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Eine unbekannte Leiche im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien, islamistische Bombendrohungen auf den Verpackungen einzelner Bio-Eiweiß-Produkte und eine Erpresserforderung, bei der es um Waffenlieferungen geht, stellen den Burn-out-geplagten Kriminalhauptkommissar Georg König vor ein Rätsel. Indes ist seine Frau, Journalistin Amadea König, davon überzeugt, dass zu viel Eiweiß für den Tod ihres Nachbarn verantwortlich ist. Als sie einen Lebensmittelskandal aufdeckt, wird Amadea selbst zur Zielscheibe …
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Seitenzahl: 332
Veröffentlichungsjahr: 2019
Helen Kampen
Angst in der Fächerstadt
Kriminalroman
Lebensmittelskandal Im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medien wird kurz nach der Vernissage zur »Digital Food« eine Leiche gefunden. Schon bald stellt sich heraus, dass es sich bei dem Toten um den Geschäftsführer eines Unternehmens handelt, das Bio-Eiweiß-Produkte verkauft. Sehr zum Leidwesen ihres Ehemanns ist Journalistin Amadea König davon überzeugt, dass zu viel Eiweiß für den Tod ihres Nachbarn verantwortlich ist. Kriminalhauptkommissar Georg König ermittelt und stößt auf islamistische Bombendrohungen, die in Drogeriefilialen für Panik sorgen, und auf einen Erpresser, der den Stopp von Waffenlieferungen fordert. Doch was hat der Hersteller von hochwertigen Eiweißprodukten damit zu tun? Der spurlos verschwundene Felix Blumenthor, der mit dem Unternehmen zusammengearbeitet hat, gerät unter Mordverdacht. Hat der international bekannte Künstler den Geschäftsführer tatsächlich umgebracht? Georg kommt bei seinen Ermittlungen einem Verbrechen auf die Spur, das weite Kreise zieht. Dabei lernt er, dass Eiweiß durchaus tödlich sein kann …
Helen Kampen, 1982 in Baden geboren, studierte Betriebswirtschaftslehre und arbeitet seither in der Lebensmittelbranche. Sie hat zahlreiche Lebensmittel entwickelt und bundesweit bei unterschiedlichen Handelsketten eingeführt. Nach mehreren Jahren im Marketing und in der Produktentwicklung bei namhaften Unternehmen gründete die Autorin ihr eigenes, sodass sie sich heute ihre Zeit zum Schreiben frei einteilen kann. Als Querdenkerin hat sie es sich zum Ziel gemacht, in der Buchbranche neue Wege zu beschreiten und Impulse zu setzen. Helen Kampen ist Mitglied im Autorenverein »Das Syndikat« und wohnt mit ihrer Familie in Ettlingen bei Karlsruhe.
Personen und Handlung sind frei erfunden.
Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen
sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.
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Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch
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Alle Rechte vorbehalten
1. Auflage 2019
Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt
Herstellung: Julia Franze
E-Book: Mirjam Hecht
Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart
unter Verwendung eines Fotos von: © Little Adventures / shutterstock.com
Druck: CPI books GmbH, Leck
Printed in Germany
ISBN 978-3-8392-5886-6
Für meinen Opa, der just an dem Tag entschlief, als ich dieses Buch beendete. Ich vermisse dich.
Die Angst lauerte an jeder Ecke wie ein unsichtbarer Geist und wartete darauf, ihr Unwesen zu treiben. Sich jedem unwillkürlich zu bemächtigen. Sich auszubreiten und festzusetzen wie ein gefährliches Virus. Sie steigerte sich bis ins Unermessliche und machte vor niemandem halt. Schichtarbeiter fürchteten sich genauso wie Ärzte, Studenten auf die gleiche Art wie Rentner, Männer ebenso wie Frauen. Sie war so stark, dass sie ohne Weiteres Sehnsüchte besiegen konnte und erst mit dem Tod endete.
Früher diente natürliche Angst als Schutzmechanismus. Menschen hätten ohne sie kaum überleben können. Aber galt das auch für heute? Im Hier und Jetzt? Nein. Oder vielleicht doch? Ich wusste es nicht. Ich wusste nur, dass die Menschen um mich herum Getriebene waren. Getriebene einer Zeit, die das Streben nach dem Maximum verlangte und der man sich trotz starkem Selbstbewusstsein nur schwer entziehen konnte? Einer Zeit, in der Scheitern noch immer mit gesellschaftlicher Demütigung gleichgesetzt wurde?
Ich mochte nicht glauben, dass das normal war.
Aber was waren die Gründe für diese allgegenwärtige Angst, die das Leben in sämtlichen Bereichen lähmte und uns zu irrationalen Handlungen verleitete?
Gründete die Angst möglicherweise in dem Umstand, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinanderdriftete und die Menschen in Konsequenz zu Handlungen bewegte, die bis vor einiger Zeit unvorstellbar waren? Weil sie die Wohlstandsgesellschaft in Gefahr sahen oder weil sie allein urteilen wollten? Selbst richten und nicht ihr Leben dem Schicksal, der Arbeitslosigkeit oder irgendeinem Spinner in die Hand geben wollten? Oder hatten die Probleme ihren Ursprung etwa in der Flüchtlingsproblematik, in der es für viele ums bloße Existieren ging? Ein Thema, das Menschen eigennützig missbrauchten, um einen gesellschaftlichen Disput zu provozieren. Und das zu Aktionen führte, die wir vor Jahrzehnten noch schamvoll betrachteten, und uns fragten, wie etwas Derartiges jemals hatte passieren können.
Ich wusste es nicht, fragte mich aber seit geraumer Zeit, wo denn die Selbstachtung geblieben war, mit der die Menschen in der Vergangenheit Großes bewegt hatten. Die Selbstverständlichkeit anderen zu helfen, wenn sie es nötig hatten. Der mit winzigen Fühlern ausgestattete Optimismus.
Wie dem auch sei. Die Angst war in Deutschland zu einem omnipräsenten Thema geworden. Sie war unbesiegbar. Einmal im Kopf, konnte man sie nicht mehr verbannen wie ein lästig gewordenes Haustier.
Auch ich hatte Angst. Nicht die Angst, zum Opfer zu werden. In meinem Fall war es eine andere Angst. So hatte ich getan, was getan werden musste. Etwas Unverzeihliches. Unwiderrufliches. Ich hatte einen Menschen getötet. Aber ich würde die Angst besiegen. Auf meine Art.
