Anna und der Schwalbenmann - Gavriel Savit - E-Book

Anna und der Schwalbenmann E-Book

Gavriel Savit

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Beschreibung

Krakau, 1939. Anna ist noch ein Kind, als die Deutschen ihren Vater mitnehmen, einen jüdischen Intellektuellen. Sie versteht nicht, warum. Sie versteht nur, dass sie allein zurückbleibt. Und dann trifft Anna den Schwalbenmann. Geheimnisvoll ist er, charismatisch und klug, und ebenso wie ihr Vater kann er faszinierend viele Sprachen sprechen. Er kann Vogellaute imitieren und eine Schwalbe für sie anlocken. Und er kann überleben – in einer Welt, in der plötzlich alles voller tödlicher Feindseligkeit zu sein scheint. Anna schließt sich dem Schwalbenmann an, lernt von ihm, wie man jenseits der Städte wandert, sich im Wald ernährt und verbirgt. Wie man dem Tod entkommt, um das Leben zu bewahren. Aber in einer Welt, die am Abgrund steht, kann alles gefährlich werden. Auch der Schwalbenmann.

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Seitenzahl: 272

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Gavriel Savit

Aus dem Englischen von Sophie ZeitzIllustrationen von Laura Carlin

Kinder- und Jugendbuchverlag

in der Verlagsgruppe Random House

Der Inhalt dieses E-Books ist urheberrechtlich geschützt und enthält technische Sicherungsmaßnahmen gegen unbefugte Nutzung. Die Entfernung dieser Sicherung sowie die Nutzung durch unbefugte Verarbeitung, Vervielfältigung, Verbreitung oder öffentliche Zugänglichmachung, insbesondere in elektronischer Form, ist untersagt und kann straf- und zivilrechtliche Sanktionen nach sich ziehen.

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1. Auflage 2016

© 2016 by Gavriel Savit

Die Originalausgabe erschien 2016 unter dem

Titel »Anna and the Swallow Man« bei Alfred A. Knopf,

an imprint of Random House Children’s Books,

a division of Penguin Random House LLC, New York

© 2016 für die deutschsprachige Ausgabe by cbt Verlag, München,

in der Verlagsgruppe Random House GmbH

Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten

Aus dem Englischen von Sophie Zeitz

Innenillustrationen: Laura Carlin

Umschlaggestaltung: Geviert, Grafik & Typografie Coverdesign: Bloemendaal & Dekkers - designers, Amsterdam Covermotive: Gettyimages/Winky Lewis; Istockphoto/Eric Isselée

SK · Herstellung: kw

Satz: Buch-Werkstatt GmbH, Bad Aibling

ISBN: 978-3-641-16696-0V002

www.cbt-buecher.de

Für Sophie »Sunny« Tait

in liebevollem Gedenken

als bescheidener Dank für all die wunderbaren

Bücher, die sie mir geschenkt hat

Inhalt

Was sagst du?

Folge dem Führer

Eine Lektion in Zoologie

Der Mann, der sein Gewehr küsste

Wandermuster

Was gibst du mir?

Gefährdete Spezies

EPILOG: Das Prinzip der Ungewissheit

DANKSAGUNGEN

Als Anna Łania am Morgen des 6. November im Jahr 1939 – ihrem siebten Jahr – aufwachte, gab es verschiedene Dinge, von denen sie nichts wusste.

Anna wusste nicht, dass der Führer der Gestapo im besetzten Polen den Rektor der Krakauer Jagiellonen-Universität per Anordnung dazu gezwungen hatte, die gesamte Professorenschaft (zu der Annas Vater gehörte) zu einer Vorlesung und Debatte antreten zu lassen – über die Richtung, die die polnische Akademie unter der deutschen Herrschaft einschlagen sollte. Angesetzt auf Mittag desselben Tages.

Sie wusste nicht, dass ihr Vater und seine Kollegen vom Hörsaal 56 erst in ein Krakauer Gefängnis gebracht würden und dann in verschiedene Internierungslager auf polnischem Gebiet, bevor man sie schließlich in das Konzentrationslager Sachsenhausen in Deutschland verschleppen würde.

Sie wusste auch nicht, dass einige Monate später eine Gruppe von überlebenden Kollegen ihres Vaters weiter in das noch berüchtigtere Lager Dachau in Oberbayern geschickt werden würde, doch dass ihr Vater zu diesem Zeitpunkt nicht mehr transportfähig wäre.

Das Einzige, was Anna an diesem Morgen wusste, war, dass ihr Vater für einige Stunden aus dem Haus gegangen war.

Siebenjährige Mädchen sind ein bunter Haufen. Manche von ihnen behaupten, sie seien längst erwachsen, und es fällt einem schwer zu widersprechen; andere hängen noch an den verwunschenen Geheimnissen der Kindheit, die sich tief in ihren Köpfen entfalten und ihnen wichtiger sind als jedes Gespräch, das sie mit Erwachsenen führen; wieder andere (die größte Gruppe) sind unschlüssig, zu welcher Gattung sie gehören, und je nach Tag, Stunde oder Augenblick zeigen sie ein völlig anderes Gesicht.

