagdgewehr. Nur, dass er seine Waffe illegal beschafft hatte und sie nirgendwo registriert war. Der dumpfe Schmerz in der rechten Schulter kündigte erbarmungslos Hämatome vom Rückschlag an. Und immer noch hielt er den Blick starr auf den Mann am Boden geheftet. Da lag er, der Jäger. Der große, einzigartige Chef des Reviers. Mausetot, wie es schien. Und sein Mörder begann abermals zu zittern. Wenn dieses Nachladen nicht gewesen wäre, dann wäre alles nur halb so schlimm gewesen. So, wie er es immer gesehen hatte, wenn er dabei gewesen war, bei der Jagd.

Erst eine weitere halbe Stunde später zwang er sich, die Leiter des Jagdsitzes endlich herabzusteigen. Ohne Eile, schließlich hatte er jetzt Zeit. Nur die Dunkelheit würde kommen. Alles, was ihn zögern ließ, war seine Furcht vor dem Anblick. Doch er musste sich zusammenreißen. Ruhig werden und weiter machen. Die Zeit der Vorbereitung war gerade zu Ende gegangen. Sie hatte sich übergangslos in die Zeit der Tat gewandelt. Und die lange Vorbereitung würde sich nun bald auszahlen für ihn. Von der wilden Schießerei einmal abgesehen, war doch sonst alles glatt gelaufen. Seine Rechnung war aufgegangen, immerhin war der Jäger sofort in die ihm gestellte Falle gegangen. Er musste ruhig und besonnen vorgehen, denn er durfte keine Fehler machen. Es war noch an einiges zu denken.

Die Dunkelheit hatte begonnen, sich über den Wald zu legen. Noch reichte das restliche Licht aus, um genug zu sehen. Das würde bald vorbei sein. Außerdem wollte er nicht selbst zum Opfer werden. Denn so, wie in den Abendstunden der Tage zuvor, so würden auch heute Abend die Sauen kommen und ihr Futter suchen. Die ganze Rotte würde anrücken und in der Erde nach Futter wühlen. Und diesmal würde sie Futter finden! Mehr als genug und vom Allerfeinsten. Aber vorher galt es, noch ein paar Dinge zu erledigen. Jetzt und hier.

Langsam näherte er sich dem leblosen Körper des Jägers, trat an ihn heran und erschrak. »Volker …«, entfuhr es ihm unwillkürlich. Dass der Tote mit dem Gesicht nach oben lag und seinem Mörder mit weit aufgerissenen Augen entgegenstarrte, darauf war er nicht vorbereitet. Reflexartig wandte er sich ab, haderte mit dem Gedanken, einfach zu gehen. Kämpfte dagegen an. Dennoch war die Verlockung groß, den Dingen ab jetzt unbeeinflusst ihren Lauf zu lassen. Wer würde ihn schon verdächtigen? Niemand wusste, dass er die Merkel KR 1 Tracking besaß. Es wäre ein Leichtes, sich jetzt um nichts mehr zu kümmern, stattdessen einfach zu gehen. So, als ob er nie hier gewesen wäre.

Doch er besann sich, kämpfte den Impuls wegzulaufen nieder. Der Mann, der hier vor ihm lag, war tot, daran änderten auch seine starrenden Augen nichts.