Als Kriminalhauptkommissar Georg König über den Platz der Menschenrechte eilte, erhellte der Vollmond die Klangskulpturen aus schwarz lackiertem Stahl und zeigte ihm den Weg zum Eingang. Eine Gruppe grölender Studenten kam gerade aus der Atlantic Bar direkt neben dem Filmpalast, jeder mit einer halb leeren Bierflasche in der Hand und grenzenlosem Enthusiasmus in den Augen. Ausgestattet mit einer Lust, die Nacht zu erobern und gegen die Müdigkeit so lange wie möglich anzukämpfen. Gleich würden sie in den Nightlinerbus Nummer zwei einsteigen und einen Abstecher in einen der Karlsruher Clubs in der Innenstadt machen. Oder sie würden zum Alten Schlachthof fahren und im Substage, im Tollhaus, der Fettschmelze oder in der Alten Hackerei tanzen gehen. Einen kurzen Augenblick beneidete der Kriminalhauptkommissar die Leichtigkeit, mit der sie die Nacht durchfeiern, das Leben genießen konnten. Ohne sich Gedanken über das Morgen zu machen.
Er machte sich Gedanken über das Morgen. Immer schon. Er wusste, dass die nächsten Tage nicht wie normale Arbeitstage ablaufen würden, an denen er von morgens um 7.30 Uhr bis nachmittags um 16.30 Uhr arbeitete. Zumindest so lange, bis dieser Fall geklärt wäre. Was er nicht wusste, war, was ihn gleich erwartete, wenn er das ZKM betrat. Seine Kollegin hatte ihn um kurz vor 1.00 Uhr angerufen. Mit neutraler Stimme, wie ferngesteuert. Viola Weisenhaupt hatte ihn lediglich darüber informiert, dass es einen unbekannten Toten gäbe. Und dass die Rechtsmedizin längst auf dem Weg war. Wegen der eindeutigen Tatsache, dass es sich hier um einen Mord handelte. Selbstverständlich hatte sie die Kollegen von der Kriminaltechnik bereits in der Nacht ins Bild gesetzt und damit die ersten Schritte der Ermittlungsarbeit zum Laufen gebracht. Mehr hatte sie ihm nicht mitgeteilt. Georg hatte einige Zeit gebraucht, um zu realisieren, was Viola gesagt hatte, denn seine Frau Amadea war erst eine Stunde zuvor von einer Ausstellungseröffnung im ZKM gekommen, und sie hatten beide die Nacht noch mit einem Absacker beendet. Er hatte das Handy zurück auf den Nachttisch gelegt und seinen Kopf auf das Kissen. Zumindest kurz wollte er die unterschiedlichen Möglichkeiten abwägen. Doch er hatte keine Wahl. Er konnte nicht warten. Die Kollegen konnten nicht warten. Seine Präsenz am Tatort war zwingend. Als er erkannte, dass es überhaupt keine Alternativen gab, war er hellwach.
Nun ging er als Einziger an dem gläsernen Kubus des Zentrums für Kunst und Medientechnologie entlang, dem bedeutendsten Kunsthaus Deutschlands. War sein früheres Leben wirklich weniger anstrengend oder kam ihm das nur so vor, weil in der Zwischenzeit zu viel Druck auf ihm lastete? Oder machte sich sein fortschreitendes Alter allmählich bemerkbar? Das war jetzt nebensächlich. Er musste sich zusammenreißen. Das hatte er sich versprochen. Seiner Frau. Seinem Vorgesetzten. Jetzt würde er beweisen müssen, wie stark er in Wirklichkeit war. Vor ihm lag jedoch wieder eine Aufgabe, die ihn fast in die Knie zwang. Denn obwohl ihn die Häufigkeit, mit der er in der Vergangenheit mit dem Tod in seinen unterschiedlichsten Facetten konfrontiert worden war, zu einem routinierten Polizisten hatte werden lassen, war er vor einer Tatortbegehung jedes Mal seltsam berührt. Er wusste nicht, was ihn erwartete. Ein Toter, der ihn mit leeren Augen anstarrte, als wolle er ihm sagen, dass er seinen Mörder schnappen sollte, weil er drei Kinder als Halbwaisen zurückließ? Oder die Leiche von jemandem, für den der Tod eine Erlösung darstellte? Doch in welchem Zustand der Mensch war, den er gleich zu Gesicht bekäme, oder um wen es sich dabei handelte, wusste er nicht. Noch nicht. Ob jung oder alt, männlich oder weiblich, all das spielte zudem keine Rolle. Es war völlig egal. Wichtig war nur, die Hintergründe des Todes aufzuklären. Nichts anderes zählte jetzt. Nichts anderes zählte in den nächsten Stunden. Georg musste sich fokussieren. Auf das Verbrechen. Auf den Täter. Nicht nur, um den Angehörigen die notwendige Erklärung zu liefern, um das Geschehene zu verstehen und bestenfalls zu verarbeiten. Sondern auch, um sich selbst zu retten. Sich aus der quälenden Lethargie zu befreien, der er sich nur allzu gern wieder hingeben würde. Die ihre Arme ausbreitete wie eine verlassene Mutter bei der Rückkehr ihres Kindes. Doch er würde ihr nicht nachgeben. Nie mehr.
Dann straffte er die Schultern und griff nach der Klinke der fast vier Meter hohen Glastür, die ins Foyer eines der weltweit renommiertesten Kunstmuseen führte. Der Eintritt in eine andere Welt. Das ZKM, das es in einem internationalen Ranking auf den vierten Platz geschafft hatte, stand nicht mitten in der Innenstadt, sondern hatte sich in der Südweststadt angesiedelt. In einer ehemaligen Munitionsfabrik, die während des Zweiten Weltkriegs weder gefunden noch zerstört wurde. In dem denkmalgeschützten Industriebau bekamen unterschiedliche Künstler auf über 15.000 Quadratmetern Raum für verschiedene Ausstellungen aus allen Bereichen der Kunst. Ob Malerei, Fotografie oder Medienkunst, im ZKM wurden klassische Kunstwerke ins digitale Zeitalter fortgeschrieben. In der Scheibe spiegelte er sich. Mit dem rostbraunen Pferdeschwanz und dem Fünftagebart hätte Georg mittlerweile besser in eine Punkrock-Band gepasst als zum Kriminalkommissariat. Er sah müde aus. Müde und hilflos. Wie erwartet ließ sich die Tür nur mit großer Kraftaufwendung öffnen, denn um diese Uhrzeit war der automatische Türöffner abgeschaltet. Er durchschritt sie, während er sich gegen die herausfordernden Aufgaben, die ihn in den kommenden Tagen erwarteten, wappnete. Er würde den engsten Verwandten die Nachricht des Todes überbringen müssen, wohlwissend, dass die meisten Verbrechen in genau diesem Kreis stattfanden.