Anna gehörte in ihrem siebten Jahr zur letzten Gruppe, und ihr Vater trug dazu bei, diesen schillernden Zustand zu bewahren. Er behandelte sie wie eine Erwachsene – mit Achtung, Rücksicht und Respekt –, doch er schaffte es gleichzeitig, in ihr das Gefühl zu erhalten, dass alles, was ihr auf der Welt begegnete, eine ganz neue Entdeckung war, die sie auf ihre einmalige Art erfasste.

Annas Vater war Sprachen-Professor an der Jagiellonen-Universität, und wenn man mit ihm zusammenlebte, hatte jeder Tag der Woche eine andere Sprache. Mit ihren knapp sieben Jahren sprach Anna fließend Deutsch, Russisch, Französisch und Englisch, konnte sich auf Jiddisch und Ukrainisch verständigen und besaß Grundkenntnisse in Armenisch und dem karpatischen Romani.

Ihr Vater sprach niemals Polnisch mit ihr. Polnisch, die Landessprache, erklärte er, käme von selbst.

Natürlich würde kein Mensch so viele Sprachen lernen wie Annas Vater, wenn er nicht gerne reden würde. In den meisten ihrer Erinnerungen war er ins Gespräch vertieft – lachte, erzählte Witze, diskutierte oder seufzte mit einem seiner vielen Freunde und Bekannten, die über die ganze Stadt verstreut waren.

Lange dachte Anna sogar, dass jede der Sprachen, die ihr Vater sprach, auf den jeweiligen Gesprächspartner zugeschneidert war wie ein Maßanzug. Französisch war nicht Französisch, sondern die Sprache von Monsieur Bouchard. Jiddisch war nicht Jiddisch, sondern die Sprache von Reb Schmulik. Jedes Wort auf Armenisch, das Anna je gehört hatte, erinnerte sie an das Gesicht des kleinen alten Tatik, der sie und ihren Vater stets mit einer winzigen Tasse starkem, bitterem Kaffee begrüßte.

Jedes armenische Wort roch nach Kaffee.

Wäre Annas Leben ein Haus, dann wären die Männer und Frauen, mit denen ihr Vater sich in seiner Freizeit unterhielt, die tragenden Säulen. Sie hielten den Himmel oben und die Erde unten, und sie lächelten Anna an und redeten mit ihr wie mit ihrem eigenen Kind. Nie war es nur Professor Łania, der willkommen geheißen wurde, immer waren es Professor Łania und Anna. Oder, wie sie sagten, Professor Łania und Anja oder Hannale oder Anke oder Anuschka oder Anouk. Anna hatte so viele Namen, wie es Sprachen, wie es Menschen auf der Welt gab.

Wenn aber ein Vater mit jedem eine andere Sprache spricht, stellt sich ein Kind irgendwann die Frage: Was ist die Sprache meines Vaters?

Was ist meine?

Die Antwort war einfach: Ihre Sprache war die der anderen. Alle anderen Menschen waren an eine Sprache gefesselt, im besten Fall an zwei oder drei, nur Annas Vater schien vollkommen frei zu sein von diesen Grenzen, die jeden sonst in der weiten, bunten Landschaft von Krakau einschlossen.

Er war auf keine Art zu sprechen beschränkt. Er konnte sein, was er wollte. Außer vielleicht er selbst.

Und was auf Annas Vater zutraf, musste auch auf Anna zutreffen. Statt eine Sprache an seine Tochter weiterzugeben, die sie bestimmte, schenkte Annas Vater ihr die ganze Vielfalt der Sprachen, die er kannte, und sagte: »Bediene dich. Erschaffe dir etwas Neues.«

Sie hatte keine Erinnerung an ihren Vater, in der er nicht redete.

In ihrer Erinnerung war er wie eine lebendige Statue in seiner gewohnten Zuhörhaltung: das rechte Bein über das linke geschlagen, Ellbogen auf dem Knie, das Kinn in der Hand. Diese Haltung nahm er häufig ein, und selbst wenn er schweigend lauschte, war er dabei nicht weniger beredt, denn seine Lippen und Brauen zuckten und wanden sich, als würden sie auf die Dinge antworten, die er hörte. Andere Menschen mussten rätseln, was seine Gesten zu bedeuten hatten, doch Anna sprach auch diese Sprache fließend und musste nicht fragen.

Sie und ihr Vater verbrachten unendlich viel Zeit im Gespräch. Sie sprachen in jeder Sprache in jedem Winkel der Wohnung und auf jeder Straße der Stadt. Von allen Menschen, das glaubte sie fest, sprach ihr Vater am liebsten mit ihr.

Als Anna zum ersten Mal verstand, dass eine Sprache ein Kompromiss zwischen den Menschen war – dass zwei Menschen, die die gleiche Sprache sprachen, nicht unbedingt gleich waren –, stellte sie ihrem Vater das einzige Mal, seit sie denken konnte, eine Frage, auf die er keine Antwort hatte.

Sie waren auf dem Heimweg von einem ihrer Ausflüge und es dämmerte. Anna wusste nicht, in welchem Teil der Stadt sie sich befanden. Ihr Vater hielt fest ihre Hand, und sie musste laufen, um mit seinen langen Beinen Schritt zu halten.

