Anne & Rilla - Zum ersten Mal verliebt - Lucy Maud Montgomery - E-Book

Anne & Rilla - Zum ersten Mal verliebt E-Book

Lucy Maud Montgomery

5,0

Beschreibung

Rilla, die jüngste Tochter von Anne, erlebt ihre erste große Liebe. Kenneth Ford ist der umschwärmteste Junge in der Gegend – und er scheint Rillas Liebe zu erwidern. Doch auf einmal werden ganz andere Dinge wichtig: Krieg ist ausgebrochen und Rillas Bruder Jem meldet sich als Freiwilliger. Rilla übernimmt zum ersten Mal Verantwortung. Ganz alleine organisiert sie eine Rot-Kreuz-Initiative. Als schließlich auch Kenneth in den Krieg zieht, ist Rilla froh, dass sie ihm vorher noch ein wichtiges Versprechen gegeben hat. Der Jugendbuch-Klassiker auch endlich als eBook! Die Fortsetzung "Anne & Rilla" erzählt die Geschichte der Tochter des Waisenkindes Anne auf Green Gables und wie sie die große Liebe findet – nostalgische Unterhaltung für Jung und Alt. Annes zeitlose Geschichten sind jetzt auch in der Netflix-Serie Anne with an E zu sehen.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 269

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
5,0 (1 Bewertung)
1
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Zum Gedenken an

Frederica Campbell MacFarlane,

die von mir ging, als der Tag anbrach,

am 25. Januar 1919,

eine treue Freundin,

eine außergewöhnliche Persönlichkeit,

eine treue und tapfere Seele.

„Wer in jungen Jahren so Großartiges vollbracht hat, wird für uns immer jung bleiben.“ Sheard

Inhalt

Cover

Titel

Notizen aus Glen und anderes

Morgentau

Mondscheinparty

Der Pfeifer spielt sein Lied

Abschiedsstimmung

Gute Vorsätze

Ein Kriegsbaby und eine Suppenterrine

Rillas Entscheidung

Docs Mißgeschick

Rilla und ihre Sorgen

Traurigkeit und Freude

Bange Tage

Ein schwerer Brocken

Ein schwieriger Entschluß

Ein schwerer Abschied

Ein Traum wird wahr

Weitere Titel von Lucy Maud Montgomery

Weitere Infos

Impressum

Notizen aus Glen und anderes

Es war an einem sonnigen, angenehm warmen Nachmittag. Susan Baker, die schon seit sechs Uhr morgens auf den Beinen war, ließ sich erschöpft, aber zufrieden im großen Wohnzimmer von Ingleside nieder. Es war jetzt vier Uhr, und sie fand, daß sie sich eine Ruhepause und ein kleines Schwätzchen redlich verdient hatte. Eigentlich war sie mehr als zufrieden: In der Küche hatte heute alles wie am Schnürchen geklappt, und Dr. Jekyll hatte sich nicht in Mr. Hyde verwandelt und war ihr deshalb auch nicht auf die Nerven gefallen. Von ihrem Sitzplatz aus konnte Susan die Pfingstrosen sehen, die sie eigenhändig gepflanzt und gepflegt hatte. Sie waren ihr ganzer Stolz. Es gab in ganz Glen St. Mary kein zweites Pfingstrosenbeet, das so schön blühte wie ihres: dunkelrote Pfingstrosen, Pfingstrosen in schimmerndem Rosa und Pfingstrosen so weiß wie Schnee.

Susan trug eine neue schwarze Seidenbluse, die war mindestens genauso vornehm wie alles, was Mrs. Marshall Elliott jemals trug. Und sie hatte eine weiße gestärkte Schürze mit aufwendig gehäkeltem Spitzenbesatz an, der mindestens zwölf Zentimeter breit war, vom dazu passenden Spitzeneinsatz ganz zu schweigen. Mit dem königlichen Gefühl einer wohlgekleideten Dame schlug Susan also die Daily Enterprise auf, um sich die Notizen aus Glen vorzunehmen, die, wie sie soeben von Miss Cornelia erfahren hatte, heute besonders ausführlich waren und so ziemlich keinen aus Ingleside ausließen. Auf der Titelseite der Zeitung stand in fetter Überschrift etwas von einem Erzherzog Ferdinand oder so ähnlich, der in Sarajevo – komischer Name – ermordet worden war; aber mit so uninteressanten Nebensächlichkeiten konnte Susan nichts anfangen. Sie interessierte sich nur für das, was um sie herum passierte. Aha, da war sie schon an der richtigen Stelle: Allerlei aus Glen St. Mary. Susan machte es sich gemütlich und fing wißbegierig an zu lesen, und zwar laut, damit sie um so mehr davon hatte.

