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Angewandte Kulturwissenschaften E-Book

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Beschreibung

Die Vermittlung von Sprache und Kultur geschieht im Unterricht häufig getrennt voneinander, oft auf Kosten kultureller und lingua-kultureller Aspekte. Der Band versammelt unterschiedliche theoretische Facetten der modernen Kognitions-, Kultur-, Literatur-, Medien- und Sprachwissenschaften und arbeitet ihre Relevanz für die Sprach- und Kulturvermittlung im Ausland anschaulich heraus. Dargestellt werden Grundlagen der kontrastiven Literaturgeschichte und der Literaturwissenschaften, der literarischen Dynamik, der Intermedialität von Literatur, Bild, Film, Musik und Kabarett, der Kulturwissenschaften und der Interkomprehensionstheorie. Ein Ressourcen- und Referenzteil zu Staatsordnung und Parteienlandschaft in Deutschland, zu Sprache und Funktion der Massenmedien sowie eine kompakte Wiederholung der Grundlagen der germanistischen Linguistik schließen diesen multiperspektivischen Band angewandter Kulturwissenschaften ab.

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Angewandte Kulturwissenschaften

Anneli Fjordevik / Jörg Roche

 

 

© 2019 • Narr Francke Attempto Verlag GmbH + Co. KG Dischingerweg 5 • D-72070 Tübingen www.francke.de • [email protected]

 

Das Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechtsgesetzes ist ohne Zustimmung des Verlages unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

 

E-Book-Produktion: pagina GmbH, Tübingen

 

ePub-ISBN 978-3-8233-0145-5

Inhalt

VorwortEinleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZWarum Aus-, Weiter- und Fortbildung heute so wichtig istInterkulturelle Kommunikation im Zeitalter der GlobalisierungInterkultureller FremdsprachenunterrichtEin kleiner historischer Rückblick auf die Entwicklung des FremdsprachenunterrichtsZur kognitiven AusrichtungTeil 1. Grundlagen der angewandten Kulturwissenschaften1. Grundlagen der Literaturgeschichte1.1 Grundzüge einer vergleichenden Literaturwissenschaft1.2 Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur2. Grundlagen der Literaturwissenschaft2.1 Handlung und Figurenkonzeption2.2 Gattung und Erzählperspektive2.3 Schauplatz und Thema3. Grundlagen literarischer Dynamik3.1 Literatur und Performativität im Kabarett des 20. Jahrhunderts3.2 Literatur und (soziale) Angst: Terrorismus und literarische Gestaltung3.3 Literarische Identitätskonstrukte zwischen Heimatzugehörigkeit und Heimatlosigkeit4. Grundlagen der Intermedialität4.1 Literatur, Bild und Film4.2 Literatur und Musik4.3 Literatur und neue Medien5. Kultur und Sprache. Wiederholte kognitivistische Orientierungsversuche5.1 A-kulturelle linguistische Statik und Anglozentrismus in der globalisierten metalinguistischen Praxis und Wissensproduktion5.2 Cultural lag und Humankapital als Voraussetzungen der gegenwärtigen Bildungsökonomie5.3 Die kognitive Gesellschaft: Öffentliche Resonanz, ökonomischer Konsens5.4 Expansive Theoriebildung – ein wissenschaftsgeschichtlicher Exkurs5.5 Bilder im Kopf: Konjunktur der Kompetenz und mögliche Auswege aus einem reduzierten Kultur- und Sprachverständnis6. Grundlagen der Interkomprehension6.1 Graphemik und Wortschatz6.2 Wortbildung und Morphosyntax6.3 Syntax und TextTeil 2. Ressourcen und Referenzmaterialien zu Sprache, Medien, Politik und Gesellschaft7. Parameter der germanistischen Linguistik: Ein Wiederholungs-Blitzkurs7.1 Phonetik und Phonologie7.2 Morphologie7.3 Syntax, Grammatik und Grammatiken7.4 Die Valenzgrammatik und ihre Probleme bei der Anwendung im DaF-Unterricht8. Massenmedien in Deutschland8.1 Überblick über die Medienlandschaft8.2 Funktionen moderner Kommunikationsmittel8.3 Sprache der Massenmedien9. Rechts- und Politikwissenschaften9.1 Staatsordnung Deutschlands9.2 Staatsaufbau Deutschlands9.3 Die Parteienlandschaft in Deutschland und die Europäische Union10. Literaturverzeichnis11. Abbildungsverzeichnis12. Register

Vorwort

Trotz vieler neuerer Bemühungen um Kompetenz-, Aufgaben- und Handlungsorientierung kommen in der Praxis der Sprachvermittlung weiterhin verbreitet traditionelle Verfahren zur Anwendung, beispielsweise bei der Festlegung der Lehrprogression, den Niveaustufen, der Fehlerkorrektur und der Leistungsmessung. Mit der Weiterentwicklung der kognitiven Linguistik und weiterer kognitiv ausgerichteter Nachbardisziplinen beginnt sich nun aber auch in der Sprachvermittlung in vieler Hinsicht ein Paradigmenwechsel zu vollziehen. Die kognitionslinguistischen Grundlagen dieses Paradigmenwechsels werden in dieser Reihe systematisiert und anhand zahlreicher Materialien und weiterführender Aufgaben für den Transfer in die Praxis aufbereitet.

Die Reihe Kompendium DaF/DaZ verfolgt das Ziel einer Vertiefung, Aktualisierung und Professionalisierung der Fremdsprachenlehrerausbildung. Der Fokus der Reihe liegt daher auf der Vermittlung von Erkenntnissen aus der Spracherwerbs-, Sprachlehr- und Sprachlernforschung sowie auf deren Anwendung auf die Sprach- und Kulturvermittlungspraxis. Die weiteren Bände behandeln unter anderem die Themen Sprachenlernen und Kognition, Kognitive Linguistik, Berufs-, Fach- und Wissenschaftssprachen, Unterrichtsmanagement, Medienwissenschaften und Mediendidaktik, Kulturwissenschaften, Mehrsprachigkeitsforschung, Propädeutik.

Durch die thematisch klar abgegrenzten Einzelbände bietet die Reihe ein umfangreiches, strukturiertes Angebot an Inhalten der aktuellen DaF/DaZ-Ausbildung, die über die Reichweite eines Handbuchs weit hinausgehen und daher sowohl in der akademischen Lehre als auch im Rahmen von Weiter- und Fortbildungsmaßnahmen behandelt werden können.

Die meisten Bände der Reihe werden von (fakultativen) flexibel einsetzbaren Online-Modulen für eine moderne Aus- und Weiterbildung begleitet. Diese Online-Module ergänzen den Stoff der Bücher und enthalten Zusatzlektüre und Zusatzaufgaben (www.multilingua-akademie.de). Für diesen Band ist allerdings bisher kein Online-Begleitmodul vorgesehen. Zusatzmaterialien und Hinweise auf eine weiterführende Lektüre finden sich aber auf dem Portal des Gunter Narr Verlags. Das Digitale Lexikon Fremdsprachendidaktik (www.lexikon-mla.de) bietet darüber hinaus Erklärungen der wichtigsten Fachbegriffe und damit einen leichten Zugang zu allen aktuellen Themen der Fremdsprachendidaktik sowie der Sprachlehr- und -lernforschung und ihrer Bezugsdisziplinen.

Möglich gemacht wurde die Entwicklung der Inhalte und der Online-Module durch die Förderung des EU Tempus-Projektes Consortium for Modern Language Teacher Education. Neben den hier verzeichneten Autorinnen und Autoren haben eine Reihe von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern an der editorischen Fertigstellung des Manuskriptes dieses Buches mitgewirkt, vor allem: Katsiaryna EL-Bouz, Christina Bacher und Corina Popp (Gunter Narr Verlag). Ihnen allen gebührt großer Dank für die geduldige und professionelle Mitarbeit. Wir danken außerdem Maren Eckart (Dalarna University) für die Mitarbeit bei der Herausgabe des Bandes.

Dieser Band hat zwei Teile. Im ersten Teil geht es uns um die Darstellung wichtiger Grundlagen angewandter Kulturwissenschaften. Der zweite Teil liefert weitere Ressourcen und nützliche Referenzmaterialien zu den thematischen Schwerpunkten des Bandes, und zwar zu den Themen: Sprache, Medien, Politik und Gesellschaft. Bei der großen Bandbreite und Überschneidungen der Wissenschaften, die sich mit Kultur beschäftigen, muss man exemplarisch vorgehen. Der Fokus dieses Bandes schränkt das große Spektrum insofern ein, als seine Perspektive die der Sprach- und Kulturvermittlung des Fremdsprachenunterrichts ist. In Band 7 dieser Reihe wird bereits ausführlich auf die neuesten Ansätze der Sprach- und Kulturvermittlung eingegangen, die die holzschnittartigen, oft zur Stereotypisierung verleitenden Modelle der Landes- oder Kulturkunde abgelöst haben. Dennoch halten sich im beruflichen Feld nicht nur die Begriffe, sondern mit ihnen auch die Konzepte antiquierter Vorstellungen von Kultur und Sprache im Fremdsprachenunterricht. Um die in Band 7 ausgeführten Modelle, Theorien und Praktiken weiter auszuführen, zu differenzieren und zu illustrieren, sollen hier also die wichtigsten Grundlagen der Sprach- und Kulturwissenschaften anschaulich dargestellt werden.

Einleitung: Die Reihe Kompendium DaF / DaZ

Jörg Roche

Der Bedarf an solider Aus-, Fort- und Weiterbildung im Bereich der Sprachvermittlung nimmt ständig zu. Immer stärker treten dabei spezialisierte Anforderungen zum Beispiel in Bezug auf Fach- und Berufssprachen, Kompetenzen oder Zielgruppen in den Vordergrund. Theoretisch fundiert sollten die entsprechenden Angebote sein, aber gleichzeitig praxistauglich und praxiserprobt. Genau diese Ziele verfolgen die Buchreihe Kompendium DaF / DaZ und die begleitenden Online-Module. In mehreren Modulen und Bänden soll hiermit eine umfassende Einführung in die Wissenschaft und in die Kunst des Sprachenlernens und Sprachenlehrens gegeben werden, weit weg von fernen Theorie- oder Praxiskonstruktionen und Lehr-Dogmen. Im Mittelpunkt des hier verfolgten Ansatzes steht das, was in den Köpfen der Lerner geschieht oder geschehen sollte. Sachlich, nüchtern, effizient und nachhaltig. Buchreihe und Online-Module sind eine Einladung zur Professionalität eines Bereichs, der die natürlichste Sache der Welt behandelt: den Sprachenerwerb. In diesen Materialien und Kursen werden daher Forschungsergebnisse aus verschiedenen Forschungsrichtungen zusammengetragen und der Nutzen ihrer Synthese für die Optimierung des Sprachenerwerbs und Sprachunterrichts aufgezeigt.