Er wurde noch schneller, während die Sonne hinter den Dächern und anschließend hinter den Hügeln versank, und als die Dunkelheit hereinbrach, rannten sie.

Anna hörte sie, bevor sie sie sah. Eine Männerstimme lachte – laut und fröhlich, so aufrichtig amüsiert, dass auch Anna lächelte, neugierig, was der Grund für die Heiterkeit war. Doch in dem Moment, in dem sie die Straße erreichten, aus der der Lärm kam, erstarrte ihr Lächeln.

Da waren drei Soldaten.

Der lachende Soldat war der kleinste von ihnen. An die anderen erinnerte sie sich kaum, nur daran, dass sie unwahrscheinlich groß auf sie wirkten.

»Spring!«, rief der kleine Soldat. »Spring! Spring!«

Der grauhaarige alte Mann vor ihnen tat sein Bestes, dem Befehl zu gehorchen, und hopste erfolglos auf der Stelle, denn anscheinend stimmte etwas mit seinem Bein nicht – es sah aus, als wäre es gebrochen. Offensichtlich hatte er schreckliche Schmerzen. Mit großer Mühe biss er die Zähne zusammen, wenn er auf den Pflastersteinen landete, und konnte doch nicht verhindern, dass sein verzerrtes Gesicht seine Qualen verriet.

Dies schien den kleinen Soldaten noch mehr zu amüsieren.

Vielleicht der schlimmste Teil der Erinnerung war die reine, unbeschwerte Freude dieses Lachens. Für Anna war es Doktor Fuchsmanns Sprache, die der Soldat sprach, und folglich lachte er auch darin.

Doktor Fuchsmann war ein dicker, fast kahler Mann, der stets eine Weste trug. Er hatte eine Brille und einen Stock, mit dessen Hilfe er den ganzen Tag durch seine kleine Apotheke humpelte. Er kicherte gern und wurde ständig rot, und in der kurzen Zeit, seit Anna ihn kannte, hatte er ihr mehr Kekse zugesteckt, als sie je auf einem Haufen gesehen hatte.

Der kleine Soldat sprach Doktor Fuchsmanns Sprache.

Anna war verwirrt. Sie brachte weder den Soldaten mit dem Doktor zusammen, noch den Doktor mit dem Soldaten. Also tat sie, was jedes Kind in ihrer Situation getan hätte.

Sie fragte ihren Vater.

Wäre Annas Vater nicht der gewesen, der er war, und hätte Anna in ihren sieben Lebensjahren nicht so viel Deutsch gehört, geredet und gedacht – kurz, wäre ihre Aussprache nicht so überzeugend muttersprachlich gewesen –, dann hätte diese Geschichte vielleicht aufgehört, bevor sie überhaupt begann.

»Papa«, sagte Anna, »warum lachen sie über diesen Mann?«

Annas Vater antwortete nicht.

Der Soldat drehte sich um.

»Weil«, sagte er, »dieser Mann kein Mann ist, Kleine. Er ist ein Jude.«

Anna erinnerte sich genau an diesen Satz, denn er veränderte ihre Welt. Sie hatte gedacht, sie wusste, was Sprache war, wie Sprache funktionierte, wie die Menschen verschiedene Wörter aus der Luft sogen, um damit die Dinge einzufangen.

Aber das hier war viel komplizierter.

Reb Schmulik sagte nicht Jude. Reb Schmulik sagt Jid.

Und dieser Soldat, ganz gleich welche Sprache er sprach, war so verschieden von Doktor Fuchsmann, wie er es von Reb Schmulik, dem Juden, sein wollte.

Im Jahr 1939 war eine Gruppe von Menschen, die Deutsche hießen, in ein Land gekommen, das Polen hieß, und hatte die Herrschaft über die Stadt Krakau übernommen, in der Anna lebte. Kurze Zeit später setzten die Deutschen einen Plan namens »Sonderaktion Krakau« um, der sich gegen die Intellektuellen und Akademiker der Stadt richtete, darunter auch Annas Vater.

Als Tag der Ausführung der »Sonderaktion Krakau« wurde der 6. November 1939 festgesetzt, aber das Einzige, was Anna an jenem Morgen wusste, war, dass ihr Vater für ein paar Stunden aus dem Haus gegangen war.

Um kurz nach elf hatte er sie der Obhut von Doktor Fuchsmann übergeben und war nicht mehr zurückgekehrt.

Es war nicht ungewöhnlich, dass ihr Vater Anna bei Freunden ließ, wenn er dringende Angelegenheiten zu erledigen hatte. Zwar vertraute er ihr genug, um sie über kürzere Zeiträume allein in der Wohnung zu lassen, doch hin und wieder musste er länger fort. Sie war noch sehr jung und von Zeit zu Zeit musste jemand auf sie aufpassen.

Annas Vater hatte sein Bestes getan, um sie vor dem abzuschirmen, was in der Stadt geschah, aber Krieg ist Krieg, und es ist unmöglich, ein Kind für immer vor der Welt zu beschützen. Man sah die Uniformen auf den Straßen, hörte die Schreie der Leute, das Gebell der Hunde und manchmal Gewehrschüsse, und wenn ein Mann gerne redete, schnappte seine Tochter früher oder später das Wort »Krieg« auf.

