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Mit ihren 11 Jahren ist Anna in diesem besonderen Alter. Nicht mehr wirklich Kind und noch nicht richtig Frau, entdeckt sie jeden Tag Neues. Unbekanntes. Meistens mit ihren besten Freundinnen oder ganz für sich allein. Aber seit kurzem auch mit Tim. Und manchmal sogar mit der geheimnisvollen Laluna...
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Seitenzahl: 180
Veröffentlichungsjahr: 2014
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Für
Anna und Lara
...und
für alle
Mädchen
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Vollmond
„Wow... der ist echt voll süß?!“ „Die Augen…“ „Guck mal!“ „Cool.“ „Wie findest du den?“ „Voll krass.“ „Mega!“ „Hab dich sooo lieb.“ „Komm her, Süße.“ „Lass dich drücken.“
Noch vor wenigen Augenblicken war die Luft unter der alten, knorrigen Eiche erfüllt von wildem Gekicher und Gekreische.
Fünf Freundinnen.
Anna.
Fenja.
Kira.
Lia.
Nane.
Weithin vernehmbar. Lautstark gackernd und glucksend. Allesamt strahlend und angeregt miteinander schnatternd. Über alles. Die coolsten Klamotten, den besten Eyeliner, die brandneuen, von niemandem wirklich benötigten, aber dennoch nicht mehr weg zu denkenden Apps. Die letzte Party. Und logisch... vor allem über die Jungs.
Dabei immerfort in Aktion - ihre Smartphones. Voneinander Fotos und Videos aufnehmend. Nachrichten sprechend oder schreibend. Bilder versendend. Beides empfangend. Vorlesend. Zeigend. Wieder schreibend...
Dann die stürmische Verabschiedung. Heftiges, sich mehrmals wiederholendes Küssen und Umarmen. So leidenschaftlich, als ob das nächste Wiedersehen erst in drei Jahren und nicht morgen früh sein würde.
Und jetzt... Ruhe.
Sanfte Lautlosigkeit.
Mucksmäuschenstill und ganz für sich alleine lag Anna nun in ihrer leuchtend bunten Hängematte zwischen den beiden Kirschbäumen. Eingekuschelt in ihre weiche Decke und mit einem leckeren Erdbeer-Smoothie in der Hand. Neben sich ihr iPhone und ihr dickes Tagebuch. Träumend und lauschend. Nach der großen Erregung ein Innehalten.
Irgendwie ein Dazwischen.
Zwischen Tag und Nacht. Zwischen Sonnenlicht und Mondschein. Zwischen Anspannung und Entspannung.
Selbst die fröhlich dahinzwitschernden Vögel, die Meisen, Rotkehlchen, Buchfinken und Amseln, waren nun gänzlich verstummt. Kurz nacheinander hatten sie mit dem Einbruch der Dämmerung ihren bunten Gesang beendet. Fast so, als hätten auch sie sich, so wie zuvor die Mädchen, voneinander verabschiedet.
Und auf magische Weise verwandelten sich die zartrosa Blüten und die jungen, hellgrünen Blätter der Kirschbäume allmählich in gar wundersame Wesen. Beschienen vom blinkenden Leuchten der Sterne und vom silbrigen Schein des Mondes.
‚Voll und pausbackig ist er heute... kugelrund... satt...’, dachte Anna. Und bei diesem Gedanken huschte ein Lächeln durch ihren Körper. Ein leises Lächeln. Und ein sehr glückliches.
Vor sieben Jahren - so lange war es schon her - da hatte Anna die Worte über den pausbackigen Mond zum ersten Mal gehört. Auf ihrer ersten mehrtägigen Paddeltour mit ihrer Familie. Sie war gerade einmal fünf Jahre alt damals. Und nun erinnerte sie sich zurück.
An das flackernde Lagerfeuer zwischen den beiden Zelten. An die köstlichen, selbst geangelten Fische ihres Papas. An die zuckersüßen Blaubeeren, die sie mit ihren zwei Jahre älteren Geschwistern Lara und Niklas zuvor gesammelt hatte. An die gemeinsam gesungenen Lieder...