Ein Plakat kündigte die Eröffnung der Ausstellung »Digital Food« am gestrigen Abend an, unter deren Titel Georg sich zunächst nichts vorstellen konnte. Er wusste von seiner Frau Amadea, dass sich auch die Lebensmittelindustrie für das digitale Zeitalter wappnen musste, warum man allerdings Lebensmittel in einem Kunstmuseum zweckentfremdete, war ihm schleierhaft. Nach ihrem letzten Artikel für das Naturmagazin »Terra« hatte Amadea ihren stressigen Job als Redakteurin gekündigt, auch weil sie damals in die Fänge einer Mörderin geraten war. Stundenlang musste sie einer Frau gegenübersitzen, die jeden Moment zu explodieren drohte. Anschließend hatte sie die Reißleine gezogen und ihren Entdeckungsjournalismus auf die Lebensmittelbranche reduziert. Ihr Magazin »Food im Ländle« erschien bereits zum dritten Mal und wurde sehr gut angenommen. Nach all den Lebensmittelskandalen interessierten sich die Menschen immer mehr für die Lebensmittel, die sie ihren Körpern zuführten.
Doch auch Amadea hatte ihm bislang nicht erklären wollen, was »Digital Food« bedeutete. Letzte Nacht war es ihr zu nervenaufreibend erschienen, sie wollte erst einmal eine Nacht über das Gesehene schlafen und Georg zunächst nicht darüber berichten. Sollte es etwa heißen, dass die Menschen in Zukunft nicht mehr wie heute Essen zu sich nahmen, sondern sich von Pillen und Tabletten ernährten, deren Blisterverpackungen einen Code enthielten und automatisch nachgeliefert wurden, wenn sie ein Minimalgewicht unterschritten? Oder bedeutete es, dass die Menschen zukünftig nur noch in Gedanken aßen und der Magen lediglich virtuell über das Smartphone oder einen Chip im Arm gesteuert wurde? Georg schüttelte den Kopf, er wollte sich überhaupt nicht vorstellen, inwieweit die digitale Evolution weiteren Einzug in persönliche Bereiche wie Lebensmittel und Genuss hielt. Das würde eine über Jahrtausende gelernte Routine der Menschheit durchbrechen. Musste sich alles ändern, nur weil es die Zeit verlangte?
Jedes Mal, wenn Georg die mit einer lichten Höhe von über zehn Metern ausgestattete Eingangshalle betrat, fühlte er sich klein. Zu klein, um die Kunst zu verstehen. Zu klein, um Kunst zu rationalisieren. Zu klein, um die Menschen vor Verbrechern zu beschützen. Zu klein, um die Welt zu verändern. Die dunkelgrauen Stahlträger, die bis unter das Dach reichten, verliehen dem Foyer einen Hauch von Flughafenatmosphäre. Denn genau wie am Flughafen war auch hier alles im Fluss. Es gab keinen Platz für Rückschritt. Keinen Platz für Stillstand. Keinen Platz für Tod.
»Georg, gut, dass Sie da sind. Hier entlang«, forderte ihn Viola Weisenhaupt auf, seine Kollegin aus dem K1, nachdem er zunächst den halbrunden, zu dieser Uhrzeit unbesetzten Informationsschalter angesteuert hatte. An dem frühen Morgen blitzten eine orangefarbene Hose, ein enges weißes Oberteil und ein bunt gemusterter Gürtel unter ihrem Schutzanzug hervor. Wie immer trug sie eine farblich zu ihrem Outfit abgestimmte Brille wie andere Frauen eine Kette.
»Stimmt es, dass ihn bisher niemand identifizieren konnte?«, vergewisserte Georg sich bei der 34-Jährigen, die aus Berlin stammte und sich vor einigen Monaten nach Karlsruhe hatte versetzen lassen. Nicht etwa der Liebe wegen, sondern weil sie genug hatte von dem vielen Elend und den zunehmenden Übergriffen auf Beamte im Polizeidienst, bei denen sie selbst bereits Opfer geworden war. Sie hatte sich Karlsruhe ausgesucht, weil sie hoffte, dass es in einer kleinen Großstadt beschaulicher zuging. Außerdem kannte sie die aufstrebende Technologiestadt von einem Netzwerkkongress, der im letzten Jahr in der dm-Arena stattgefunden hatte. Trotz ihres jungen Alters machte sie einen hervorragenden Job, was vermutlich auch daran lag, dass sie in der Hauptstadt bereits mit sämtlichen Verbrechen konfrontiert worden war und sie somit nicht mehr viel umhaute.
»Leider ja«, antwortete die Polizistin, als würde sie den Ausverkauf von knackigen Bratwürstchen bei einem Fußballspiel kommentieren.
Tote ohne Namen waren besonders schlimm. Nicht nur, weil man die Angehörigen nicht informieren konnte, sondern vor allem, weil man nicht wusste, wo man mit den Ermittlungen ansetzen sollte. Mit wem musste man zuerst sprechen, wen befragen? Meistens ging so viel Zeit darauf, die Identität festzustellen, dass man dem Täter einen beneidenswerten Vorsprung einräumte. Die ersten Stunden nach einem Verbrechen waren für die Aufklärung die wichtigsten. Die, in denen Zeugen sich noch an Details erinnerten. Die, in denen Aufnahmen noch gesichert werden konnten. Die, in denen der Täter nicht ausreichend Zeit fand, sich ein Alibi zurechtzulegen und Bekannte zur Teilnahme an einer nachvollziehbaren Geschichte zu überreden.
»Was haben Sie bisher unternommen?«, wollte Georg wissen, der Viola um eineinhalb Köpfe überragte.
»Ich habe die Leiche natürlich fotografiert und das Bild an Facebook und die dpa geschickt. Was sonst?« Sie verschränkte die Arme vor der Brust und atmete übertrieben laut aus. »Georg, es ist mitten in der Nacht. Sobald ich die Zahnabdrücke habe, kann ich gerne anfangen, sie den Zahnärzten in der Umgebung für einen Abgleich zu schicken. Wenn es Ihnen vielleicht entgangen ist, es ist Wochenende. Vor Montag schaut sich das niemand an. Ist ja nicht so, dass Ärzte ihre E-Mails ständig checken oder online sind wie irgendwelche IT-Freaks oder eGamer. Ärzte haben noch ein Privatleben.« Sie unterdrückte ein Gähnen, bevor sie ihre Brille auf ihre Nase schob. Dafür hatte sie sich einen eigentümlichen Stil angewöhnt. Viola hielt ihre Sehhilfe wie ein Weinglas. Wenn sie sie zurechtrückte, benutzte sie meist nur ihren Daumen und ihren Zeigefinger, während sie die anderen Finger weit abspreizte.