»Krieg« ist in jeder Sprache ein gewichtiges Wort.

Anna erinnerte sich verschwommen an eine Zeit, bevor das gewichtige Wort sich über sie gelegt hatte wie ein mit Bleikugeln beschwertes Netz. Doch mehr als von den Gesichtern bestimmter Personen – mehr als vom flüchtigen Bild ihrer Mutter – war ihre Erinnerung an diese Zeit vom bunten Treiben in einer lebenslustigen Stadt geprägt: von Besuchen in Parks und Anlagen mit lebhaften Gesprächen, von Cafétischen auf Bürgersteigen, eingedeckt mit Tassen und Bierkrügen, von Müttern, Liebespaaren und Freunden, die Namen über das hallende Pflaster riefen in der Hoffnung, der geliebte Kopf wandte sich noch einmal um, bevor er um die Ecke verschwand. In ihrer Erinnerung waren es Tage der Wärme und Sonne gewesen, und der Krieg, fand Anna, war wie schlechtes Wetter.

Wenn ein Sturm aufzog, ging man besser nicht vor die Tür.

Während der letzten Monate verbrachten Anna und ihr Vater viel Zeit zu Hause, wo sie redeten oder lasen, wenn dann doch einmal das Bedürfnis nach Stille aufkam. Ihr Vater meinte es gut, doch die meisten der Bücher im Haus gingen weit über Annas Verständnis hinaus, und so beschäftigte sie sich hauptsächlich mit einem Buch, einem dicken Band mit Geschichten aus allen möglichen Quellen, von Äsop bis zur Bibel, von der nordischen Sagenwelt bis zum Alten Ägypten, alle mit Tuschezeichnungen im tröstlichen Stil des neunzehnten Jahrhunderts illustriert und auf dickem, schwerem Papier gedruckt.

Anna vermisste das Buch, kaum dass sie von ihm getrennt war. Sie vermisste es, noch bevor sie ihren Vater vermisste.

In den ersten zwei, drei Stunden nach Mittag des sechsten November hatte sich Doktor Fuchsmann wie immer verhalten. Er hatte Anna aufgezogen, wenn der Laden leer war, und über den Rand seiner Brille gelacht. Und er hatte sie ignoriert, sobald die Türglocke einen neuen Kunden einläutete. Es gab weniger Kekse als früher, doch Anna verstand das, denn Doktor Fuchsmann erklärte den Mangel mit dem Krieg. Das war gang und gäbe und Anna war längst vertraut damit: Wenn jemand von Veränderungen und Verschlechterungen sprach, wurde stets der Krieg als Grund genannt.

Allerdings verstand Anna immer noch nicht, was genau das Wort »Krieg« bedeutete. Aber zumindest hatte die Kürzung der Keksvorräte damit zu tun und das konnte sie einfach nicht gutheißen.

An diesem Tag herrschte Hochbetrieb in der Apotheke, und die Kunden, die kamen, um sich von Doktor Fuchsmann helfen zu lassen, waren hauptsächlich junge Deutsche in fast gleichen Uniformen. Selbst die älteren Männer in Anzügen, die hereinkamen, sprachen ein helles, abgehacktes Deutsch, das, auch wenn es sich um dieselbe Sprache handelte, in Annas Ohren etwas Lauerndes hatte, während sich das Deutsch des Doktors entspannt zurücklehnte. Es war interessant, aber Doktor Fuchsmann wurde nervös, wenn Anna zu sehr die Ohren spitzte, und so war sie bemüht, sich nicht anmerken zu lassen, dass sie lauschte.

Im Lauf des Nachmittags versuchte er seine wachsende Unruhe zu verbergen, aber als es Zeit war, die Apotheke zu schließen, und Annas Vater immer noch nicht zurück war, begann Doktor Fuchsmann, sich offenkundig Sorgen zu machen.

Nur Anna machte sich keine großen Sorgen. Ihr Vater war schon länger unterwegs gewesen und er war immer zurückgekommen.

Doch jetzt hallten ab und an Schüsse auf den Straßen und die Hunde bellten ununterbrochen.

Als Doktor Fuchsmann sich weigerte, Anna mit nach Hause zu nehmen, keimte zum ersten Mal Angst in ihr auf. Bis dahin war er immer so nett gewesen, und es war verwirrend, dass er plötzlich unfreundlich war.

In dieser Nacht schlief Anna in Doktor Fuchsmanns Apotheke unter dem Tresen, ohne Decke, dafür sorgsam darauf bedacht, keine Geräusche zu machen und im Verborgenen zu bleiben, während sich in der einbrechenden Dämmerung die Straßen mit Deutschen füllten.

Sie konnte nicht schlafen. Die Sorge hielt sie gerade wach genug, um nicht einzudösen, aber nicht so wach, dass sie etwas gegen ihre Langeweile hätte unternehmen können. Auf dieser unüberwindlichen Schwelle gefangen, sehnte sie sich nach ihrem Märchenbuch.