Alle diese sicher in ihrem Herzen verwahrten Bilder erwachten nun erneut in Anna. Wie… ja, wie dieses Leuchten. Dieses unglaublich mystische, silberne Leuchten.
Alles. Ausnahmslos alles verlor damals wie durch Zauberei seine Farbe. Die gelben Paddelboote und die grünen Zelte am Ufer, das tiefblaue Wasser dahinter, die roten wasserdichten Packsäcke, selbst das lodernde orange-gelbe Lagerfeuer. Alles leuchtete plötzlich so wundersam silbern im Glanz des vollen Mondes. Es war einfach märchenhaft. Staunend konnte Anna damals den vollen Mond betrachten, ja beinahe ergreifen. Und ihre Mama spürte zu jener Zeit sehr wohl Annas erstes tiefes Eintauchen in seine Magie und beantwortete ihr all ihre hervor sprudelnden Fragen mit kleinen Erzählungen und Geschichten. Auch die nach seiner Gestalt:
„Ja weißt du Anna, immer wenn der Mond so unglaublich großen Hunger hat, dass er so richtig viel von dem funkelnden Sternenstaub essen möchte, dann, und wirklich immer nur dann, ist er so dick und hell und kugelrund wie heute.“ Diese Worte ihrer Mama wird Anna zweifellos für immer in ihrer Erinnerung behalten. Zumal die Sternenstaub-Geschichte damals so einleuchtend für sie war. Denn auch Anna selbst fühlte sich an jenem Abend nach dem köstlichen Lagerfeuerschmaus kugelrund und glücklich.
Klar, Annas Gedanken kreisten nicht immerzu um den vollen Mond. Schon gar nicht, wenn sich eine dicke Wolkendecke am Himmel ausgebreitet hatte und ihr die Sicht auf ihn unmöglich machte. Oder wenn sie ganz andere Dinge im Kopf hatte als den Blick in die mondbeschienene Endlosigkeit. Oder an den vielen Tagen, an denen der Mond alles andere als voll und kugelig erschien. Aber immer mal wieder. In eben solchen Momenten wie eben.
Und manchmal kam dann auch die Mondgöttin zu ihr. Die wunderschöne Laluna, die so voller Liebe und Weisheit war. Die Göttin, die damals ebenfalls von Annas Mama für sie geboren worden war. Und die Anna seitdem begleitete. Auch und vor allem in ihren Träumen. In denen vom Tage. Und in denen der Nacht.
Doch während Anna heute verträumt in den Nachthimmel schaute, wanderten ihre Gedanken ausnahmsweise mal nicht zu Laluna, sondern zu einem Jungen.
Zu Tim.
Zu dem Tim aus Laras und Niklas’ Klasse. Zu dem Tim, der mit ihr im gleichen Leichtathletikverein trainierte. Und ja, natürlich zu dem Tim, der vor zwei Jahren diesen einen Brief an sie geschrieben hatte. Den, auf dem stand:
Hallo Anna!
Willst du meine Freundin sein? Kreuz an!
janeinvielleicht
Tim
Den Brief also, den sie in ihrer Unterstufenzeit zwar von mehr als einem Dutzend verschiedener Jungen zugesteckt bekommen hatte. Der aber dennoch ganz einmalig war. Denn alle anderen Briefe hatte Anna damals sofort nach dem Lesen weggeworfen. Oder spätestens nach einigen Tagen. Nur diesen einen nicht. Den hatte sie aufbewahrt.
Den, der damals dieses schöne kribbelige Gefühl in ihrem Bauch verursacht hatte. Den, welchen sie zwar niemals angekreuzt zurückgegeben hatte, weder mit einem Kreuz bei ja noch bei nein und auch nicht bei vielleicht. Der aber, seitdem sie ihn erhalten hatte, in ihrem dicken Tagebuch lag.