Warum Aus-, Weiter- und Fortbildung heute so wichtig ist

Wer sich etwas eingehender darum bemüht zu verstehen, welche Rolle die Sprache im weiten Feld des Kontaktes von Kulturen spielt – oder spielen könnte –, muss von den Gegensätzen, Widersprüchen und Pauschalisierungen, die die Diskussion in Gesellschaft, Politik und Fach bestimmen, vollkommen irritiert sein. Vielleicht lässt sich aus dieser Irritation auch erklären, warum dieser Bereich von so vielen resistenten Mythen, Dogmen und Praktiken dominiert wird, dass das eigentlich notwendige Bemühen um theoretisch fundierte Innovationen kaum zur Geltung kommt. Mangelndes Sprach- und Sprachenbewusstsein besonders in Öffentlichkeit und Politik führen ihrerseits zu einem ganzen Spektrum gegensätzlicher Positionen, die sich schließlich auch bis in die lehrpraktische Ebene massiv auswirken. Dieses Spektrum ist gekennzeichnet durch eine Verkennung der Bedeutung von Sprache im Umgang der Kulturen auf der einen und durch reduktionistische Rezepte für ihre Vermittlung auf der anderen Seite: Die Vorstellung etwa, die Wissenschaften, die Wirtschaft oder der Alltag kämen mit einer Universalsprache wie dem Englischen aus, verkennt die – übrigens auch empirisch über jeden Zweifel erhabenen – Realitäten genauso wie die Annahme, durch strukturbasierten Sprachunterricht ließen sich kulturpragmatische Kompetenzen (wie sie etwa für die Integration in eine fremde Gesellschaft nötig waren) einfach vermitteln. Als ineffizient haben sich inzwischen auch solche Verfahren erwiesen, die Mehrsprachigkeit als Sonderfall – und nicht als Regelfall – betrachten und daher Methoden empfehlen, die den Spracherwerb vom restlichen Wissen und Leben zu trennen versuchen, also abstrakt und formbasiert zu vermitteln. Der schulische Fremdsprachenunterricht und der Förderunterricht überall auf der Welt tendieren (trotz rühmlicher unterrichtspraktischer, didaktischer, struktureller, konzeptueller und bildungspolitischer Ausnahmen und Initiativen) nach wie vor stark zu einer solchen Absonderung: weder werden bisher die natürliche Mehrsprachigkeit des Menschen, die Sprachenökologie, Sprachenorganik und Sprachendynamik noch die Handlungs- und Aufgabenorientierung des Lernens systematisch im Fremdsprachenunterricht genutzt. Stattdessen wird Fremdsprachenunterricht in vielen Gesellschaften auf eine (internationale) Fremdsprache reduziert, zeitlich stark limitiert und nach unterschiedlich kompetenten Standards kanalisiert.

Interkulturelle Kommunikation im Zeitalter der Globalisierung

In unserer zunehmend globalisierten Welt gehört die Kommunikation zwischen verschiedenen Kulturen zu einem der wichtigsten sozialen, politischen und wirtschaftlichen Aufgabenbereiche. Die Globalisierung findet dabei auf verschiedenen Ebenen statt: lokal innerhalb multikultureller oder multikulturell werdender Gesellschaften, regional in multinationalen Institutionen und international in transkontinentalen Verbunden, Weltorganisationen (unter anderem für Wirtschaft, Gesundheit, Bildung, Sport, Banken) und im Cyberspace. Dabei sind all diese Globalisierungsbestrebungen gleichzeitig Teil einer wachsenden Paradoxie. Der Notwendigkeit, die großen sozialen und wirtschaftlichen Probleme wegen der globalen Vernetzung der Ursachen auch global zu lösen, stehen andererseits geradezu reaktionäre Bestrebungen entgegen, der Gefahr des Verlustes der „kulturellen Identität“ vorzubauen. Einerseits verlangt oder erzwingt also eine Reduktion wirklicher und relativer Entfernungen und ein Überschreiten von Grenzen ein Zusammenleben und Kommunizieren von Menschen verschiedener Herkunft in bisher nicht gekannter Intensität, andererseits stehen dem Ideal einer multikulturellen Gesellschaft die gleichen Widerstände entgegen, die mit der Schaffung solcher Gesellschaften als überkommen geglaubt galten (Huntington 1997). Erzwungene, oft mit großer militärischer Anstrengung zusammengehaltene multikulturelle Gesellschaften haben ohne Druck keinen Bestand und neigen als Folge des Drucks vielmehr dazu, verschärfte kulturelle Spannungen zu generieren. Auch demokratisch geschaffene multikulturelle Gesellschaften benötigen meist viel Zeit und Energie, um sich aus der Phase der multi-kulturellen Duldung zu inter-kultureller Toleranz und interkulturellem Miteinander zu entwickeln. Die rechtspopulistischen Bewegungen in Europa und die ethnischen Auseinandersetzungen in Afrika und Asien zeigen, dass es zuweilen gewaltig unter der Oberfläche gesellschaftlicher Toleranz- und Internationalisierungspostulate rumort. Ethnozentrismus, Ausländer- und Fremdenfeindlichkeit, Rechtspopulismus, Rassismus, Diskriminierung, Terrorismus, Bürgerkrieg, Massen- und Völkermord sind durch politisch und wirtschaftlich bewirkten Multikulturalismus nicht verschwunden. Das verbreitete Scheitern von Multikulturalismus-Modellen zeigt, dass ein verordnetes oder aufgezwungenes Nebeneinander von Kulturen ohne Mediationsbemühungen eher Spannungen verstärkt, als nachhaltig Toleranz zu bewirken. Es mangelt an effizienten Verfahren der Vermittlung (Mediation) zwischen Kulturen. Den Sprachen kommt in dem Prozess der Mediation deswegen eine besondere Rolle zu, weil er mit der Kommunikation über kulturelle Grenzen hinweg anfängt und auch nur durch diese am Laufen gehalten wird. Die Sprache kann nicht alle Probleme lösen, aber sie hat eine Schlüsselposition beim Zustandekommen interkulturellen Austauschs, die weit über die Beherrschung von Strukturen sprachlicher Systeme hinausgeht. Diese Funktion hat mehr mit Kulturvermittlung als mit strukturellen Eigenschaften sprachlicher Systeme zu tun und sie kann kaum durch eine einzige Lingua Franca erfüllt werden. Das Lernen und Lehren von Sprachen ist in Wirklichkeit eines der wichtigsten politischen Instrumente im Zeitalter der Globalisierung und Internationalisierung. Sprachunterricht und Sprachenlernen werden aber von Lehrkräften und Lernern gleichermaßen oft noch als die Domäne des Grammatikerwerbs und nicht als Zugangsvermittler zu anderen Kulturen behandelt. Wenn kulturelle Aspekte im Fremdsprachenerwerb aber auf die Faktenvermittlung reduziert werden und ansonsten vor allem strukturelle Aspekte der Sprachen in den Vordergrund treten, bleiben wichtige Lern- und Kommunikationspotenziale ungenutzt. Dabei bleibt nicht nur der Bereich des landeskundlichen Wissens unterentwickelt, sondern es wird in erster Linie der Erwerb semantischer, pragmatischer und semiotischer Kompetenzen erheblich eingeschränkt, die für die interkulturelle Kommunikation essentiell sind. Wenn in der heutigen Zeit vordringlich interkulturelle Kompetenzen verlangt werden, dann müssen in Sprachunterricht und Spracherwerb im weiteren Sinne also bevorzugt kulturelle Aspekte der Sprachen und Kommunikation berücksichtigt werden. Dazu bedarf es aber einer größeren Bewusstheit für die kulturelle Bedingtheit von Sprachen und die sprachliche Bedingtheit von Kulturen. Diese müssen sich schließlich in kultursensitiven Lern- und Lehrverfahren manifestieren, die Mehrsprachigkeit nicht nur künstlich rekonstruieren und archivieren wollen, sondern die in Fülle vorhandenen natürlichen Ressourcen der Mehrsprachigkeit und Mehrkulturalität organisch, dynamisch und effizient zu nutzen wissen. Das Augenmerk der künftigen Lern- und Lehrforschung ist daher verstärkt auf Aspekte der Ökologie und Ökonomie des Sprachenerwerbs und Sprachenmanagements zu richten. Das bedeutet aber, dass die Spracherwerbs- und die Mehrsprachigkeitsforschung sich nicht nur eklektisch wie bisher, sondern systematisch an kognitiven und kultursensitiven Aspekten des Sprachenerwerbs und Sprachenmanagements ausrichten müssen. Diesen Aufgabenbereich zu skizzieren, indem wichtige, dafür geleistete Vorarbeiten vorgestellt werden, ist Ziel dieser Reihe.

