Anne auf dem Weg ins Glück - Lucy Maud Montgomery - E-Book

Anne auf dem Weg ins Glück E-Book

Lucy Maud Montgomery

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Beschreibung

Den Beginn ihres Studiums in Kingsport hat sich Anne Shirley anders vorgestellt! Zum Glück hat sie ihre alten Schulfreunde Gilbert und Priscilla, die ihr über das erste Heimweh hinweghelfen. Und Anne wäre nicht Anne, wenn sie nicht auch am College ordentlich für Wirbel sorgen würde. Noch dazu gilt es, die erste Liebe zu überstehen! Nach ihrem Examen und frisch verlobt nimmt Anne eine Stelle als Rektorin an der Summerside-High-School an. Dort kommt sie bei zwei schrulligen, aber liebenswerten alten Damen unter, die Anne in ihr Herz schließen. Dagegen "tyrannisiert" die alteingesessene Familie der Pringles das ganze Städtchen geradezu! Das kann Anne natürlich nicht dulden. Der Jugendbuch-Klassiker endlich auch als eBook! Die herzerwärmenden Abenteuer von Waisenkind Anne auf Green Gables – nostalgische Unterhaltung für Jung und Alt. Annes zeitlose Geschichten sind jetzt auch in der Netflix-Serie Anne with an E zu sehen. Enthält die Bände "Anne in Kingsport" und "Anne in Windy Willows".

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Alle auch spät entdeckten Kostbarkeiten sind jenen, die nach ihnen suchen, offenbar, denn Liebe wird zusammen mit dem Schicksal

Anne in Kingsport

Veränderungen werfen ihre Schatten voraus

Die Ernte ist eingebracht und der Sommer ist vorbei«, sagte Anne Shirley und schaute verträumt über die gemähten Felder. Diana Barry und sie hatten im Obstgarten von Green Gables Äpfel gepflückt, ruhten sich aber jetzt von ihrer Arbeit an einem sonnigen Fleckchen aus. Zarte Flöckchen von Distelwolke schwebten durch die Luft, die noch immer sommerlich süß nach dem Duft des Farns im Geisterwald roch.

Aber die Landschaft um sie herum mutete schon sehr herbstlich an. In der Ferne toste dumpf das Meer, die Stoppelfelder, gesäumt von Goldrute, lagen öde und kahl da. Das Tal mit dem Bach unterhalb von Green Gables war übersät mit blassroten Astern und der See der Glitzernden Wasser hatte ein klares, tiefes, ungetrübtes Blau.

»Es war ein schöner Sommer«, sagte Diana und drehte mit einem Lächeln den neuen Ring an ihrer linken Hand. »Und Miss Lavendars Hochzeit war die Krönung des Ganzen. Die Irvings dürften jetzt am Pazifik sein.«

»Mir kommt es vor, als wären sie schon lange genug fort, um einmal um die ganze Welt zu reisen«, seufzte Anne. »Ich kann gar nicht glauben, dass es erst eine Woche her ist, dass sie geheiratet haben. Alles hat sich verändert, Miss Lavendar und Mrund MrsAllan sind fort – wie einsam und verlassen das Pfarrhaus mit den geschlossenen Fensterläden aussieht! Ich bin gestern Abend daran vorbeigegangen, es lag da wie ausgestorben.«

»Wir werden nie wieder einen so netten Pfarrer wie MrAllan bekommen«, sagte Diana finster überzeugt. »Diesen Winter kommen alle möglichen Vertreter und die Hälfte aller Sonntage findet bestimmt gar keine Kirche statt. Und Gilbert und du seid fort – es wird furchtbar langweilig werden.«

»Aber Fred wird hier sein«, merkte Anne listig an.

»Wann zieht MrsLynde zu euch?«, fragte Diana, so als hätte sie Annes Bemerkung nicht gehört.

»Morgen. Ich freue mich auf sie – aber das bedeutet noch eine Veränderung mehr. Marilla und ich haben gestern alles aus dem Gästezimmer hinausgeschafft. Es ist natürlich albern – aber uns kam es vor wie eine Entweihung. Für mich war das Gästezimmer eine Art Heiligtum. Als Kind war es für mich das wundervollste Zimmer der Welt. Du weißt doch, wie sehr ich mir immer gewünscht habe, in einem Gästezimmerbett zu schlafen – aber nicht in dem von Green Gables. O nein, darin nicht! Das wäre zu schrecklich gewesen – vor Ehrfurcht hätte ich kein Auge zugetan. Nie bin ich einfach durch das Zimmer gegangen, wenn Marilla mich hinschickte, um etwas zu holen – nein, auf Zehenspitzen bin ich geschlichen und mit angehaltenem Atem, als wäre ich in einer Kirche. Ich war erleichtert, wenn ich wieder draußen war. Es hat mich immer gewundert, dass Marilla sich überhaupt getraut hat, das Zimmer sauber zu machen. Und jetzt ist es nicht nur sauber gemacht, sondern kahl und leer«, schloss Anne mit einem Lachen, in dem ein Hauch von Bedauern mitschwang.

»Ich werde mir einsam und verlassen vorkommen, wenn du nicht mehr da bist«, jammerte Diana zum hundertsten Male. »Und das schon nächste Woche!«

»Aber noch sind wir zusammen«, sagte Anne munter. »Wir dürfen uns deswegen nicht diese letzte Woche verderben lassen. Der Gedanke fortzugehen ist mir ja selbst zuwider, wo ich mich hier so wohlfühle. Da redest du von einsam und verlassen! Wenn jemand Grund zum Jammern hätte, dann ich. Du und ein paar deiner alten Freunde, ihr bleibt schließlich hier – und Fred! Ich dagegen werde allein unter Fremden sein und kenne keine Menschenseele!«

»Außer Gilbert – und Charlie Sloane«, sagte Diana, wobei sie Annes Betonung und Listigkeit nachahmte.

»Charlie Sloane ist natürlich ein großer Trost«, stimmte Anne bissig zu, woraufhin die beiden unwillkürlich lachen mussten. Diana wusste genau, was Anne von Charlie Sloane hielt. Aber trotz etlicher vertrauter Gespräche war ihr nicht ganz klar, was Anne von Gilbert Blythe hielt. Genau genommen wusste Anne es selbst nicht.

»Soviel ich weiß, wohnen die Jungen der Schule am anderen Ende von Kingsport«, fuhr Anne fort. »Ich freue mich aufs Redmond, nach einer Weile wird es mir bestimmt gefallen. Anfangs wird es mir nicht gefallen, da bin ich mir ganz sicher. Nicht einmal auf Wochenendbesuche zu Hause kann ich mich freuen, wie früher am Queen’s. Weihnachten wird mir wie tausend Jahre weit weg vorkommen.«

»Alles verändert sich – oder wird bald anders«, sagte Diana traurig. »Nichts wird mehr sein, wie es einmal war, Anne.«

»Wir sind wohl an dem Punkt angelangt, wo sich unsere Wege trennen«, sagte Anne nachdenklich. »Es musste so kommen. Meinst du, Erwachsenwerden ist wirklich so schön, wie wir es uns als Kinder immer vorgestellt haben?«

»Ich weiß nicht – es hat schon ein paar schöne Seiten«, antwortete Diana und betrachtete erneut mit diesem kleinen Lächeln liebevoll ihren Ring, was in Anne jedes Mal urplötzlich das Gefühl auslöste, als wäre sie ausgeschlossen. »Aber es hat auch viel Verwirrendes. Manchmal macht es mir Angst – dann würde ich alles dafür geben, wieder ein kleines Mädchen zu sein.«

»Wir werden uns mit der Zeit schon daran gewöhnen«, sagte Anne heiter. »Es wird dann nicht mehr so viele unerwartete Seiten haben – obwohl gerade die unerwarteten Dinge dem Leben Würze geben. Aber du hältst doch immer ein Plätzchen für mich frei, nicht wahr, Di? Ich werde mich auch mit einem kleinen Zimmerchen über der Veranda oder neben der Stube bescheiden.«

»Was redest du da für einen Unsinn, Anne«, lachte Diana. »Du wirst einen wunderbaren und hübschen und reichen Mann heiraten – kein Gästezimmer in Avonlea wird auch nur annähernd prachtvoll genug für dich sein – und du wirst die Nase rümpfen über sämtliche Freunde aus deiner Jugendzeit.«

»Das wäre zu schade. Meine Nase zumindest ist ganz hübsch und Naserümpfen würde sie ruinieren«, sagte Anne und klopfte an ihre ebenmäßige Nase.

Wieder fröhlich lachend trennten sich die Mädchen, Diana, um nach Orchard Slope zurückzukehren, Anne, um zum Postamt zu gehen und einen Brief abzuholen. Als Gilbert Blythe sie auf dem Rückweg auf der Brücke über den See der Glitzernden Wasser einholte, sprühte sie vor Aufregung.

»Priscilla Grant geht auch aufs Redmond«, rief sie. »Ist das nicht großartig? Ich hatte es gehofft, aber sie meinte, ihr Vater würde dagegen sein. Aber er ist einverstanden und wir werden zusammen wohnen. Mit Priscilla zur Seite könnte ich einem ganzen Heer die Stirn bieten – also auch spielend leicht allen Professoren am Redmond.«

»Ich glaube, Kingsport wird uns gefallen«, sagte Gilbert. »Es soll eine hübsche alte Stadt sein, mit dem schönsten Park der Welt.«

»Fragt sich nur, ob es schöner ist – überhaupt schöner sein kann – als hier«, murmelte Anne und schaute sich um mit dem verzückten Blick jener, denen »zu Hause« sowieso das hübscheste Fleckchen der Welt ist, und wenn es woanders noch so schön ist.