Ja. Genau dieser Tim hatte ihr heute in der großen Pause diese besonderen Blicke zugeworfen, die sie vorhin mit ihren Freundinnen so glücklich bejubelt hatte. Und vor ein paar Minuten hatte sie obendrein auch noch diese wundervolle Nachricht von ihm erhalten. Die, die sie seitdem wieder und wieder las. Und die da lautete:
Tim, 20:13
Hi Anna!
Lust auf ein Nachtrainings-Eis in Antonios Gelateria morgen? Nur du und ich? Ich lad dich ein
Tim
,Lust?’ Annas Herz lachte. ‚Na..... und ob...’ Und darum nahm sie nun auch ihr iPhone und tippte:
Anna, 20:38
RiesenlustAnna
Noch ein tiefer Atemzug. Und dann. Senden.
Abnehmender Mond, drittes Viertel
„Hey meine Süßen, noch genau 6 Stunden, 34 Minuten und 48 Sekunden und dann sind sie daaaaaaaa – unsere FERIEN!!! “
‚Typisch Nane’, dachte Anna lachend, als sie die eben bei ihr angekommene Nachricht auf ihrem iPhone las. ‚Ja, endlich... endlich Osterferien.’ Und bei diesem Gedanken unterbrach sie das gerade begonnene Schultasche packen wieder und schlüpfte noch einmal zurück in ihr immer noch nachtwarmes Bett.
So ein letzter Schultag vor den Ferien war schon besonders. Immer wieder. Vor jeden Ferien. Aber heute war alles ganz besonders besonders. Und das lag an Tims Nachricht von gestern Abend. Anna bekam seine Worte gar nicht mehr raus aus ihrem Kopf. Schon gestern vor dem Einschlafen waren sie ihr allerletzter Gedanke. Und nun nach dem Aufwachen schwirrten sie schon wieder durch Annas Schädel und zogen dort wie ein kleines Propellerflugzeug unzählige Schleifen, die sie alles andere um sie herum vergessen ließen. ‚Ob er sich über meine Antwort gefreut hat?’, fragte sie sich. Und: ‚Ich freu mich schon so auf das Training heute. Und am meisten - hinterher - auf das Eis. Mit ihm...’
„Anna, kommst du jetzt bitte endlich auch zum Frühstücken?“ Die Stimme ihrer Mama riss Anna unsanft aus ihrem Gedankentraumland heraus und holte sie in null komma nix wieder zurück ins morgendliche Hier und Jetzt. Schluss also mit verträumter Glückseligkeitsduselei.
Und wie immer, wenn sie noch nicht soweit war, antwortete Anna blitzschnell und lautstark: „Jaaaaaaa Mami, glei-ei-ch...“ Und still für sich fügte sie hinzu: „Oh mein Gott, schon 7:00 Uhr.“
Also. Raus aus den Federn. Schultasche zu Ende packen. Frühstück essen. Und dann. Ab ins Bad.
Verspätet und deshalb auch nicht allein, sondern gemeinsam mit Lara, die heute Morgen glücklicherweise gut gelaunt war und es daher anstandslos duldete, mit Anna zeitgleich Blicke in den Badezimmerspiegel zu werfen.
Los ging es also.
Zuerst ein „Guten-Morgen!-Wer-schaut-mir-denn-heute-entgegen?“ Begrüßungsblick in den Spiegel. Dann Zähne putzen. Gesicht waschen und eincremen. Anschließend ein zweiter, ein kritischer „Wo-steckt-der-Fehler?-Los-beseitige-ihn!“ Blick in den Spiegel.
Einige Sprühstöße Serum ins lange leicht gewellte blonde Haar, das von Natur aus an manchen Strähnchen heller schimmerte, als an anderen. Und danach glätten. Zuerst vorne und dann einmal um den ganzen Kopf herum. Glanz rein. Spiegelkontrolle. Fertig. Augen. Erst Eyeliner. Dann Mascara. Fertig. Lippen. Bisschen Gloss. Den neuen. Den, den sie gestern mit Lia gekauft hatte. Auch fertig.