Ihn einfach so zurückzulassen wäre leichtsinnig. Man würde die Sachen des Toten ziemlich bald finden. Denn auch wenn die Sauen Allesfresser waren, Kleidung und Ausrüstung ihres Hegers würde die Rotte in jedem Fall verschmähen. Außerdem hatte er mit den Sachen etwas vor. Und das war nicht ganz unwichtig. Er musste es tun. Beim Hochsitz stand die große Sporttasche. Die brauchte er. Also ging er zurück und holte sie. Dann überwand er sich, vermied den Blick in die Augen des Toten und begann ihn auszuziehen. Zuerst nahm er die losen Sachen wie Hut, Waffe, Fernglas, Armbanduhr und Munition an sich und warf sie in die Tasche. Danach die Schuhe. Dann öffnete er den langen Mantel des Toten und zog ihn aus. Dafür war es erforderlich, ihn mehrmals zur Seite zu drehen und wieder zurück. Eine schweißtreibende Angelegenheit, Volker hatte ordentlich Gewicht. Stück für Stück der Kleidung riss der Täter auf diese Weise herunter, und alles war schwerer, als er es sich ausgedacht hatte. Ein hartes Stück Arbeit. Und immer wieder sah er sich um wie ein Verfolgter. Dabei war es völlig unmöglich, dass jemand etwas gesehen haben konnte. Hier befanden sie sich fernab jeglicher Zivilisation. Kein Weg weit und breit. Nur dicht wachsendes Grün, hohe Bäume und ein paar kleinere Abgründe. Unwegsames Gelände, das keine Spaziergänger anlockte. Wahrscheinlich wusste kaum ein Mensch, dass es an dieser Stelle überhaupt eine jagdliche Einrichtung gab.

Der Schweiß rann ihm die Stirn herunter, brannte in seinen Augen. Die hohe Luftfeuchtigkeit tat ihr übriges. Abermals überlegte er, ob er nicht doch ein paar Sachen bei dem Toten zurücklassen konnte. Die Unterwäsche zum Beispiel! Die war ohnehin völlig unbrauchbar. Zerschossen und voller Blut. Und auch das Oberhemd war durchlöchert und versaut. Daran hatte er bei der Planung nicht gedacht. Er wollte ja auch mit einem Schuss die Sache erledigt haben! Und nun hatte er diesen ganzen Dreck hier zu bewältigen. Am wichtigsten waren die Jagdausrüstung sowie die Hose und natürlich der Mantel. Der hatte auch Schaden genommen, doch glücklicherweise war er von einem Rotbraun, auf dem Flecken und Löcher nicht so stark auffielen. Außerdem sog Loden eine Menge Flüssigkeit auf.

Aber auch die unbrauchbar gewordene Kleidung musste er an sich nehmen. Alles andere wäre zu riskant.

Als er dem Toten endlich alle Sachen ausgezogen hatte, musste er sich noch einmal überwinden. Er griff nach der rechten Hand des Mannes und ertastete an einem Finger den Ehering. Auch den nahm er ihm weg. »Na, komm schon, trennen wir dich von deiner Ina«, murmelte er dabei und steckte den Ring lose in die Tasche seiner Jacke. Das war’s. Oder nein. Seinen Geldbeutel hatte er bestimmt auch dabei. Er suchte danach. Konnte ihn neben dem Toten nicht finden. Beinahe meterhoch stand das Grün. Vielleicht in einer der Taschen? Er tastete die Kleidung ab. Nichts. Mist, verdammt! Der Inhalt der Geldbörse war Teil seines Plans. Doch es wurde Zeit, dass er fertig wurde und ging. Mit der Suche konnte er sich jetzt nicht mehr länger aufhalten. Er stand auf, überlegte, ob er sonst an alles gedacht hatte. Inzwischen war es vollständig dunkel. Dennoch glaubte er, vom Blick des toten Mannes verfolgt zu werden. Mühsam schüttelte er den Gedanken ab. Seine Augen grasten den Boden ab. Jetzt hier noch nach wiederausgetretenen Kugeln zu suchen, wäre völlig sinnlos. Außerdem boten Farn, Efeu, Gräser und Laub die beste Deckung. Selbst wenn die Spurensicherung gezielt suchte, wäre hier wohl kaum etwas zu finden. Und wenn schon. Es handelte sich um Treibspiegelgeschosse. Die konnten keiner Waffe eindeutig zugeordnet werden. Möglicherweise steckten einige von ihnen ohnehin noch im Körper des Toten. Blut war überall gewesen. Und so genau hatte er die durchtränkte Kleidung nicht untersucht. Im Optimalfall würden die Wildschweine die Kugeln mitfressen und mit der Losung an anderer Stelle im Wald wieder absetzen. Besser konnte man die Spur nicht verwischen. Dennoch blieb die Freude, die er sich für diesen Augenblick immer wieder ausgemalt hatte, wider Erwarten aus.