Es gab eine Geschichte am Ende, wo das alte Buch von selbst aufklappte, von einem hageren Dämon namens Erlkönig. Anna liebte sein Bild und starrte es an, bis ihre Angst unerträglich wurde und sie das Buch zuschlagen musste. Kaum war der Erlkönig verschwunden, verschwand auch die Angst zwischen den Seiten des Buchs. Jetzt wünschte sie, sie könnte ihre nagenden Sorgen gemeinsam mit ihrem Märchenbuch zuklappen.

Am Morgen brachte Doktor Fuchsmann Anna Frühstück mit. Es tröstete sie ein wenig, doch bis zum Mittag wurde klar, dass er nicht weiter auf sie aufpassen wollte. Er entschuldigte sich, sagte, er werde ihren Vater augenblicklich zu ihr schicken, sobald er zurück zur Apotheke käme, aber er könne sie ganz einfach nicht mehr in seinem Laden behalten.

Alles, was er sagte, ergab Sinn.

Was hätte sie einwenden können?

Doktor Fuchsmann sperrte hinter sich ab und dann brachte er Anna zurück zu ihrer Wohnung. Doch als sie dort ankam, stellte Anna fest, dass Professor Łania ebenfalls abgeschlossen hatte, bevor sie am Vortag zu Doktor Fuchsmann aufgebrochen waren. Doktor Fuchsmann bekam davon allerdings nichts mehr mit, denn kaum waren sie in Sichtweite des Hauses, hatte er sich entschuldigt und war zurück zu seiner Apotheke geeilt.

Anna saß lange vor der Wohnungstür. Etwas in ihr glaubte immer noch daran, dass ihr Vater auf dem Weg zu ihr wäre, und sie gab sich alle Mühe, ihre Sorgen zu verdrängen und an dieser Gewissheit festzuhalten. Bestimmt kam er bald zurück.

Doch er kam nicht.

Immer wenn ihre Gewissheit nachließ, versuchte Anna, die Tür zu öffnen, und rüttelte an der Klinke, als hätte ihr Vater sie nicht ausgeschlossen, sondern als klemme nur das Schloss.

Sie wurde jedes Mal langsamer.

Und so sehr sie es sich wünschte, die Tür gab nicht nach. In Friedenszeiten passiert es manchmal, dass sich solche Hoffnungen erfüllen. In Kriegszeiten nie.

Anna hatte das Gefühl, eine Ewigkeit dort zu warten, und das stimmte auch. Für ein Kind kann eine leere Stunde hundert Jahre dauern und Anna saß mindestens zwei oder drei Stunden da. Wäre die alte Frau Niemczyk von gegenüber nicht gewesen, hätte Anna vielleicht vor ihrer Tür gesessen und auf ihren Vater gewartet, bis der Krieg sie weggeholt hätte.

Frau Niemczyk hatte sich oft bei Professor Łania (und anderen) beklagt, dass er und seine Tochter zu laut und zu spät abends redeten, auch wenn Annas Vater überzeugt war, sie störe sich mehr daran, dass er Zigeuner, Armenier und Juden ins Haus einlud.

Frau Niemczyk sprach nur Polnisch und selbst das sprach sie wenig. Sie hatte nie ein Wort direkt an Anna gerichtet, obwohl sie häufig in Annas Gegenwart über sie redete, gewöhnlich, um ihrem Vater zu sagen, dass er seine Tochter verzog.

Es verstand sich von selbst, dass ihr Anblick kein freudiges Ereignis für Anna war, obwohl Anna eigentlich gern mit Menschen zu tun hatte.

Kurz nachdem Anna ihre Wache vor der Wohnungstür begonnen hatte, verließ Frau Niemczyk ihre Wohnung, um Erledigungen zu machen. Sie musterte Anna, als sie auf den Flur trat, und bei ihrer Rückkehr ließ sie sie nicht aus den Augen, bis sie die Wohnungstür hinter sich zugezogen hatte.

Anna wusste nicht, was Frau Niemczyk vorhatte, aber Frau Niemczyk begann, in regelmäßigen Abständen die Tür zu öffnen und nachzusehen, ob sie noch immer im Treppenhaus saß, und jedes Mal wirkte der Ausschnitt ihres Gesichts, den Anna durch den Türspalt sah, ein wenig zufriedener.

Wäre die alte Frau Niemczyk nicht gewesen, hätte Anna wohl weiter auf ihren Vater gewartet.

Wäre die alte Frau Niemczyk nicht gewesen, hätte Anna wohl nie den Schwalbenmann kennengelernt.

Obwohl es in Krakau viele Orte gab – Wohnungen, aber auch Cafés und Wirtshäuser –, an denen man Anna in allen möglichen Sprachen für einen oder zwei Tage willkommen geheißen hätte, ging sie zurück zu Doktor Fuchsmanns Apotheke. Immerhin war das der Ort, an den ihr Vater sie gebracht hatte. Das war der Ort, wo er sie vermutete.

Es war spät. Anna hatte Hunger, und als die Sonne zum Horizont herabsank, begann sie sich zu fragen, wo sie wohl die Nacht verbringen würde. Diese Sorge war ein ganz neues Gefühl. Bis gestern hatte sie ihr Leben lang hinter der verschlossenen Wohnungstür in ihrem kleinen Bett geschlafen, nur ein paar Schritte vom Zimmer ihres Vaters entfernt.