Zum Abschluss noch ein letzter „So-darf-der-Tag-kommen!“ Blick in den Spiegel und dann einen nach der Uhrzeit. Fünf nach halb acht. Puh. Glück gehabt. Rasch in die Klamotten schlüpfen. Ein kurzer Blick aus dem Fenster in den Garten. Und. ‚Ja, sie waren alle schon da.’ Wie jeden Morgen warteten Fenja, Kira, Lia und Nane unter der alten Eiche auf Anna. Dort, wo sie auch gestern Nachmittag alle zusammen gehockt hatten. Und vorgestern. Und vorvorgestern... und immer. Manchmal verglichen sie dort ihre Hausaufgaben. Oder schrieben sie noch schnell voneinander ab. Die langweiligen Grammatikübungen. Die schwierigen Rechenaufgaben. Die neuen Englischvokabeln... und alles andere auch.
Und natürlich beredeten sie hier auch alle außerschulischen Wichtigkeiten. Vor allem sämtliche Herzensangelegenheiten. Und daher war Anna auch kein bisschen von dem vierstimmigen neugierigen „Na-aaa?“ überrascht, das ihr wenige Augenblicke später entgegenschallte, als sie mit strahlendem Gesicht im Garten erschien. Und obschon allein ihr Lächeln ihren Freundinnen alles verriet, antwortete sie vor Glück strahlend: „Alles supi. Wir gehen heute nach dem Training zusammen Eis essen. Tim hat mich eingeladen. Oh mein Gott, ich freu mich so darauf. Und das hab ich ihm auch geschrieben. Gestern Abend. Vor dem Einschlafen.“
Auf diese Worte von Anna folgte unbändiger, fünffacher Jubel. Besser konnte der Tag ja gar nicht beginnen und in dieser besonderen Stimmung zogen die fünf nun gemeinsam los. Zur Schule. Und dann... nach Deutsch, Osterfrühstück, Sport und Orchesterprobe war es endlich soweit. Schulschluss und somit Osterferienbeginn. Für drei lange Wochen. Grund genug also für allerfröhlichste Ferienstimmung.
Aber was war das?
Anna konnte nicht fassen, was ausgerechnet heute nach Schulschluss mit ihr geschah. In drei Stunden würde ihr Leichtathletik-Training beginnen. Wie jeden Freitag. Und klar, selbstverständlich freute sie sich darauf. Auf ihre Lieblingsdisziplin, das Hürdenlaufen. Und auf das Sprinten und das Springen. Ja, ein bisschen sogar auf das Werfen. Aber vor allem freute sie sich heute auf... Tim.
‚Und trotzdem war heute alles anders.’ Anna war total durcheinander. Schon das Mittagessen im Speisehaus hatte ihr nicht geschmeckt. Und das, obwohl es Pizza gab und alle anderen ihre Teller komplett leer geputzt hatten.
Und jetzt, drei Stunden vor Trainingsbeginn, hämmerte ihr Herz so sehr in ihrer Brust wie nach einem harten 400m Finallauf und ihre Knie waren so butterweich, als hätte sie eine 10km Querfeldeinstrecke in den Beinen. Obendrein passte ihr ausgerechnet heute auch kein einziges ihrer Trainingsshirts. Weder das mit dem Spruch „Fußball spielen viele - Leichtathletik nur die Besten“ noch das mit „Schön - Schöner -Leichtathletik“. Auch nicht ihr Wettkampfdress mit ihrem Namen auf dem Po. Und. ‚Ach, überhaupt. Rot-schwarzes Top zu rot-weißer Leggings. Wie blöd sah das denn aus...’, grollte Anna. Nichts stimmte heute. Einfach gar nichts. Und als sich dann auch noch Lara mit den Worten: „Bist du heute aber früh dran. Hä, schminken? Vor dem Training?“, neben Anna vor den Spiegel stellte, brachen bei Anna alle Dämme. Heiße Tränen schossen aus ihren Augen und rollten sintflutartig über ihre Wangen. Am liebsten hätte sie in diesem Moment so richtig laut losgeschrien. Aber das konnte sie glücklicherweise gerade noch unterdrücken. Denn auf weitere nervende Kommentare ihrer Schwester hatte sie so gar keine Lust. Stattdessen rannte sie weinend in ihr Zimmer, knallte die Tür viel schwungvoller als gewollt hinter sich zu und schmiss sich bäuchlings auf ihr Bett.