Sie lehnten an der Brücke des Teichs und waren gefangen vom Zauber der Dämmerung. Das zarte Purpurrot des Sonnenuntergangs färbte noch den Himmel im Westen, aber der Mond war schon aufgegangen und warf einen silbernen Schein auf das Wasser.

»Du bist so still, Anne«, sagte Gilbert schließlich.

»Ich mag nichts sagen oder mich bewegen aus Angst, die wundervolle Schönheit könnte verschwinden«, flüsterte Anne.

Plötzlich legte Gilbert seine Hand auf ihre schmale weiße Hand. Seine haselnussbraunen Augen wirkten noch dunkler, seine noch jungenhaften Lippen öffneten sich, um von dem Traum und der Hoffnung zu erzählen, die ihn bewegten. Aber Anne zog ihre Hand weg und drehte sich schnell um. Der Zauber war dahin.

»Ich muss nach Hause«, rief sie betont unbekümmert. »Marilla hatte schon den ganzen Nachmittag Kopfweh und bestimmt haben die Zwillinge wieder was angestellt. Ich hätte wirklich nicht so lange wegbleiben sollen.«

Sie schwatzte unaufhörlich und unzusammenhängend weiter, bis sie auf den Weg nach Green Gables kamen. Dem armen Gilbert ließ sie kaum Gelegenheit, ein Wort einzuwerfen. Anne war ziemlich erleichtert, als sie sich trennten. Da war ein neues, merkwürdiges Gefühl der Befangenheit Gilbert gegenüber. Etwas Fremdes hatte sich in die alte, reine Schulfreundschaft eingeschlichen – etwas, das sie zu ruinieren drohte.

Früher war ich jedes Mal ganz unglücklich, wenn Gilbert fortging, dachte sie halb ärgerlich, halb bekümmert, als sie allein den Weg hinaufging. Unsere Freundschaft zerbricht, wenn er nicht aufhört mit diesem Unsinn. Sie darf nicht zerbrechen – ich will das nicht. Warum können Jungen nur nicht vernünftig sein! Anne hatte das ungute Gefühl, dass es auch nicht unbedingt »vernünftig« war, dass sie auf ihrer Hand noch immer Gilberts warmen Händedruck fühlte, so deutlich wie in dem flüchtigen Augenblick, als seine Hand auf der ihren gelegen hatte. Und noch weniger vernünftig war, dass das Gefühl alles andere als unangenehm war. Aber alle Gedanken an unvernünftige Verehrer verschwanden aus ihrem Kopf, als sie in die schlichte, unsentimentale Atmosphäre der Küche von Green Gables eintrat, wo ein acht Jahre alter Junge auf dem Sofa saß und bitterlich weinte.

»Was ist los, Davy?«, fragte Anne und nahm ihn in den Arm. »Wo sind Marilla und Dora?«

»Marilla bringt Dora ins Bett«, schluchzte Davy, »und ich weine, weil Dora holterdiepolter die Kellerstufen runtergefallen ist und sich die Nase aufgeschürft hat, und …«

»Schon gut, brauchst nicht zu weinen, mein Schatz. Sie tut dir leid, aber weinen hilft ihr auch nicht. Morgen geht es ihr wieder besser. Weinen hilft nichts und niemandem, Davy-Junge, und …«

»Ich weine nicht, weil Dora in den Keller gefallen ist«, sagte Davy, der Annes gut gemeinte Worte zunehmend verbittert unterbrach. »Ich weine, weil ich nicht dabei war, als sie runtergefallen ist. Immer verpasse ich die lustigen Sachen.«

Anne unterdrückte ein Lachen. »Nennst du das lustig, wenn Dora die Treppe hinunterfällt und sich wehtut?«

»Sie hat sich ja nicht schlimm wehgetan«, sagte Davy keck. »Klar, wenn sie tot gewesen wäre, hätte es mir wirklich leidgetan. Aber eine Keith stirbt nicht so leicht. Da sind sie gleich wie die Blewetts. Herb Blewett ist letzten Mittwoch vom Heuboden gefallen und gradewegs durch die Rübenschütte runter in den Stall gepurzelt, wo ein wildes, wütendes Pferd drin war, und ist ihm genau vor die Hufe gerollt. Aber er hat es überlebt, hat sich nur drei Knochen gebrochen. MrsLynde sagt, es gäbe Leute, die nicht mal mit einem Schlachtbeil totzukriegen wären. Zieht MrsLynde morgen zu uns, Anne?«

»Ja, Davy, und du wirst hoffentlich immer lieb und nett zu ihr sein.«

»Werde ich. Aber werde ich auch ab und zu von ihr ins Bett gebracht, Anne?«

»Vielleicht. Warum?«

»Weil ich vor ihr meine Gebete nicht aufsage«, sagte Davy sehr entschieden.

»Und warum nicht?«

»Weil es nicht nett ist, vor Fremden mit Gott zu reden. Dora kann ja ihre Gebete vor MrsLynde aufsagen, wenn’s ihr nichts ausmacht, aber ich tu’s nicht. Ich warte, bis sie gegangen ist, und bete dann. Das geht doch, Anne?«

»Ja, wenn du nicht ganz das Beten vergisst, Davy-Junge.«

»Ich vergesse es nicht, da kannst du Gift drauf nehmen. Beten macht Riesenspaß, finde ich. Aber alleine zu beten nicht so, als sie vor dir aufzusagen, Anne. Ich versteh gar nicht, warum du von uns wegwillst.«

»Ich will eigentlich nicht, Davy, aber es bleibt mir nichts anderes übrig.«

»Wenn du’s nicht willst, dann musst du ja auch nicht. Du bist schließlich erwachsen. Wenn ich groß bin, tu ich nie mehr was, was ich nicht will, Anne.«

»Dein ganzes Leben lang wirst du Dinge tun müssen, die dir zuwider sind, Davy.«

»Tu ich nicht«, sagte Davy geradeheraus. »Das sollte mir einfallen! Ich muss jetzt schon dauernd Dinge tun, die mir gegen den Strich gehen, weil du und Marilla mich sonst ins Bett steckt. Aber wenn ich groß bin, lass ich das nicht mehr mit mir machen, dann lass ich mir von niemandem mehr was vorschreiben. Wär’s nur schon so weit! Sag mal, Anne, Milty Boulter behauptet, seine Mutter hätte gesagt, dass du nur aufs College gehst, um dir da einen Mann zu angeln. Stimmt das, Anne? Das will ich wissen.«

Einen Augenblick lang flammte in Anne Wut auf. Dann lachte sie und machte sich bewusst, dass MrsBoulters taktloses Geklatsche ihr egal sein konnte.

»Nein, Davy, es stimmt nicht. Ich werde studieren und viel Neues dazulernen.«

»Was denn? Und wenn du dir nun doch einen Mann angeln willst – wie stellst du das an? Das will ich wissen«, beharrte Davy, für den das Thema offensichtlich eine gewisse Faszination besaß.

»Da fragst du am besten MrsBoulter«, sagte Anne unbedacht. »Sie weiß darüber scheint’s besser Bescheid als ich.«

»Mach ich, wenn ich sie das nächste Mal sehe«, sagte Davy ernst.

»Davy! Wehe, wenn du das tust!«, rief Anne, der klar war, dass sie einen Fehler gemacht hatte.

»Aber das hast du doch eben selbst gesagt«, wandte Davy beleidigt ein.

»Zeit, ins Bett zu gehen«, ordnete Anne an, um sich damit aus der Bredouille zu ziehen.

Als Davy ins Bett gegangen war, ging Anne hinunter zur Victoria Island und saß allein im Mondschein. Das Wasser plätscherte vor sich hin. Anne hatte diesen Bach immer geliebt. So manchen Traum hatte sie an seinem glitzernden Wasser geträumt. Dort vergaß sie das bissige Gerede boshafter Nachbarn und alle Probleme. In der Fantasie segelte sie über uralte Meere, die an die fernen Ufer sagenumwobener Länder spülten, wie das versunkene Atlantis und Elysium. In diesen Träumen fühlte sie sich reicher als im wirklichen Leben; denn Dinge, die man sieht, gehen vorüber, aber Dinge, die man nicht sehen kann, sind von bleibendem Wert.

Herbstfreuden

Die nächste Woche verging wie im Fluge und war angefüllt mit unzähligen »letzten Erledigungen«, wie Anne es nannte.

Abschiedsbesuche mussten gemacht und empfangen werden, die mehr oder minder erfreulich waren – je nachdem ob man sich aufrichtig freute über Annes Pläne oder fand, sie bilde sich zu viel ein wegen des College. Letztere hielten es für ihre Pflicht, Anne »einen Dämpfer aufzusetzen«.