Mit der gefüllten Tasche ging er zurück zum Hochsitz. Durfte endlich seinem inneren Zwang nachgeben, sich von dem Toten zu entfernen. Seltsamerweise hatte er Skrupel, sich vor ihm auszuziehen. Denn trotz der Dunkelheit und der Starre verfolgte ihn der ausdruckslose Blick, was er als Vorwurf empfand. Also ging er auf Abstand, stellte sich unter den Hochsitz und zog die Waidmannsgarderobe aus der Tasche. Seine eigene Kleidung streifte er ab und warf sie in die Tasche. Nur Unterwäsche und Oberhemd behielt er an. Wie es der Zufall wollte, trug er ein ähnlich gemustertes, wie der Tote. Sie hatten eben einen ähnlichen Geschmack. Besonders in einem Punkt. Er schlüpfte in die Hose seines Opfers, warf sich den Lodenmantel über und rüstete sich mit Fernglas und Hut aus.

Der Schein des Vollmonds ließ die Bäume und Sträucher bizarr aussehen. Ein Blick auf die Uhr sagte ihm, dass es nicht mehr lange dauern würde. Seine Schweine waren pünktlich! Täglich hatte er in den vergangenen beiden Wochen die Wilduhr abgelesen und immer wieder neu aufgestellt. Und mit einer beharrlichen Regelmäßigkeit waren die Sauen zwischen Zweiundzwanziguhrdreißig und Dreiundzwanziguhr an seiner Kirrung gewesen. Was sicher auch an den feinen Dingen lag, die er ihnen angeboten hatte. Denn das war nicht nur Mais gewesen. Er lachte hämisch in sich hinein. Angekirrt hatte er sie mit diverser Feinkost. Und heute servierte er ihnen ein Festmahl. Die Vorstellung dessen, was sich heute Abend hier noch abspielen würde, lehnte er dennoch ab. Es wurde Zeit für ihn zu gehen und nicht mehr zurückzuschauen. Wer zurückschaut, kommt wieder. Und das wollte er nicht. Auf keinen Fall wollte er das.

Noch einmal überprüfte er den Sitz seiner neuen Kleidung, sie passte nahezu perfekt, schloss zwei Knöpfe am Mantel, nahm die Tasche, wagte nur noch einen flüchtigen Blick über die Schulter und ging. Er trat aus der Dickung hinaus auf den Hauptweg und sah sich in alle Richtungen um. Instinktiv tat er das, obwohl die Wahrscheinlichkeit, hier einem Menschen zu begegnen, gegen null ging. Dabei wollte er sich gar nicht mehr verstecken. Im Gegenteil. Für alles, was er ab jetzt in dieser Nacht noch tun würde, wollte er Zeugen. Doch an diesen Gedanken musste er sich erst gewöhnen. Er nahm den direkten Weg abwärts ins Saartal.

Ein paar Wolken hatten sich vor den Vollmond geschoben. Gut, dass er eine Taschenlampe dabei hatte. Die brauchte er für den Gang hinab ins Tal durchs Dickicht. Einen Weg gab es an dieser Stelle nicht. Querfeldein musste er absteigen. Die dichten Baumkronen schlossen den Wald auch nach oben zu einem eigenen undurchsichtigen Reich ab. Zudem war das Gelände abschüssig und unwegsam. Überall gab es Felsvorsprünge aus gewachsenem Schiefer. Und kleinere Abhänge.