‚Kann Lara nicht einmal ihre Klappe halten? Die hat doch keine Ahnung. Heute. Gerade heute ist alles so verdreht. Heute. Wo doch Tim mit mir Eis essen gehen möchte. Oh nein. Wie daneben ist das denn!’, haderte Anna mit sich und der ganzen Situation. Und während diese und noch so viele andere Gedanken durch ihren Kopf sausten und ihr Herz weiterhin so aufgeregt purzelnd daher schlug, lag sie immer noch schluchzend auf ihrem Bett und verstand die Welt nicht mehr.
Zum Glück war es dann eine Stunde später nicht Lara sondern ihre Oma die den Kopf zu ihr herein steckte und fragte: „Anna, Kleines, kann ich irgendetwas für dich tun?“
„Hmm... weiß nicht, ob du das kannst. Und wenn ja, was denn?“, schluchzte daraufhin Anna. Und als sie nach diesen Worten von ihrem Bett aufschaute, direkt in das sanfte, zugegebener Maßen sehr faltige Gesicht ihrer Oma, da war die Welt um sie herum schon nicht mehr ganz so düster. Und als ihre Oma dann auch noch schmunzelnd ein riesiges Schokoladeneis hinter ihrem Rücken hervor zauberte, glitt sogar ein kurzes Lächeln über Annas Gesicht. Und dann. Ja, dann sprudelte alles aus ihr heraus. Alles. Von der Schule, vom Speisehaus, von den nicht passenden Shirts, von dem mulmigen Bauchgefühl und den Wackelknien und von der Einladung von Tim.
Ihre Oma sagte die ganze Zeit über kein einziges Wort, sondern saß einfach nur so da und hörte zu. Aufmerksam und liebevoll. Ab und an lächelte sie, wobei noch mehr Falten rund um ihre Augen entstanden. Und manchmal schaute sie auch ganz besorgt drein, mit tiefen Falten auf der Stirn.
Erst als Anna am Ende ihres Redeschwalls fragte: „So Omi, was meinst du nun, kannst du mir helfen?“, erwiderte diese, „Oh ja Kleines. Ich glaube, das kann ich. Denn solche Tage kenne ich auch. Weißt du Anni, sie gehören einfach zum Leben dazu.“
Und nach einer kurzen Pause fuhr sie fort: „Weißt du Anni, die Eiche draußen im Garten braucht auch Sonne und Regen. Und so ähnlich ist es auch bei uns Menschen. Denn wenn jeden Tag nur die Sonne scheinen würde, dann würden wir niemals einen Regenbogen bestaunen können... oder? Was ich damit sagen will: Genauso wie solche Tage kommen, gehen sie auch wieder. Und manchmal entsteht aus ihnen später etwas richtig Schönes. Da gebe ich dir mein allerheiligstes Omaehrenwort drauf...“ Und lachend fügte sie noch hinzu: „So Kleines, und nun zieh doch mal eins deiner verflixten Sportshirts an. Mal schauen, ob die Sonne den bunten Regenbogen schon leuchten lässt oder ob der Himmel immer noch voller dunkler Regenwolken hängt und wir losfahren müssen, um ein neues zu kaufen.“
„Ach Omi“, schluchzte Anna daraufhin, „du und deine Geschichten.“ Aber als sie dann das erste Shirt angezogen hatte, verstand Anna ihre Oma. Urplötzlich passte es ihr wieder. Und nicht nur das eine, sondern alle. Der böse Spuk war definitiv vorüber und schlagartig war alles wieder gut. Selbst das Eis ihrer Oma schmeckte Anna jetzt. Sogar so sehr, dass sie, nachdem es leer war, noch ein neues wollte.
Doch dann fiel ihr Tims Einladung wieder ein...
Abnehmender Mond, drittes Viertel
Liebe Anna!
Danke für gestern. Dafür, dass ich deine Hand halten durfte. Und für den Kuss.
