Anmerkungen zum Verhältnis von Dichtung und Politik im essayistischen Werk Hans Magnus Enzensbergers - Boris Pawlowski, Dr. - E-Book

Anmerkungen zum Verhältnis von Dichtung und Politik im essayistischen Werk Hans Magnus Enzensbergers E-Book

Dr., Boris Pawlowski

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Beschreibung

Magisterarbeit aus dem Jahr 1997 im Fachbereich Germanistik - Neuere Deutsche Literatur, Note: sehr gut, Christian-Albrechts-Universität Kiel (Institut für Neuere Deutsche Literatur und Medien), Sprache: Deutsch, Abstract: Diese Arbeit beschäftigt sich mit der Einordnung des essayistischen Werkes Enzensbergers in die Diskussion um den „emphatischen Gegensatz Geist versus Macht“ , zu dem sich Enzensberger zu verschiedenen Gelegenheiten geäußert hat. Durch den Rückgriff auf die ästhetischen Positionen Jean-Paul Sartres und Theodor W. Adornos hinsichtlich des Verhältnisses von Dichtung und Politik soll geklärt werden, welche Chancen Enzensberger der Literatur in modernen Industriegesellschaften einräumt, überhaupt noch auf das allgemeine Bewußtsein und somit auch auf gesellschaftspolitische Prozesse einwirken zu können. Das erklärte Ziel der vorliegenden Arbeit ist es somit, an ausgewählten Texten ein ästhetisches Prinzip zu veranschaulichen, das sich auch auf die Analyse von Texten Hans Magnus Enzensbergers mit anderen inhaltlichen Schwerpunkten übertragen ließe.

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Inhaltsverzeichnis
I. Vorbemerkung.
II. Einleitung.
Hans Magnus Enzensbergers
III. 1 Die historischen Wurzeln des literarischen Selbstverständnisses
Hans Magnus Enzensbergers.
III. 2 Die Grenzen einer literatursoziologischen Analyse der Essayistik
Hans Magnus Enzensbergers.
III. 2.1 Probleme bei einer literatursoziologischen Betrachtung der Essayistik
III. 3 Moderne, Postmoderne und das Ende der Eindeutigkeit.
III. 3.2 Das Ende der Eindeutigkeit.
IV. Der Essay als Form.
IV. 1 Der Essay als kommunikativer Akt.
IV. 2 Der Essay als Form der Sprachkritik.
V. 1 Anmerkungen zur Bedeutung des wissenschaftlichen Diskurses in den
V. 2 Die Funktion des einleitenden Zitats in den Essays Hans Magnus
V. 3 Strukturelle Merkmale
V. 5 Momente wissenschaftlicher Beweisführung in den Essays.
V. 5.2 Lexikonartikel und -auszüge.
V. 6 Momente der Inneren Dialektik.
V. 6.1 Dialektische Figuren in den Essays Die Große Wanderung und
Aussichten auf den Bürgerkrieg.
V. 6.2 Die Ironie.
V. 6.3 Die Phrase.
V. 6.7 Die Hyperbel.
V. 7 Lyrische Elemente.
V. 7.1 Die Tautologie.
V. 7.2 Das Paradoxon.
V. 7.3 Der Jargon.
V. 7.4 Die Anapher.
V. 7.5 Der Katalog.
V. 7.6 Die Rhetorische Frage.
V. 7.7 Die Poetisierung.
V. 7.8 Die Alliteration.
VI. Schlußbetrachtung.
VII. Literaturverzeichnis

Page 1

Page 2

Page 5

I. Vorbemerkung

Hans Magnus Enzensberger gilt als einer der wohl umstrittensten und bedeutendsten deutschen Autoren der Nachkriegszeit. Er hat sich in seinem Werk mit der gesellschaftlichen Entwicklung in der Bundesrepublik Deutschland seit 1945 auseinandergesetzt, sie seziert und analysiert. Die Liste der von ihm veröffentlichten Essays, Anthologien, Glossen, Theaterstücke, Übersetzungen, Romane, Kinderbücher, Editionen, Fernseh- und Rundfunkbeiträge ist schier endlos. Eine ´naturgetreue´ Skizzierung seines komplexen Werkes ist nahezu unmöglich.

Aus eben d iesem Grunde und aus der wohlbegründeten Angst vor unzulässigen Vereinfachungen beschränkt sich die vorliegende Magisterarbeit auf die Analyse des essayistischen Werkes Hans Magnus Enzensbergers. Der Rekurs auf die im Verlauf der Analyse zitierten Essays unterstützt dabei die Intention des Verfassers, den ästhetischen Standpunkt Hans Magnus Enzensbergers hinsichtlich des Verhältnisses von Dichtung und Politik näher zu bestimmen, wobei insbesondere die letzten bedeutsamen VeröffentlichungenDie große Wanderung (1992)undAussichten auf den Bürgerkrieg (1994)im Vordergrund der Betrachtungen stehen werden.

1Zitiert aus Hans Magnus Enzensberger.Politische Brosamen.A.a.O.. S.236.