»Ist ja schon gut. Das war nicht so gemeint«, sagte er beschwichtigend. Er ließ aber offen, wie er es stattdessen gemeint hatte.
Schweigend reichte sie ihm den weißen Schutzanzug, den auch er wortlos über seine Jeans und sein grünes Polohemd streifte. Violas dunkelbraune Locken wippten auf und ab, als sie die mit Industrieparkett belegte Holztreppe nach oben voranschritt. Er eilte ihr nach, bis sie vom ersten Stock in das atemberaubende Foyer schauten, auf dessen unterster Ebene ein Bistro untergebracht war. Die am Rande aufgetürmten Stühle der vergangenen Veranstaltung zeugten von einem großen Besucheraufkommen. Die Kriminalbeamten betraten den Raum mit den diversen Ausstellungsobjekten nicht, denn sie hatten keine Zeit für einen Einblick in die Bedeutung von »Digital Food«. Stattdessen wandten sie sich nach rechts, bis sie auf der gegenüberliegenden Seite angelangt waren. Von dort führte eine Wendeltreppe in das zweite Stockwerk.
»Wo ist der Tote jetzt?« Georg sah sich um, konnte aber nur das rot-weiße Absperrband ausmachen, das den Bereich auf der ersten Etage abgrenzte. Viola antwortete nicht, sondern zeigte stattdessen mit dem Zeigefinger nach oben.
»Mir nach, der läuft uns schon nicht weg«, sagte sie und hielt sich am Geländer fest, während sie in ihren mit orangefarbenen Federn verzierten Stiefeletten zum zweiten Obergeschoss stieg. Die Tür zur Herrentoilette wurde mit einem Holzklotz offen gehalten, die nächste brauchte keinen, weil zu viele Personen ein Zufallen verhinderten. Auf den ersten Blick machte Georg fünf Menschen aus. Die Kriminaltechniker kümmerten sich darum, den Tatort sprechen zu lassen, indem sie sämtliche objektiv verwertbaren Spuren sicherten. Georg begrüßte den ein oder anderen, bevor er an den beiden Waschbecken vorbeilief und durch die zweite Tür nach innen lugte. Darin ging es noch geschäftiger zu als im Vorraum. Ein Fotograf stellte Nummernschilder zu kleinsten Details, bevor er sie aus mehreren Blickwinkeln ablichtete. Ein weiterer gab den Zahlen Namen und notierte sie in einer Liste. Der Boden war übersät von unterschiedlichen Geräten und Werkzeugen. Aus den ausgebreiteten Koffern lugten zusätzliche Utensilien heraus. Der Leiter der achten Kriminalinspektion, die sich um die Spurensicherung kümmerte und die Hoheit über den Tatort innehatte, baute sich breitbeinig vor Georg auf. Es hatte den Anschein, als wolle er nicht, dass jemand einen Blick auf die Leiche warf, ohne ihn vorher um Erlaubnis zu bitten. Unter seinen Augen hatten sich die dunkel eingefallenen Ringe in rote, halbkreisförmige Abdrücke verwandelt, die den Vergleich mit einem Brandmal nicht zu scheuen brauchten. Michael Olbermann inspizierte Georg und überprüfte insgeheim, ob er seinen Schutzanzug ordnungsgemäß übergestreift hatte. Nichts missfiel ihm mehr als die Vorspiegelung falscher Tatsachen oder im »Tatort« herumlaufende Mordermittler in Turnschuhen, während die Kriminaltechniker in voller Montur arbeiteten. Wie bei einer Einlasskontrolle nickte er und gab Georg und Viola den Weg frei. Die Rechtsmedizinerin kniete auf den mit weißen Sprenkeln überzogenen dunkelgrauen Fliesen, wie sie vor Jahren modern und dennoch zeitlos waren.
Als Georg etwas sagen wollte, winkte Ingelore Herbold ab: »Bitte, Georg, keine Fragen zum Tatzeitpunkt, zu Spuren oder zum Täter. Du weißt, dass ich die noch nicht beantworten kann. Und auch nicht will.« Sie gewährte ihm einen Blick auf die Leiche. Der Mann in der dunkelblauen Hose mit dem farblich abgestimmten Pullover, der normalerweise locker über den Schultern hängen sollte, jetzt aber auf dem Boden ruhte, lag auf dem Rücken. Seine Augen waren geschlossen. Auf seinem weiß-rot gestreiften Hemd hatte sich auf Brusthöhe ein Blutfleck gebildet, der am Rand bereits angetrocknet war. Unterhalb seines Brustbeines steckte ein Messer mit einem silbernen Griff, der fast fünf Zentimeter lang war. Auf den ersten Blick ein ganz normales Messer.
Georg unterdrückte ein Seufzen. »Wäre ja auch zu schön gewesen, um wahr zu sein.«
»Eins kann ich dir mit Sicherheit schon sagen.« Sie machte eine kurze, nahezu theatralische Pause, während derer sich ihr Oberkörper hob und senkte. Manchmal hatte er den Eindruck, dass an ihr eine Schauspielerin verloren gegangen war. »Der Mann wurde erstochen. Mit einem Volltreffer würde ich sagen. Ein sauberer Stich mitten ins Herz.«
»Ist er denn sofort gestorben?«, hakte Georg nach.
»Ziemlich schnell. Er dürfte maximal eine Minute ohnmächtig gewesen sein«, bestätigte Ingelore. »Das Messer sieht für mich wie ein handelsübliches aus. Aber um das Herz vom Brustbein aus direkt zu treffen, müsste die Klinge mindestens zehn Zentimeter lang sein. Näheres gibt es nach der Untersuchung.«
»Warum hat der Täter diese Stelle gewählt?«
»Ich schätze mal, weil er genau wusste, dass das die einzige Möglichkeit ist, direkt ans Herz zu kommen.«
»Dass es sich um Mord handelt, ist klar?«, vergewisserte er sich, woraufhin Ingelore nur nickte.