Interkultureller Fremdsprachenunterricht

Als die Forschung begann, sich mit interkulturellen Aspekten in Spracherwerb und Sprachunterricht zu beschäftigen, geschah dies auf der Grundlage bildungspolitischer Zielsetzungen und hermeneutischer Überlegungen. Literarische Gattungen sollten den kommunikativen Trend zur Alltagssprache ausgleichen helfen und damit gleichzeitig frische, auf rezeptionsästhetischen Theorien basierende Impulse für das Fremdverstehen und die Fremdsprachendidaktik liefern (vergleiche Hunfeld 1997; Wierlacher 1987; Krusche & Krechel 1984; Weinrich 1971). Die anfängliche Affinität zu lyrischen Texten weitete sich auf andere Gattungen aus und verjüngte mit dieser Wiederentdeckung der Literatur im Fremdsprachenunterricht gleichzeitig das in den 1980er Jahren bereits zum Establishment gerinnende kommunikative Didaktikparadigma. Man vergleiche die Forderung nach einem expliziten interkulturellen Ansatz von Wylie, Bégué & Bégué (1970) und die bereits frühe Formulierung der konfrontativen Semantik durch Müller-Jacquier (1981). Für die auf Zyklen sozialisierte Zunft der Sprachlehre stand fest: das ist eine neue, die vierte Generation der Fremdsprachendidaktik, die interkulturelle, oder zumindest die Version 3.5, die kommunikativ-interkulturelle. Allerdings hat diese Euphorie nicht überall zu einer intensiveren, systematischen Reflexion interkultureller Aspekte in Bezug auf ein besseres Verstehen des Sprachenlernens und eine effizientere Ausrichtung des Sprachenlehrens geführt. Selbst in der Lehrwerksproduktion, deren Halbwertzeitzyklen seitdem immer kürzer werden, ist die Anfangseuphorie vergleichsweise schnell verflogen. Infolge des Gemeinsamen Europäischen Referenzrahmens für Sprachen (GER) – und bereits seines Vorgängers, des Schwellen-Projektes (threshold level project) des Europarates – scheinen sich aufgrund der (oft falsch verstandenen) Standardisierungen die starken Vereinheitlichungstendenzen zu einer Didaktik der Generation 3 oder gar 2.5 zurück zu verdichten. Die Aufnahme der Fremdperspektive in Lehrwerken beschränkte und beschränkt sich oft auf oberflächlich vergleichende Beschreibungen fremder kultureller Artefakte, und die Behandlung der Landeskunde unterliegt nach wie vor dem Stigma der vermeintlich mangelnden Unterrichtszeit.

Ein kleiner historischer Rückblick auf die Entwicklung des Fremdsprachenunterrichts

Der Fremdsprachenunterricht ist traditionellerweise vor allem von den bildungspolitischen, pädagogischen, psychologischen und soziologischen Vorstellungen der entsprechenden Epoche und ihren gesellschaftlichen Trends beeinflusst worden. Diese Aspekte überschreiben im Endeffekt auch alle sporadischen Versuche, den Fremdsprachenunterricht an sprachwissenschaftlichen oder erwerbslinguistischen Erkenntnissen auszurichten. So verdankt die Grammatik-Übersetzungsmethode ihre Langlebigkeit den verbreiteten, aber empirisch nicht begründeten Vorstellungen von der Steuerbarkeit des Lerners, der Autorität des Inputs und der Bedeutung elitärer Bildungsziele. Mit den audiolingualen und audiovisuellen Methoden setzt eine Ent-Elitarisierung und Veralltäglichung des Sprachenlernens ein. Die vorwiegend mit Alltagssprache operierenden Methoden sind direkte, wenn auch reduzierte Abbildungen behavioristischer Lernmodelle und militärischer Bedürfnisse ihrer Zeit. Der kommunikative Ansatz schließlich ist von den Demokratisierungsbestrebungen der Gesellschaften bestimmt. Sein wichtigstes Lernziel, die kommunikative Kompetenz, ist dem soziologischen Ansatz der Frankfurter Schule entlehnt (Habermas 1981). Der Gemeinsame Europäische Referenzrahmen für Sprachen stellt zwar keinen neuen didaktischen Ansatz dar, bildet aber über seine Ausrichtung auf den pragmatischen und utilitaristischen Bedarf eines zusammenwachsenden und mobilen europäischen Arbeitsmarktes den Zeitgeist des politisch und wirtschaftlich gewollten Einigungsprozesses in Europa ab und wirkt daher paradigmenbildend und auf den Unterricht stärker standardsetzend als alle didaktischen Ansätze zuvor. Er weist deutliche Parallelen zu den Proficiency-Guidelines des American Council of Teachers of Foreign Languages (ACTFL) auf, die ihrerseits – wie bereits die audiolinguale Methode – stark von den Bedürfnissen der Sprachschulen des US-Militärs beeinflusst wurden. Eine erwerbslinguistische oder stringente sprachwissenschaftliche Basis weist er nicht auf. Typisch für die zeitlichen Strömungen sind konsequenterweise auch all die Methoden, die in der Beliebigkeit des Mainstreams keine oder nur geringe Berücksichtigung finden können. Diese alternativen Methoden oder Randmethoden wie die Suggestopädie, Total Physical Response, Silent Way oder Community (Language Learning) Approach reflektieren die Suche des Sprachunterrichts nach zeitgemäßen Verfahren, die vor allem die vernachlässigte Innerlichkeit der Gesellschaft ansprechen oder die Kritik an ihrem Fortschrittsglauben ausdrücken sollen. Die gefühlte Wahrheit der Methoden bei gleichzeitigem Mangel an wissenschaftlich-kritischer Überprüfung der Annahmen ergibt ein inkohärentes Bild der Fremdsprachendidaktik und -methodik, das zwangsläufig zu vielen Widersprüchen, Rückschritten und Frustrationen führen muss. Die rasante Abkehr von der Sprachlerntechnologie der 60er und 70er Jahre, das Austrocknen der alternativen Methoden, die Rückentwicklung der kommunikativen Didaktik oder die neo-behaviouristischen Erscheinungen der kommerziellen Sprachsoftware gehören zu den Symptomen dieses Dilemmas. Die anhaltende unreflektierte Verbreitung eklektischer Übungsformen der Grammatik-Übersetzungsmethode oder des Pattern Drills in Unterricht und Lehrmaterial illustriert, wie wenig nachhaltig offenbar die Bemühungen um eine theoretisch fundierte und empirisch abgesicherte kommunikative Didaktik waren. Mit dem Auftauchen der interkulturellen Sprachdidaktik und der „vierten Generation von Lehrwerken“ (Neuner & Hunfeld 1993) schien sich eine Veränderung gegenüber den Referenzdisziplinen anzubahnen. Zunehmende Migration und Globalisierungstendenzen machten eine entsprechende Öffnung nötig. Aber auch diese anfänglichen Bestrebungen haben sich in der Breite des Lehrmaterials und des Sprachunterrichts genauso wenig durchgesetzt wie wissenschaftlich fundierte Modelle von Grammatik und Sprache. Stattdessen beschäftigt sich die Unterrichtsmethodik geradezu aktionistisch mit temporären Neuerungen (wie den neuen Medien, dem Referenzrahmen, der farbigen Darstellung grammatischer Phänomene) oder Wiedererfindungen bekannter Aspekte (wie dem Inhaltsbezug oder der Diskussion der Bedeutung mündlicher Texte), ohne sich ernsthaft mit den wissenschaftlichen Grundlagen der Didaktik zu beschäftigen. Ein kurzer Rückblick auf die Vorschläge von Comenius zum inhaltsbezogenen Lernen aus dem 17. Jahrhundert etwa oder der Sprachreformer früherer Jahrhunderte sowie die Modelle aus den 70er Jahren des 20. Jahrhunderts würde der neueren Diskussion des Content and Language Integrated Learning (CLIL) eine erhellende Perspektive bieten. Comenius hält unter Bezug auf einen christlichen Gelehrten bereits 1623 fest:

Die Kenntnis einer Sprache mache noch keinen Weisen, sie diene lediglich dazu, uns mit den anderen Bewohnern der Erdoberfläche, lebenden und toten, zu verständigen; und darum sei auch derjenige, welcher viele Sprachen spreche, noch kein Gelehrter, wenn er nicht zugleich auch andere nützliche Dinge erlernt habe. (Comenius 1970: 269)

Dabei verbindet Comenius bereits die Prozesse des Spracherwerbs und der allgemeinen Maturation (der Vision und des Intellekts des Kindes) und nimmt damit Jean Piagets Modell der kognitiven Entwicklung sowie die in der Spracherwerbsforschung etablierten, kognitive Entwicklungsphasen repräsentierenden Konzepte der Erwerbssequenzen vorweg. Darüber hinaus produzierte er bereits ein Lehrbuch (Orbis sensualium pictus), in dem er systematisch die Verwendung visueller Materialien beim Sprachenlernen und -lehren bedachte (Comenius 1981). Auch die Mitte des 19. Jahrhunderts im Kontext der industriellen und sozialen Umwälzungen entstandene, bildungspolitisch und methodisch motivierte Reformbewegung des Fremdsprachenunterrichts bildet zwar eine didaktische Brücke zwischen den Arbeiten von Comenius und den Elementen des inhaltsbezogenen und handlungsorientierten Lernens moderner didaktischer Ansätze, verfolgt jedoch keine wissenschaftlichen Ziele. Ihr geht es vielmehr darum: Fremdsprachen jedem zugänglich zu machen, anstatt sie einer exklusiven Elite vorzubehalten, den Fremdsprachenunterricht weit über den Unterricht klassischer Literatur hinaus zu erweitern, indem Inhalte des Alltags- und Berufslebens sowie schulischer Fächer in den Fremdsprachenunterricht aufgenommen werden sollten, zum Beispiel in verschiedenen Verfahren des immersiven Lernens.