Page 6

II. Einleitung

Im ersten Hauptteil der vorliegenden Arbeit geht es zunächst um eine Art sinnvoller Einordnung des essayistischen Werkes Enzensbergers in die Diskussion um den „emphatischen Gegensatz Geist versus Macht“2, zu dem sich Enzensberger zu verschiedenen Gelegenheiten geäußert hat. Dabei gilt es vor allem, dem Umstand Rechnung zu tragen, daß es sich bei Hans Magnus Enzensberger um einen Gegenwartsautor handelt, der sich zu nahezu allen bedeutsamen gesellschaftspolitischen und kulturellen Entwicklungen in den vergangenen fünfzig Jahren geäußert hat und dies auf absehbare Zeit auch weiterhin tun wird. Die in seinen Essays behandelten Themengebiete

„reichen vom Wohnkampf bis zu den Weltuntergangs-Phantasien, vom Schulärger bis zu den verheerenden Zukunftsaussichten für die Dritte Welt, Krisen-Ökonomie, Überwachungsstaat, Eurozentrismus, Unregierbarkeit...“3

Durch den Rückgriff auf die ästhetischen Positionen Jean-Paul Sartres und Theodor W. Adornos hinsichtlich des Verhältnisses von Dichtung und Politik soll daraufhin geklärt werden, welche Chancen Enzensberger der Literatur in modernen Industriegesellschaften einräumt, überhaupt noch auf das allgemeine Bewußtsein und somit auch auf gesellschaftspolitische Prozesse einwirken zu können. In diesem Zusammenhang wird ferner auch auf die Diskussion um diePostmoderneund ihrer Auswirkungen auf das Selbstverständnis des Literaten in den modernen Industriegesellschaften eingegangen werden. Diesen eher literaturtheoretischen Erwägungen folgen dann im zweiten Hauptteil zunächst einige grundsätzliche Anmerkungen zur literarischen Gattung des Essays. Hierbei wird zu zeigen versucht werden, daß Enzensberger, obwohl er in seinen Essays vorrangig soziologische Phänomene in den Vordergrund seiner Betrachtungen rückt, im Grunde genommen ein ganz anderes Ziel verfolgt, als eben die bloße Analyse bestimmter zivilisatorischer Erscheinungen: nämlich die Etablierung eines mit literarischen Mitteln dargestellten Erkenntnismodells, das der Einübung eines offenen und damit freiheitlichen Denkens dient. Einem Bestreben, dem auch die Wahl der Gattung des Essays korrespondiert, dessen spezielle funktionale Merkmale Enzensberger zur Einlösung seines erkenntnistheoretischen Modells nützt.

Die oben skizzierte Beschränkung des der Analyse zugrunde liegenden Textcorpus legitimiert sich schließlich aus der Annahme einer historischen Entfaltung des Bewußtseins. Oder anders ausgedrückt: dem Umstand, daß frühere Erfahrungen die Grundlage späteren Denkens darstellen, in ihm aufgehen und auch weiterhin in ihm weiterwirken, wenn auch in modifizierter Form.

So tauchen beispielsweise bei der Lektüre neuerer Texte Enzensbergers immer wieder einmal Gedankengänge auf, die bereits in früheren Werken ausgebreitet wurden.

In solchen Fällen, in denen es zur Verdeutlichung des Argumentationsganges dienlich ist, soll hingegen nicht auf den Rückgriff auf andere Quellen verzichtet werden.

2Peter Schneider.Vom Ende der Gewißheit.A.a.O.. S. 9.

3Hans Magnus Enzensberger.Politische Brosamen.A.a.O.. Vorwort. S. 2.

Page 7

Das erklärte Ziel der vorliegenden Arbeit ist es somit, an ausgewählten Texten einästhetisches Prinzipzu veranschaulichen, das sich auch auf die Analyse von Texten Hans Magnus

Enzensbergers mit anderen inhaltlichen Schwerpunkten übertragen ließe.

III. Zum Verhältnis von Dichtung und Politik bei Hans Magnus Enzensberger

Seine ersten literarischen Meriten erwarb sich Hans Magnus Enzensberger als Lyriker. Die beiden ersten von ihm veröffentlichten Gedichtbändeverteidigung der wölfe(1957) undLandessprache(1960) markierten eine Trendwende innerhalb der bundesrepublikanischen Literatur.

Bis dahin hatte „(d)ie westdeutsche Gesellschaft ...dem ´Kulturleben´ überhaupt und der Literatur im besonderen nach dem Zweiten Weltkrieg eine eigentümliche Rolle zugeschrieben. Eine führende Zeitschrift des Nachkriegs hießDie Wandlung.Den Deutschen und mehr noch der Außenwelt eine solche Wandlung zu demonstrieren, das war das Mandat der deutschen Literatur nach 1945.“4

Diese ´Wandlung´ beschränkte sich zunächst auf ästhetische Momente innerhalb der Dichtung;

„Umwälzungen in der Poetik sollten einstehen für die ausgebliebene Revolutionierung der sozialen Strukturen; künstlerische Avantgarde die politische Regression kaschieren.“5

Eine der Konsequenzen aus dem Scheitern dieses Projekts der Erneuerung der deutschen Kultur vor allem durch die Literatur der Heimkehrer6waren die oben erwähnten ersten von Enzensberger veröffentlichten Lyrikbände: In ihnen verband sich sie die kritische Analyse gesellschaftlicher Phänomene mit der ästhetischen Rafinesse moderner Lyrik. Zur Verdeutlichung dieses neuen Stils ein Beispiel:

Es sollte sich jedoch schon sehr bald zeigen, daß auch dieser neue Stil einen nur sehr geringen gesellschaftlichen Wirkungsgrad besaß, denn

4Hans Magnus Enzensberger.1968: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend.In:Palaver. Politische Überlegungen (1967 - 1973).A.a.O.. S. 43f.

5Ibidem.