An einem Abend gab der D.V.V. bei den Pyes Anne und Gilbert zu Ehren eine Abschiedsparty. Man hatte sich für das Haus der Pyes entschieden, teils weil es groß und dafür gut geeignet war, teils weil zu befürchten stand, dass die Pye-Mädchen fernbleiben würden, wenn ihr Angebot, die Party bei sich stattfinden zu lassen, ausgeschlagen wurde. Es war ein netter Abend, denn die Pye-Mädchen waren – entgegen ihrer Angewohnheit – reizend und sagten oder taten nichts, was die Harmonie gestört hätte. Josie war sogar ungewöhnlich liebenswürdig – so liebenswürdig, dass sie leutselig zu Anne sagte:

»Das neue Kleid steht dir recht gut, Anne. Ehrlich, du siehst fast hübsch darin aus.«

»Das ist aber nett von dir«, antwortete Anne mit funkelnden Blicken. Ihr Sinn für Humor machte sich. Bemerkungen, die sie mit vierzehn noch gekränkt hätten, amüsierten sie jetzt nur noch. Josie meinte, dass Anne mit ihren funkelnden Augen sie insgeheim auslachte. Aber sie flüsterte Gertie nur zu, als sie nach unten gingen, dass Anne Shirley jetzt, wo sie aufs College ging, bestimmt noch wichtiger tun würde – du wirst sehen!

Der ganze »alte Haufen« war da: Diana Barry, bewacht von dem treuen Fred; Jane Andrews, adrett gekleidet, klug und unkompliziert; Ruby Gillis, die in einer cremefarbenen Seidenbluse und mit einer roten Geranie in ihren hellen Haaren hübsch wie nie aussah; Gilbert Blythe und Charlie Sloane, die sich beide möglichst in Annes Nähe hielten, die ihnen aber auswich; Carrie Sloane, die blass und trübsinnig dreinsah, weil ihr Vater angeblich Oliver Kimball das Haus verboten hatte; Moody Spurgeon MacPherson, dessen rundes Gesicht so rund war und dessen abstehende Ohren so abstanden wie immer; und Billy Andrews, der den ganzen Abend in einer Ecke saß und lachte, wenn jemand ihn ansprach, und Anne Shirley mit einem fröhlichen Grinsen auf seinem breiten, sommersprossigen Gesicht anschaute.

Anne genoss den Abend ungemein, aber fast wäre er doch noch verdorben worden. Gilbert machte wieder den Fehler und sagte irgendetwas Sentimentales zu ihr, als sie im Mondschein auf der Veranda zu Abend aßen. Anne strafte ihn, indem sie besonders nett zu Charlie Sloane war und sich von ihm nach Hause begleiten ließ. Sie stellte jedoch fest, dass die Rache niemanden schlimmer trifft als den, der sie ausheckt. Gilbert ging beschwingt von dannen mit Ruby Gillis. Anne konnte sie lachen und munter plaudern hören, als sie in der stillen, frischen Herbstluft davonschlenderten. Sie unterhielten sich offenbar blendend, während Charlie Sloane sie furchtbar langweilte. Er schwatzte unaufhörlich und nicht ein einziges Mal, auch nicht rein zufällig, erzählte er etwas, das zuzuhören gelohnt hätte. Anne warf gelegentlich abwesend »ja« oder »nein« ein. Ihre Gedanken kreisten vielmehr darum, wie schön Ruby an dem Abend ausgesehen hatte, was Charlie in dem Mondlicht für vorstehende Augen hatte – noch schlimmer als bei Tageslicht – und dass die Welt doch kein so freundlicher Ort war, wie es ihr früher an dem Abend vorgekommen war.

»Ich bin einfach nur müde – das ist alles«, sagte sie zu sich, als sie sich endlich in ihrem Zimmer befand. Aber eine leise Freude stieg in ihr auf, als sie Gilbert am Abend darauf mit festen schnellen Schritten durch den Geisterwald und über die alte Holzbrücke kommen sah. Also verbrachte Gilbert diesen letzten Abend doch nicht mit Ruby Gillis!

»Du siehst müde aus, Anne«, sagte er.

»Ich bin müde und obendrein habe ich miese Laune. Müde bin ich, weil ich den ganzen Tag genäht und meinen Koffer gepackt habe. Aber mies gelaunt bin ich, weil sechs Frauen hier waren, um sich von mir zu verabschieden, und alle haben sie es fertiggebracht, irgendwas von sich zu geben, das dem Leben jede Farbe nimmt und es so grau, düster und farblos erscheinen lässt wie einen Novembermorgen.«

»Gemeine Weibsbilder!«, war Gilberts Kommentar.

»Nein, das sind sie nicht«, sagte Anne ernst. »Das ist es ja gerade. Wären sie nur gemein, dann hätte es mich nicht weiter erschüttert. Aber alle waren sie lieb und nett und mütterlich besorgt um mich. Sie mögen mich und ich mag sie, und eben darum hat mich das, was sie sagten, oder andeuteten, so beeindruckt. Durch die Blume haben sie mir klargemacht, dass sie es für verrückt halten, dass ich ans Redmond gehe, und jetzt frage ich mich langsam selber, ob es wirklich Sinn hat.«

Anne schloss mit einem Lachen, vermischt mit einem Seufzer. Empfindsam, wie sie nun einmal war, hatte jede Missbilligung Gewicht, sogar von Leuten, auf deren Ansicht sie nicht viel gab.

»Du machst dir doch wohl nichts aus dem Geschwätz«, wandte Gilbert ein. »Du weißt genau, was für einen beschränkten Horizont sie haben, auch wenn sie ansonsten herzensgute Menschen sind. Etwas zu tun, was es noch nie gegeben hat, ist verfluchtes Teufelszeug. Du bist die Erste aus Avonlea, die aufs College geht. Du weißt doch genau, dass man Pioniere zu allen Zeiten für mondsüchtige Irre gehalten hat.«

»Ich weiß. Aber Wissen und Gefühl sind zwei verschiedene Paar Schuhe. Mein Verstand sagt mir das auch, manchmal nimmt eben das Gefühl überhand. Ehrlich, als MrsElisha Wright ging, hatte ich kaum noch Mut, zu Ende zu packen.«

»Du bist einfach erschöpft, Anne. Komm, vergiss das alles und lass uns einen Spaziergang machen – durch den Wald hinter den Sümpfen. Da müsste etwas sein, das ich dir zeigen will.«

»Müsste sein! Bist du nicht sicher, dass es da ist?«

»Nein. Ich weiß nur, dass es eigentlich da sein müsste, weil ich im Frühjahr einmal dort war. Komm. Wir lassen uns einfach vom Wind treiben, wie früher.«

Fröhlich machten sie sich auf den Weg. Anne, die sich die Unstimmigkeit des vorangegangenen Abends ins Gedächtnis rief, war sehr nett zu Gilbert. Und Gilbert war einsichtig genug, dass er sich wieder ganz als kameradschaftlicher Schuljunge aufführte. MrsLynde und Marilla betrachteten sie vom Küchenfenster aus.

»Aus den beiden wird noch ein Paar«, sagte MrsLynde.

Marilla zuckte leicht zusammen. Insgeheim hoffte sie es auch, aber es passte ihr nicht, dass dies Thema von MrsLynde in ihrer geschwätzigen, nüchternen Art abgehandelt wurde.

»Noch sind sie Kinder«, sagte sie kurz.

MrsLynde lachte freundlich.

»Anne ist achtzehn. Ich war in dem Alter schon verheiratet. Wir alten Leute machen uns nur zu gern vor, aus Kindern würden keine Erwachsene. Anne ist eine junge Frau, Gilbert ist ein erwachsener Mann. Und wie jeder sehen kann, mag er sie. Er ist ein feiner Kerl, Anne könnte es besser nicht treffen. Hoffentlich kriegt sie am College nicht irgendwelche romantischen Flausen in den Kopf. Ich habe noch nie was von diesen Schulen gehalten, in denen Mädchen und Jungen gemeinsam erzogen werden. Ich glaube nicht«, schloss MrsLynde ernst, »dass die Studenten an solchen Colleges sehr viel anderes tun als flirten.«

»Sie müssen auch ab und zu lernen«, sagte Marilla mit einem Lächeln.

»Ein ganz kleines bisschen«, sagte MrsRachel naserümpfend. »Anne jedenfalls wird es tun. Sie war nie groß auf Flirts aus. Aber sie weiß gar nicht, was sie an Gilbert hat. Charlie Sloane ist auch in sie verliebt, aber ich würde ihr nie zuraten, einen Sloane zu heiraten. Die Sloanes sind gewiss gute, ehrliche, ehrenwerte Leute. Aber sie sind und bleiben nun mal Sloanes.«

Gilbert und Anne, die zum Glück nicht ahnten, dass MrsRachel soeben ihre Zukunft beschlossen hatte, schlenderten durch den schattigen Geisterwald. Dahinter lagen die abgeernteten Hänge im bernsteinfarbenen Glanz der untergehenden Sonne. Die Fichten in der Ferne glänzten bronzefarben und ihre langen Schatten versperrten die Sicht auf die höher gelegenen Wiesen.

»Jetzt hat der Wald wirklich etwas Geisterhaftes – wie früher«, sagte Anne und bückte sich, um ein paar Farnzweige zu pflücken, die der Frost wachsweiß hatte werden lassen. »So als würden die kleinen Mädchen, Diana und ich, noch immer hier spielen und im Dämmerlicht am Nymphenteich sitzen und sich mit den Geistern treffen. Weißt du, dass ich niemals in der Dämmerung diesen Weg entlanggehe, ohne die alte Angst und den Schauder zu spüren?«, sagte Anne und lachte bei der Erinnerung daran. Der Wald am oberen Ende des Sumpfes schimmerte an vielen Stellen rot durch; er war durchzogen mit Spinnenfäden. Hinter einer streng in Reih und Glied stehenden Anpflanzung knorriger Tannen und einem von Ahorn gesäumten sonnigen Tal entdeckten sie das »Etwas«, wonach Gilbert gesucht hatte.