Dein Tim
‚Unglaublich dieses Gefühl.’ Das war Annas erster Gedanke nach ihrem heutigen Nachtschlaf. Und weiter dachte sie: ‚Was hatte Lara damals gesagt, als sie mir das erste Mal von ihrem Freund Finn erzählt hatte? „Schmetterlinge im Bauch“...’. Anna musste lächeln. ‚Oh nein‚ nicht nur Schmetterlinge. In meinem Bauch sind ganze Schwärme von allem, was irgendwie flattern und kitzeln und kribbeln konnte.’
Wieder war alles anders.
War alles neu.
Wie gestern Nachmittag.
Aber nun fehlte die verwirrende Anspannung. Es flossen keine traurigen Tränen und nichts machte Anna Angst. Sie war einfach wunschlos glücklich. Erst recht, seitdem sie die neue Nachricht von Tim gelesen hatte. Die, von deren Eingang begleitendem Klingelton sie aufgeweckt worden war. Und durch die sie nun auch ganz sicher wusste, dass das Alles nicht nur ein schöner Traum, sondern wirklich geschehen war.
Tim, 10:11
Liebe Anna!
Danke für gestern. Dafür, dass ich deine Hand halten durfte. Und für den Kuss.
Dein Tim
Unfassbar. Aber Ja. Da stand tatsächlich Dein Tim.
Wirklich.
Sie konnte es mit ihren eigenen Augen lesen. Und alles andere auch. Hand halten... Kuss...
Sie las die Zeilen. Einmal. Zweimal. Dreimal. Immer und immer wieder... Und bei jedem Mal spürte sie es, dieses unbeschreibliche Kribbeln in ihrem Bauch. Puh... war sie gestern Abend aufgeregt gewesen. Fast so, wie vor einer echt schweren Mathearbeit. Oder wie vor dem Startschuss beim 100m Finallauf der Landesmeisterschaften. Aber irgendwie auch wieder ganz anders.
Tim und sie. Gemeinsam Eis essend. Im besten Eiscafé der Welt. In Antonios Gelateria unten am Fluss.
Auf dem Weg dorthin redeten sie noch ausschließlich über das Training. Vor allem über den nächsten Wettkampf gleich nach den Ferien. Aber als Antonio ihr mit den Worten: „Per favore bella Senorita Anna! Uno frappé al cioccolato con gelato für dich“, ihre Eisschokolade servierte und Tim diesen riesigen Stracciatella-Eisbecher mit Sahne und Schokosauce bekam, da änderte sich plötzlich etwas bei Anna und Tim.
Etwas Wunderbares. Magisches.
Inmitten all der anderen Eis naschenden Menschen in der wie immer überfüllten Gelateria wurde für die Beiden blitzartig alles ganz leicht und hell. Es gab nichts mehr um sie herum. Keinen Raum. Keine Zeit. Alles löste sich auf. Nur noch sie waren da. Anna und Tim. Auf ihrer eigenen Umlaufbahn. Fernab von allen anderen.
Und nachdem Tim eine Ewigkeit später das Eis bei Antonio bezahlt hatte, geschah ein zweites Wunder.
Zuerst streifte Tims rechte Hand ganz sanft Annas linke. Wie zufällig. Handrücken an Handrücken. Aber dann, als Anna ihre Hand nicht wegzog, sondern sie dort ließ wo sie war, nahm er sie ganz absichtsvoll in seine und hielt sie richtig fest. Ohne ein einziges erklärendes Wort. Völlig selbstverständlich. Den ganzen Weg entlang. Bis zu Anna nach Hause.
Und Anna gefiel das. Sehr sogar.
So sehr, dass ihr glückliches Herz vor lauter Freude noch verrückter pochte, als es das ohnehin schon tat.