Ein Knacken im Geäst unmittelbar neben ihm ließ ihn zusammenfahren. Etwas bewegte sich in seiner Nähe. Und es war den Geräuschen zufolge nichts kleines. Fast wurde ihm schlecht bei dem Gedanken an ein Wildschwein oder gar eine ganze Rotte. Der Anblick des Toten tat sich vor seinem geistigen Auge auf. Er wollte ihn verdrängen, doch ganz gelang ihm das nicht. Im Gegenteil, das Bild wurde zusehends klarer, beinahe real. So oft er es sich bei der Planung ausgemalt hatte, so intensiv wollte er jetzt die Bilder abschütteln. Doch sie verfolgten ihn. Die Bilder von Volker, wie er mit weit aufgerissenen Augen völlig entblößt dalag, und wie die Sauen sich über seinen nackten Körper hermachten. Wie sie ihn in Stücke rissen und krachend seine Knochen zermalmten. Und wie sie sich dabei grunzend und keilend um die besten Stücke stritten. Wieder knackte es laut und bedrohlich ganz nah im Unterholz. Diesmal noch etwas dichter. Ruckartig riss er die Lampe herum und versuchte, in das undurchdringliche Gestrüpp zu leuchten. Bei dieser unvermittelt hastigen Bewegung verlor er den Halt auf dem nassen Untergrund. Sein rechter Fuß rutschte seitlich weg, er kam ins Straucheln, landete unsanft auf seinem Steiß und fand immer noch keinen Halt. Während er abwärts rutschte war er krampfhaft bemüht, die Lampe nicht zu verlieren, denn auf ihren Schein war er angewiesen, wenn er hier je wieder herausfinden wollte. ›Hoffentlich sind die Gewehre gesichert!‹, schoss es ihm plötzlich durch den Sinn, denn die trug er in der Tasche auf dem Rücken. Und er erinnerte sich in diesem Augenblick nicht, ob er das vorhin noch extra überprüft hatte.

»Scheiße!«, fluchte er laut auf, als endlich der Schwung seines Sturzes gebremst wurde und er hart zwischen zwei dicken Felsbrocken zum Halten kam. Kopf, Schulter, Ellenbogen und die Beine, alles tat ihm weh, ganz besonders ein Fußgelenk. Er rieb sich den schmerzenden Knöchel. Der war mindestens verstaucht. Dennoch musste er zusehen, dass er schnellstmöglich hier wegkam. Er konnte unmöglich hier sitzen bleiben, er musste weiter. Hoch von dem feuchten Boden. Raus aus dem Dickicht und unbedingt in die Öffentlichkeit! Vor allen Dingen das! Mühsam erhob er sich, klopfte Laub und Nadeln, Dreck und Moos von Hose und Mantel. Überprüfte schnell, ob die Tasche noch an ihrem Platz auf seinem Rücken war und versuchte, die Lampe wieder einzuschalten. Sie war während des Sturzes erloschen und er konnte nur hoffen, dass sie nicht kaputtgegangen war. Er hatte Glück, die Lampe leuchtete auf. Kurz checkte er die Umgebung, stellte fest, dass alles um ihn herum ruhig war. Jedoch wusste er nicht mehr, wo genau er sich gerade befand. Rechts und links von ihm standen meterhohe Farne und Brennnesseln, junge Laubbäume, hoch gewachsenes Gras und dorniges Gestrüpp. Abwärts musste er, soviel war klar. Nach unten ins Tal. Bis zum Fluss. Und das möglichst, ohne ein weiteres Mal zu stürzen. Denn wenn er hier liegen blieb, daran wollte er nicht denken. Und wieder tauchten die Bilder der wilden Sauen vor ihm auf. Gerade rissen sie Volker das Fleisch von den Schenkeln. Allen voran die starke Leitbache. Sie holte sich die Filetstücke, während sich die Überläufer und die Frischlinge mit dem restlichen Fleisch an den Knochen begnügen mussten. Doch auch sie kauten zufrieden und brachen mit ihren starken Kiefern so manchen Knochen einfach auseinander.