»Ah, da ist es«, sagte er mit Befriedigung.

»Ein Apfelbaum – und das an dieser abgelegenen Stelle!«, rief Anne entzückt.

»Ja, ein richtiger Apfelbaum, und das hier mitten zwischen Kiefern und Buchen, meilenweit entfernt vom nächsten Obstgarten. Im Frühjahr war er eine einzige weiße Blütenpracht. Also wollte ich im Herbst noch mal nachsehen. Sieh doch bloß, er ist ganz beladen mit Äpfeln. Sie sehen sehr lecker aus.«

Die Äpfel schmeckten köstlich. Unter der rauen Schale war ganz weißes, schwach rot geädertes Fleisch. Neben dem Apfelgeschmack hatten sie einen wilden, aber leckeren Beigeschmack, wie ihn kein in einem Obstgarten gewachsener Apfel hat.

»Der schicksalhafte Apfel aus dem Garten Eden hätte nicht köstlicher schmecken können«, bemerkte Anne. »Aber es ist Zeit, dass wir nach Hause gehen.«

»Gehen wir um den Sumpf herum und durch die Liebeslaube. Hast du eigentlich immer noch schlechte Laune, Anne?«

»Nein. Diese Äpfel waren wie Manna für eine ausgehungerte Seele. Ich glaube, dass ich am Redmond doch herrliche vier Jahre verleben werde.«

»Und nach den vier Jahren – was kommt dann?«

»Oh, danach kommt wieder eine Biegung in der Straße«, antwortete Anne gelassen. »Ich habe keine Ahnung, was sich dahinter verbergen mag – ich will es auch gar nicht wissen. Es ist schöner, wenn man es nicht weiß.«

Die Liebeslaube war an dem Abend ein schönes Plätzchen. Sie lag ruhig und geheimnisvoll dunkel im blassen Mondschein. Sie schlenderten schweigend, aber in bestem Einvernehmen hindurch; keiner von beiden hatte Lust zu reden.

Wenn Gilbert immer so wäre wie heute Abend, wie schön und einfach wäre dann alles, überlegte Anne.

Gilbert betrachtete Anne, wie sie so daherging. In ihrem leichten Kleid und rank und schlank, wie sie war, erinnerte sie ihn an eine weiße Schwertlilie.

Ob sie sich je etwas aus mir machen wird?, dachte er plötzlich voller Selbstzweifel.

Abschied und Willkommen

Charlie Sloane, Gilbert Blythe und Anne Shirley verließen Avonlea am darauffolgenden Montagmorgen. Anne hoffte auf einen schönen Tag. Diana würde sie zum Bahnhof fahren, es würde also ihre für längere Zeit letzte gemeinsame Fahrt sein. Aber als Anne am Sonntagabend ins Bett ging, tobte ein nichts Gutes verheißender Ostwind über Green Gables, was sich am nächsten Morgen erst so richtig zeigen sollte.

Anne wachte auf und stellte fest, dass Regentropfen gegen ihr Fenster schlugen und auf den grauen Pfützen immer weiter werdende Kreise bildeten. Hügel und Meer waren in Nebel gehüllt, es sah trostlos und trübe aus. Anne zog sich in der trüben grauen Morgendämmerung an, denn sie musste früh aufbrechen, um den Schiffszug zu bekommen. Vergebens kämpfte sie gegen die Tränen an. Sie würde das Zuhause verlassen, das ihr so lieb und teuer war, und etwas sagte ihr, dass es, bis auf die Ferien, für immer war. Aber die Ferien dort zu verbringen war nicht dasselbe, wie dort zu leben. Konnte sie woanders je glücklich sein?

Das Frühstück auf Green Gables war an diesem Morgen eine ziemlich traurige Angelegenheit. Davy brachte, wohl das erste Mal in seinem Leben, keinen Bissen hinunter, sondern saß rückhaltlos weinend über seinem Porridge. Keiner hatte groß Appetit, bis auf Dora, die vergnügt ihre Portion verspeiste. Dora gehörte zu jenen glücklichen Geschöpfen, die höchst selten einmal etwas anficht. Sicher, sie bedauerte, dass Anne fortging, aber war das ein Grund, sich Rührei auf Toast entgehen zu lassen? Wahrhaftig nicht. Und als sie sah, dass Davy sein Essen nicht anrührte, aß sie auch seine Portion.

Auf die Minute pünktlich erschien, im Regenmantel und mit roten Backen, Diana mit Pferd und Wagen. Dann ging es ans Abschiednehmen. MrsLynde kam herunter, umarmte Anne herzlich und ermahnte sie, auch ja auf ihre Gesundheit zu achten. Marilla gab Anne, ohne Tränen zu vergießen, flüchtig einen Kuss und sagte, sie würde doch hoffentlich gleich von ihr hören, wenn sie angekommen wäre. Ein zufälliger Beobachter hätte daraus vielleicht geschlossen, dass Annes Weggang ihr nicht groß etwas ausmachte – es sei denn, besagter Beobachter hätte zufällig den Blick in ihren Augen bemerkt. Dora gab Anne steif einen Kuss und zerdrückte aus Anstand zwei kleine Tränen. Davy aber, der, seit sie vom Tisch aufgestanden waren, weinend auf den Stufen der hinteren Veranda gesessen hatte, wollte sich überhaupt nicht von ihr verabschieden. Als er Anne auf sich zukommen sah, sprang er auf, schoss die Hintertreppe hinauf, versteckte sich in einem Kleiderschrank und wollte nicht mehr herauskommen. Sein gedämpftes Weinen war das Letzte, was Anne hörte, als sie Green Gables verließ.

Den ganzen Weg nach Bright River goss es in Strömen. Charlie und Gilbert standen schon auf dem Bahnsteig, als Anne und Diana ankamen, und der Zug fuhr pfeifend ein. Anne hatte gerade noch Zeit, sich eine Fahrkarte zu kaufen, das Gepäck aufzugeben und sich eilig von Diana zu verabschieden, um dann schnell einzusteigen. Am liebsten wäre sie mit Diana nach Avonlea zurückgefahren. Sie würde vor Heimweh sterben. Wenn wenigstens dieser trostlose Regen aufhörte, der herabregnete, als würde die ganze Welt über den verstrichenen Sommer und alle vergangenen Freuden weinen! Selbst Gilberts Anwesenheit konnte sie nicht trösten, denn Charlie Sloane war auch mit von der Partie und einen Sloane konnte man allerhöchstens bei gutem Wetter ertragen. Bei Regen waren sie einfach grässlich.

Aber als das Schiff stampfend aus dem Hafen von Charlottetown fuhr, wendeten sich die Dinge zum Besseren. Der Regen hörte auf und die Sonne kam zwischen den aufreißenden Wolken wieder golden zum Vorschein. Sie verlieh der grauen See einen kupferfarbenen Glanz und ließ den Nebel, der die roten Ufer der Insel bedeckte, erstrahlen. Es würde also doch noch ein schöner Tag werden. Außerdem wurde Charlie Sloane seekrank, sodass er nach unten ins Schiff gehen musste und Anne und Gilbert allein an Deck blieben.

Zum Glück werden alle Sloanes seekrank, sobald sie auch nur auf dem Wasser sind, dachte Anne gnadenlos. Wenn Charlie dastünde und so täte, als schaute er auch ganz wehmütig hin, könnte ich unmöglich einen letzten Blick auf die gute alte Insel werfen.

»So, wir sind unterwegs«, bemerkte Gilbert ohne jede Sentimentalität.

»Ja«, sagte Anne und blinzelte heftig mit ihren graugrünen Augen. »Das da muss Nova Scotia sein. Aber Heimat ist, wo man am liebsten ist, und für mich ist das die gute alte Prince Edward Island. Ich kann gar nicht glauben, dass ich nicht immer dort gelebt habe. Die elf Jahre, ehe ich herkam, kommen mir wie ein schlechter Traum vor. Es ist sieben Jahre her, dass ich auf diesem Schiff herüberkam – als MrsSpencer mich aus Hopetown hierherbrachte. Ich sehe mich noch genau, in dem scheußlichen alten Wollkleid und dem verblichenen Matrosenhut, wie ich hingerissen vor Neugierde die Decks und Kabinen erforschte. Es war ein schöner Tag. Und wie die roten Ufer der Insel in der Sonne schimmerten! Jetzt überquere ich den Golf wieder. O Gilbert, ich hoffe nur, dass es mir am Redmond und in Kingsport gefällt. Aber ich weiß genau, dass es mir nicht gefällt!«

»Wo ist denn deine Gelassenheit hin, Anne?«

»Sie ist völlig begraben unter Einsamkeit und Heimweh. Drei Jahre lang war mein sehnlichster Wunsch, ans Redmond zu gehen – jetzt ist es so weit –, und ich wünschte, es wäre nicht so! Schon gut! Ich werde wieder ganz die Alte sein, wenn ich mich einmal richtig ausgeweint habe. Das muss sein, ›zum Abschied sozusagen‹ – aber damit muss ich warten, bis ich heute Abend im Bett in meiner Unterkunft liege, wo immer die sein mag. Ob Davy wohl schon wieder aus dem Schrank aufgetaucht ist?«

Es war neun Uhr abends, als ihr Zug in Kingsport ankam und sie im blauweißen Licht des belebten Bahnhofs standen. Anne war ganz durcheinander, aber da wurde sie auch schon von Priscilla Grant geschnappt, die bereits seit Sonntag in Kingsport war.