Doktor Fuchsmann bediente gerade einen Kunden, als Anna vor der Apotheke ankam. Durchs Schaufenster sah sie, wie er mit einem Mann im Anzug sprach, und obwohl er direkt in ihre Richtung blickte, schien er sie nicht zu sehen.

Es war kalt auf der Straße.

Anna benahm sich zu dieser Zeit zwar schon auf vielerlei Art wie eine Erwachsene, doch es fehlte ihr nicht an kindlichem Gehorsam. Doktor Fuchsmann hatte gesagt, er könne sie nicht im Laden behalten. Und auch wenn sich die Umstände inzwischen geändert hatten, auch wenn Anna immer verzweifelter war, sie würde den Laden nicht betreten, bis man ihr die Erlaubnis dazu erteilte.

Das war, was die Erwachsenen als »wohlerzogen« bezeichneten.

Anna setzte sich auf die Straße, um auf ihren Vater zu warten, der nicht kam. Die Gasse, in der sich Doktor Fuchsmanns Apotheke befand, war kurz – der enge, gekrümmte Verbindungsweg zwischen zwei Durchgangsstraßen –, und es herrschte nicht viel Verkehr. Abgesehen von den Kunden der Apotheke und der wenigen anderen Ladengeschäfte lebten die meisten Anwohner in den oberen Stockwerken und hielten sich nicht lange auf der Straße auf. Anna heftete den Blick auf den Boden und betete bei jedem Passanten, er möge sie nicht sehen oder aber ihr Vater sein. Die Zeit vertrieb sie sich damit, an ihrem Kleid zu nesteln und lose Fäden aus ihrem Rocksaum zu zupfen.

Es war das Geräusch seiner Schuhe, das ihr auffiel. Sie hatte den klackernden Rhythmus an die hundert Mal an diesem Nachmittag gehört, wenn er über die Gasse ging, auf und ab, eine Weile verschwand und dann wiederkehrte, bis der Klang seiner Holzsohlen auf dem Pflaster zur vertrauten Kulisse geworden war. Jetzt hob sie überrascht den Kopf, überzeugt, sie müsse diese Schuhe kennen. Es dauerte nicht lang, bis der lange Mann über den Schuhen bemerkte, dass sie ihn bemerkte.

Er war groß und ungewöhnlich dünn. Der Anzug, ein Dreiteiler aus brauner Schurwolle, musste ihm auf den Leib geschneidert sein. Sie konnte sich keinen zweiten Mann mit den gleichen Maßen vorstellen und seine Kleider saßen wie angegossen. Er trug eine alte Arzttasche bei sich, deren braunes, abgewetztes Leder ein wenig heller als sein dunkler Anzug war. Die Schnallen waren aus Messing, und an einer Seite war in blassem Rot, das wohl ursprünglich zu seiner dunklen Krawatte gepasst hatte, das Monogramm SWGeingeprägt. Ein langer schwarzer Schirm steckte zwischen den Griffen der Tasche, obwohl der Himmel wolkenlos war.

Der dünne Mann blieb stehen, als er Annas Blick bemerkte, und sah sie aus seiner beachtlichen Höhe durch eine runde Goldrandbrille an. In seinem Mund steckte eine Zigarette, die jedoch nicht brannte und die er jetzt zwischen die langen, dünnen Finger nahm, bevor er zu sprechen ansetzte.

Im gleichen Moment läutete die Türglocke und aus Doktor Fuchsmanns Apotheke trat ein junger deutscher Soldat auf die Straße. Der dünne Mann wandte sich scharf nach dem Soldaten um und fragte ihn in hellem, forschem und überaus kultiviertem Deutsch, ob dies die berühmte Apotheke des Doktors sei, den hier jeder so gerne aufsuche. Anna merkte, wie sie die Luft anhielt.

Der große Mann und der Fremde tauschten sich kurz und freundlich aus, und der Soldat verbürgte sich für Qualität und Vortrefflichkeit der Leistung, die in der Apotheke erbracht wurde. Schließlich sei der Doktor Deutscher, und es sei kaum zu erwarten, dass einer dieser polnischen Ärzte ihm das Wasser reichen könne.

Nach einer angemessenen Pause nickte der dünne Mann dankend und richtete den Blick auf die Apotheke. Er strahlte eine solche Autorität aus, dass Anna, und wahrscheinlich auch der Soldat, sich unwillkürlich fragte, ob sie wissen müsste, wer er war. Der junge Soldat, der den Umgang mit Vorgesetzten gewohnt war, fasste das kurze Dankesnicken richtig als Geste der Entlassung auf, doch bevor er weit kam, rief der dünne Mann ihn noch einmal zurück.

»Würden Sie mir Feuer geben, Soldat?«, sagte er, die Zigarette jetzt wieder zwischen den Lippen. Er hatte die langen Hände hinter dem Rücken verschränkt, und es bestand kein Zweifel, dass er nicht gewillt war, sich die Zigarette selbst anzuzünden.

Der junge Soldat leistete Gehorsam. Der dünne Mann sah ihm nicht in die Augen und sagte auch kein Wort des Dankes oder der Anerkennung.

Stattdessen tat er einen tiefen Zug an der Zigarette.

Der Soldat verschwand in der Stadt.