6Vgl. Klaus Wagenbach, Winfried Stephan, Michael Krüger und Susanne Schüssler (Hg.).Vaterland, Muttersprache. Deutsche Schriftsteller und ihr Staat seit 1945.Insbesondere die Kapitel ´Öde Gegend mit Menschen´ und ´Rückkehr zu den Dagebliebenen?´. A.a.O.. S. 19 - 54.

7Hans Magnus Enzensberger.Landessprache. Gedichte.A.a.O.. S.8.

Page 8

„... je mehr die westdeutsche Gesellschaft sich stabilisierte, desto dringender verlangte sie nach Gesellschaftskritik in der Literatur; je folgenloser das Engagement der Schriftsteller blieb, desto lauter wurde nach ihm gerufen. Dieser Mechanismus sicherte der Literatur einen unangefochtenen Platz in der Gesellschaft, aber er führte auch zu Selbsttäuschungen, die heute (das meint 1968; Anm.d.Verf.) grotesk anmuten.“8

Enzensbergers Kritik an einer engagierten Literatur, die die Kritik an seinem eigenen Frühwerk mit einschließt9, führte schließlich zur Modulation seines Stils von der eher analysierenden Darstellung gesellschaftlicher Phänomene hin zu einer eher ironisierenden und persiflierenden Variante kritischen Schreibens. Dem korrespondierte eine allmähliche Verlagerung des Schwerpunktes von der Lyrik hin zur Essayistik.

Während inPalaver. Politische Überlegungen (1967 - 1973)noch analytische und eindeutig ironische Stellungnahmen zu gesellschaftspolitisch bedeutsamen Themen mehr oder weniger deutlich voneinander getrennt waren, überwiegt in den nachfolgenden Veröffentlichungen dann eindeutig die ironische Perspektive.10

III. 1 Die historischen Wurzeln des literarischen Selbstverständnisses

Hans Magnus Enzensbergers

Im Jahre 1929 geboren, wurde Enzensberger Zeitzeuge sowohl der politischen Wirren der späten Weimarer Republik als auch der Diktatur des NS-Regimes. Er erlebte die Teilung Deutschlands in einen Ost- und einen Westteil sowie Beginn und Ende des Kalten Krieges. In einem Gespräch mit Hanjo Kesting äußerte sich Enzensberger auf die Frage, welches eigentlich die Voraussetzungen für seine „... undogmatische, nicht angepaßte, nonkonformistische, ..., aber eher liberale als linke Kritik ...“ seien, einmal wie folgt:

„Enzensberger: Die Wurzeln einer solchen Wahrnehmung - ich weiß gar nicht, ob man das gleich Protest nennen kann -, diese Wurzeln lagen in der Erfahrung der Katastrophe. Da sehe ich auch bereits ein Moment, das weiter reicht, das man nicht auf die fünfziger Jahre beschränken kann. Wenn nämlich jemand die Geschichteprimär11als Katastrophe erfahren hat, so wie das in meinem Fall war (...), so wird einen eine solche Sehweise nicht mehr verlassen... Wenn einem der historische Prozeß einmal unter die Haut gegangen ist, dann traut man dem ordentlichen Alltag mit den blankgeputzten Fassaden nie mehr ganz über den Weg.“12

8Hans Magnus Enzensberger.1968: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend.A.a.O.. S. 44.

9Hierbei wäre insbesondere an die bereits erwähnten frühen Gedichtbände und an die Analyse der ´Bewußtseins-Industrie´ in denEinzelheiten Isowie der Untersuchungen zum Verhältnis vonPolitik und Verbrechenzu denken.

10Spätestens seit den achtziger Jahren dominiert dieses Prinzip eindeutig. Vgl. dazuMausoleum(1975),Mittelmaß und Wahn(1988),Ach Europa(1987),Die Große Wanderung(1992) und dieAussichten auf den Bürgerkrieg(1993).

11Hervorhebung des Verfassers.

12Hanjo Kesting.Dichter ohne Vaterland. Gespräche und Aufsätze zur Literatur.A.a.O.. S.191.

Page 9

Enzensbergers Ausgangspunkt als Schriftsteller war eine Gesellschaft, die, im Zuge des sogenannten ´Wirtschaftswunders´, zunehmend ihr Recht als Souverän zu verpfänden drohte, ohne recht Kenntnis davon zu nehmen, welche Konsequenzen ein solches Verhalten langfristig nach sich ziehen könnte.

„Die Wahrheit ist, daß es heute in Westeuropa keine politische Frage, und wäre sie noch so lebenswichtig, gibt, um deretwillen ein substantieller Teil der Bevölkerung revolutionäre Schritte tun würde.“13

Dem zunehmenden materiellen Wohlstand, so Enzensbergers basale These vor allem in den sechziger Jahren, korrespondierte die Ausbeutung des Bewußtseins, was zur Entpolitisierung der sogenannten ´Massen´ führte, wodurch wiederum die Gefahr eines neuerlichen Totalitarismus immerhin denkbar wurde. Und dies um so mehr, als die

„modernen Herrschaftsformen ... Techniken entwickelt (haben), die es gestatten, die Emotionen der Beherrschten beliebig zu unterdrücken und zu manipulieren“14,

was wohl auch einer der Gründe dafür war, daß sich Enzensberger insbesondere in den sechziger Jahren auch politisch engagierte. So trat er beispielsweise öffentlich gegen die atomare Wiederbewaffnung der Bundeswehr im Zuge des Kalten Krieges und gegen die Notstandsgesetze der Bundesregierung im Jahre 196615ein, kritisierte aber nicht nur die Regierenden, sondern auch die selbsternannten Revolutionäre, die Oppositionellen, die Industriellen, die Gewerkschaften, die Konsumenten ebenso wie die Gesellschaftskritiker. In der Nachbemerkung derEinzelheiten Ierhob er schließlich die kritische Position zum alleinigen Maßstab seines literarischen und somit auch soziologischen Denkens:

„Deswegen halte ich dafür, daß die kritische Position unteilbar ist. Sie hat nicht Bewältigung oder Aggression im Sinn. Kritik, wie sie hier versucht wird, will ihre Gegenstände nicht abfertigen oder liquidieren, sondern dem zweiten Blick aussetzen: Revision, nicht Revolution ist ihre Absicht. Der historischen List des Bewußtseins möchte sie zur Hilfe kommen. In dieser Meinung möge sich der Leser die kritischen Handreichungen des Buches gefallen lassen und zunutze machen.“16

Die erwähnten ´Gegenstände´ waren in diesem Falle dieFrankfurter Allgemeine Zeitung, Der Spiegel,dieWochenschau,das Taschenbuch, der Tourismus, der Neckermann-Katalog. Spätestens seit den Umbrüchen der sechziger Jahre war hingegen auch den pessimistischsten Gesellschaftskritikern klar geworden, daß durch die Westeinbindung der Bundesrepublik die Gefahr des neuerlichen Faschismus vorerst gebannt war. In den achtziger Jahren führte die daraus resultierende politische Stabilisierung Mittel- und Westeuropas zu einer Art ´zweiten Wirtschaftswunders´. Der damit verbundene erhebliche Wohlstandszuwachs für breite Schichten der Bevölkerung endete erst mit dem Zusammenbruch der sozialistischen Regime in Osteuropa. Er bedeutete einen historischen Wendepunkt, der

13Hans Magnus Enzensberger.Einige Vorschläge zur Methode des Kampfes gegen die Atomare Aufrüstung (1958).In:Blätter für deutsche und internationale Politik.A.a.O.. S. 411 - 414.

14Ibidem.

15Vgl.Der Spiegel.Sonderausgabe 1947 - 1997. A.a.O.. S. 142 - 149.

16Hans Magnus Enzensberger.Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie.A.a.O.. S. 207.

Page 10

in Literatur und Philosophie im Rahmen der sogenannten ´Postmoderne-Debatte´ bereits vorweggenommen worden war. Dieser Wendepunkt wird markiert durch die Analyse der Bedeutung irrationaler Elemente menschlichen Denkens für die gesellschaftlichen Systeme.

III.2 Die Grenzen einer literatursoziologischen Analyse der Essayistik

Hans Magnus Enzensbergers

Eine häufig zu beobachtende Reaktion bei Lesern eines Essays von Enzensberger ist die zunächst einsetzende ´unreflektierte´ Zustimmung, ja Begeisterung für die eloquente Art der Darstellung, für die virtuose Anordnung und Beherrschung der Themen und Argumente. Nach der Lektüre derAussichten auf den Bürgerkrieg18beispielsweise stellen sie sich fast unweigerlich die Frage, warum ein solcher nicht schon lange ausgebrochen sei. Es scheint ein offensichtliches Faktum zu sein, daß in den meisten, zumindest aber in den westlichen Industrienationen, die Anarchie ausgebrochen ist, doch es ist kaum zu bemerken. Warum?

Die erbarmungslose Stringenz solcher Analyse, die fundierten Argumente, das historische Bewußtsein dahinter wirken geradezu entwaffnend - es stellt sich ein Gefühl der Verwunderung darüber ein, daß sie selbst diese scheinbar ganz offenkundigen Zusammenhänge nicht schon vorher (respektive ohne fremde Hilfe) durchschaut hat.

Die zweite Reaktion ist dann zumeist differenzierter: In der Diskussion mit anderen bemerkt der Leser sehr bald, daß das alles bei allem offenkundigen Ernst der Lage und des behandelten Gegenstands doch nicht ganz so ernst gemeint war, wie er zunächst glaubte. Er fühlt sich schließlich an der Nase herumgeführt, er wurde manipuliert, verführt, provoziert und hat es zu alle m Übel nicht recht bemerkt. Er hat, mehr noch, am Tropf der Erkenntnis eines anderen gehangen und ist nun um so enttäuschter zu sehen, daß dieserAndere,Enzensberger nämlich, ihm demonstriert hat, wie einfältig es ist, ihn beim Wort zu nehmen. Offenbar war das aktuelle Thema, die Aufbietung und sinnvolle Zuordnung gängiger und weniger gängiger Motive und Argumente in Pro und Contra nur eine Art ´ästhetisches Ablenkungsmanöver´. Und es liegt die Vermutung nahe, daß diese ´Finte´ den Zweck verfolgte, zunächst die Aufmerksamkeit des Lesers einzufangen, um ihn schließlich und endlich mit dem Wesentlichen, nämlich der dem Text immanenten Struktur, zu konfrontieren.

17Hans Magnus Enzensberger.1968: Gemeinplätze, die Neueste Literatur betreffend.In:Palaver. Politische Überlegungen (1967 - 1973).A.a.O.. S. 43.

18Hans Magnus Enzensberger.Aussichten auf den Bürgerkrieg.A.a.O..

Page 11

Immerhin: Er läßt seinem Leser dabei stets die Möglichkeit offen, dieses ästhetische Manöver zu durchschauen. Wie bereits erwähnt19, wird an anderer Stelle noch näher zu exemplifizieren sein, welchen formalen Regeln dieser Prozeß der Erzeugung von ´endlichen Wahrheiten´20im Dialog zwischen Leser und Autor unterliegt.