»Da bist du ja, meine Liebe! Wahrscheinlich bist du genauso müde wie ich, als ich Samstagabend hier ankam.«

»Müde! Was redest du da, Priscilla. Ich bin todmüde und ganz durcheinander. Bring um Himmels willen deine arme erledigte Freundin irgendwohin, wo sie wieder zu sich kommen kann.«

»Ich bringe dich direkt in deine Unterkunft. Die Kutsche wartet schon.«

»Welch ein Segen, dass du da bist, Prissy. Sonst würde ich mich jetzt einfach auf meinen Koffer setzen und bitterlich zu weinen anfangen. Wenigstens ein vertrautes Gesicht!«

»Ist das da hinten nicht Gilbert Blythe, Anne? Wie groß er geworden ist! Und das da ist doch Charlie Sloane. Er hat sich nicht verändert – kann er ja auch gar nicht! Er hat schon so ausgesehen, als er auf die Welt kam, und mit achtzig wird er noch genauso aussehen. Hier entlang, meine Liebe. In zwanzig Minuten sind wir zu Hause.«

»Zu Hause!«, stöhnte Anne. »Du meinst wohl, in irgendeiner fürchterlichen Pension in einem noch fürchterlicheren Schlafzimmer mit Zugang vom Flur aus, das auf einen dreckigen Hinterhof zeigt.«

»Sie ist nicht fürchterlich, Anne. Da ist die Kutsche. Steig ein – der Fahrer holt deinen Koffer. Also, die Pension – sie ist wirklich schön, das wirst du morgen früh selbst zugeben, wenn du erst einmal ordentlich geschlafen hast und dein Trübsinn verflogen ist. Es ist ein großes, altmodisches graues Backsteinhaus in der St John’s Street, nur einen Katzensprung vom College entfernt. Früher wohnten dort begüterte Leute, aber dann kam die St John’s Street aus der Mode. Heute träumen die Häuser nur mehr von den besseren Tagen. Sie sind so groß, dass die Bewohner Gäste aufnehmen, damit die Häuser voll sind. Deshalb geben sich auch die Wirtinnen alle Mühe, einen guten Eindruck auf uns zu machen. Sie sind köstlich, Anne – unsere Pensionswirtinnen, meine ich.«

»Wie viele sind es denn?«

»Zwei. Miss Hannah Harvey und Miss Ada Harvey. Sie sind Zwillinge und um die fünfzig.«

»Zwillinge scheinen mich auf Schritt und Tritt zu verfolgen«, lachte Anne.

»Sie wirken allerdings gar nicht mehr wie Zwillinge, meine Liebe. Seit sie dreißig sind, ist das so. Miss Hannah ist nicht gerade in Anmut alt geworden und Miss Ada sieht schon mal gar nicht anmutig aus. Ich weiß nicht, ob Miss Hannah überhaupt lachen kann. Bisher jedenfalls habe ich sie noch nicht dabei ertappt, aber Miss Ada lächelt ununterbrochen und das ist noch viel schlimmer. Jedenfalls, sie sind nett und freundlich und sie nehmen jedes Jahr zwei Gäste in Pension, weil Miss Hannah, wirtschaftlich, wie sie nun mal ist, es nicht leiden kann, ›freien Raum zu vergeuden‹ – nicht dass sie es nötig hätten, wie Miss Ada mir seit Samstagabend schon siebenmal versichert hat. Was unsere Zimmer angeht, es stimmt, sie gehen vom Flur ab und meins zeigt tatsächlich auf den Hinterhof. Dein Zimmer geht nach vorn und zeigt auf den Friedhof Old St John’s, der genau gegenüber auf der anderen Straßenseite liegt.«

»Das klingt schaurig«, sagte Anne schaudernd. »Mit Blick auf den Hinterhof wäre mir lieber.«

»O nein. Warte ab und sieh es dir selbst an. Old St John’s ist wunderschön. Es ist ein alter Friedhof, der heute nicht mehr in Gebrauch ist und zu den Sehenswürdigkeiten von Kingsport gehört. Aus Spaß bin ich gestern einmal hindurchgeschlendert. Er ist ganz mit einer Steinmauer eingefasst, an der riesige Bäume stehen. Es führen Alleen hindurch und es gibt die seltsamsten alten Grabsteine mit den sonderbarsten und merkwürdigsten Inschriften. Heute wird dort natürlich niemand mehr bestattet. Vor einigen Jahren hat man zum Gedenken an die im Krimkrieg gefallenen Soldaten von Nova Scotia ein schönes Denkmal errichtet. Es steht genau am gegenüberliegenden Ende des Eingangs und es bietet ›Raum für Fantasie‹, wie du immer zu sagen pflegtest. Da ist dein Koffer – und die Jungen kommen, um uns Gute Nacht zu sagen. Muss ich wirklich Charlie Sloane die Hand schütteln, Anne? Er hat immer so kalte, glipschige Hände. Wir sollten fragen, ob sie uns ab und zu besuchen kommen. Miss Hannah hat mir gewichtig mitgeteilt, wir dürften an zwei Abenden in der Woche ›Herrenbesuch‹ empfangen, wenn er zu einer anständigen Uhrzeit wieder geht. Und Miss Ada hat mich, lächelnd, gebeten, dass der Besuch sich doch bitte schön nicht auf ihre schönen Kissen setzt. Ich habe ihr versprochen, darauf zu achten. Aber weiß der Himmel, worauf er sich setzen soll, wenn nicht auf den Fußboden, weil überall Kissen liegen. Sogar oben aufs Klavier hat Miss Ada ein feines Kissen gelegt.«

Inzwischen konnte Anne wieder herzlich lachen. Priscillas munteres Geplauder hatte den gewünschten Erfolg, nämlich sie aufzuheitern. Das Heimweh verschwand fürs Erste und überkam sie auch nicht wieder, als sie schließlich allein in ihrem kleinen Zimmer war. Sie ging ans Fenster und schaute hinaus. Die Straße unten lag dunkel und still da. Jenseits der Straße leuchtete der Mond über den Bäumen auf den Friedhof Old St John’s; er stand genau über dem großen dunklen Löwenkopf des Denkmals. Anne fragte sich, ob sie Green Gables tatsächlich erst an diesem Morgen verlassen hatte. Ihr kam es vor, als wäre eine endlose Zeit vergangen, so wie es einem nach einem Reisetag mit all den vielen neuen Eindrücken geht.

Derselbe Mond scheint jetzt auch auf Green Gables, dachte sie. Aber ich will nicht daran denken – dann bekomme ich nur Heimweh. Weinen werde ich auch nicht. Das verschiebe ich auf ein andermal. Jetzt gehe ich wohl am besten erst einmal schlafen.

Ungewissheiten

Kingsport ist eine malerische alte Stadt, deren altertümliche Ausstrahlung einen in Bann zieht. Hier und da schießt Modernes aus dem Boden, aber im Kern ist sie noch immer ursprünglich. Es gibt eine Fülle kurioser alter Bauten. Einst war Kingsport nicht mehr als eine Grenzstation am Rande der Wildnis. Dann wurde es zum Zankapfel zwischen den Briten und Franzosen, war einmal von den einen, dann von den anderen besetzt, und ging aus jeder Belagerung mit ein paar neuen Narben hervor.

Im Park steht ein Martelloturm, der über und über bekritzelt ist mit den Namen von Touristen. Auf den Hügeln gegenüber der Stadt gibt es ein verfallenes Fort der Franzosen und auf einigen öffentlichen Plätzen stehen alte Kanonen. Es gibt noch andere historische Sehenswürdigkeiten, aber keine ist malerischer als der Friedhof Old St John’s im Herzen der Stadt. An zwei Seiten liegen ruhige Straßen mit altertümlichen Häusern, an den anderen beiden Seiten geschäftige, lärmige Durchgangsstraßen. Die Bewohner von Kingsport, wenn sie denn auf etwas stolz sind, sind besonders stolz auf Old St John’s, denn jeder hat mindestens einen Vorfahren, der dort begraben liegt. Die Gräber weisen eigentümliche Grabsteine auf oder Grabplatten, auf denen alle wichtigen Lebensdaten vermerkt sind. Die meisten sind nicht sonderlich kunstreich oder fachmännisch gearbeitet, sondern bestehen aus grob gemeißeltem braunem oder grauem Naturstein. Nur ein paar weisen Verzierungen auf. Manche sind mit Totenköpfen über gekreuzten Knochen versehen und zeigen neben dieser gruseligen Verzierung einen Engelskopf. Viele sind umgestürzt und zertrümmert. Die allermeisten sind vom Zahn der Zeit zerfressen, sodass die Inschriften völlig unleserlich oder nur noch mühsam zu entziffern sind.

Am folgenden Nachmittag machte Anne den ersten von vielen Spaziergängen zum Friedhof. Am Vormittag waren Priscilla und sie am Redmond gewesen und hatten sich eingeschrieben, Unterricht fand an dem Tag noch nicht statt. Froh machten sich die Mädchen auf den Weg, denn es war nicht gerade aufmunternd gewesen, von so vielen fremden Gesichtern umgeben zu sein, von denen die meisten ebenso befremdet dreinsahen.