Währenddessen saßen Mrs. Anne Blythe und ihre Besucherin, Miss Cornelia (alias Mrs. Marshall Elliot) neben der offenen Wohnzimmertür draußen auf der Veranda und plauderten. Eine kühle, angenehme Brise wehte herein und brachte die verschiedensten Düfte aus dem Garten mit sich. Von der Weinlaube, wo Rilla, Miss Oliver und Walter zusammensaßen, drang das Echo ihres fröhlichen Lachens herüber. Wo auch immer Rilla Blythe sich aufhielt, da ging es fröhlich zu.

Im Wohnzimmer lag, zusammengekuschelt auf dem Sofa, ein weiteres Lebewesen, das nicht unerwähnt bleiben darf. Es besaß nämlich einen ganz außergewöhnlichen Charakter. Und es war noch dazu die einzige Kreatur, die Susan auf den Tod nicht ausstehen konnte.

Alle Katzen sind geheimnisvoll, aber Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde – Kurzname Doc – war dreimal so geheimnisvoll. Doc besaß zwei Persönlichkeiten in einer, oder war, daran glaubte Susan felsenfest, vom Teufel besessen. Er hatte in der Tat vom ersten Tag seiner Existenz an etwas Unheimliches an sich.

Vor vier Jahren hatte Rilla Blythe ein allerliebstes kleines Kätzchen besessen, weiß wie Schnee, mit einer vorwitzigen schwarzen Schwanzspitze. Rilla hatte es Jack Frost genannt. Susan konnte Jack Frost nicht leiden, obwohl sie keinen vernünftigen Grund für ihre Abneigung nennen konnte oder wollte.

„Lassen Sie sich’s gesagt sein, liebe Frau Doktor, dieser Kater bringt Unglück“, sagte sie immer wieder mit drohender Stimme.

„Aber wieso glaubst du das?“ wollte Anne (Mrs. Blythe) dann wissen.

„Ich glaube das nicht – ich weiß es“, behauptete Susan.

Doch alle anderen auf Ingleside liebten Jack Frost heiß und innig. Er war so reinlich und gepflegt und duldete nicht einen Schmutzfleck auf seinem schönen weißen Fell. Es war so rührend, wie er schnurrte und sich an einen schmiegte. Und er war die Ehrlichkeit in Person.

Doch dann passierte auf Ingleside das Unfaßbare: Jack Frost bekam Junge!

Susans Triumph braucht man gar nicht näher zu beschreiben. Hatte sie nicht immer und immer wieder gesagt, daß dieser Kater sich eines Tages als trügerisches und hinterlistiges Wesen entpuppen würde? Das hatten sie jetzt davon!

Rilla behielt eines der Jungen. Es war sehr hübsch und hatte ein merkwürdig glattes, glänzendes Fell, dunkelgelb mit orangen Streifen, und große, seidige goldfarbene Ohren. Sie nannte es Goldie, und kein Name hätte besser zu diesem kleinen vergnügten Wesen passen können. Solange es klein war, gab es nicht die geringsten Anzeichen von dem finsteren Charakter, der wirklich in ihm steckte. Susan warnte die anderen natürlich und sagte, von diesem teuflischen Jack Frost könne man nichts Gutes erwarten. Doch niemand hörte auf Susans düstere Prophezeiungen.

Die Blythes hatten sich so daran gewöhnt, Jack Frost für ein Mitglied des männlichen Geschlechts zu halten, daß sie sich auch jetzt nicht umgewöhnen konnten. So redeten sie weiterhin von „ihm“, auch wenn das lächerlich war hinsichtlich dessen, was dabei herausgekommen war. Leute, die zu Besuch kamen, glaubten ihren Ohren nicht zu trauen, wenn Rilla wie selbstverständlich von „Jack und seinem Jungen“ sprach oder wenn sie Goldie befahl: „Geh zu deiner Mutter, und laß dir das Fell von ihm saubermachen!“

„Das ist doch unanständig, liebe Frau Doktor“, jammerte dann die arme Susan. Sie selbst zog sich aus der Affäre, indem sie Jack einfach „es“ nannte oder aber „das weiße Ungeheuer“, und es gab zumindest eine Person, der es nicht leid tat, als „es“ im darauffolgenden Winter unglücklicherweise vergiftet wurde.