Das der Vorbemerkung vorangestellte Zitat Enzensbergers ist für die nachfolgende Analyse deshalb bedeutsam, als er darin als Autor eine gewisse Orientierungslosigkeit angesichts einer durch die Erkenntnisse aus unzähligen Wissenschaften sich dem Subjekt immer komplexer darstellenden Wirklichkeit einräumt21. Das hindert ihn jedoch nicht daran, sich immer wieder zu aktuellen und gesellschaftlich relevanten Fragen zu äußern. Wie weiter oben bereits angedeutet, bemerkt der Leser jedoch sehr bald, daß eine solche Betrachtungsweise an der Oberfläche der Texte haften bleibt. Das zeigt sich bereits daran, daß es im allgemeinen schwer fällt, in einem Text von Enzensberger eine eindeutige Meinung des Autors in bezug auf den beschriebenen Sachverhalt auszumachen22. Ganz gleich, ob es sich um Untersuchungen zu der neapolitanischen Camorra, dem Terrorismus, dem Eurozentrismus, um Talk-Shows oder bildungspolitische Fragen, um die Weltbank als Institution, die Medien oder die ´Asyldebatte´ handelt, um nur einige Themenbereiche aus dem reichhaltigen Repertoire Enzenzbergers zu nennen. Und selbst auf den zweiten Blick wirkt das Werk des Autors noch wie eine tausendarmige Göttin, die sich hartnäckig einer eindeutigen Ein- bzw. Zuordnung zu widersetzen scheint.

III. 2.1 Probleme bei einer literatursoziologischen Betrachtung der Essayistik Hans Magnus Enzensbergers

Die Schwierigkeiten bei einer literatursoziologischen Betrachtung der Essayistik Hans Magnus Enzensbergers liegen somit nicht etwa im Fehlen geeigneter soziologischer Themen, zu denen Enzensberger in der einen oder anderen Art und Weise Stellung bezogen hat, sondern vielmehr in den vielen offenkundigen Widersprüchen innerhalb seines Gesamtwerks, die aus den oben erwähnten elementaren historischen Veränderungen des vergangenen halben Jahrhunderts resultieren. Zur Verdeutlichung dieser Erscheinung ein Beispiel: Während es im Beitrag1967/68: Berliner Gemeinplätzezu den Auswirkungen des ´Plankapitalismus´ auf das Bewußtsein der sogenannten ´Massen´ noch heißt:

19Vgl. Kapitel I.

20Hans Magnus Enzensberger.Scherenschleifer und Poeten.In: Hans Bender (Hg.).Mein Ge dicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten.A.a.O.. S. 144ff.

21Vgl. Hans Magnus Enzensberger.Bildung als Konsumgut. Analyse der Taschenbuchproduktion (1958; rev. 1962).In:Einzelheiten I. Bewußtseinsindustrie.A.a.O.. S. 151f.

22Dies gilt insbesondere für die Veröffentlichungen seit den siebziger Jahren.

23Hans Magnus Enzensberger.Armes reiches Deutschland. Vorstudien zu einem Sittenbild.In:Politische Brosamen.A.a.O.. S. 178.

Page 12

„Je mehr die Repression verfeinert und verinnerlicht wird, je mehr Selbstzensur und Selbststeuerung an die Stelle von äußerem Zwang und direkter Indoktrination treten, je mehr also die Unterdrückten ihre eigene Unterdrückung akzeptieren, ja verteidigen, desto mehr wird Systemopposition selber zu einem Privileg, zu einer Sache, die sich nur derjenige leisten kann, der die Chance hat, ein Bewußtsein zu entwickeln, das nicht gänzlich an den Konsumzwang und an die Muster der Massenmanipulation gebunden ist“24,

so äußert sich Enzensberger zu dem in der Sache identischen Sachverhalt circa fünfzehn Jahre später in genau entgegengesetzter Weise:

„Eben dies hatten die Ideologen der Neuen Linken sehr wohl kapiert, die Mitte der sechziger Jahre den säuerlichen alten Herren die Fackel der Wohlstandskritik aus den Händen rissen, um sie zu neuen Ufern zu tragen. Das Diabolische an unserm nagelneuen Reichtum sahen sie darin, daß er den Zustand der Ausbeutung und der Entfremdung, in dem wir schmachteten, auf die Spitze trieb, ohne daß wir auch nur gewußt hätten, wie uns geschah. Vergeblich versuchte man von berufener Seite, uns den Unterschied zwischen falschen und wahren Bedürfnissen zu erklären.“25

Und weiter:

„Wie vor ihnen die Kulturkonservativen, so litten auch die Wohlstandskritiker der APO an einer Schwierigkeit, die vielleicht mit dem menschlichen Körperbau zusammenhängt: es fiel ihnen schwer, den Blick auf die eigene Nase zu richten. Die Neue Linke sprach zwar gern von Verweigerung, aber sie brachte ganze Nächte in den Programmkinos zu. Der Spaghetti-Western war ihr tägliches Brot, in den Kommunen liefen die Fernseher bis zum Programmschluß, und keineswegs nur aus Gründen der Mimikry legten die bewaffneten Kämpfer zeitweilig eine Vorliebe für schnelle Wagen, schnelle Kleider und schnelles Geld an den Tag.“26