Der schrille Schrei eines Kauzes über ihm ließ ihn erschreckt zusammenfahren. Ob der Vogel wohl gerade Zeuge des Gemetzels war? Lieber nicht daran denken, nein, vor allen Dingen wollte er so nicht selbst enden. Dafür hatte er sich die ganze Arbeit nicht gemacht. Sein Ziel klar vor Augen und auch einen Anflug von Panik im Nacken, setzte er seinen Marsch fort.

Nach weiteren Stolper- und Rutschpartien, die mal mehr und mal weniger glimpflich verliefen, wurde endlich das Gelände etwas flacher. Einmal kam er an so etwas wie eine Plattform und er hielt kurz inne. Er glaubte zu erkennen, im Liebfrauengrund zu sein. Das war gut, dann war das Schlimmste geschafft. Ein Stück musste er sich noch weiter nach unten kämpfen. Weit konnte es nicht mehr sein. Immer wieder duckte er sich unter tief hängenden Zweigen hindurch, schob quer liegende, starke Äste zur Seite oder kletterte über umgestürzte Bäume. Und mehr als einmal fluchte er, wenn er sich in einem dornigen Strauch verfing. Als er an den Biotopsitz gelangte, gönnte er sich eine kleine Verschnaufpause. Er lehnte sich mit dem Rücken gegen den Bock des Hochsitzes und atmete ein paar mal tief durch. Jetzt war es fast geschafft. Nur wenige Meter unter ihm verlief der Saarradweg. Die restliche Wegstrecke war alles in allem ohne nennenswerte Zwischenfälle verlaufen. Er entspannte sich ein wenig. Versuchte, die Panik, die ihn ergriffen hatte, wieder abzuschütteln. Er sammelte sich und mobilisierte neue Kräfte. Als er aus dem Gebüsch heraus auf den Saarradweg trat, erschien all das, was er in den letzten Stunden erlebt hatte, vollkommen unwirklich und sein Herzschlag beruhigte sich noch etwas mehr. Er sah sich um. Nahm wie benommen die glitzernde Wasseroberfläche der ruhig vor sich hinfließenden Saar wahr. Bemerkte, dass auf der gegenüberliegenden Seite schon die Kirche des kleinen Ortes Hamm lag. Gerade schlug die Turmuhr einmal an. Das Gefühl für Zeit war ihm völlig abhanden gekommen. Er konnte nicht einschätzen, ob es noch vor oder bereits nach Mitternacht war. Doch er war gleich am Ziel. Und das war alles, was zählte. An einem ersten Ziel. Es war auf seltsame Art hell um ihn herum. Die Nacht erschien blau, der Vollmond stand hoch über ihm und war inzwischen wolkenfrei. Noch einmal atmete er die klare Nachtluft tief ein und aus. Sein Blick flussaufwärts erfasste die Umrisse der langen Kaimauer und ein Stück weiter sah er schemenhaft die Brücke und daneben das Gebäude der Staustufe Kanzem. Im Wachturm brannte Licht, wie er mit Genugtuung feststellte. Genau dort wollte er hin.

Die obere Konstruktion des Turms bestand vorwiegend aus Glas und war somit von allen Seiten her einsehbar. Als er näher kam, bemerkte er das blaue Flimmern hinter der Scheibe. Es verriet eindeutig, dass ein Fernsehgerät lief. Was für ein Job! Sich die Nacht in diesem Turm ungestört mit dem Fernsehprogramm vertreiben und dafür auch noch bezahlt werden! Ihm konnte es Recht sein. Denn hier holte er sich gleich seinen ersten Zeugen.

Er betrat das abgezäunte Gelände der Schleuse, trat an das Gebäude heran und betätigte nach kurzem Suchen den Klingelknopf. Sehen konnte er es zwar nicht, doch er stellte sich vor, wie sich der Mann vor dem Fernseher im selben Moment alarmiert aufrichtete. Es kam bestimmt nicht häufig vor, dass um diese Zeit hier jemand klingelte. Kurz darauf knackte die Gegensprechanlage: »Ja?«, fragte jemand begleitet von einem störenden Rauschen.