Im Verlauf eines Jahres paßte der Name Goldie immer weniger zu dem orangen Kätzchen, so daß Walter, der gerade Stevensons Geschichte las, es in Dr.-Jekyll-und-Mr.-Hyde umtaufte. In seiner Dr.-Jekyll-Laune war es ein schläfriges, zärtliches, häusliches Tierchen, das am liebsten in den Kissen lag und sich hätscheln und tätscheln ließ. Es lag besonders gern auf dem Rücken und ließ sich seinen glatten zartgelben Hals streicheln, während es glückselig vor sich hin schnurrte. Sein Schnurren war schon bemerkenswert. Es hatte bisher noch keine einzige Katze auf Ingleside gegeben, die so beharrlich und schwärmerisch schnurren konnte.

„Das einzige, worum ich Katzen beneide, ist das Schnurren“, sagte Dr. Gilbert Blythe einmal, als er Docs dröhnendem Gesang lauschte. „Es gibt keinen Laut auf der Welt, der soviel Zufriedenheit ausdrückt.“

Doc war sehr hübsch, jede seiner Bewegungen war voller Anmut, seine Haltung erhaben. Wenn er seinen langen gestreiften Schwanz um seine Füße ringelte und sich auf der Veranda niederließ, um unbeweglich hinaus in die weite Ferne zu starren, dann fanden die Blythes, daß er aussah wie eine ägyptische Sphinx.

Wenn ihn dann aber die Mr.-Hyde-Laune überkam – was immer dann passierte, wenn sich Regen oder Wind ankündigte –, dann wurde er zum Biest und bekam einen völlig veränderten Blick. Die Verwandlung vollzog sich urplötzlich. Eben noch vor sich hin dösend, schoß Doc wie der Blitz mit wütendem Geknurr hoch und biß nach jeder Hand, die ihn besänftigen oder streicheln wollte. Sein Fell schien sich zu verdunkeln, und seine Augen funkelten wie der Teufel. Er sah dann wirklich ganz unheimlich aus. Wenn sich die Verwandlung in der Abenddämmerung vollzog, dann bekamen es die Ingleside-Bewohner beinahe mit der Angst zu tun. Dann wurde Doc zur furchterregenden Bestie, und nur Rilla verteidigte ihn und sagte, was für ein netter Kater er doch sei. Und wie nett!

Dr. Jekyll mochte gern frische Milch. Mr. Hyde rührte keine Milch an, und wenn es Fleisch gab, knurrte er. Dr. Jekyll kam so leise die Treppe herabgeschlichen, daß niemand ihn hörte. Mr. Hyde kam so lautstark dahergestampft, daß es sich anhörte wie ein Mensch. Susan behauptete, er hätte sie an manchen Abenden, wenn sie allein im Haus war, schon so erschreckt, daß sie beinah „tot umgefallen wäre“. Er hockte dann mitten auf dem Küchenboden und starrte sie mit seinen schrecklichen Augen ununterbrochen an, ohne mit der Wimper zu zucken. Es war kaum zum Aushalten, aber die arme Susan hatte viel zuviel Angst vor ihm, als daß sie versucht hätte, ihn zu verjagen. Einmal hatte sie es gewagt, einen Stock nach ihm zu werfen, mit dem Erfolg, daß er ihr ins Gesicht sprang. Susan hatte daraufhin die Flucht ergriffen und seither nie wieder versucht, sich mit Mr. Hyde anzulegen. Allerdings ließ sie dann den armen, unschuldigen Dr. Jekyll für seine Missetaten büßen, indem sie ihn schimpfend aus ihrem Revier jagte, sobald er sich erdreistete, die Nase zur Tür hereinzustecken, und ihm so manchen Leckerbissen verwehrte, nach welchem er lechzte.

„Miss Faith Meredith, Gerald Meredith und James Blythe“, las Susan und ließ die Namen genüßlich auf ihrer Zunge zergehen, „haben das Redmond College absolviert und sind von ihren Freunden zu Hause herzlich begrüßt worden. James Blythe, der 1913 in den Geisteswissenschaften promovierte, hat sein erstes Jahr in Medizin hinter sich.“

„Faith Meredith mausert sich langsam zum hübschesten Mädchen, das ich je gesehen habe“, kommentierte Miss Cornelia, während sie sich über ihre Filetstickerei beugte.