Mitbegründer oder Anhänger dieser Bewegung wie Jesperson (1922), Passy (1899), Sweet (1899), Gouin (1892), Berlitz (1887), Viëtor (1882) prägten die Reformbewegung mit unterschiedlichen auf die Praxis ausgerichteten Ideen, Modellen und Unterrichtsverfahren. In seiner einflussreichen Einführung benennt Stern (1983) diese Phase wie folgt:

The last decades of the nineteenth century witnessed a determined effort in many countries of the Western world (a) to bring modern foreign languages into the school and university curriculum on their own terms, (b) to emancipate modern languages more and more from the comparison with the classics, and (c) to reform the methods of language teaching in a decisive way. (Stern 1983: 98)

Verschiedene Methoden sind in den 20er Jahren (bis in die 40er Jahre) des 20. Jahrhunderts als „praktische Antworten“ auf die vorangehende Diskussion entwickelt worden: darunter die vermittelnde Methode (England), die Lesemethode (England) und BASIC English (British / American / Scientific / International / Commercial), ein Versuch, das Sprachenlernen zu vereinfachen und zu rationalisieren. Mit diesen Methoden beginnen die ersten Ansätze, das Unterrichtsgeschehen, die sprachliche Basis, das Testen von Fertigkeiten und das Lern- und Lehrverhalten mittels verschiedener Pilotstudien systematisch zu untersuchen (unter anderem die Modern Foreign Language Study der American and Canadian Committees on Modern Languages1924–1928, siehe Bagster-Collins, Werner & Woody 1930). Dieser Trend wurde in den 40er und 50er Jahren mit der Profilierung der Linguistik noch intensiviert. Hierzu gehören Schlüsselereignisse wie die Veröffentlichung von Psycholinguistics: A Survey of Theory and Research Problems, herausgegeben von Osgood, Sebeok, Gardner, Carroll, Newmark, Ervin, Saporta, Greenberg, Walker, Jenkins, Wilson & Lounsbury (1954), Verbal Behavior von Skinner (1957) und Lados erste systematische Erfassung der kontrastiven Linguistik Linguistics across Cultures: Applied Linguistics for Language Teachers (1957). The American Army Method, deren Errungenschaften später heiß umstritten waren, versuchte nachzuweisen, dass Sprachunterricht auch ohne die traditionellen schulartigen Methoden und mit wesentlich größeren Gruppen und in kürzerer Zeit effizient durchgeführt werden kann. Als Folge der behaviouristischen Ideologie wurden besonders in den USA die audiolingualen und in Frankreich die audiovisuellen Lehrverfahren entwickelt, die lange Zeit den Sprachunterricht dominierten und unter anderem auch dem Vormarsch der Sprachlabortechnologie Vorschub leisteten und – trotz gegenteiliger empirischer Evidenz – bis heute dem konditionierenden Einsatz elektronischer Medien zugrunde liegen (zum Beispiel in Programmen wie Rosetta Stone oder Tell me more).

Die stetige Zunahme von linguistischen Studien und die Begründung der Psycholinguistik als ein interdisziplinäres Forschungsgebiet leisteten später einen wesentlichen Beitrag zur Identifizierung der aus den Methoden der behaviouristischen Verhaltensformung entstehenden Probleme des Spracherwerbs (zum Beispiel Rivers einflussreiches Buch The Psychologist and the Foreign Language Teacher1964). Als Folge der zunehmenden Kritik an den intuitiven Methoden gewann schließlich das kognitive Lernen – bis heute weitgehend als das regelgeleitete, systematische Lernen missverstanden – in der Diskussion um angemessene Ansätze an Gewicht. Chomskys nativistische Theorie auf der einen Seite und soziolinguistische und pragmalinguistische Strömungen auf der anderen haben im Anschluss daran vor allem die Erwerbsforschung und die Entwicklung neuer methodischer Verfahren geprägt. Chomskys Ausgangshypothese zufolge haben Kinder eine angeborene Fähigkeit der Sprachbildung (in der Muttersprache, L1). Wenn Kinder zum ersten Mal die Sprache hören, setzten allgemeine Prinzipien der Spracherkennung und Sprachproduktion ein, die zusammen das ergäben, was Chomsky den Language Acquisition Device (LAD) nennt. Der LAD steuere die Wahrnehmung der gehörten Sprache und stelle sicher, dass das Kind die entsprechenden Regeln ableite, die die Grammatik der gehörten Sprache bildeten. Dabei bestimmten Verallgemeinerungen, wie die Sätze in der entsprechenden Sprache zu bilden seien. Im Zweitsprachenerwerb werde die Reichweite des LAD einfach auf die neue Sprache ausgedehnt. Nativistische Theorien des Spracherwerbs haben jedoch wenig Einfluss auf die Entwicklung von Erwerbs- und Unterrichtskonzepten für Fremdsprachen gehabt. Den stärksten Einfluss haben sie in der Erforschung und Formulierung von Erwerbssequenzen ausgeübt. In deutlichem Kontrast dazu haben sich seit den 1970er Jahren parallel verschiedene Forschungsrichtungen ausgebildet, die sich an die Valenzgrammatik, die Pragmalinguistik (Sprechakttheorie, Diskursanalyse), die funktionale Linguistik, die Textlinguistik und die Psycholinguistik und andere Kognitionswissenschaften anlehnen. Mit wenigen Ausnahmen ist es aber auch dieser Forschung nicht gelungen, nachhaltig auf die Lehr- und Lernpraxis einzuwirken. Unter den Versuchen einer systematischen Nutzung wissenschaftlicher Ergebnisse für die Entwicklung von Lehrmaterial und Lehrverfahren sind die folgenden zu nennen:

ein kurzlebiger Versuch, die Valenzgrammatik als Grundlage einer didaktischen Grammatik einzuführen (zum Beispiel das DaF-Lehrwerk Deutsch Aktiv)

die eklektische Nutzung von Elementen der pragmatischen Erwerbsforschung in der Lehrwerksproduktion (siehe die DaF-Lehrwerke Tangram, Schritte international)

die Berücksichtigung von Aspekten der Interkomprehensionsdidaktik in Lehransätzen (EuroCom)

die Gestaltung des Sprachunterrichts nach handlungstheoretischen und konstruktivistischen Prinzipien (Szenariendidaktik, fallbasiertes Lernen, Fachsprachenunterricht).

Fremdsprachenunterricht wird verbreitet noch als Domäne des Einzelerwerbs betrachtet. Die systematische Nutzung von Kenntnissen der Vorsprachen beim Erwerb weiterer Sprachen wird bisher nur ansatzweise bedacht und bearbeitet. In Begriffen wie Mehrsprachigkeitsdidaktik, Deutsch nach Englisch oder Interkomprehensionsdidaktik zeigen sich die Vorboten einer neuen Generation der Fremdsprachendidaktik, deren Grundlagen jedoch noch zu erarbeiten sind, wenn sie nicht bei kontrastiven Vergleichen verharren will.

Zur kognitiven Ausrichtung

Um zu verstehen, wie die Sprache überhaupt in den Köpfen der Lerner entsteht und sich weiter verändert – und darum geht es in dieser Buchreihe – sind Erkenntnisse aus verschiedenen Nachbardisziplinen der Sprachlehrforschung erforderlich. Die Neurolinguistik kann zum Beispiel darüber Aufschluss geben, welche Gehirnareale wahrend der Sprachverarbeitung aktiviert werden und inwiefern sich die Gehirnaktivität von L1-Sprechern und L2-Sprechern voneinander unterscheidet. Durch die Nutzung bildgebender Verfahren lässt sich die sprachrelevante neuronale Aktivität sichtbar und damit auch greifbarer machen. Was können wir aber daraus für die Praxis lernen? Sollen Lehrer ab jetzt die Gehirnaktivität der Lerner im Klassenraum regelmäßig überprüfen und auf dieser Basis die Unterrichtsinteraktion und die Lernprogression optimieren? Dabei wird schnell klar, dass eine ganze Sprachdidaktik sich nicht allein auf der Basis solcher Erkenntnisse formulieren lässt. Dennoch können die Daten über die neuronale Aktivität bei sprachrelevanten Prozessen unter anderem die Modelle der Sprachverarbeitung und des mehrsprachigen mentalen Lexikons besser begründen, die sonst nur auf der Basis von behaviouralen Daten überprüft werden. Ähnlich wie die Neurolinguistik stellt die kognitive Linguistik eine Referenzdisziplin dar, deren Erkenntnisse zwar für die Unterrichtspraxis sehr relevant und wertvoll sind, sich aber unter anderem aufgrund des introspektiven Charakters ihrer Methoden nicht direkt übertragen lassen. Die kognitive Linguistik erklärt nämlich die Sprache und den Spracherwerb so, dass sie mit den Erkenntnissen aus anderen kognitiv ausgerichteten Disziplinen vereinbar sind. So dienen kognitive Prinzipien wie die Metaphorisierung oder die Prototypeneffekte der Beschreibung bestimmter Sprachphänomene. Der Spracherwerb wird seinerseits durch allgemeine Lernmechanismen wie die Analogiebildung oder die Schematisierung erklärt. Die kognitive Linguistik, die Psycholinguistik, die Neurolinguistik, die kognitiv ausgerichteten Kulturwissenschaften sind also Bezugsdisziplinen, die als Grundlage einer kognitiv ausgerichteten Sprachdidaktik fungieren. Sie sollen in den Bänden dieser Reihe soweit zum Tragen kommen, wie das nur möglich ist. Bei jedem Band stehen daher die Prozesse in den Köpfen der Lerner im Mittelpunkt der Betrachtung.

Teil 1.Grundlagen der angewandten Kulturwissenschaften

1.Grundlagen der Literaturgeschichte

Yuri Stulov

… the story of the European tradition is a rich harvest – a tradition also that owes much to peoples that lived beyond the borders of the smallest and yet most aggressive continent. For that reason we must be respectful to these foreign creditors, for the world of art knows no barriers of geography, race, or language, and there are no tariff walls in matters of the spirit.

(Buck 1947: Introduction)

Dieses Kapitel besteht aus einer Studie ausgewählter literarischer Werke, die von der Antike bis zum heutigen Tage reichen. Sie repräsentiert verschiedene regionale Kulturen und Zeitperioden und ist damit auch für den kulturellen Kontext des Sprachunterrichts relevant. Es wird eine Reihe von kritischen Ansätzen betrachtet, die mit Blick auf verschiedene literarische Texte in Form von Diskussionen innerhalb von Seminaren und schriftlichen Hausarbeiten angewandt werden.

Jede Lerneinheit in diesem Kapitel betrachtet jeweils zwei Texte unterschiedlicher literarischer Gattungen. Die einzelnen Einheiten basieren auf den Verbindungen zwischen den Texten, die verschiedenen Kulturen und Zeitperioden zugeordnet werden können, und liefern Fragestellungen mit welchen man an die Texte herantreten kann. Das Ziel dieses Kapitels ist es, Studenten und Studentinnen in die literarische, kulturelle und soziale Bedeutung der Meisterwerke der Weltliteratur einzuführen, und es ihnen zu ermöglichen, diese literarischen Texte in ihren historischen und kulturellen Kontexten zu analysieren, sowie mögliche Verknüpfungen zwischen den Texten zu finden, um Schlüsse hinsichtlich der Interaktion zwischen Kulturen und kulturellen Epochen auf der ganzen Welt ziehen zu können.