Interessant sind hierbei vor allem die Veränderungen im Duktus. Herrscht im ersten Zitat noch die klare Analyse im typisch kulturkritischen Jargon jener Zeit vor: Unmittelbarkeit des geschilderten Zusammenhangs, die Verwendung von Ausdrücken wie: Repression, Massenmanipulation, Systemopposition, Konsumzwang etc., so ist der Duktus der neueren Veröffentlichungen eindeutig ironischer Natur. Hier sind beispielsweise umgangssprachliche Ausdrücke wie der des ´Spaghetti-Western´ vorherrschend, oder es wird durch die Konjunktivierung der Schilderung eine historisch-ironische Distanz erzeugt. Daher ist es wahrscheinlich, daß die inhaltliche wie auch die stilistische ´Heterogenität´ des Werks auf den unterschiedlichen historischen Ausgangssituationen basiert, die den jeweiligen Äußerungen zugrunde liegen. Ein Umstand, der darauf hindeutet, daß Enzensberger ein poetologisches Konzept verfolgt, das den Aspekt des historischen Wandels der behandelten ´Gegenstände´ mitberücksichtigt. In seinem AufsatzScherenschleifer und Poetenbemerkt er dazu: Es sollen Sachverhalte vorgezeigt werden,

„die mit andern, bequemeren Mitteln nicht vorgezeigt werden können, zu deren Vorzeigung Bildschirme, Leitartikel, Industriemessen nicht genügen. Indem sie Sachverhalte vorzeigen, können

24Hans Magnus Enzensberger.1967/68: Berliner Gemeinplätze.In:Palaver. Politische Überlegungen.A.a.O.. S. 22.

25Hans Magnus Enzensberger.Armes reiches Deutschland. Vorstudien zu einem Sittenbild.In:Politische Brosamen.A.a.O.. S. 183.

26Ibidem.

Page 13

Gedichte Sachverhalte ändern und neue hervorbringen. Gedichte sind also nicht Konsumgüter, sondern Produktionsmittel, mit deren Hilfe es dem Leser gelingen kann, Wahrheit zu produzieren. Da Gedichte endlich, beschränkt, kontingent sind, können mit ihrer Hilfe nur endliche, beschränkte, kontingente Wahrheiten produziert werden. Die Poesie ist daher ein Prozeß, der Verständigung des Menschen mit und über ihn selbst, der nie zur Ruhe kommen kann.“27

Auch wenn diese Überlegungen zunächst nur für die Lyrik Geltung beanspruchen, so kann doch festgehalten werden, daß für Enzensberger auch darüber hinaus keine ´absoluten´, d.h. keine historisch unverbrüchlichen Wahrheiten existieren. Sowohl sein poetologisches wie auch sein geschichtliches Verständnis erweisen sich bei näherer Betrachtung vielmehr alsdialektisch.Das Zitat ist jedoch auch noch aus einem anderen Grunde interessant. Und zwar, weil Enzensberger zu diesem Zeitpunkt, also etwa um die Mitte der sechziger Jahre, noch von einem verhältnismäßig großen Einfluß der Dichtung auf das Bewußtsein des Lesers und somit auf die Gesellschaft auszugehen scheint:

„Gedichte sind also nicht Konsumgüter, sondern Produktionsmittel, mit deren Hilfe es dem Leser gelingen kann, Wahrheiten zu produzieren.“

Eine Auffassung, die Enzensbergers Nähe zu Adorno dokumentiert, bei dem es in diesem Zusammenhang heißt:

„Jedes Kunstwerk ist ein Augenblick; jedes gelungene ein Einstand, momentanes Innehalten des Prozesses, als der es dem beharrlichen Auge sich offenbart.“28

Die Kunst im Allgemeinen und die Literatur im Besonderen sind somit jene Medien, durch die sich der Mensch für einen kurzen Augenblick lang seiner Determiniertheit durch die ökonomischen und ideellen Zwänge und der durch sie erzeugten Entfremdung ´bewußt´ wird.

Wie später noch zu zeigen sein wird, wird sich Enzensberger dann entsprechend der historischgesellschaftlichen Veränderungen insbesondere im Bereich derBewußtseins-Industriezumindest teilweise von diesen Vorstellungen zu distanzieren beginnen.

III. 3 Moderne, Postmoderne und das Ende der Eindeutigkeit

Diesen Veränderungen im Bereich derBewußtseins-Industrieentspricht im Bereich der Philosophie die sogenannte ´Postmoderne-Debatte´. Da diese Diskussion auch für die Darstellung derjenigen ästhetischen Prinzipien von Bedeutung sein dürfte, die im Rahmen dieser Analyse herausgearbeitet werden sollen, werden hier zunächst die wesentlichen Aspekte dieser Debatte skizziert.

27Hans Magnus Enzensberger.Scherenschleifer und Poeten.In: Hans Bender (Hg.).Mein Ge dicht ist mein Messer. Lyriker zu ihren Gedichten.A.a.O.. S. 144 ff.

28Theodor W. Adorno.Ästhetische Theorie. Gesammelte Schriften.Band 7. A.a.O.. S. 17.