»Das hätte ich mir nicht träumen lassen, dass der Tag kommen würde, wo ich mich über den Anblick eines Sloane freuen würde«, sagte Priscilla, als sie über den Campus gingen, »aber Charlies Glotzaugen zu sehen, hat mich regelrecht entzückt. Die zumindest waren vertraut.«

»Ich kann dir gar nicht sagen«, seufzte Anne, »wie mir zumute war, als ich dastand und wartete, bis ich mit der Einschreibung an der Reihe war – so unbedeutend wie der winzigste Tropfen in einem riesengroßen Eimer. So als wäre ich mit bloßem Auge gar nicht zu sehen und als könnten ein paar von diesen Zweitsemestern auf mich drauftreten.«

»Warte das nächste Jahr ab«, tröstete Priscilla sie. »Dann können wir so gelangweilt und erfahren dreinsehen wie alle Zweitsemester zusammen. Bestimmt ist es schlimm, sich unwichtig vorzukommen. Aber das wäre mir immer noch lieber, als dass ich mir so riesig und linkisch vorkomme, so als würden sich alle meine Gliedmaßen übers ganze Redmond erstrecken. Das Gefühl hatte ich nämlich – wahrscheinlich, weil ich alle um gut fünf Zentimeter überrage. Ich hatte keine Angst, einer aus dem Zweitsemester könnte mich überrennen. Ich hatte eher Angst, man würde mich für einen Elefanten halten oder für ein übergroßes Exemplar von einem kartoffelfressenden Insulaner.«

»Das große Redmond ist eben nicht das kleine Queen’s«, sagte Anne und nahm das letzte Quäntchen ihrer heiteren Gelassenheit zusammen, um sich keine Blöße zu geben. »Als wir das Queen’s verließen, kannten wir jeden und wussten, wo wir hingehörten. Unbewusst haben wir wohl gedacht, am Redmond könnten wir nahtlos an Queen’s anknüpfen, und jetzt ist uns, als wäre uns der Boden unter den Füßen weggezogen worden. Zum Glück wissen weder MrsLynde noch Elisha Wright, wie mir im Augenblick zumute ist, und werden es auch nie erfahren. Sie würden triumphieren und sagen: ›Habe ich es dir nicht gleich gesagt?‹ – und überzeugt sein, dass das der Anfang vom Ende wäre. Dabei ist es erst der allererste Anfang.«

»Genau. Das klingt schon mehr nach der alten Anne. Binnen Kurzem werden wir uns eingelebt haben und alles ist bestens. Anne, ist dir eigentlich auch das Mädchen aufgefallen, das den ganzen Morgen allein vor der Tür zur Mädchengarderobe gestanden hat – das hübsche Mädchen mit den braunen Augen und dem leicht schiefen Mund?«

»Ja, und zwar deshalb, weil sie als Einzige sich auch einsam und verlassen vorzukommen schien – wie ich mir. Dabei hatte ich ja dich, während sie niemanden hatte.«

»Sie wirkte aber auch unschlüssig. Mehrere Male habe ich gesehen, wie sie einen Anlauf machte und zu uns herüberkommen wollte, und dann kam sie doch nicht – ist wohl zu schüchtern. Ich wollte, sie wäre gekommen. Wäre ich mir nicht so sehr wie der besagte Elefant vorgekommen, wäre ich zu ihr gegangen. Aber ich habe mich nicht getraut, quer durch den großen Saal zu stapfen, wo doch alle die Jungen schreiend auf der Treppe standen. Sie war, fand ich, die Hübscheste von allen, aber wahrscheinlich hilft einem Schönheit am allerersten Tag am Redmond auch nicht weiter«, sagte Priscilla mit einem Lachen.

»Ich gehe nach dem Mittagessen hinüber auf den Friedhof«, sagte Anne. »Ich weiß nicht, ob ein Friedhof der richtige Ort ist, um sich aufzuheitern, aber es ist wohl der einzige Ort in der Nähe, wo es Bäume gibt. Und Bäume sind für mich lebenswichtig. Ich werde mich auf einen der alten Grabsteine setzen und die Augen zumachen und mir vorstellen, ich wäre in den Wäldern von Avonlea.«

Das tat Anne jedoch nicht, denn auf dem Friedhof gab es genügend interessante Sachen, um die Augen weit offen zu halten. Sie gingen durchs Tor und unter dem schlichten massiven Steinbogen hindurch, der von einem großen Löwen gekrönt wurde.

Anne betrachtete das Monument mit einem Schauern. Sie standen auf dem düsteren, kühlen Friedhof, wanderten die langen grasbewachsenen Wege entlang und lasen die seltsamen Grabinschriften, die zu einer Zeit gemeißelt worden waren, die mehr Muße kannte als die unsere.

»›Hier ruht Hochwohlgeboren Albert Crawford‹«, las Anne auf einem verfallenen grauen Grabstein. »›Viele Jahre Kommandant der Königlichen Artillerie in Kingsport‹. Und da ein kümmerlicher kleiner grauer Grabstein, Prissy – ›Zum Gedenken an ein geliebtes Kind‹! Und da: ›Errichtet zum Gedenken an einen Menschen, der an einem unbekannten Ort begraben liegt‹. Wo das wohl sein mag? Wirklich, Pris, Friedhöfe heutzutage werden nie so interessant sein wie dieser. Du hattest recht – ich werde oft hierhergehen. Ich habe ihn schon jetzt ins Herz geschlossen. Sieh mal, wir sind nicht allein hier – da unten am Ende des Weges steht ein Mädchen.«

»Ja, ich glaube, es ist das Mädchen, das wir heute Morgen am Redmond gesehen haben. Ich beobachte sie schon seit fünf Minuten. Sie hat schon ein halbes Dutzend Mal Anläufe gemacht, den Weg heraufzukommen, und genauso oft hat sie wieder kehrtgemacht. Lass uns hingehen. Wahrscheinlich lernt man leichter auf einem Friedhof jemanden kennen als am Redmond.«

Sie gingen die lange grasbewachsene Allee hinunter und auf die Fremde zu, die auf einer grauen Grabplatte unter einer ausladenden Weide saß. Sie war wirklich sehr hübsch. Ihr satinweiches Haar glänzte nussbraun und ihre runden Wangen leuchteten leicht rötlich. Ihre Augen unter den betonenden schwarzen Augenbrauen waren groß und braun und sanft und ihr leicht schiefer Mund war rosenrot. Sie trug ein fesches braunes Kleid, unter dem sehr modische kleine Schuhe hervorschauten. Ihr dunkelrosa Strohhut mit den goldbraunen Mohnblumen war unverkennbar das »Werk« einer Hutmacherin. Priscilla wurde sich schmerzlich der Tatsache bewusst, dass ihr eigener Hut dagegen von dem Hutmacher im Dorf angefertigt war, und Anne fragte sich betreten, ob ihre Bluse, die sie selbst genäht und die MrsLynde passend gemacht hatte, nicht doch arg ländlich und selbst gemacht aussah neben der hübschen Kleidung der Fremden. Im ersten Augenblick wollten die beiden schon umkehren.

Aber sie waren schon stehen geblieben und hatten sich dem grauen Grabstein zugewandt. Es war zu spät, kehrtzumachen, denn das braunäugige Mädchen nahm offensichtlich an, dass die beiden es ansprechen wollten. Sofort sprang sie auf und kam mit ausgestreckter Hand und einem fröhlichen, freundlichen Lächeln, in dem weder Schüchternheit noch ein schlechtes Gewissen lag, auf sie zu.

»Ich würde euch gern näher kennenlernen«, rief sie begierig. »Ich bin schon so gespannt. Ihr seid mir heute Morgen am Redmond schon aufgefallen. Sagt mal, fandet ihr es auch so? Wäre ich doch bloß zu Hause geblieben und hätte geheiratet.«

Anne und Priscilla brachen über diese unerwartete Schlussfolgerung in ungezwungenes Lachen aus. Das braunäugige Mädchen lachte ebenfalls.

»Ehrlich. Ich hätte nämlich die Möglichkeit gehabt, wisst ihr. Kommt, setzen wir uns auf den Grabstein, damit wir uns näher kennenlernen können. Wir werden uns mögen – das war mir gleich klar, als ich euch heute Morgen gesehen habe. Am liebsten wäre ich zu euch gegangen und um den Hals gefallen.«

»Und warum hast du es nicht getan?«, fragte Priscilla.

»Weil ich mich einfach nicht dazu entschließen konnte. Ich bin immer so unschlüssig – das ist einfach meine Art. Kaum habe ich mich für etwas entschieden, schon habe ich das Gefühl, dass ein anderer Weg der bessere wäre. Es ist fürchterlich, aber so bin ich nun mal. Ich konnte mich nicht entschließen, auf euch zuzugehen und euch anzusprechen.«

»Wir dachten, du wärst zu schüchtern«, sagte Anne.

»Nein, nein. Schüchternheit gehört wirklich nicht zu den Schwächen – oder Tugenden – der Philippa Gordon, kurz Phil. Nennt mich also ruhig Phil. Und wie heißt ihr?«

»Priscilla Grant«, sagte Anne und zeigte auf sie.

»Und das ist Anne Shirley«, sagte Priscilla und deutete ihrerseits auf Anne.