»Und das Tatwerkzeug hat der Täter gleich dagelassen. Will der uns eigentlich auf den Arm nehmen? Oder ist er sich so sicher, dass wir ihn nicht schnappen?«
»Sieht so aus. Aber nur die Ruhe. Bei der Obduktion finde ich bestimmt noch mehr heraus. Über das Opfer, den Täter und den Tathergang.« Sie wandte sich den beiden Männern zu, die mit einem Sarg vor der Tür warteten und auf deren schwarzen Polohemden das Emblem des örtlichen Bestatters dezent aufgenäht war. »Sie können ihn jetzt mitnehmen. Bringen Sie ihn bitte in Ihr Kühlhaus«, sagte sie währenddessen. Sobald der Termin für die Obduktion anberaumt war, würde die Leiche in das Rechtsmedizinische Institut nach Heidelberg überführt werden. Aber solange musste sie noch in Karlsruhe verweilen. Ingelore drehte sich noch mal um. »Bevor die obligatorische Frage nach dem Todeszeitpunkt kommt, ich tippe darauf«, sie schaute auf ihre weißgoldene Armbanduhr, die sie seit Jahren trug, und sagte: »dass er seit ziemlich genau drei Stunden tot ist. Er müsste also gegen 23.00 Uhr erstochen worden sein. Georg, organisierst du mir den Beschluss für die Obduktion? Dann schaffen wir die vielleicht noch am Wochenende. Ich habe keine Lust, mit Druck in die nächste Woche zu starten.«
»In Ordnung. Das ist doch schon mal etwas, vielen Dank.« Georg sah sich ein weiteres Mal um und entdeckte die Toilette im Miniaturformat, über der eine Videokamera installiert war. Er wunderte sich zunächst darüber, doch als er die Herrentoilette verließ, wurde ihm einiges klar. Auf einem Bildschirm wurden unterschiedliche Szenen aus den Waschräumen gezeigt. Doch die Filmsequenzen wurden nicht von der Toilette selbst, sondern von der Nachbildung generiert. Offensichtlich wollte der Künstler darauf hinweisen, dass wir immer und überall unter Beobachtung standen.
»Künstler«, sagte er fast schon verächtlich und schüttelte den Kopf. »Werde ich nie so ganz verstehen.«
»Über Kunst kann man sich wahrlich sehr streiten«, stimmte Viola zu.
»Mir ist bei vielen Objekten überhaupt nicht klar, was der Künstler aussagen möchte«, pflichtete Georg ihr bei. »Waren Sie schon in der Ausstellung?«
»Privat? Die hat doch erst gestern eröffnet. Ich habe vorhin kurz reingeschaut. Als ich das Exponat aus Insektenflocken und Algenpaste in Großaufnahme gesehen habe, wusste ich nicht so recht, was ich damit anfangen sollte«, gab sie zu.
»Das geht mir öfter so«, bekräftigte er.
Viola zuckte mit den Schultern. »Was den Fall angeht, Georg.« Sie spielte mit ihren lilafarbenen Haarspitzen, die einen Kontrast zu den restlichen braunen Locken bildeten. »Sie können auf mich zählen. Jederzeit.« Violas Wangen glühten wie die Sonne im Abendrot.
»Danke. Gut zu wissen.« Er zwang sich zu einem aufmunternden Lächeln. Bevor er ins Kriminalkommissariat in die Hertzstraße fahren würde, wollte er noch mit den Schutzpolizisten sprechen, die zuerst am Tatort waren, und auch mit den Mitarbeitern des Museums, die zur Verfügung standen. Die ersten Befragungen lieferten schließlich im Normalfall die beweiskräftigsten Ergebnisse. Nun war kein Platz mehr für Lethargie. Georg musste handeln.
Obwohl sie erst kurz vor 1.00 Uhr ins Bett gegangen war, konnte Amadea nicht schlafen. Das hatte jedoch nichts mit dem Vollmond zu tun, der mitten auf das Bett mit dem braunen Polsterrückenteil in ihrer Altbauwohnung schien. Der Stuckverzierung zuliebe hatten sie auf Vorhänge verzichtet. Vielleicht sollte sie diese Entscheidung ein weiteres Mal mit ihrem Mann diskutieren. Stattdessen hatte sie die Nachricht aufgewühlt, dass es im ZKM einen Toten gegeben haben sollte. Amadea hatte ihren Mann zwar gelöchert und ihm sämtliche Fragen zu dem Verbrechen gestellt. Doch aus ihm war nichts herauszukriegen außer einem »Kein Kommentar«. Er versteckte sich jedes Mal hinter dem Datenschutz und dem heiligen Begriff der Ermittlungsgeheimnisse. Sie erwartete überhaupt nicht, dass er sie wie Donna Leons Commissario Brunetti in alles einweihte, aber er sollte ihr schon ab und an etwas erzählen. Wie er es früher auch getan hatte. Vor diesem einen Mal.
Einmal hatte sie die falsche Entscheidung getroffen und einen Fehler gemacht, der die Karriere ihres Mannes kräftig ins Wanken gebracht hatte. Langwierige Lehrjahre hatte er nach sich gezogen wie eine Nacktschnecke ihren Schleim, bis Georg endlich wieder die Leitung einer Sonderkommission übernehmen durfte. Doch das war alles Jahre her. Offenbar heilte die Zeit für ihn keine Wunden, obwohl er eigentlich nicht nachtragend war. War es nicht so, dass man hauptsächlich aus Fehlern lernte? Durch Erfahrung gewann man sicherlich an Weisheit, gelangte man aber jemals zu der Überzeugung, Fehler als lebensnotwendige Ereignisse anzusehen? Ihr war auch ohne seine Verschwiegenheit klar, dass ihr damaliger Ausrutscher einen Baustein auf dem Weg in seine Krankheit darstellte, von der er behauptete, sie besiegt zu haben. Auch sie hatte aus den vergangenen Jahren ihre Konsequenzen gezogen. Sie hatte ihren stressigen Job als Journalistin an den Nagel gehängt. Zumindest wenn es darum ging, für andere zu schreiben. Die 39-Jährige lauschte einen Moment, doch aus dem Kinderzimmer vernahm sie nur leise Schnarchgeräusche und das Knarren von Valentinas Holzbett, wenn sie sich von der einen auf die andere Seite drehte. Amadea setzte sich zunächst auf die Bettkante, schlüpfte in ihre silbernen Hausschuhe und schlich in die Küche. Dabei warf sie einen Blick aus dem Fenster und wurde unweigerlich mit dem aktuellen Stand der Kombilösung konfrontiert, einer Weiterentwicklung des Stadtverkehrs in Karlsruhe. Wenn sie aus dem Fenster sah, konnte sie nicht mehr die Fahrzeuge erkennen, die wie Spielzeugautos geduldig ihren Weg suchten, sondern sie erblickte Teermaschinen neben Baubohrern, Bagger neben Radladern, orangefarbene Neonwesten neben gelben. Die Bauarbeiten hatten bereits vor Jahren angefangen und die Bagger zuerst die Kriegsstraße und daraufhin die ganze Stadt in eine überdimensional große Baustelle verwandelt. Ihre Kinder fanden ihren Spaß daran, die Menschen zu beobachten, die sich inmitten des Getümmels ihren Weg suchten, doch sie hatte es bereits nach wenigen Tagen sattgehabt. Der Staub verschmutzte ihre Fenster, der Lärm ihre Ohren. Seither waren sie auf der Suche nach einem neuen Zuhause. Einem ruhigeren Zuhause, das auch ihren Kindern mehr Entfaltungsmöglichkeiten gab als die Vier-Zimmer-Altbauwohnung mitten in der Stadt, die als Fächerstadt bekannt war. Sie verdankte ihren Namen dem Markgrafen Karl Wilhelm, der sich angeblich nach dem Vorbild von Ludwig XIV. eine Residenz hatte bauen lassen, die wie eine Sonne im Universum thronte und deren Straßen strahlenförmig in die Stadt hineinreichten.