Vor Annas Zuhause angekommen, wurden Tims und Annas Schritte dann langsamer und langsamer. Und zeitgleich entspann sich ein drittes, ein nicht einmal in Annas wagemutigsten Fantasien erträumtes Wunder. „Danke, dass du mich zum Eisessen eingeladen hast. Es war so lecker. Und so schön.“, sagte Anna am Gartentor zu Tim, der ihr nun gegenüber stand. Tim sah dabei ganz tief in ihre Augen, kam noch einen Schritt auf sie zu und antwortete: „Ich fand es auch richtig schön.“
Und nur wenige Sekunden später waren ihre Gesichter dann noch näher beieinander. Und noch näher. So nah, dass Anna schließlich den zarten Druck von Tims warmen Lippen auf ihren eigenen spüren konnte. Für einen ganz kurzen, wundervollen Augenblick.
Danach trennten sich ihre Lippen wieder und kurz danach auch ihre Hände. Und letztlich dann auch ihre Wege. Tim ging, nachdem er Anna eine Gute Nacht gewünscht hatte, weiter zu sich nach Hause und Anna suchte in ihrer Sporttasche nach dem Hausschlüssel, um die Eingangstür zu öffnen. Ungläubig und ganz langsam fuhr sie dabei noch einmal mit ihrer Zunge über ihre Lippen. Und lächelte...
Ach, wie wundervoll waren diese erinnernden Gedanken an gestern Abend, die sie nun Zeile für Zeile in ihrem Tagebuch niederschrieb. Und erst Tims Nachricht. Unterschrieben mit
Dein Tim
‚Was für ein Glück ich habe...’, dachte Anna. Und als ihr verträumter Blick nun aus ihrem Zimmerfenster hinaus in den Garten schweifte, erblickte sie beim Kräuterbeet ihre geliebte Oma. Schnell stand sie auf und rannte so wie sie war, in ihrem bunt gepunkteten Nachthemd, auf sie zu und erzählte strahlend: „Oh, Omi. Ich bin ja sooo glücklich. Tim ist einfach der beste Junge auf der ganzen Welt.“
Und als Annas Oma ihre Enkeltochter lachend in ihre weichen Arme nahm, schickte sie ihr die allerliebsten großmütterlichen Gedanken: ‚Wie schön meine kleine Anna, ich wünsche dir eine ganz wunderbare erste Liebe. Möge deine Göttin liebevoll in dir erwachen.’ Und obgleich sie kein einziges dieser Worte laut ausgesprochen, sondern nur still gewünscht hatte, war sie sicher, dass jedes Wort ihre geliebte Enkeltochter erreicht hatte. Zwar nicht über die Ohren. Aber dafür mit dem Herzen. Das konnte sie in Annas Augen sehen und mit ihrem eigenen Herzen fühlen.
Und laut sagte sie: „Ich freu mich so sehr für dich meine kleine Anni. Genieß jede Sekunde!“
„Ja Omi, genau das tue ich“, erwiderte Anna daraufhin strahlend. Und in der nächsten Sekunde rannte sie voller Freude zurück in ihr Zimmer. Zu ihrem iPhone. Diesmal aber nicht nur, um auf Tims Zeilen zu starren, sondern vor allem, um die traumhaften Neuigkeiten endlich ihren Freundinnen mitzuteilen. Denn sonst würde sie vor lauter Glück noch anfangen, den Boden unter ihren Füßen zu verlieren und einfach so los fliegen. In den Himmel. Direkt auf Wolke sieben. Na ja, so fühlte es sich wenigstens für sie an.
Glückselig nahm Anna daher ihr Telefon und tippte:
Anna, 10:43
Ihr Süßen!
Ich glaub ich bin im Himmel... Gestern mit Tim war der Hammer!!! Muss euch ALLES erzählen. Gleich an der Eiche?
HEGDL!!! Bussi, Anni
‚Ja. Das passte.’ Anna war zufrieden mit ihren Worten. Noch einmal tippte sie auf das Display. Und ab ging die Nachricht. An Kira, Lia, Fenja und Nane. An alle vier Freundinnen gleichzeitig.
‚Na da bin ich aber gespannt, wann die Mädels sich melden werden’, dachte Anna nach dem Versenden glücklich. Und da sie weiter auf ihrem iPhone umher tippte, hatte sie bald schon wieder Tims Zeilen von vorhin vor sich. Und las sie zum x-ten Mal.