»Wir stammen von der Insel«, sagten beide aus einem Munde.

»Ich komme aus Bolingbroke, Nova Scotia«, sagte Philippa.

»Bolingbroke!«, rief Anne. »Da bin ich geboren.«

»Allen Ernstes? Das freut mich aber. Dann sind wir sozusagen Nachbarinnen. Das gefällt mir, denn wenn ich dir Geheimnisse anvertraue, dann kommt es mir nicht vor, als würde ich sie einer Fremden erzählen. Ich muss Geheimnisse einfach loswerden. Ich kann sie nicht für mich behalten – es ist zwecklos. Das ist mein schlimmster Fehler – das und die Unentschlossenheit, wie schon gesagt. Ob ihr es glaubt oder nicht, aber ich habe eine halbe Stunde dafür gebraucht, um mich zu entscheiden, welchen Hut ich aufsetzen sollte, als ich – hierher – auf einen Friedhof – gehen wollte, den braunen mit der Feder oder diesen rosa Hut mit der lässigen Hutkrempe. Schließlich habe ich beide nebeneinander aufs Bett gelegt, die Augen zugemacht und mit einer Hutnadel danach gepikt. Die Nadel ist im rosa Hut gelandet, also habe ich den aufgesetzt. Er steht mir gut, nicht wahr? Wie findet ihr übrigens, dass ich aussehe?«

Auf diese naive Frage, die in ganz ernstem Ton gestellt war, brach Priscilla erneut in Lachen aus. Aber Anne antwortete, wobei sie unwillkürlich Philippas Hand drückte:

»Wir fanden, du warst die Hübscheste von allen.«

Auf Philippas leicht schiefem Mund mit den blendend weißen kleinen Zähnen blitzte ein bezauberndes schiefes Lächeln.

»Fand ich auch«, lautete ihre nächste überraschende Bemerkung, »aber ich wollte meine Meinung gern noch von jemand bestätigt haben. Nicht einmal über mein Aussehen bin ich mir schlüssig. Kaum finde ich mich hübsch, schon wird mir ganz elend, dass ich es vielleicht doch nicht bin. Übrigens habe ich eine schreckliche alte Großtante, die immer mit einem traurigen Seufzer zu mir sagt: ›Was warst du für ein hübsches Baby! Schon komisch, wie Kinder sich verändern, wenn sie größer werden.‹ Gegen Tanten habe ich ja nichts, aber ich hasse Großtanten. Sagt mir doch bitte ganz oft, dass ich hübsch bin, wenn es euch nichts ausmacht. Ich fühle mich dann so besser. Ich kann euch auch gern den Gefallen tun, wenn ihr das möchtet – kann ich wirklich, guten Gewissens.«

»Danke«, lachte Anne, »aber Priscilla und ich sind so fest von unserem guten Aussehen überzeugt, dass wir uns das nicht dauernd versichern lassen müssen. Brauchst dir also keine Gedanken zu machen.«

»Oh, ihr lacht mich aus. Ihr haltet mich bestimmt für furchtbar eitel, aber das bin ich nicht. Nicht die Spur. Ich mache anderen auch gern Komplimente, wenn sie sie verdienen. Ich bin ja so froh, dass ich euch kennengelernt habe. Ich bin am Samstag angekommen und seitdem vor Heimweh fast gestorben. Es ist ein schreckliches Gefühl, nicht? In Bolingbroke bin ich wer, aber in Kingsport bin ich ein Niemand! Es gab Stunden, wo ich ganz trübsinnig war. Wo wohnt ihr eigentlich?«

»In der St John’s Street38.«

»Besser geht es ja gar nicht. So was, ich wohne direkt um die Ecke in der Wallace Street. Obwohl mir meine Unterkunft nicht gefällt. Sie ist öde und einsam und meine Zimmer gehen auf einen furchtbar hässlichen Hinterhof. Es ist der hässlichste Hinterhof der Welt. Und diese Katzen – na ja, nicht dass sich alle Katzen von Kingsport nachts dort versammeln, aber die Hälfte ist es mindestens. Ich mag Katzen auf Kaminvorlegern, wenn sie vor einem Feuer ihr Nickerchen halten, aber Katzen zu mitternächtlicher Stunde in Hinterhöfen erkennt man nicht wieder. In der ersten Nacht habe ich nur mit den Katzen um die Wette geschrien. Ihr hättet mich am Morgen sehen sollen. Ich habe ja so gewünscht, ich wäre nie von zu Hause weggegangen!«

»Wie hast du es denn überhaupt fertiggebracht, dich zu entscheiden, ans Redmond zu gehen, wenn du wirklich immer so unschlüssig bist?«, sagte Priscilla amüsiert.

»Du meine Güte, das war nicht ich. Mein Vater wollte es. Er war ganz erpicht darauf – keine Ahnung, warum. Ich und ein Studienabschluss – das ist direkt lächerlich. Aber ich werde es schon schaffen. Ich habe nämlich Köpfchen.«

»Oh!«, sagte Priscilla unbestimmt.

»Ja. Aber es strengt so an, seinen Kopf zu gebrauchen. Nein, ich wollte nicht ans Redmond. Ich bin nur meinem Vater zuliebe hergekommen. Das ist schon einer. Außerdem hätte ich heiraten müssen, wenn ich zu Hause geblieben wäre. Mutter wollte es – wollte es ganz entschieden. Mutter ist eine entschlossene Frau. Aber die nächsten paar Jahre hatte ich das eigentlich noch nicht vor. Erst will ich noch was vom Leben haben. Ich und heiraten – die Vorstellung ist noch absurder! Ich bin erst achtzehn. Nein, also beschloss ich, lieber ans College zu gehen. Außerdem, wie hätte ich mich je entscheiden können, wen ich heirate?«

»Standen denn so viele zur Auswahl?«, fragte Anne lachend.

»Jede Menge. Die Jungen sind in mich vernarrt – ehrlich. Aber da waren nur zwei, die infrage kamen. Alle anderen waren zu jung und zu arm. Ich muss nämlich einen reichen Mann heiraten.«

»Warum denn das?«

»Ihr könnt euch mich doch wohl nicht als die Frau eines armen Mannes vorstellen, oder? Ich verstehe mich nicht auf irgendwelche praktischen Dinge und ich bin sehr extravagant. O nein, mein Mann muss jede Menge Geld haben. Also standen nur noch zwei zur Debatte. Aber ich konnte mich zwischen zweien nicht leichter entscheiden, als ich es zwischen zweihundert könnte. Ich wusste genau, für wen ich mich auch entschieden hätte, ich hätte mein Leben lang bedauert, nicht den anderen geheiratet zu haben.«

»Hast du denn einen von beiden … geliebt?«, fragte Anne ein wenig zögernd.

»Du liebe Güte, nein. Ich konnte einfach keinen von beiden gernhaben. Das ist nicht meine Art. Außerdem würde ich es nicht wollen. Liebe macht einen zum Sklaven, finde ich. Und es gibt einem Mann die Macht, einen zu verletzen. Davor hätte ich Angst. Nein, nein, Alec und Alonzo sind zwei liebe und nette Jungen und ich kann beide so gut leiden, dass ich wirklich nicht sagen kann, wen von beiden ich lieber mag. Das ist das Problem. Alec sieht am besten aus und einen hässlichen Mann könnte ich sowieso nie heiraten. Er ist auch gutmütig und er hat schöne schwarze Locken. Er ist fast zu vollkommen – ein vollkommener Ehemann würde mir auch wieder nicht zusagen. Ich konnte keinen Fehler an ihm entdecken.«

»Warum heiratest du dann nicht Alonzo?«, fragte Priscilla ernst.

»Stell dir das vor, mit jemandem verheiratet zu sein, der Alonzo heißt!«, sagte Phil traurig. »Ich glaube, ich würde es nicht aushalten. Aber er hat eine klassisch schöne Nase, meine kann da nicht mithalten. Ich habe eine Schwäche für hübsche Nasen. Du hast eine wahnsinnig schöne Nase, Anne Shirley. Fast hätte seine Nase den Ausschlag für Alonzo gegeben. Aber Alonzo! Nein, ich konnte mich nicht entscheiden. Wenn ich es so hätte machen können wie mit den Hüten – sie nebeneinanderstellen, die Augen zumachen und mit einer Hutnadel nach ihnen zielen –, dann wäre es ein Kinderspiel gewesen.«

»Wie fanden Alec und Alonzo es denn, dass du fortgegangen bist?«, fragte Priscilla.

»Oh, sie machen sich noch Hoffnungen. Ich habe ihnen gesagt, sie müssten sich gedulden, bis ich mich entscheiden könnte. Sie sind bereit zu warten. Sie verehren mich alle beide, wisst ihr. Aber bis dahin will ich mein Leben erst noch richtig genießen. Am Redmond werde ich mich sicher vor Verehrern nicht retten können. Ich bin sonst nicht glücklich, versteht ihr. Aber findet ihr die Erstsemester nicht auch alle furchtbar hässlich? Nur ein ganz hübscher Junge war darunter. Er ist gegangen, bevor ihr kamt. Ich habe nur gehört, wie sein Freund ihn Gilbert nannte. Der Freund hatte Augen, die so weit vorstanden. Geht ihr etwa schon? Bleibt doch noch.«

»Wir müssen wohl«, sagte Anne ziemlich kühl. »Es ist schon spät und ich muss noch ein paar Sachen erledigen.«

»Aber ihr kommt mich doch besuchen?«, fragte Philippa, stand auf und legte einen Arm um beide. »Euch würde ich auch gern besuchen. Ich würde mich gern mit euch anfreunden. Ich habe euch beide so gern. Ich habe euch doch nicht etwa vergrätzt?«

»Nicht ganz«, lachte Anne und erwiderte Phils Umarmung ihrerseits sehr herzlich.