Amadea wandte sich ab, griff zu ihrem Smartphone, das mittlerweile vollkommen zerkratzt von einer glitzernden Folie umhüllt war und dementsprechend billig aussah. Seit sie ihr Printmagazin »Food im Ländle« veröffentlichte, hatte sie sich mit den sozialen Medien angefreundet, obwohl die digitale Kommunikation nicht ihrem Lebensstil und auch nicht ihrer Herzensangelegenheit entsprach. Doch irgendwie musste sie ja an Leser, Meinungen und Feedback kommen. Dabei hatte sie Instagram entdeckt. Dort konnte sie auch mal nur eine Momentaufnahme posten, ohne gleich viele Worte dazu schreiben zu müssen. Inzwischen nutzte sie Instagram täglich. Nicht, um ihre Familie in den Vordergrund zu stellen, aber wenn es um ihre Ernährung, ihren Lebensstil, ihre Vorlieben für Kleidung, Taschen und Schuhe ging, bespielte sie diesen Kanal.
Erneut las sie die Nachricht, die sie an diesem Abend zu einer Fotostrecke aus dem ZKM geschrieben hatte:
»Ihr Lieben«, dahinter durfte das obligatorische Smiley natürlich nicht fehlen. »Heute bin ich zu Besuch bei der Eröffnung der Ausstellung ›Digital Food – Kunst von und mit Lebensmitteln‹, hier im Karlsruher Zentrum für Kunst und Medientechnologie. Wie ihr wisst, geht es mir darum, dass wir das Essen und die Lebensmittel vereinfachen. Im Gegensatz dazu habe ich den Eindruck, dass viele Hersteller ihre Produkte komplizierter machen. Sie reisen in der ganzen Welt herum, suchen sich ausgefallene Früchte und pimpen damit ihre Produkte. Was bezwecken sie damit? Und was hat der digitale Wandel mit unserem Essen zu tun? Geht es in der Ausstellung etwa darum, dass wir in Zeiten der Ressourcenschonung und Energieeffizienz den Joghurt wie diese eine Forscherin aus unseren eigenen Darmbakterien herstellen sollen? Oder möchte man zeigen, dass wir uns aufgrund der hohen Bevölkerungsdichte nur noch von in Laboren hergestellten Dingen ernähren sollen? Oder wird es in Zukunft ausreichen, gar nichts mehr zu essen und nur noch digital mit Daten gefüttert zu werden? Was denkt ihr? Ich bin jedenfalls sehr gespannt und werde euch weiterhin berichten. Ich freue mich auf eure Meinungen.«
Natürlich hatte sie noch mehr Smileys und entsprechende Hashtags hinzugefügt, damit sie auch alle Menschen erreichte, die sich für Lebensmittel und die Zukunft der Ernährung interessierten.
@FoodimLändle: »Amadea, rock the place. Du schaffst es, alles zu hinterfragen«, war die allererste Reaktion von TitioLoman, der aus irgendeinem Grund jeden ihrer Beiträge mit einem aufmunternden Spruch versah, sich aber weiterhin nicht an Diskussionen beteiligte.
Sie klickte durch die einzelnen Fotos, die sie während der Vernissage gemacht hatte. Doch sie konnte nichts Auffälliges erkennen. Nichts, was ihr einen Hinweis auf ein Verbrechen geben könnte. Wie auch? Sie wusste nicht einmal, ob es Mord war oder Selbstmord. Und wer war der Tote? Jemand, den sie bei der Veranstaltung gesehen hatte oder mit dem sie sogar gesprochen hatte? Hätte es vielleicht ebenso sie selbst treffen können?
Ein Schauer durchzog sie, bevor sich die winzigen Härchen auf ihren Unterarmen aufstellten wie Tulpen nach einem eine tagelange Dürre unterbrechenden Regenguss. War das Verbrechen etwa passiert, als sie mit den anderen im Foyer saß und den verschiedenen Reden gelauscht hatte? Zunächst hatte sich der Oberbürgermeister bei den Künstlern und den Sponsoren bedankt, bevor die Museumsdirektorin, die seit einiger Zeit die Leitung der Kunsteinrichtung übernommen hatte, die Zukunft der Ernährung kurz angerissen hatte. Die Zukunft der Ernährung. Ein Thema, das buchstäblich in aller Munde war. Ein Thema, das zwar nicht in dem Maße polarisierte wie Merkels »Wir schaffen das« oder die Diskussion um die permanente Ortung des eigenen Standortes durch Google Maps oder andere Apps, aber dennoch wichtig war. Selbstverständlich hatte sie bei ihrem Rundgang durch die Ausstellung die Kommentare überflogen, die auf ihren Post hin eingetrudelt waren, aber für eine intensive Auseinandersetzung war sie doch zu abgelenkt gewesen. Von den wimmelnden und sich gegenseitig anknabbernden Maden, die in einer Kapsel eingeschlossen auf die Erlösung warteten. Als ob das nicht genug wäre, hatte der Künstler die Tablette mit einem Teleskop auf Fußballgröße gezoomt. Irritiert war sie auch von dem Stück Fleisch, das wie ein Rumpsteak aussah, sich aber auf dem imaginären Grill als Heuschrecken mit Spezialsensoren entpuppte. Der Künstler hatte passend daneben den Satz geschrieben: »Glauben Sie, Ihr Partner macht Ihnen anschließend noch etwas vor?«
Oder von dem veganen Schnitzel, das aus gezüchteten Pilzen bestand, sein Volumen im Darm auf das Vierfache ausdehnte und damit dem Gehirn mehrere Tage lang Sättigung signalisierte. Die Vorstellung, sich in Zukunft hauptsächlich von Insekten zu ernähren, ließ sie genauso frösteln. Doch sie war gespannt, welche Meinung ihre Follower zu dem Thema hatten und wie sich die Diskussion der Reihe nach im Laufe des Abends entwickelt hatte. Sie scrollte herunter, um die Beiträge von Anfang an zu lesen.