1.1Grundzüge einer vergleichenden Literaturwissenschaft

In der vorliegenden Lerneinheit werden wir Meisterwerke der WeltliteraturWeltliteratur durchgehen, welche im 5. Jahrhundert v. Chr. in Griechenland und in den Vereinigten Staaten des 20. Jahrhunderts verfasst wurden, um Antworten auf die folgenden Fragen zu finden: Warum ist Weltliteratur relevant für die Betrachtung des kulturellen Kontexts, welcher die Entwicklung der Menschheit bestimmte? Welche Verbindungen existieren zwischen der Literatur der Vergangenheit und zeitgenössischer Literatur? Auf welcher Grundlage kann man Werke vergleichen, die verschiedenen Nationen und Zeitperioden zugehörig sind? Auf welche Weise kann das Studium der Weltliteratur hilfreich sein, Grenzen zu überschreiten und zum gegenseitigen Verständnis zwischen Menschen beizutragen? Um diese Fragen beantworten zu können, ist es notwendig zu verstehen, was Weltliteratur gegenüber der vergleichenden Literatur eigentlich ist, sowie zu sehen, welche kritischen Ansätze verwendet werden können, um eine tiefere Einsicht in den kulturellen und ästhetischen Kontext zu gewinnen.

 

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

ein Konzept zur Leseförderung für eine bestimmte Zielgruppe entwerfen können;

verschiedene Definitionen von Weltliteratur vergleichen und diese interpretieren können sowie über die Definition von Weltliteratur selbst reflektieren;

Texte verschiedener Epochen in ihrem zeitlichen und regionalen Kontext analysieren und diese als kulturtragend beschreiben können;

den historischen Ablauf in Bezug auf literarische Bewegungen, bedeutende Autoren und Autorinnen sowie Texte kritisch lesen und verstehen können.

1.1.1Definition der Weltliteratur

Es gibt verschiedene Definitionen des Begriffs Weltliteratur. Das Oxford Dictionary definiert Weltliteratur als:

1. A body of work drawn from many nations and recognized as literature throughout the world. 2. (The sum of) the literature of the world. (Ein Oeuvre, das aus Werken vieler Nationen besteht und als Literatur auf der ganzen Welt anerkannt ist). (Oxford Dictionary a)

Einige Gelehrte betrachten Weltliteratur als die Studie repräsentativer Werke westlicher und nicht-westlicher literarischer Traditionen im kulturellen und historischen Kontext von der Antike bis zum heutigen Tage. Obwohl diese verwurzelt sind in den Regionen der Welt denen sie entstammen, sind sie von großem Interesse für Personen von außerhalb dieser Regionen. Die Leitlinie des Institute for World Literature der Harvard University verweist darauf, dass

our understanding of ‚world literature‘ has expanded beyond the classic canon of European masterpieces and entered a far-reaching inquiry into the variety of the world’s cultures and their distinctive reflections and refractions of the political, economic and religious forces sweeping the globe. (Unser Verständnis von ‚Weltliteratur‘ hat sich über den klassischen Kanon der europäischen Meisterwerke hinaus erweitert und ist zu einer weitreichenden Ermittlung der Diversität der Weltkulturen mit ihren distinktiven Überlegungen und Bruchstellen der politischen, wirtschaftlichen und religiösen Kräfte der Welt übergegangen). (The Institute for World Literature)

J. Hillis Miller beschreibt:

Studying literature from around the world is a way to understand globalization. This understanding allows one to become a citizen of the world, a cosmopolitan, not just a citizen of this or that local monolingual community. (Das Studium der Literatur aus der ganzen Welt ist ein Weg die Globalisierung zu verstehen. Dieses Verstehen erlaubt es einem, ein Weltbürger, ein Kosmopolit zu werden, anstatt eines einfachen Bürgers einer einsprachigen Gemeinde). (Miller 2011: 253)

Ein Student oder eine Studentin der Weltliteratur eignet sich umfassendes Wissen über Literaturen der ganzen Welt an; dies ist eindeutig eine gewaltige Aufgabe, die ein großes Bemühen miteinschließt, die Texte der verschiedenen Nationalliteraturen nicht als eine beliebige Ansammlung anzusehen, sondern als repräsentativ für gewisse literarische Strömungen, Bewegungen und Zeitperioden, die einen länderübergreifenden Wert inne haben.

Das World Literature Syllabus der Penn State University bietet eine genauere Beschreibung dessen, was mit Weltliteratur gemeint ist. Es beinhaltet die folgenden Punkte:

World Literature as a comprehensive corpus of all literary texts in all languages of the world (Weltliteratur als ein umfassender Korpus aller literarischer Texte aller Sprachen der Welt.)

World Literature as an anthropological comparison of how different cultures develop literary forms (Weltliteratur als ein anthropologischer Vergleich hinsichtlich der Art und Weise verschiedener Kulturen, literarische Gattungen zu entwickeln.)

World Literature as a hypercanon of „the best that has been thought and said“ by selected writers of the world (Weltliteratur als ein Hyperkanon des „Besten, das jemals gedacht und gesagt wurde“ von ausgesuchten Autoren der Welt.)

World Literature as the process of diffusion of texts around the globe through translation, adaptation, rewriting, etc. (Weltliteratur als der Prozess der globalen Verbreitung von Texten durch Übersetzungen, Adaptionen und Umschreibungen). (Pennsylvania State University 2014)

David Damrosch formuliert „a threefold definition focused on the world, the text and the reader“ (eine dreifache Definition mit dem Fokus auf Welt, Text und Leser):

World literature is an elliptical refraction of national literatures. (Weltliteratur ist eine elliptische Bruchstelle nationaler Literaturen.)

World literature is writing that gains in translation. (Weltliteratur ist das Schreiben, das durch Übersetzung an Wert gewinnt.)

World literature is not a set canon of texts but a mode of reading: a form of detached engagement with worlds beyond our own place and time (Weltliteratur ist kein fester Kanon von Texten, sondern ein Lesemodus: eine Art losgelöste Beschäftigung mit Welten, die jenseits unserer eigenen Zeit und jenseits unseres eigenen Raums liegen). (Damrosch 2003: 281; Kursiv – David Damrosch)

Er fährt fort:

World literature has often been seen in one or more of three ways: as an established body of classics, as an evolving canon of masterpieces, or as multiple windows on the world. (Weltliteratur wurde oft in bis zu drei Arten betrachtet: als ein etabliertes Oeuvre der Klassiker, als ein sich entwickelnder Kanon der Meisterwerke, oder als multiple Fenster in die Welt). (Damrosch 2003: 15)

Auf eine bestimmte Art und Weise wiederholt J. Hillis Miller einige Inhalte der Definition von Damrosch und bezieht sich dabei auf „the challenge of translation, the challenge of what literary works to choose as representative, the challenge of making a universal definition of ‚literature‘“ (Miller 2011: 251).

1.1.2Vergleichende Literaturwissenschaft

Die vergleichende LiteraturwissenschaftVergleichende Literaturwissenschaft beschäftigt sich ebenfalls mit den Aspekten, die im Abschnitt 1.1.1 behandelt wurden. Der Fokus ist allerdings ein etwas anderer: Er überschreitet Grenzen und liegt „beyond the the boundaries of languages and national literary traditions, between cultures and world regions, among disciplines and theoretical orientations, and across genres, historical periods, and media“ (ICLA, International Comparative Literature Association). Djelal Kadir betont den übernationalen und transkulturellen Charakter der vergleichenden Literaturwissenschaft. Ihm zufolge gilt:

Comparative Literature is the systematic practice of discerning, examining, and theorizing symbolic processes as they affect the material and aesthetic enablements in the production, valuation, and dissemination of literary culture at and through transnational and transcultural sites. (Vergleichende Literaturwissenschaft ist die systematische Praxis der Wahrnehmung, Untersuchung und Theorie symbolischer Prozesse, während diese materielle und ästhetische Möglichkeiten in der Produktion, Valuation und Dissemination der literarischen Kultur auf und durch übernationale und transkulturelle Standorte beeinflussen). (Kadir 2001: 25)

Die International Comparative Literature Association sagt ebenfalls, die vergleichende Literaturwissenschaft „extends to the study of sites of difference such as race, gender, sexuality, class, ethnicity, and religion in both texts and the everyday world“ (ICLA). Die Brown University ist lakonischer in ihrer Definition der vergleichenden Literaturwissenschaften und beharrt auf den internationalen Charakter der Forschung und Anleitung. Sie wird maßgeblich als „the study of literature and other cultural expressions across linguistic and cultural borders“ (comparative literature) bezeichnet (Brown University). Die Yale University betont dagegen die Interdisziplinarität. Ihre diskursive Praxis vereint das Partikuläre mit dem Generellen, lokale Spezifität mit globaler Universalität. Kadir weist darauf hin, dass neue diskursive Formationen „lines, borders, frontiers“ definieren, „and parameters are no longer crossed but are transcended“ (Kadir 2001: 27). In diesem Sinne wird die vergleichende Literwissenschaft „as a discursive field, as cultural institution, and as historical formation“ (Kadir 2001: 27) betrachtet.

Kulturelle Zeiträume
Griechisch-römische Kultur

Die griechisch-römische Kultur beziehungsweise die antike Klassik (8. Jahrhundert v. Chr. bis 5. Jahrhundert n. Chr.) erstreckte sich um das Mittelmeer herum und umfasste die Zivilisationen des antiken Griechenlands und des antiken Roms. Während der Hochzeit dieser Kultur erstreckte sie sich von den britischen Inseln über Kleinasien, dem Kaukasus, Mesopotamien bis zu den Rändern Indiens. Die griechische und römische Philosophie, Wissenschaft, das Recht, Literatur und Kultur beeinflussten Europa, Nordafrika und Südwestasien immens. Die Kunst der griechischen und römischen Kultur betonte den Aspekt des Gedenkens und vereinte die symbolische und narrative Behandlung eines Themas. Von besonderer Relevanz sind die Formen des literarischen Unterfanges, die einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung der Europäischen Literatur und der Weltliteratur hatten, wie etwa der Mythos, die Tragödie, die Komödie, lyrische Poesie. Diese finden sich in den Werken von William Shakespeare, John Milton, Jean Racine, Molière, James Joyce, T.S. Eliot, André Gide, Jean Anouilh, Eugene O’Neill, Lajos Mesterházy und vielen anderen wieder.