Page 14

III.3.1 Zwischen Moderne und Postmoderne

1951 sprach Hannah Arendt unter dem Eindruck der Schrecken des Zweiten Weltkrieges von der Notwendigkeit der Verteidigung der

„Existenz der Geschichte selbst, sofern sie verstanden und somit erinnert werden kann; denn dies ist nicht mehr möglich, wenn Tatsachen nicht in ihrer Unabweisbarkeit respektiert werden, als das, was den Bestand der Vergangenheit wie der gegenwärtigen Welt garantiert, sondern als Argumente ge- und verbraucht werden, um bald diese, bald jene Meinung zu beweisen.“29

Es wird hier von Hannah Arendt gestellt die Frage nach der Bedeutung historischer (und somit wissenschaftlicher) Erkenntnis an sich. Bereits Walter Benjamin hatte auf die Schwierigkeiten der Bestimmung jener von Hannah Arendt angesprochenen ´geschichtlichen Tatsachen´ hingewiesen:

„Für Benjamin liegt die ´Wahrheit´ auf der Seite des ahistorischen Stillstands, wohingegen die Geschichte ihrerseits immer ´falsch´ ist: Sie ist eine Erzählung des Siegers, der seinen Sieg dadurch legitimiert, daß er die vorangegangene Entwicklung als das lineare Kontinuum darstellt, das schließlich zu seinem Triumph geführt hat.“30

Neu an derShoawar deshalb nicht etwa die unmenschliche Barbarei, die hatte es auch zuvor gegeben und wird es wohl auch weiterhin geben, sondern vielmehr die pseudo-wissenschaftliche Legitimation des organisierten und im industriellen Maßstab durchgeführten Völkermordes. Nicht umsonst gilt Auschwitz bis heute als der Inbegriff des Unvorstellbaren, d.h. als Antithese des Glaubens an die Fähigkeiten des Menschen, mittels der Vernunft das gesellschaftlich organisierte Glück für alle zu erschaffen, wie es die großen sozialen Utopien des 19. Jahrhunderts und in Anlehnung an sie der Plansozialismus in Osteuropa angestrebt hatten.

Die Frage nach der Qualität, der Anatomie und der Bedeutung der ´Tatsache´ für den Erkenntnisprozeß in hochindustrialisierten Gesellschaften ist daher eines der basalen Axiome der Moderne. Bereits bei Hugo Ball heißt es dazu:

„Eine tausendjährige Kultur bricht zusammen. Es gibt keine Pfeiler und Stützen mehr, keine Fundamente mehr, die nicht zersprengt worden wären. Kirchen sind Luftschlösser geworden. Überzeugungen Vorurteile. Es gibt keine Perspektive mehr in der moralischen Welt. Oben ist unten, unten ist oben ... Die Prinzipien der Logik, des Zentrums, Einheit und Vernunft wurden als Postulate einer herrschsüchtigen Theologie durchschaut. Der Sinn der Welt schwand ... Der Mensch verlor sein himmlisches Gesicht, wurde Materie, Zufall, Konglomerat, Tier, Wahnsinnsprodukt abrupt und unzugänglich zuckender Gedanken. Der Mensch verlor seine Sonderstellung, die ihm die Vernunft gewahrt hatte.“31

29Hannah Arendt.Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft.A.a.O.. S.41.

30Slavoj Zizek.Die Grimassen des Realen - Jacques Lacan oder die Monstrosität des Aktes.A.a.O.. S. 82. Die Kritik einer solchen ´Geschichtsschreibung des Siegers´ strebte En zensberger unter anderem mit seinem ´Roman´Der kurze Sommer der Anarchie -Buenaventura Durrutis Leben und Tod(1972) und ferner mit der VeröffentlichungDer Weg ins Freie. Fünf Lebensläufe, überliefert von Hans Magnus Enzensberger(1975) an.

31Hugo Ball.Kandinski.In: Thomas Anz, Michael Stark (Hg.).Expressionismus, Manifeste und

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Im Bereich der Kunst und also der Literatur hatte die damit verbundene sukzessive Auflösung der traditionellen Welterklärungsmodelle wie der Religion oder des Nationalstaatsgedankens (wobei es freilich zu einer Vielzahl von Rückschlägen kam und nach wie vor kommt) zunächst neue Energien freigesetzt:

„Das Ich, das die Begriffe in eine ununterbrochene Bewegung versetzt, kann sich selbst als Zentrum und treibende Kraft dieser Bewegung erfahren. Es versichert sich seiner selbst, indem es bestehende semantische Bezüge auflöst und neue stiftet (...). Der Unbegrenztheit freier Verfügung über sprachliche Zeichen, die unendlicher Kombination fähig sind, entspricht freilich die Ohnmacht gegenüber der Welt der Dinge und der Mitmenschen. Der Gedanke, daß Sprachmächtigkeit und reale Ohnmacht zusammenfallen, ist nur erträglich, wenn das Ich ihn in seinen Willen aufnimmt und aus dem, was epochal über es verhängt ist, seine Tat macht.“32

Eine verhalten optimistische Sicht hinsichtlich des Charakters moderner Literatur:

„Merkwürdig, wie wenig dieser konstruktive Zug, der dem Prozeß doch von seinen Anfängen an abzulesen ist, bemerkt wird ...“33,

und doch kann kaum ein Zweifel daran bestehen, daß das in der modernen Lebenswelt lebende Subjekt durch eine tiefe Gespaltenheit, durch schier unüberwindbare Widersprüche charakterisiert ist. Worum es im Zusammenhang mit (post-) moderner Kunst letztendlich geht, ist also das Ende der Eindeutigkeit menschlichen Denkens, so eine solche ´Eindeutigkeit´ überhaupt je bestanden haben mag. Postmoderne wiederum wäre

„das Redigieren einiger Charakterzüge, die die Moderne für sich in Anspruch genommen hat, vor allem aber ihrer Anmaßung, ihre Legitimation auf das Projekt zu gründen, die ganze Menschheit durch Wissenschaft und Technik zu emanzipieren.“34