»Guten Abend. Bitte entschuldigen Sie die Störung. Ich müsste dringend telefonieren.«

»Telefonieren?«, kam es etwas schläfrig zurück. »Wer ist denn da überhaupt?«

»Ich bin Jäger und komme aus dem angrenzenden Revier. Ich habe kein Telefon dabei und auch kein Auto. Aber ich hatte im Wald einen kleinen Unfall, sodass ich Hilfe bräuchte.« Es klang sachlich und glaubhaft. Und es zeigte Wirkung.

»Moment«, kam es daraufhin zurück, wieder knackte es und wenig später wurde die Tür geöffnet. Der Wachmann der Schleuse musterte den Jäger verwundert. In seinem Blick lag ein leichtes Misstrauen. Der Jäger schätzte, dass der Mann ihm gegenüber nur etwa halb so alt war, wie er selbst, vielleicht Anfang zwanzig. Sofort nahm er dennoch höflich für einen kurzen Gruß den Hut vom Kopf, achtete aber darauf, ihn gleich darauf noch ein kleines Stückchen tiefer ins Gesicht zurückzusetzen, dann brachte er sein Anliegen ein weiteres Mal vor: »Entschuldigung, dürfte ich bitte einmal Ihr Telefon benutzen?« Zum Unterstreichen seiner Worte beugte er sich etwas vor und hielt sich sein schmerzendes Bein. Das war nicht einmal gespielt.

Der junge Schleusenwärter legte die Stirn in Falten und verzog fragend und unsicher das Gesicht.

»Ich kann das Gespräch auch bezahlen.« Der Jäger zog schnell einen Zehn-Euro-Schein hervor und hielt ihn dem jungen Mann entgegen. Es war alles vorbereitet. »Ich würde mir gern ein Taxi rufen. Sehen Sie, ich habe mir das Bein verletzt, als beim Aufsteigen am Hochsitz eine Sprosse gebrochen ist. War morsch, das blöde Teil. Das habe ich in der Dämmerung übersehen. Und ein Auto habe ich heute nicht mit in den Wald genommen. Ausgerechnet! Schauen Sie nur, wie ich aussehe von dem Sturz.« Er klopfte sich noch ein paar Laub- und Schmutzreste vom Mantel. Alles echt.

»Ah«, der junge Schleusenwächter kratzte sich am Kopf, immer noch war er unentschlossen, überlegte, was er tun sollte. »Hm, sollten wir da nicht lieber einen Krankenwagen rufen?«, versuchte er es dann.

»Ach was«, der Jäger winkte ab. »Nicht nötig, so schlimm ist es nicht. Es war nur näher hierher zu Fuß zu laufen, als von da oben«, er machte eine ausladende Armbewegung über den Rundfels in Richtung Könen, »bis nach Hause.«

»Verstehe. Haben Sie eine Waffe bei sich?«

»Nein, selbstverständlich nicht.«

Der Blick des jungen Mannes wanderte zu der Sporttasche und verharrte dort.

»Hier«, der Jäger deutete mit einer Kopfbewegung zur Tasche, »hier habe ich nur ein paar warme Sachen zum Wechseln und einen Schlafsack drin. Ich hatte vor, die ganze Nacht draußen zu bleiben.«

»Die ganze Nacht im Wald? Und das ohne Waffe?« Das Misstrauen des jungen Wärters war nicht mehr zu überhören.

»Hätte ich die Absicht gehabt, Wild zur Strecke zu bringen, hätte ich sicher auch mein Auto dabei.«

Das klang logisch und war ihm gerade erst eingefallen. Der junge Mann nickte etwas überfordert. Eine Bredouille für ihn, keine Frage.