Der Geist des Ostens

Kulturelle Prozesse gingen nicht in Isolation vonstatten, sondern entwickelten sich durch verschiede Arten von direktem wie indirektem Kontakt sowie konstanter Interaktion. Neben dem Besten, das die antike griechische und römischen Literatur zu bieten hatte, gab es auch den ethischen und ästhetischen Standard der hebräischen Bibel, die epische Kraft der Mahabharata, die vorzügliche Dramatik der Akoontala, die Lyrik der persischen und ägyptischen Poesie, die Feinheit des Korans und die philosophische Tiefe und Schönheit der konfuzianischen Klassiker, welche alle einen weitreichenden Einfluss auf die Weltliteratur hatten.

Das Mittelalter

Der Fall Roms im Jahre 476 n. Chr. wurde gefolgt von einem tausend Jahre währenden Zeitraum, der heute als das Mittelalter bekannt ist, und der bis zur italienischen Renaissance andauerte. Während diesem Zeitraum wurde die Kirche zur mächtigsten Institution. Das Christentum spielte eine wichtige Rolle in dem Fall des größten Imperiums der Welt, da es zu einem Wandel im System der moralischen Werte führte. Die Bibel ist die Grundlage des Judentums, des Christentums und einiger anderer Religionen. Die Mythologie der Bibel, das heißt ihre Motive, Charaktere, Bildsprache und Sprache wurde später von vielen Autoren unterschiedlicher Länder wieder aufgegriffen, von Dante Alighieri und Francesco Petrarch bis William Shakespeare, John Milton, George Gordon Byron, Charles Dickens, Fjodor Michailowitsch Dostojewski, Jospeh Conrad, William Faulkner, John Steinbeck, James Baldwin, William Golding, Michail Bulgakov, Pär Lagerkvist, Tschingis Aitmatow und vielen anderen. Die mit dem US-Pulitzer-Preis dotierte Autorin Marilynne Robinson weist darauf hin: „The Bible is the model for and subject of more art and thought than those of us who live within its influence, consciously or unconsciously, will ever know“ (Robinson 2011).

Es war die Zeit der großen Völkerwanderung in ganz Asien und Europa, während der sich Nationen und nationale Staaten nebst Volkssprachen bildeten. Neue soziale Strukturen erschienen unter dem Einfluss des wirtschaftlichen Wachstums und Handels, der technologischen Entwicklung und Bildung, die weitreichende Folgen für das Leben in den Städten nach sich zogen. Kreative Literatur wurde in den Volkssprachen verfasst; die Sprache der Wissenschaft und Wissenschaftler war Latein. Die wesentlichen literarischen Gattungen umfassten das Heldenepos, die Lyrik (vor allem den Minnesang) sowie Rätsel und Mysterienspiel. Die meiste mittelalterliche Literatur wurde mündlich weitergegeben. Die wichtigsten Motive waren Minne (höfische Liebe), Ritterlichkeit, die Heldentaten der Kreuzritter und biblische Ereignisse.

Die Renaissance

Die Renaissance ist eine präzedenzlose Zeitperiode hinsichtlich der Entwicklung der Europäischen Gesellschaft, Kunst und Wissenschaft und umspannt einen Zeitraum vom 14. bis zum 17. Jahrhundert. In diesen Zeitraum fielen ebenfalls der Abstieg des Feudalsystems und das enthusiastische Wiederaufleben eines Interesses an der Antike, ihrem kulturellen Erbe und klassizistischen Lernen.

Dies stand in Verbindung mit der neuen intellektuellen Bewegung des Humanismus, welcher den Menschen als Zentrum betrachtet und und den Wert und die Würde des Menschen betont. Diese Zeitperiode brachte den „Renaissance Menschen“ beziehungsweise den universal man – ein Ideal des vielseitigen und in sich wohlgerundeten Menschen: „[L]imitless in his capacities for development“ (The Editors of Encyclopaedia Britannica 2017). Die ultimative Quelle von Werten ist der Mensch als das Maß aller Dinge. In diesen Zeitraum fielen ebenfalls die Erforschung neuer Kontinente, große wissenschaftliche Entdeckungen und Innovationen, wie der Buchdruck. Diese Epoche brachte zudem artistischen Wert von einmaliger Qualität hervor: Die Gemälde von Raffael, Michelangelo, Titian, Leonardo da Vinci, Albrecht Dürer, Peter Bruegel, Rembrandt, Skulpturen von Donatello and Michelangelo, Bücher von François Rabelais, Michel de Montaigne, Miguel de Cervantes und William Shakespeare.

Die Moderne

Die Moderne begann ungefähr im 16. Jahrhundert. Die Verwendung neuer wissenschaftlicher Methoden führte zur Verbreitung von Wissen in allen Gesellschaftsschichten sowie zu raschem wirtschaftlichem Wachstum durch die Zeit der Aufklärung und der wissenschaftlichen und industriellen Revolution. Es war das Zeitalter der Entdeckungen, der Globalisierung und der Kolonisation anderer Kontinente durch europäische Großmächte. Die Entwicklung des Kapitalismus führte zur Industrialisierung und zur Urbanisierung. Individualismus und Fortschrittsglaube sind Folgen der Moderne. Neues demokratisches Gedankengut fand sich in verschiedenen Feldern des menschlichen Handelns wieder und beeinflusste damit stark die sozialen, politischen und wirtschaftlichen Veränderungen. Der Handel mit dem Ausland und alle Formen des Kontakts charakterisierten die Beziehungen zwischen Europa, dem amerikanischen Doppelkontinent, Asien und Afrika. Die alte Weltordnung wurde von dem Ausgang des Ersten Weltkrieges durchbrochen, der einen Prozess weitreichender politischer und wirtschaftlicher Veränderungen sowie die Dekolonisation und Aufteilung der Welt in Blöcke in Gang setzte.

Die Postmoderne

Der postindustrielle Kapitalismus bestimmte die Entwicklung der Postmoderne, die mit dem Gedankengut der Aufklärung und seinem Glauben an den Fortschritt, wie auch mit den Ideen der Moderne brach. Die Postmoderne beginnt in den 1960er Jahren und hat einen spürbaren Einfluss auf die Philosophie, Kultur, Kunst und Literatur der heutigen Zeit. Einige der wichtigsten charakteristischen Merkmale der Postmoderne sind die Konzepte der Pluralität und Multiplizität kultureller Paradigmen, der Multikulturalismus, die Dezentralisierung, „an incredulity towards metanarratives“ (Lyotard 1984), die Fragmentation, die sich unter dem Einfluss der Postindustrialisation, Informationsrevolution, Verbreitung von Innovationen, des Konsumerismus etc. entwickelte. In der Literatur brachte dies Texte hervor, die auf Fragmentation, Intertextualität, Auflösung von Grenzen zwischen „anspruchsvoller“ und „banaler“ Kunst, Hybridität, Entmarginalisation der zuvor marginalisierten Minderheit und Experimentierung basierten.

1.1.3Zusammenfassung

Es gibt verschiedene Definitionen des Begriffs Weltliteratur. Der Begriff bezeichnet zum einen alle literarischen Texte aller Sprachen der Welt, zum anderen repräsentative Werke für literarische Strömungen, Bewegungen und Zeitperioden, die länderübergreifend von Bedeutung sind. Eine weitere Definition bezieht sich auf den Kulturbegriff und die Art, wie verschiedene Kulturen literarische Gattungen entwickeln.

Damroschs Definition zielt auf die Faktoren Welt, Text und Leser und bringt somit die Dynamik und Losgelöstheit von Grenzen, die der Weltliteratur innewohnen, zum Ausdruck.

Von Weltliteratur kann man sowohl im Sinne etablierter Klassiker als auch im Sinne eines sich entwickelnden Kanons von Meisterwerken sprechen. Zudem bietet Weltliteratur ein vielfältiges Fenster in die Welt.

Die vergleichende Literaturwissenschaft zeichnet sich ebenfalls durch einen übernationalen und transkulturellen Charakter aus. Auch kulturelle Zeiträume, wie die griechisch-römische Kultur, der Geist des Ostens, das Mittelalter, die Renaissance, die Moderne und auch die Postmoderne, spielen für die Erkenntnisse der vergleichenden Literaturwissenschaft eine bedeutende Rolle.

1.1.4Aufgaben zur Wissenskontrolle

Inwiefern verkörpert der Fachbereich der vergleichenden Literaturwissenschaft Interdisziplinarität?

Nennen Sie Beispiele für literarische Formen der griechisch-römischen Kultur, die einen erheblichen Einfluss auf die Europäische Literatur und die Weltliteratur hatten.

Welche Gattungen spielten im Mittelalter eine tragende Rolle? Wie verbreitete sich die Literatur zu dieser Zeit und welche Motive wurden literarisch verwertet?

Durch welche Merkmale zeichnet sich die Postmoderne aus? Welche Folgen hatten diese für literarische Texte dieser Zeit?

1.2Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur

In der Lerneinheit 1.1 haben Sie sich eingehend mit den wissenschaftlichen Disziplinen der Weltliteratur und der vergleichenden Literaturwissenschaft beschäftigt. Beide haben dabei gemeinsam, Literatur über historische, nationale oder kulturelle Grenzen hinweg zu betrachten. Genau das ist auch Ziel der vorliegenden Lerneinheit, wobei der Fokus auf ausgewählter Weltliteratur und deren Einflüssen durch die griechische Literatur liegt.