„Erstaunlich, was aus diesen Kindern geworden ist, seit Rosemary West ins Pfarrhaus gekommen ist. Die Leute haben schon fast vergessen, was für Flegel Jerry, Faith, Una und Carl früher waren, bevor der Pfarrer endlich zum zweiten Mal geheiratet hat. Weißt du noch, liebste Anne, was für ein Theater die immer veranstaltet haben? Wirklich erstaunlich, wie gut Rosemary mit ihnen zurechtgekommen ist. Sie ist auch eher wie eine Freundin zu ihnen als wie eine Stiefmutter. Alle mögen sie sehr, und Una liebt sie heiß und innig. Was den kleinen Stiefbruder Bruce betrifft, muß ich sagen, daß Una sich regelrecht zu seiner Sklavin macht. Er ist zwar ein netter Kerl. Aber seid ihr jemals einem Kind begegnet, das seiner Tante dermaßen ähnlich sieht wie Bruce seiner Tante Ellen? Genauso dunkelhaarig und genauso energisch. Von Rosemary hat er überhaupt nichts, finde ich. Norman Douglas behauptet ja steif und fest, der Storch hätte Bruce eigentlich für ihn und Ellen vorgesehen gehabt und hätte ihn nur aus Versehen im Pfarrhaus abgeliefert.“

„Bruce bewundert Jem“, sagte Anne. „Wenn er zu uns kommt, dann folgt er Jem überallhin, wie ein braver kleiner Hund, und sieht ehrfürchtig unter seinen schwarzen Augenbrauen hervor zu ihm auf. Ich glaube ernsthaft, der würde für Jem alles tun.“

„Wollen Jem und Faith eigentlich heiraten?“

Anne lächelte. Man wußte ja, daß Miss Cornelia – ehemals überzeugte Männerhasserin – mit den Jahren dazu übergegangen war, Ehen zu stiften.

„Bis jetzt sind die beiden nur gute Freunde, Miss Cornelia.“

„Sehr gute Freunde, das könnt ihr mir glauben“, betonte Miss Cornelia. „Mir entgeht nichts von dem, was die jungen Leute so treiben.“

„Ich schätze, dafür wird Ihre geschwätzige Mary Vance schon sorgen, liebe Mrs. Marshall Elliott“, sagte Susan und tat sehr wichtig. „Ich jedenfalls finde, es ist eine Schande, so über Kinder zu reden.“

„Kinder! Jem ist einundzwanzig und Faith neunzehn“, regte sich Miss Cornelia auf. „Vergiß nicht, Susan, daß wir alten Leute nicht die einzigen Erwachsenen sind auf der Welt.“

Susan haßte es, wenn jemand eine Anspielung auf ihr Alter machte, nicht etwa aus Eitelkeit, sondern aus Angst, man könnte sie dann zum Arbeiten für zu alt halten. Wütend vertiefte sie sich wieder in ihre Notizen.

„Carl Meredith und Shirley Blythe sind vergangenen Freitag von der Queens Academy nach Hause zurückgekehrt. Laut unseren Informationen wird Carl nächstes Jahr die Schule in Harbour Head übernehmen. Sicherlich wird er ein beliebter und erfolgreicher Lehrer werden. “

„Den Kindern alles über Käfer beizubringen wird er wohl noch schaffen“, sagte Miss Cornelia. „Jetzt, wo er die Queen’s hinter sich hat, wollten Mr. Meredith und Rosemary ihn eigentlich im Herbst in Redmond weiterstudieren lassen, aber Carl hat seinen eigenen Willen und will erst mal sein eigenes Geld verdienen. Das wird wohl auch das beste für ihn sein.“

„Walter Blythe hat seine Lehrertätigkeit in Lowbridge aufgegeben, wo er zwei Jahre lang tätig war“, las Susan. „Es heißt, daß er im Herbst nach Redmond gehen will.“

„Ist Walter denn schon kräftig genug, um nach Redmond zu gehen?“ wunderte sich Miss Cornelia.