»Denn ich bin gar nicht so blöd, wie es vielleicht den Anschein hat. Ihr braucht mich nur zu nehmen, wie ich bin, mit all meinen Schwächen, dann könnten wir uns bestimmt gut vertragen.«

»Nun, was hältst du von unserer neuen Freundin?«, fragte Priscilla, nachdem Phil gegangen war.

»Ich mag sie. Irgendwie hat sie etwas Liebenswertes, auch wenn sie so viel dummes Zeug daherschwatzt. Ich glaube, wie sie selbst sagt, dass sie gar nicht so blöd ist, wie sie sich anhört. Sie hat etwas von einem lieben Baby, das man abküssen möchte – aber richtig erwachsen wird sie wohl nie werden.«

»Ich mag sie auch«, sagte Priscilla entschieden. »Sie redet zwar genauso viel über Jungen wie Ruby Gillis. Aber bei Ruby werde ich jedes Mal wütend oder mir wird ganz übel, während ich bei Phil einfach lachen könnte. Woran das bloß liegt?«

»Es gibt einen Unterschied«, sagte Anne nachdenklich. »Ruby macht es mit Absicht. Sie treibt ihr Spielchen mit den Jungen. Außerdem gibt sie mit ihren vielen Verehrern ja bloß an, um einem so richtig unter die Nase zu reiben, dass man selbst nicht halb so viele hat. Bei Phil dagegen klingt es, als würde sie einfach von guten Freunden erzählen. Ich finde es schön, dass wir sie kennengelernt haben, und ich finde es schön, dass wir nach Old St John’s gegangen sind. Ich glaube, ich habe heute Nachmittag eine erste winzige Wurzel in Kingsport geschlagen. Das hoffe ich jedenfalls. Ich kann es nämlich nicht ausstehen, entwurzelt zu sein.«

Briefe von zu Hause

Während der ersten drei Wochen fühlten sich Anne und Priscilla wie Fremde in einem fremden Land. Dann nahmen das Redmond, die Professoren, der Unterricht, die Kommilitonen, das Lernen und die Treffen sie immer mehr in Anspruch. Das Leben verlief wieder im Gleichklang.

Die Neuen waren nicht mehr nur eine Ansammlung von Einzelpersonen, sondern bildeten eine Einheit; sie spornten einander an, hatten gemeinsame Interessen, es bildeten sich Feindschaften heraus und es gab ein gemeinsames Ziel. Im jährlich stattfindenden »Kunstwettstreit« trugen sie gegen die Zweitsemester den Sieg davon. Das gab natürlich enormen Auftrieb. Drei Jahre in Folge hatten die Zweitsemester den Wettbewerb gewonnen. Dass dieses Jahr die Neulinge den Sieg auf ihre Fahnen schreiben konnten, war Gilbert Blythes generalstabsmäßiger Planung zu verdanken. Er hatte die Sache in die Hand genommen und sich ganz neue Ideen überlegt. Als Anerkennung dafür wurde er zum Sprecher der Anfänger ernannt.

Anne und Priscilla fanden schnell Anschluss. Das hatten sie vor allem Philippa Gordon zu verdanken. Ihre Schönheit und ihr Charme – und dass sie Charme hatte, räumten alle ein – öffneten ihnen den Zugang zu sämtlichen Cliquen und Grüppchen am Redmond. Wohin sie ging, gingen auch Anne und Priscilla. Phil »verehrte« die beiden, vor allem Anne. Sie war eine treue Seele und überhaupt nicht eingebildet. Ohne Aufhebens bezog sie die zwei in den immer größer werdenden Freundeskreis mit ein. Anne und Priscilla kamen zu dem Schluss, dass sie es im Gegensatz zu vielen anderen Neuen sehr leicht hatten, Anschluss zu finden.

Für Anne und Priscilla, die das Leben mehr von der ernsten Seite nahmen, blieb Phil das lustige, liebenswerte Wesen. Doch hatte sie »ganz schön Köpfchen«. Woher sie die Zeit zum Lernen nahm, war ein Rätsel, denn sie war immer irgendwelchem »Spaß« hinterher. Wenn sie mal einen Abend zu Hause blieb, bekam sie meist Besuch. Sie war umschwärmt wie keine, sodass fast alle Neuen und viele aus den höheren Semestern in ihr eine Rivalin sahen. Sie selbst fand es köstlich und berichtete Anne und Priscilla fröhlich von jeder neuen Eroberung.

»Alec und Alonzo scheinen bislang also noch keine ernst zu nehmenden Rivalen zu haben«, bemerkte Anne neckend.

»Nicht einen«, stimmte Philippa zu. »Ich schreibe den beiden jede Woche und berichte ihnen von den Jungen hier. Es amüsiert sie bestimmt. Aber den, der mir am besten gefällt, kann ich natürlich nicht haben. Gilbert Blythe nimmt mich einfach nicht zur Kenntnis. Den Grund kenne ich genau. Ich bin dir böse, liebe Anne. Eigentlich müsste ich dich hassen, stattdessen kann ich dich schrecklich gut leiden. Du bist eben anders als die Mädchen, die ich sonst so kenne. Ist das Collegeleben nicht herrlich? Wie ich es am ersten Tag gehasst habe! Aber wäre es anders gewesen, dann hätte ich euch vielleicht nicht kennengelernt. Anne, sage mir doch noch mal, dass du mich auch ein kleines bisschen leiden kannst. Ich höre es so gern.«

»Ich kann dich ein großes bisschen leiden«, lachte Anne. »Aber, Phil, eins begreife ich nicht: Woher nimmst du eigentlich noch die Zeit zum Lernen?«

Phil musste sich die Zeit nehmen, denn sie schnitt regelmäßig gut ab. Selbst der mürrische Mathematik-Professor, der Studentinnen nicht leiden konnte und entschieden dagegen war, dass am Redmond Mädchen zugelassen wurden, brachte sie nicht zur Strecke. Sie war in allen Fächern die Beste, außer in Englisch, denn darin schlug Anne sie um Längen.

Anne fiel das erste Collegejahr leicht, vor allem weil Gilbert und sie während der letzten zwei Jahre in Avonlea schon regelmäßig gelernt hatten. So blieb ihr mehr Zeit für Unternehmungen, die sie in vollen Zügen genoss. Aber nicht einen Augenblick vergaß sie Avonlea und ihre alten Freunde. Die glücklichsten Momente der Woche waren die, wenn sie Briefe von zu Hause bekam. Mit dem ersten Schwung kamen ganze sechs Briefe zugleich an: von Jane Andrews, Ruby Gillis, Diana Barry, Marilla, MrsLynde und Davy. Jane schrieb wie gestochen – jedes »t« hatte einen schönen Querstrich und jedes »i« einen penibel gesetzten Punkt. Dafür enthielt der Brief aber auch nicht eine einzige interessante Zeile. Mit keinem Wort erwähnte sie die Schule, wo Anne gerade darüber gern etwas erfahren hätte. Sie antwortete auch nicht auf die Fragen aus Annes letztem Brief. Ruby Gillis beschrieb in den schillerndsten Farben und in aller Ausführlichkeit, wie schade es war, dass Anne nicht mehr in Avonlea war, dass man sie an allen Ecken und Enden schrecklich vermisste, fragte, wie die »Jungs« am Redmond wären, und berichtete im Übrigen von ihren herzzerreißenden Erlebnissen mit ihren vielen Freunden. Es war ein alberner harmloser Brief und Anne hätte ihn belächelt, wäre da nicht noch ein Nachsatz gewesen. »Gilbert Blythe scheint es am Redmond zu gefallen, jedenfalls schreibt er das«, schrieb Ruby. »Charlie ist wohl nicht so begeistert.«

Gilbert schrieb also Ruby! Bitte. Es war natürlich sein gutes Recht. Nur … Anne konnte ja nicht wissen, dass Ruby ihm zuerst geschrieben und Gilbert ihr aus reiner Höflichkeit geantwortet hatte. Sie warf Rubys Brief verächtlich zur Seite. Erst nach Dianas langem, erfrischendem Brief mit all den Neuigkeiten legte sich ihre Wut auf Ruby. In Dianas Brief war zwar etwas zu oft von Fred die Rede, andererseits enthielt er aber so viele interessante Nachrichten, dass Anne sich beim Lesen fast nach Avonlea zurückversetzt fühlte. Marillas Brief war ziemlich förmlich und nichtssagend, und doch vermittelte er Anne einen Hauch von dem guten, einfachen Leben auf Green Gables. MrsLyndes Brief enthielt jede Menge Neuigkeiten über Kirchendinge. Seit sie ihr Haus aufgegeben hatte, hatte sie mehr Zeit denn je dafür und sich mit Leib und Seele draufgestürzt. Derzeit regten sie am meisten die schlechten »Aushilfs-Pfarrer« auf, mit denen sie sich in Avonlea herumschlagen mussten, seit die Kanzel verwaist war.