Genauer hat Lerneinheit 1.2 den Einfluss der Geschichtszyklen Metamorphosen des großen römischen Poeten Ovids auf die Weltliteratur im Kontext von Zeit und Ort zum Thema. Die Metamorphosen wurden 8 n. Chr. verfasst und sind das Magnum Opus des römischen Poeten Ovid (Ovidius). Wir suchen Antworten auf die folgenden Fragen: Warum wird das antike Epos als das wichtigste Werk der Weltliteratur angesehen? Warum ist es relevant für die Studie von diversen Autoren, wie etwa Dante, Chaucer, Shakespeare, Kafka und vielen anderen? Welche Verbindungen bestehen zwischen Ovids epischem Gedicht und Titus Andronicus, Ein Sommernachtstraum, Romeo und Julia von William Shakespeare und Die Verwandlung von Franz Kafka? Was ist die Grundlage für Vergleiche zwischen Texten, die verschiedenen Nationen und Zeitperioden angehören? Und inwiefern hängt dies mit der Intertextualität zusammen? Um diese Fragen zu beantworten, ist es notwendig, zunächst einen Überblick über die griechische Literatur zu erhalten und die Entwicklung der von Ovid inspirierten Tradition zu verstehen. So können Sie schließlich erkennen, warum das Motiv der Metamorphose beziehungsweise der Transformation einen derart prominenten Teil der Weltliteratur einnimmt.

 

Lernziele

In dieser Lerneinheit möchten wir erreichen, dass Sie

einen Überblick über die griechische Literatur erhalten;

die Einflüsse der griechischen Literatur auf die Weltliteratur nachvollziehen können;

verschiedene Definitionen von Metamorphosen vergleichen, interpretieren und über die verschiedenen Typen der Metamorphose in Ovids Gedicht reflektieren können;

Texte verschiedener Epochen im zeitlichen und regionalen Kontext analysieren und sie als kulturtragend beschreiben können;

den historischen Ablauf der Entwicklung von Ovids Motiven in den Texten der großen Weltautoren kritisch lesen und verstehen können.

1.2.1Die griechische Mythologie als Grundlage der antiken griechischen Kultur und Literatur

Die griechische Mythologie beinhaltet die frühesten Formen des literarischen Unterfangens, die einen tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung Europäischer Literatur hatten. Sie ist ein Textkörper, der sich mit der Schöpfung, mit Griechischen Göttern, Heroen und dem Verständnis der Welt beschäftigt und der gleichzeitig einen Einblick in die antike griechische Zivilisation gibt. Das Merriam-Webster-Wörterbuch definiert den Mythos als

a usually traditional story of ostensibly historical events that serves to unfold part of the world view of a people or explain a practice, belief, or natural phenomenon. (Merriam-Webster o.J.)

In seiner wegweisenden Studie über die Mythologie wie auch über die Hauptmotive und Charaktere des Mythos und der Folklore betrachtete Eleazar Meletinsky den Mythos als ein semiotisches Phänomen und kam zu dem Schluss, dass archaische Traditionen von paradigmatischer Signifikanz für die Entwicklung von Literatur sind. Aufbauend auf Jungs Theorie der Archetypen, formuliert Meletinsky grundlegende geistige Universalien, die sich in Märchenstrukturen und epischen narrativen Strukturen gespiegelt finden. Er zeigte die Transformationen von bedeutenden mythischen und folkloristischen Figuren von der antiken Literatur bis zur Literatur des 20. Jahrhunderts und betonte dabei, „myth is always expanding“. „Meletinsky links the re-mythication of modern literature to the universality of the poetic unconscious“ (Lanoue 1998: X). Ihm zufolge ist es so: „Myth is a multi-faceted phenomenon that expresses the fundamental characteristics of human thought, social behaviour and artistic expression; hence the contributions from literary criticism must be given as much weight as strictly ethnological approaches to myth“ (Meletinsky 1998: XXI).

Für die Griechen war die Mythologie ein Teil ihrer Geschichte und wurde dafür verwendet, Naturphänomene, kulturelle Variationen und Beziehungen zur Außenwelt zu erklären. Griechische Mythen beschreiben die Erschaffung der Welt und befassen sich mit den Leben und Abenteuern von Göttern, Göttinnen, Helden, Heldinnen und anderer mythologischer Kreaturen. Laut Walter Burkert sind „the Greek gods […] persons, not abstractions, ideas or concepts“ (Burkert 1985: 182). Sie besitzen ihre eigenen Interessen, die oft aufeinandertreffen, da die Götter auch eifersüchtig, neidisch, rachsüchtig und gnadenlos sein können. Das Heldenzeitalter brachte zusätzlich den Heldenkult (oder Halbgötterkult) hervor. Es gibt eine Reihe von Mythen, die erzählen wie Götter sich in das Leben der Menschen einmischen und damit das Motiv der göttlichen Gerechtigkeit einführen.

Da die Mythen schon vor der Einführung der geschriebenen Sprache existierten, wurden sie von einer Generation zur nächsten mündlich überliefert und damit die Grundlage der antiken griechischen Kultur und Literatur sowie später die Grundlage der Kultur, Künste und Literatur der westlichen Zivilisation. Sie übten einen großen Einfluss auf die europäischen Sprachen aus. Die bedeutenden Werke der griechischen Literatur befassten sich mit wichtigen Motiven des griechischen Mythos, wie etwa der Macht des Schicksals, der Sterblichkeit, Moralität, dem Heldenabenteuer, der Gefahr der Eitelkeit, vergeltender Gerechtigkeit, Entlohnung für Güte und Vergeltung des Bösen. All diese Motive sind später von Autoren und Autorinnen aus verschiedensten Teilen der Erde aufgegriffen worden. Die Macht des Schicksals manifestierte sich in der Gestalt der Göttinnen des Schicksals, die die Unentrinnbarkeit des menschlichen Schicksals symbolisierten. Dies wiederum ist eindringlich dargestellt in der Geschichte von Laios, dem König von Theben und seinem Sohn Ödipus. Das Heldenabenteuer bedeutet sowohl physisches wie spirituelles Wachstum und schließt eine Reihe an Figuren ein, die nahezu unmögliche Aufgaben bewältigen, wie etwa Herkules, Theseus und Odysseus. Die Geschichte des Ikarus etwa ist ein Beispiel, wie Stolz und übermäßige Ambition bestraft werden. Die chinesische Variante dieses Mythos erzählt die Geschichte von Kua Fu, einem Riesen, der versucht die Sonne zu jagen und dafür bestraft wird, ihr zu nahe gekommen zu sein. Blutvergießen bringt nur noch mehr Blutvergießen hervor, wie die Geschichte des Hauses von Atreus demonstriert. Dies wird auf verschiedene Weise in Homers großen Epen aufgegriffen sowie in der Aischylos Trilogie Orestie, Sophokles’ Ödipus Trilogie und dem Theaterstück Elektra aus der Feder des Euripides.

Die ältesten bekannten epischen Gedichte Die Illias und Die Odyssey werden dem blinden Poeten Homer zugeschrieben, über den nichts bekannt ist. Es ist unbekannt, zu welchem genauen Zeitpunkt sie verfasst wurden, aber basierend auf indirekten Befunden, könnten sie dem 9. bis 8. Jahrhundert v. Chr. zugeordnet werden. Die Epen handeln von den Ereignissen, die in Verbindung mit dem trojanischen Krieg stehen. Die Illias beschreibt die Belagerung der Stadt Troja während des trojanischen Krieges. In beiden Gedichten ist eine Reihe von antiken Mythen erhalten. Die Götter nehmen aktiv am Krieg teil und unterstützen den ein oder anderen ihrer Favoriten. Das Gedicht glorifiziert menschliche Würde und Tapferkeit angesichts widriger Umstände. Odysseus, einer der prominentesten griechischen Krieger, wird zum Protagonisten der Odyssee, die die Rückkehr in seine Heimat Ithaka beschreibt. Während seiner zehnjährigen Reise durchlebt er eine Reihe von Abenteuern, die ihm dabei helfen, sein eigenes Wesen zu entdecken und die Komplexität der Welt zu verstehen. Das Gedicht handelt ebenso von Schicksal, freiem Willen, intellektueller und spiritueller Wanderung oder Suche, die zu bedeutenden Motiven der antiken griechischen Tragödien werden und später zu einigen Motiven der Weltliteratur.

Das griechische Theater

Das griechische Theater entwickelte sich aus religiösen Festen zu Ehren Dionysos, einem Gott der Fruchtbarkeit, des Weins, der Vergnügungen und Festivitäten. Besondere Theaterbauten namens theatron wurden auf den Hängen der Hügel errichtet. Die ursprüngliche Form des Schauspiels umfasste Tanz und Gesang, der sich auf die antiken Mythen bezog. Die Schauspieler waren ausschließlich männlich und trugen traurige oder lächelnde Masken, je nach Genre des Theaterstücks. Die Masken dienten auch dazu, die Stimme zu verstärken. Zu Beginn des Theaterstücks stand eine Art Dialog zwischen dem ersten Schauspieler (Protagonist) und dem Chor. Oft gab es auch einen Wettbewerb zwischen den Dramatikern darüber, wer seine Stücke während dem dionysischen Fest präsentieren durfte. Den Gewinnern wurden Preise verliehen.

Das griechische Theater entfaltete sich um das 5. Jahrhundert v. Chr. Die Werke der Tragiker Aischylos, Sophokles und Euripides hatten tiefgreifenden Einfluss auf die Entwicklung der Europäischen Kultur und Literatur. Die Handlung der meisten Tragödien bezieht sich auf das Zeitalter der Helden und den trojanischen Krieg und stellt das dem Untergang geweihte Haus von Atreus dar: Agamemnon, Klytemnestra sowie deren Kinder (Iphigenie, Orest, Elektra); die tragische Dynastie von Theben (Ödipus, Jokaste, Polyneikes, Eteokles, Antigone und Ismene); Jason, der Anführer der Argonauten und Medea und so weiter. Während dem Heldenzeitalter gehörten Götter und Heroen der sakralen Sphäre an. Eines der wichtigsten Ereignisse, bei dem die Helden ihre Kraft, ihren Mut, Einfallsreichtum und ihre Geschicklichkeit zur Schau stellten, waren die argonautische Expedition, der trojanische Krieg, der thebanische Krieg. Diese sahen die großen Heldentaten des Herakles, sowohl Held als auch Gott, sowie Achilles, Äneas, Hektor, Leonidas, Odysses, Ödipus, Orpheus, Paris, Tantalus, Theseus etc. Viele von ihnen treten auch in den griechischen Tragödien auf. Das Oxford Dictionary definiert die Tragödie als „a play dealing with tragic events and having an unhappy ending, especially one concerning the downfall of the main character“ (Oxford Dictionary b).