Lyotard spricht zunächst von der Anmaßung der Aufklärung, die, unter Zuhilfenahme ihrer sich ausdifferenzierenden Sub-Disziplinen innerhalb der Wissenschaft, die sozialen Utopien in der politischen und historischen Wirklichkeit einzulösen versuchte. Dabei kam es jedoch, wie oben erwähnt, zu unvorhergesehenen Komplikationen und herben Rückschlägen. Die Entdeckungen im Bereich der Wissenschaft waren und sind nämlich stets charakterisiert durch eine eigentümliche Ambivalenz, was seit den exorbitanten Fortschritten der vergangenen Jahrzehnte auf nahezu allen Wissenschaftsgebieten immer deutlicher zutage tritt:

„Die Kernenergie, die Waffentechnologie..., die Genforschung, Informationsverarbeitung, Datenerfassung und neue Kommunikationsmedien (sind) ... von Haus aus Techniken mit zwiespältigen Folgen. Und je komplexer die steuerungsbedürftigen Systeme werden, um so größer die Wahrscheinlichkeit dysfunktionaler Nebenfolgen...“35

Dokumente zur deutschen Literatur.A.a.O.. S. 124.

32Peter Bürger.Moderne.In:Fischer Lexikon Literatur.Bd. 2. A.a.O.. S. 1291.

33Hans Magnus Enzensberger.Einzelheiten II. Poesie und Politik.A.a.O.. S. 12.

34J.-F. Lyotard.L´Inhumain. Causeries sur le temps.A.a.O.. S.43.

35Jürgen Habermas.Die Krise des Wohlfahrtsstaats und die Erschöpfung utopischer Energien (1985).In:Die Neue Unübersichtlichkeit. Kleine Politische Schriften V.A.a.O..

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Die Moderne Kunst hat den Prozeßverlauf dieses historischen Projekts und insbesondere seines zumindest partiellen Scheiterns von Anbeginn an begleitet. Er war gekennzeichnet durch die zunehmende Erzeugung objektiver Widersprüche und den vielfach zitierten ´Verlust´ der Bedeutung des Subjekts im Zuge der Technologisierung und Institutionalisierung der Lebenswirklichkeiten, während gleichzeitig die Fortschritte im Bereich der materiellen Absicherung einen niemals zuvor erreichten Wohlstand für nahezu alle Bevölkerungsschichten zumindest in den Industrienationen bedeuteten. Für Theoretiker wie Lyotard ein trügerischer Präliminarfrieden:

„Der Ausbau dieses Apparats emanzipiert nicht den Geist, wie die Aufklärung hoffen konnte. Unsere Erfahrung ist eher gegenteilig: neue Barbarei, Neo-Analphabetentum und Verarmung der Sprache, neue Armut, Verelendung des Geistes und Verwüstung der Seele wie sie von Walter Benjamin und Theodor Adorno zu ihrer Zeit immer wieder unterstrichen wurden.“36

Die in Anlehnung an die Kulturkritik der Frankfurter Schule, die Psychoanalyse Freuds und die Philosophie Nietzsches entstandene postmoderne Theorie hat es sich daher zur Aufgabe gemacht, die Auswüchse der Entfremdung in den modernen Industriegesellschaften zu beschreiben, was auch die Kritik wissenschaftlicher Theoriebildung mit einschließt:

„Meine Hypothese über die Postmoderne ist, daß die Ästhetik, d.h. die Empfänglichkeit für die Gebung des anderen nach raümlichen und zeitlichen Formen, die die Grundlage für die kritische und romantische Moderne abgibt, sich zurückgedrängt, geschwächt und zum Widerstand gegen die tatsächliche Vorherrschaft der wissenschaftlich-technischen und pragmatischen Vereinnahmungen des Zeit-Raums gezwungen sieht. Mit dem Entzug der Gebung kündigt sich auch die Gebung einer Gefühlsgemeinschaft, wenigstens ihrer Verheißung, an. Und da man die Rolle kennt, die Gefühlsgemeinschaft nach Kant auch im historisch-politischen Bereich spielt (...), ist es auch die Grundlage der politischen Gemeinschaft, wenigstens, sofern sie fähig zum Fortschritt ist, nach der gefragt wird ... Indem Kant die Mangelhaftigkeit der sinnlichen Anschauung oder der Einbildung im Gefühl des Erhabenen aufzeigt, eröffnet er nicht nur den Blick für die Kunst, die im Begriff ist, die zeitlich-räumlichen Formen selbst zu hinterfragen, was die Sorge der Avantgarde sein wird, er gestaltet und verlangt sogar eine Revision des Schematismus im Aufbau der Erkenntnis.“37

Lyotard strebt demnach eine Form der Kritik an, die die „ästhetische Reflexion als Form und Weise vorurteilsloser Urteilsfindung, als Urteilen ohne Kriterium und Konzept“38zu ihrer Grundlage gemacht hat. Eine Kritik, die Abschied nimmt von der Vorstellung einer ´Theodizee der Aufklärung´, die totalitäre Erscheinungen und Katastrophen

„lediglich als Betriebsunfälle auf dem Weg eines Menschheitsfortschritts betrachtet (...), auf dem sich unbeschadet und in derselben Richtung weiter vorausschreiten ließe.“39

S.141 - 162.

36J.-F. Lyotard.L´Inhumain. Causeries sur le temps.A.a.O.. S.75.

37Derselbe.Grundlagenkrise.In:Neue Hefte für Philosophie.A.a.O.. S.24 - 26.

38Derselbe.Peregrinations. Law. Form. Event.A.a.O.. S. 38.

39Karlheinz Barck.Richtungswechsel. Postmoderne Motive einer Kritik politischer Vernunft.In:Postmoderne - Globale Differenz.A.a.O.. S. 168.