Der dünne Mann inhalierte noch einmal, bevor er sich wieder Anna zuwandte.

»So«, sprach er in seinem schönen Deutsch und ließ mit dem Klang den Rauch über die Lippen strömen. »Und wer bist du?«

Anna wusste nicht, was sie antworten sollte. Ihre Lippen bewegten sich, versuchten ein Wort in irgendeiner Sprache zu finden, das sie aus der Luft saugen konnte. Sie wusste, dass es eine deutsche Form ihres Namens gab, doch es fühlte sich falsch an, diesem strengen, beeindruckenden Mann zu sagen, das Wort sei, wer sie sei. Außerdem war ihr kalt, und sie war hungrig und fürchtete sich, und es fiel ihr schwer, sich zu erinnern, welche spezielle Namensform sie suchte.

Der dünne Mann zog die Brauen hoch und neigte den Kopf. Er runzelte die Stirn, dann redete er sie auf Polnisch an. »Auf wen wartest du?«

Während sein Deutsch hell und forsch klang, war das Polnisch, das er sprach, rund und flink. Er war außer ihrem Vater der erste Mensch, dem Anna begegnete, der mehr als eine Sprache gleich gut beherrschte.

Sie wollte antworten, wollte sprechen, aber sie wusste nicht, was sie sagen sollte. Sie könnte sagen, dass sie auf ihren Vater wartete, aber plötzlich war sie sich nicht mehr sicher, ob das stimmte, und wenn eines klar war, dann, dass sich dieser große Fremde keine Lügen auftischen ließ.

Der dünne Mann nickte, als Anna schwieg, und wechselte zu Russisch. »Wo sind deine Eltern?«

Diese Frage sollte leichter zu beantworten sein, nur dass Anna nicht antworten konnte, weil sie es nicht wusste. Gerade, als sie ihm das erklären wollte, schien er sich an ihre Schweigsamkeit gewöhnt zu haben und wechselte wieder die Sprache, diesmal zu Jiddisch.

»Geht es dir gut?«

Das war die Frage, die Anna zum Weinen brachte. Natürlich waren seine ersten Fragen und ihre Sprachlosigkeit genauso verwirrend gewesen, genauso so aufwühlend. Vielleicht war es sein Ton, der plötzlich weich wurde, die Tatsache, dass der Mann, der ihr mit seiner Größe mehr als ein bisschen Angst einflößte, plötzlich so besorgt schien. In den letzten Wochen und Monaten war alles immer schlechter geworden, doch Anna erinnerte sich nicht, dass je einer gefragt hätte, wie es ihr ging. Selbst ihr Vater war so damit beschäftigt gewesen, dafür zu sorgen, dass es ihr einigermaßen gut ging, dass er darüber ganz vergessen hatte, sie zu fragen, ob es ihm gelang.

Vielleicht war es das Jiddisch. Jiddisch war Reb Schmuliks Sprache. Anna hatte Reb Schmulik seit Wochen nicht gesehen, und auch wenn sie noch ein Kind war, war sie nicht blind für das, was den Juden widerfuhr. Fast war sie sich nicht sicher, ob es Jiddisch überhaupt noch gab, bis der dünne Mann es gesprochen hatte.

Doch die wahrscheinlichste Erklärung für Annas Tränen war, dass sie diesmal die Antwort kannte.

Es ging ihr nicht gut.

Annas Tränen schienen den dünnen Mann eher zu verblüffen als zu rühren. Wieder zog er die Brauen hoch und sah mit zur Seite geneigtem Kopf zu ihr herab. Vor allem wirkte er neugierig.

Sein Blick war stechend. Seine Augen lagen tief in den Höhlen, und obwohl Anna sich große Mühe gab, ihre Tränen vor der Welt zu verbergen, fiel es ihr schwer, seinem Blick auszuweichen. Wie ein Angelhaken fing er Annas Blick und zog ihn hinein.

Mit dem, was er dann tat, veränderte er Annas Leben für immer.

Der dünne Mann wandte den stechenden Blick nach oben zur Traufe der Häuser, die sich an der kurzen Gasse drängten. Annas Augen folgten wie hypnotisiert. Als er fand, was er suchte, schürzte der dünne Mann die Lippen und stieß einen hellen zwitschernden Pfiff in Richtung Himmel aus.

Plötzlich erhob sich ein Flattern und wie ein fallender Stein stürzte ein Vogel herab auf die Straße. Im letzten Moment spreizte er die Flügel, bremste seinen Flug und landete sacht auf den grauen feuchten Pflastersteinen. Dann machte er ein Paar Hüpfer, zwinkerte, legte den Kopf zur Seite und sah zu dem dünnen Mann empor.

Der Mann nahm die Zigarette von der linken in die rechte Hand, ging in die Hocke, sodass ihm die spitzen Knie fast bis zu den Ohren reichten, und streckte den linken Zeigefinger aus.

Einen Moment lang rührte sich der Vogel nicht. Der dünne Mann zwitscherte wieder, und als hätte er ihn beim Namen gerufen, flatterte der Vogel und setzte sich auf den Zweig des Fingers.

Der Mann drehte sich langsam um und hielt Anna den Vogel hin, während er tief in ihre weit aufgerissenen Augen blickte, den rechten Finger an die Lippen gelegt.