Aischylos (525–455/456 v. Chr.) siegte zum ersten Mal im Wettbewerb der Dramatiker im Jahre 484 v. Chr. und durchlief eine bemerkenswerte Karriere als Dramatiker, in der er über 90 Theaterstücke verfasste. Nur sieben dieser Theaterstücke sind heute überliefert. Er führte die erste Trilogie basierend auf einem einzigen Motiv ein: Orestie sowie ein zweiter Schauspieler. Die letztere Neuerung half, den oft statischen Charakter der früheren Theaterstücke zu überwinden und sorgte für mehr Dynamik und Handlungsvariationen. Die Trilogie handelt von der Familie des Atreus und erforscht das Wesen der Gerechtigkeit, die Justiz, Vergeltung und Gnade, die Rolle der Götter, das Schicksal des Menschenlebens und die soziale Ordnung. Aischylos beharrt darauf, dass ein ungesühntes Verbrechen unweigerlich zu einem weiteren führt. Eines seiner Stücke – Die Perser – handelt vom Kampf Athens gegen die Perser. Der Dramatiker selbst nahm teil an den Schlachten von Salamis und Marathon. Er wird zu Recht der „Vater der Tragödie“ genannt.

Sophokles (495–405 v. Chr.) gewann seinen ersten Preis 468 v. Chr. und siegte damit gegen Aischylos. Zu seinen Lebzeiten schrieb er ungefähr 120 Stücke und errang 18 erste Preise. Nur sieben dieser Stücke sind heute noch überliefert. Er begann mit der Verwendung von gemalter Hintergrundszenerie, führte einen dritten Schauspieler ein, schaffte die Form der Trilogie ab und beschäftigte sich intensiv mit der Psychologie seiner Figuren, wie an seinen Meisterstücken König Ödipus, Antigone und Elektra ersichtlich ist. Sophokles macht Frauen zu den Heldinnen seiner Stücke: Antigone ist eine Art radikale Feministin, die die männlich-dominierten sozialen Strukturen herausfordert. In König Ödipus befasst sich der Dramatiker mit dem sogenannten tragic flaw (tragischer Fehlertragischer Fehler) oder hamartia, ein „inherent defect or shortcoming in the hero of a tragedy, who is in other respects a superior being favored by fortune“ (The Editors of Encyclopaedia Britannica 2016a). Der tragische Fehler des Ödipus sind seine unfreiwilligen Verfehlungen, die dazu führen, dass er genau das tut, was er versuchte zu vermeiden, nämlich das was in der Prophezeiung des Orakels von Delphi vorhergesagt wurde.

Euripides (484–407/406 v. Chr.) war der Jüngste der drei großen Tragiker. Er errang nur vier erste Preise, obwohl er fast unmittelbar nach seinem Tod als der tragischste der griechischen Dramatiker angesehen wurde. Seine psychologische Einsicht in das Wesen seiner Figuren ist ungewöhnlich tiefgreifend und beschreibt die Erfahrungen eines normalen Individuums statt eines Heldens. Er führte die Intrige in seinen Stücken ein und erschuf das Liebesdrama. Eines seiner bedeutendsten Werke ist das Stück Medea. Euripides verfasste 90 Stücke, von denen 18 heute überliefert sind. Seine Abhandlung von gewöhnlichen Motiven war provokativ wie verstörend; die meisten Athener wussten seine Herangehensweise nicht zu schätzen. Dennoch ist Medea heute eine der höchst gelobten Tragödien im Repertoire der weltweit führenden Theatergruppen. Das Stück stellt eine leidenschaftliche Frau dar, die alles opfert für Jason, den Mann den sie liebt.

Die griechische Komödie

Die griechische Komödie entstand im 6. Jahrhundert n. Chr. und brachte zwei große Komödianten hervor: Aristophanes und Menander. Das Merriam-Webster Dictionary definiert die Komödie als „[…] a drama of light and amusing character and typically with a happy ending; […] the genre of dramatic literature dealing with the comic or with the serious in a light or satirical manner“. Aristophanes (448–385 v. Chr.) verfasste 40 Stücke, von denen elf heute überliefert sind. Zwei dieser Stücke stehen in direkter Kritik zu Euripides (The Acharner, Die Frösche). Komödien machen sich über Götter, Menschen und ihre Torheiten lustig. Einige dieser Stücke stellen eine Antwort zum Peloponnesischen Krieg dar. Das berühmteste ist Lysistrata, ein Anti-Kriegsstück, das die Schicksale der Frauen beschreibt, die dem Krieg ein Ende setzen möchten, da dieser ihnen ihre Ehemänner und Söhne nimmt. Einige dieser Stücke sind politische Satiren. Aristophanes verwendete ebenfalls Mythen, wie zum Beispiel in Die Vögel oder Die Frösche.

1.2.2Bezüge der Weltkulturen zur griechischen Mythologie und zur antiken griechischen Literatur

Bezüge zur griechischen Mythologie und der antiken griechischen Literatur finden wir in allen Weltkulturen, die verschiedene mythische Aspekte in ihre kulturellen Artefakte haben einfließen lassen. Dieser Einfluss ist besonders stark in der Gesamtheit der europäischen Literatur zu spüren: In den Werken von Francesco Pertrarch, Giovanni Boccaccio und Dante Alighieri in Italien, Geoffrey Chaucer, William Shakespeare, John Milton, Percy Bysshe Shelley in Großbritannien, Pierre Corneille und Jean Racine in Frankreich, Johann Wolfgang von Goethe in Deutschland, Gavrila Derzhavin, Alexander Pushkin in Russland etc. Griechische Mythen waren ebenfalls das Rohmaterial für die Opern von Georg Friedrich Händel, Christoph von Gluck und Wolfgang Amadeus Mozart. Die Romanautoren beziehungsweise -autorinnen und Dramatiker beziehungsweise Dramatikerinnen des 20. Jahrhunderts reinterpretierten mythologische Motive, darunter so unterschiedliche wie Jean Anouilh, Jean Cocteau, Eugene O'Neill, Tennessee Williams, Thomas Sterns Eliot, Lajos Mesterházi, Marina Tsvetaeva, Seamus Heaney oder James Joyce. Es empfiehlt sich mit den antiken griechischen Mythen und deren Interpretation durch antike griechische Dramatiker vertraut zu sein, um die Werke zeitgenössischer Autoren und Autorinnen in ihrer Gesamtheit schätzen zu können.

Der bedeutendste US-amerikanische Dramatiker, Eugene O’Neill (1888–1953), baute seine Stücke auf dem griechischen Konzept der Tragödie auf. Er zeigte das bemerkenswerte Potenzial, das die Kräfte behind life, wie er es nannte, bargen und das menschliche Schicksal bestimmten. Dank dem psychologischen Realismus von O’Neills Stücken erlangte das amerikanische Drama einen weltrenommierten Status. In seinen Stücken erforscht O’Neill mutig das Innenleben seiner Figuren, ihre Motive, Ängste, Hoffnungen und Reaktionen auf Themen und Probleme, die oft universeller Natur sind. Der Dramatiker erweiterte das Spektrum, das als angemessen für Theaterstücke angesehen wurde, um Themen wie Rasse, Geschlecht, die Macht des Unterbewusstseins und Sex. Im Zentrum seiner Stücke stehen, ähnlich wie in den klassischen griechischen Tragödien, meistens die Figuren. O’Neill studierte die Traditionen der griechischen Tragödie und erfand das Genre so auf einmalige Weise neu. Dies erbrachte ihm 1936 den Literaturnobelpreis „for the power, honesty and deep-felt emotions of his dramatic works, which embody an original concept of tragedy“ (NobelPrize.org). Sein Werk war zudem auch stark von den Entdeckungen der europäischen Dramatiker Strindberg, Henrik Ibsen und Anton Chekhov beeinflusst, die das Drama des alltäglichen Lebens einer normalen Person erforschten. Sie schufen, was heute als das theater of mood bekannt ist und befürworteten damit den psychologischen Realismus.

„The kind of theatre that O’Neill’s plays hint at could not have flourished on the stage without the necessary acting, directing, and design practices to support it“ (Zarilli, McConachie, Williams & Fisher Sorgenfrei 2010: 402). Er brauchte neue Schauspieler, die sich von den alten abgedroschenen Traditionen der Schauspielerei und Klischees befreien konnten; er hatte das Glück diese in der Truppe der Provincetown Players zu finden, eine Theatergruppe, die 1915 in Provincetown, Massachusetts gegründet wurde. Einige seiner bekanntesten Stücke feierten ihre Premiere in Provincetown. Jenseits vom Horizont (1920) bescherte ihm den ersten von vier Pulitzer-Preisen für Theater; das Stück war eine intensive psychologische Studie zweier Männer, die dieselbe Frau liebten. Der Kaiser Jones (1920) stellte einen all Negro cast (wörtlich so im Programm ausgeschrieben), eine komplett schwarze Besetzung, vor und brachte einen unverzüglichen finanziellen Erfolg. Die Titelrolle wurde von Paul Robeson, dem erfolgreichsten afroamerikanischen Schauspieler, Sänger und Aktivisten gespielt, nachdem der ursprüngliche Darsteller Charles Gilpin zurückgetreten war. Das Stück verbindet Elemente des psychologischen Realismus mit Expressionismus, der charakteristisch für die Theaterstücke der 1920er ist. Der Ursprung dieser Art des Theaters liegt in Deutschland und wird beschrieben als Expressionismus:

Artistic style in which the artist seeks to depict not objective reality but rather the subjective emotions and responses that objects and events arouse within a person. The artist accomplishes this aim through distortion, exaggeration, primitivism, and fantasy and through the vivid, jarring, violent, or dynamic application of formal elements. (The Editors of Encyclopaedia Britannica 2019)

Eines seiner bekanntesten Stücke Sehnsucht unter Ulmen (1924