@FoodimLändle: »Die wollen uns doch nur Angst machen mit ihren Schreckensvisionen. Ich ernähre mich weiterhin vegetarisch und dabei bleibe ich.«
@FoodimLändle: »Ich habe mal gegrillte Heuschrecken probiert. Hat gar nicht so schlecht geschmeckt. Die Zukunft kann aus meiner Sicht kommen.«
Noch immer war Amadea erstaunt, wie schnell die Reaktionen in den sozialen Medien abliefen. Als sei den Menschen das Smartphone in die Hand implantiert. Als würden sie nicht mehr erkennen, was vor und neben ihnen geschah. Als müssten sie erst die Bestätigung anderer einholen, um zu wissen, dass ihr Weg und ihre Entscheidung die richtigen waren. Amadea wusste, dass zurzeit eine Studie zu den Unterschieden zwischen der gelebten Realität und dem Abbild der Selbstdarstellung lief. Veränderten sich die Menschen, indem sie sich mit der Anzahl ihrer Follower an die Erwartungen der Fans anpassten? Oder blieben sie auch in Zukunft sie selbst, zumindest wenn sie starke Persönlichkeiten waren? Sie war sehr gespannt auf die Ergebnisse, denn diese zeigten, in welche Richtung sich die Charaktere der Menschen entwickelten. Das Schwierigste in den sozialen Medien war, dass sich eine einmal angefangene Diskussion nur schwer steuern ließ. Wenn nicht jemand die Kontrolle übernahm, konnte ein Post, sei er noch so gut gemeint gewesen, ins Negative abdriften. Eine Debatte über Insekten als Nahrungsmittel der Zukunft konnte durchaus persönlich werden und mit Schimpfwörtern enden. Das war völlig gegen ihre Prinzipien. Doch Amadea hatte Glück. Zumindest zu diesem Zeitpunkt war es noch nicht so weit.
Die nächste Rückmeldung beschäftigte sich wieder mehr mit der Gegenwart, versehen mit dem Hashtag »IchesskeinenSchrottmehr«: »Es ist heutzutage so schwer, sich richtig zu ernähren, weil man diese ganzen Zutaten auf einer Verpackung nicht mehr kennt. Glaubt etwa irgendjemand, ich bräuchte Ashwaganda in meinem Schokoriegel? Oder Insektenmehl, schwarze Bohnen oder Lucuma? Ich möchte nur Schokolade essen. Echte Schokolade. Hergestellt aus Kakaobohnen, die von einem Bauern in einem Land angebaut wurden, der wiederum gut bezahlt wird und damit etwas für die Unabhängigkeit seines Landes tut. Mit echtem Zucker und nicht irgendeinem Süßstoff, der mir als kalorienreduzierender Allheilbringer verkauft wird.«
@FoodimLändle: »Wie du die Sache mit ›SuperXunn‹ aufgedeckt hast, war phänomenal. Respekt. Ich wünsche mir mehr Bad Companies, die an den Pranger gestellt werden. Das ist abschreckend für alle anderen. Und die zukünftigen Start-ups überlegen sich hoffentlich fünfmal mehr, ob sie die Konsumenten verarschen. Nun sind wir gespannt, welche neuen Erkenntnisse du von dieser Ausstellung mitbringst. Vielleicht ergibt sich dadurch ja eine neue Titelstory für dein nächstes Magazin?«
Paula_Huhn kommentierte: »Wenn die Jungs von ›SuperXunn‹ auch da sind, dann frage sie doch mal, wer von ihrem selbst ernannten, nachhaltigen Konzept, in welcher Höhe profitiert? Die Hühner und die Bauern? Oder doch eher der Plastikflaschenhersteller, der Händler und sie selbst?«
Hofladen_rocks meinte: »Die Firma ist nicht nur verpackungstechnisch ›far out of reach‹. Bioprodukte in Plastik zu verpacken ist so sinnvoll wie Skifahren im Sommer. Denken die Unternehmer eigentlich, die Menschen, die sich gesund und biologisch ernähren, interessieren sich nicht für die Umwelt, oder was?«
dasGelbevomEi schrieb: »Die verlangen doch tatsächlich für eine Flasche reines Biohühnereiweiß fast neun Euro. Da sollen 14 Eier drin sein. Dass ich nicht lache.«
@dasGelbevomEi: »Das ist aber doch nicht viel Geld.«
@Hofladen_rocks: »Findest du nicht?«
@dasGelbevomEi: »Also, wenn ich die ganz teuren Bioeier von den Luxushühnern kaufe, die täglich neues Gras bekommen und durch die Gegend gefahren werden wie meine Kinder, bezahle ich für 14 Eier knapp acht Euro. Dafür habe ich aber auch das Eigelb drin und kann damit Kuchen backen. Und unterstütze den Hühnerhof um die Ecke.«
@Hofladen_rocks: »Ich finde, das ist viel.«
@dasGelbevomEi: »Aber du musst dich halt entscheiden. Möchtest du alles in dich hineinstopfen und denkst nicht an das Morgen? Oder die Welt verbessern und dazu beitragen, dass sich die Dinge grundlegend ändern?«
@Hofladen_rocks: »Das ist aber eine schwierige Entscheidung.«
@dasGelbevomEi: »Richtig. Vegan, vegetarisch, glutenfrei, laktosefrei, frei von Gentechnik, frei von Knoblauch, frei von Rosinen und vieles mehr. Es gibt heutzutage nichts, was es nicht gibt.«
@Hofladen_rocks: »Zumal es eine derart große Auswahl an Lebensmitteln noch nie gab.«
@dasGelbevomEi: »Aber es gab auch niemals zuvor so viele Skandale. Pferdefleisch in Salami, Schimmelsporen in Reibekäse, tierische Mägen in vermeintlich vegetarischem Käse.«
@Hofladen_rocks: »Ich bin völlig verwirrt, was ich kaufen soll.«
@dasGelbevomEi: »Ich gebe dir recht. Lebensmittel einzukaufen ist zu einem wahren Spießrutenlauf geworden. Du musst wissen, was dir wichtig ist und wofür du stehst. Wenn dir aber deine Gesundheit genauso wichtig ist wie die Umwelt, und du zusätzlich auch noch die Bauern und kleine Produzenten unterstützen möchtest, kannst du in einem gewöhnlichen Supermarkt eigentlich nicht mehr einkaufen. Dann musst du auf den Markt gehen, zum regionalen Metzger, zur Bäckerei um die Ecke. Du musst im Winter auf Erdbeeren verzichten, denn die können nur von irgendwoher eingeflogen werden. Wir leben mittlerweile in einer Zeit, in der du viel Geld ausgeben musst. Zumindest, wenn du qualitativ hochwertig essen möchtest.«
Nun schaltete sich auch wieder Paula_Huhn ein: »Ein Huhn braucht auch Futter und Wasser, der Bauer, der es aufzieht, muss genauso leben können. Du musst immer bedenken, wer in dieser Kette mitverdient: der Hersteller, die Spedition, der Händler. Und ganz wichtig, die Produkte haben mehr Kilometer hinter sich als jeder Triathlet in der Vorbereitung zu einem Ironman.«
Amadea musste lächeln, denn der Vergleich stammte aus ihrem Leitartikel über »SuperXunn«.