Die Mahnung war unnötig. Beim Anblick der schönen, zarten, leuchtenden Kreatur hatte Anna nicht nur zu weinen aufgehört, sondern auch die Luft angehalten.

Anna konnte das Tier, das er ihr hinhielt, nur eine Handbreit von ihrem Gesicht entfernt, in allen Einzelheiten anschauen. Der Kopf und die Flügel waren von einem lebendigen, schillernden Blau, Gesicht und Hals waren blass orangefarben. Sein Schwanz war gespalten, und er bewegte sich ruckartig, während der Vogel ansonsten reglos da saß und zu ihr aufsah. Fast war es, als zaubere der dünne Mann eine Reihe von lebensechten Skulpturen herbei, die abwechselnd auf seiner Hand hockten, eine jede nahtlos von der nächsten ersetzt.

Unwillkürlich lächelte Anna und streckte die Hand nach dem Vogel aus. Kurz dachte sie, sie könnte das weiche Federkleid berühren, doch in einem überraschenden Ausbruch flatterte der Vogel in den Himmel davon.

Der Mund des dünnen Mannes blieb ungerührt und ausdruckslos, während in seinen Augen eine Art Triumph aufflammte. Mit frappierender Geschmeidigkeit richtete der Mann sich wieder zu seiner vollen Größe auf und begann über die Straße auf Doktor Fuchsmanns Apotheke zuzugehen.

Anna hauchte eine Frage in die Abendluft und erschrak beinahe, als er sie hörte. »Was war das?«, fragte sie.

»Das«, erklärte der Mann, ohne sich noch einmal umzudrehen, »war eine Schwalbe.«

Die Glocke läutete und die Apothekentür fiel zu.

Als er wieder aus Doktor Fuchsmanns Apotheke kam, schien der dünne Mann keine Absicht zu haben, das Gespräch mit Anna zu vertiefen. Seine Augen, zweckmäßige Werkzeuge zum Orten von Menschen und Dingen, glitten fließend über sie hinweg, ohne eine Sekunde an der Stelle zu verharren, wo sie an der Mauer saß. Bevor Anna auf die Füße kam, hatten seine lauten Schritte ihn bereits die halbe Gasse fortgetragen.

Doch Anna war vorbereitet gewesen, als er aus der Apotheke kam, und lief ihm hinterher.

In einem hastigen Durcheinander widersprüchlicher Sprachen beantwortete sie alle seine Fragen.

Auf Jiddisch sagte sie: »Es geht mir schon besser«, dann auf Russisch: »Ich glaube nicht, dass mein Vater zurückkommt.« Auf Deutsch sagte sie: »Ich bin ich«, und dann auf Polnisch: »Und jetzt warte ich auf Sie.«

Der dünne Mann schwieg einen Moment. Jeder andere wäre verblüfft gewesen, doch er schien nicht sonderlich beindruckt, sondern musterte Anna nur mit seinen dunklen, strengen Augen.

Als sie nicht mehr warten konnte, fügte Anna auf Französisch hinzu, weil es ihr naheliegend schien: »Und ich spreche die Vogelsprache nicht.«

Es war das erste von drei Malen, dass Anna den Schwalbenmann lachen hörte.

»Ich kann kein Französisch«, sagte er.

Er stand einen Moment lang schweigend da und beobachtete Annas Reglosigkeit, als warte er auf ein Zeichen oder einen Hinweis, was das Heben und Senken ihres kleinen Brustkorbs als Nächstes hervorbringen würde.

Anna fühlte sich in der Stille ertrinken. Zum ersten Mal hatte sie es gesagt, zum ersten Mal hatte sie sich erlaubt, es zu denken:

Sie glaubte nicht, dass ihr Vater zurückkam.

Es fühlte sich roh und falsch an, das gesagt zu haben, als hätte sie versucht, scharfes, rostiges Metall mit bloßen Händen zu zerreißen. Als ob ihr Vater sie gerufen hätte, quer über einen belebten Platz, und sie hätte ihn gehört und sich weggedreht.

Alles war still.

Schließlich kam der dünne Mann zu einer Art Entschluss, und im gleichen Moment, in dem Anna ihn auf sich zukommen sah, stellte sie überrascht fest, dass sie Angst vor ihm hatte.

Es stand außer Frage, dass der große Fremde eine beunruhigende Ausstrahlung hatte. Es ging etwas Bedrohliches von ihm aus, eine leise Intensität, die nichts gemein hatte mit den gängigen Eigenschaften, mit denen die Menschen sich bei Kindern anzubiedern versuchen. Und doch war da ein Zug an ihm – vielleicht die Vertrautheit, mit der er mit der Schwalbe geplaudert hatte –, der Anna faszinierte. Außerdem war sie trotz aller äußerlichen Unterschiede noch nie jemandem begegnet, der Professor Łania so ähnlich war.

Vielleicht hatten Anna und ihr Vater keine eigene Sprache – oder vielleicht war ihre Sprache jede Sprache. Jedenfalls hatte Anna das Gefühl, in dem großen Fremden einen Bruder ihres seltenen Stamms gefunden zu haben: einen Mann der vielen Sprachen.