»Wir haben doch eine Verpflichtung gegenüber unseren Nachkommen. Die Transportwege im Allgemeinen und die CO2-Bilanz im Speziellen kann und darf uns dabei nicht egal sein«, kommentierte Hofladen_rocks.
Amadea war erleichtert, den Kommentaren zufolge waren ihre Follower nicht nur Menschen, die sich als stumme Voyeure realitätsfern und kontaktscheu verhielten, sondern Charaktere, die geradezu nach Informationen lechzten. Die kritische Meinungsäußerung schätzten, aber den gängigen Zeitungsredakteuren nicht mehr bedingungslos glaubten. Oder nicht mehr zutrauten, dass sie sich in jedem Metier auskannten.
Es kostete Amadea nicht nur Nerven, sondern auch viel Zeit, dieses Medium zu pflegen, doch sie lernte auch viel. Mehr von anderen und wie sie die Welt verstanden. Amadea wusste nicht genau, ob und wie ihr das Social-Media-Marketing beim Abverkauf ihres Printmagazines geholfen hatte, jedoch die erste Ausgabe war innerhalb weniger Tage ausverkauft. Bei der zweiten Ausgabe hatte sie die Auflage zwar deutlich erhöht, aber auch ihr Account bei Instagram hatte sich mittlerweile auf 20.000 Follower eingependelt. Sie war gespannt, wie lange es dauerte, bis auch die aktuelle Ausgabe ihres Magazins ausverkauft war.
Anfangs hatte sie nur alle paar Wochen etwas gepostet, weil sie dachte, dies sei ausreichend. Aber in der Zwischenzeit war sie sehr aktiv. Sie setzte mindestens einmal täglich einen Beitrag ab. Und plante ein Aha-Erlebnis in der Woche. Das gab ihr nicht nur Struktur und zumindest den Anschein, die Kontrolle über das Medium zu haben, sondern sie zwang sich gleichzeitig zu einer bewussten Entscheidung über den notwendigen Zeiteinsatz. Sollte sie nun schreiben, dass während ihres Museumsbesuches ein Verbrechen geschehen war? Die Polizei würde spätestens am nächsten Tag sowieso die Presse informieren und sie hätte einen klitzekleinen Vorsprung. Aber sie erinnerte sich an ihren Fehler. Den größten ihres Lebens. Natürlich durfte sie nichts riskieren. Schließlich war sie eine der wenigen, die zu diesem Zeitpunkt von dem Verbrechen wussten. Zwei Tote in einer Woche. Erst vor wenigen Tagen ihr Nachbar, der an einem Herzinfarkt starb, obwohl er topfit war, und nun diese Leiche im ZKM. Handelte es sich dabei um einen Zufall?
Sie ging ins Wohnzimmer und schaute aus dem Fenster. Von dort konnte sie zumindest in die Richtung des ZKM sehen und erahnen, womit sich ihr Mann gerade auseinandersetzte. Es konnte schließlich Stunden, wenn nicht sogar Tage dauern, bis sie Georg wiedersah. Solange mindestens – das war klar – würde er sie im Ungewissen lassen. Nur das Meerschweinchen, das am Fenster seine Runden in einem Rad drehte, war nicht zu beeindrucken. Weder vom Tod noch von der Nacht.
Scheinbar hatte ich das ZKM wie in Trance verlassen. Ich hatte jedenfalls keine Ahnung, wie ich überhaupt zu meinem Auto gekommen war. Ich wusste nicht mehr, dass ich über die B10 gefahren war, um dann auf die A5 in Richtung Frankfurt abzubiegen. Hoffentlich hatte ich mich auf der Bundesstraße an das Tempolimit gehalten, das auf der Strecke von unzähligen, fest installierten und teils erst spät sichtbaren Blitzgeräten überwacht wurde. Nicht auszudenken, wenn ich geblitzt worden war und dieser kleine Fehler die Polizei zu mir führen würde. Ich wusste nicht mehr, dass ich mit meinem Auto auf die rechte Spur gewechselt war, ohne zu blinken und ohne Schulterblick. Der Lastwagenfahrer war zum Glück nicht so abgelenkt wie ich, gab mir mehrmals Lichtsignale und hupte dazu pausenlos. Damit hatte er mich aus meinem Dämmerzustand gerissen. Und mir das Leben gerettet. Ich wusste nicht mehr, wie ich in die Garage gefahren war und mich ins Haus geschleppt hatte. Erst als ich einen Whiskey aus meiner drei Dutzend Sorten umfassenden Auswahl in mich hineingekippt hatte, bemerkte ich, dass meine Knie zitterten wie nach einer Karussellfahrt. Meine Finger fühlten sich leicht an, als würden sie eins mit der Luft, die mich umgab. Es war, als würde mir meine Zukunft aus den Händen gleiten wie ein nasser Fisch, der zurück ins Wasser wollte. Der kämpfte. Der seine Freiheit zurückwollte. Unter allen Umständen, auch wenn sie ihn das Leben kostete.
Nach dem zweiten Whiskey verlangsamte sich mein Herzschlag. Nach einem weiteren normalisierte sich meine Atmung. Dann setzte mein Gehirn wieder ein. Ich fühlte mich schwach, während ich langsam realisierte, was ich getan hatte. Ich hatte diesen Mann umgebracht. Mit einem schnellen Stich getötet. Das Messer hatte ich in der Wunde stecken lassen, damit das Blut nicht wie nach dem Aufprall einer Wasserbombe in alle Richtungen spritzte und mich besudelte. Dann hätte ich mich gleich stellen und auf den ganzen Aufwand verzichten können.