„Bis zum Herbst ist er hoffentlich stark genug“, sagte Anne Blythe. „Ein erholsamer Sommer in frischer Luft und Sonnenschein wird ihm sehr gut tun.“

„Von Typhus erholt man sich nicht so schnell“, bemerkte Miss Cornelia, „schon gar nicht, wenn man wie Walter nur mit knapper Not davongekommen ist. Ich finde, er sollte lieber noch ein Jahr mit dem College warten. Andererseits ist er so ehrgeizig. Gehen Di und Nan denn auch?“

„Ja. Sie wollten beide noch ein Jahr unterrichten, aber Gilbert möchte lieber, daß sie schon diesen Herbst nach Redmond wechseln.“

„Da bin ich froh. Die werden dann ein Auge auf Walter haben und aufpassen, daß er sich nicht überanstrengt“, sagte Miss Cornelia und fuhr mit einem Seitenblick auf Susan fort: „Ich nehme an, daß es für mich nicht ratsam ist, nach der Abfuhr von vorhin die Vermutung zu äußern, daß Jerry Meredith Nan schöne Augen macht?“

Susan ging nicht darauf ein, und Anne mußte lachen.

„Liebste Miss Cornelia, habe ich nicht schon genug Verliebte um mich herum? Es würde mich ja umbringen, wenn ich das alles ernst nähme. Ich tue es nicht, es ist nämlich schon schwer genug, sich damit abzufinden, daß die Kinder erwachsen sind. Wenn ich mir meine beiden großen Söhne so ansehe, kann ich mir gar nicht vorstellen, daß das die süßen, runden Babys waren, die ich doch eben erst geküßt und liebkost und in den Schlaf gesungen habe. Als wäre es gestern gewesen, Miss Cornelia. War Jem nicht das allerliebste Baby in unserem alten Traumhaus? Und jetzt ist er Bachelor of Arts und wird bezichtigt, auf Freiersfüßen zu wandeln!“

„Wir alle werden älter“, seufzte Miss Cornelia.

„Ich fühle mich nur an einer Stelle alt“, sagte Anne, „nämlich an dem Knöchel, den ich mir damals auf Green Gables brach, als Josie Pye mich dazu herausforderte, den Dachfirst von Mr. Barry entlangzumarschieren. Er tut mir weh, wenn der Wind von Osten kommt. Ich will nicht behaupten, daß es Rheumatismus ist, aber es tut wirklich weh. Was die Kinder betrifft, wollen sie mit den Merediths einen fröhlichen Sommer verbringen, bevor sie im Herbst ihr Studium wiederaufnehmen. Sie sind eine so muntere kleine Bande. Mit ihnen geht es immer lustig zu in diesem Haus.“

„Geht Rilla auch auf die Queen’s, wenn Shirley zurückgeht?“

„Das steht noch nicht fest. Ich glaube, eher nicht. Erstens findet Gilbert, daß sie nicht widerstandsfähig genug ist. Sie wächst und wächst. Sie ist wirklich lächerlich groß für ein Mädchen, das noch keine fünfzehn ist. Ich hätte keine Sorge, sie gehen zu lassen, aber es wäre doch schrecklich, nächsten Winter kein einziges meiner Kinder mehr bei mir zu haben. Susan und ich, wir würden uns wahrscheinlich nur noch streiten, um der Eintönigkeit zu entgehen.“

Susan grinste bei dieser Vorstellung. Das war zu komisch, sie und mit der „lieben Frau Doktor“ streiten!

„Will Rilla selbst denn gehen?“ wollte Miss Cornelia wissen.

„Nein. Um ehrlich zu sein, Rilla ist die einzige aus meiner Kinderschar, die keinen Ehrgeiz hat. Ich wünschte wirklich, sie hätte ein bißchen mehr davon. Sie hat überhaupt keine ernsthaften Ziele. Das einzige, was sie anstrebt, ist anscheinend, es sich gutgehen zu lassen.“

„Und was spricht dagegen, liebe Frau Doktor?“ ereiferte sich Susan. Sie konnte es nicht ertragen, wenn über irgend jemanden von Ingleside schlecht gesprochen wurde, auch nicht von einem eigenen Familienmitglied. „Ich finde, ein junges Mädchen sollte sein Vergnügen haben. Für Latein und Griechisch wird schon noch genug Zeit übrigbleiben.“

„Wenn sie wenigstens ein bißchen Verantwortungsgefühl an den Tag legen würde, Susan. Und du weißt doch selbst, wie furchtbar eitel sie ist.“

„Dazu hat sie auch allen Grund“, gab Susan zurück. „Sie ist das hübscheste Mädchen in ganz Glen St. Mary. Ein Mädchen mit einer so zarten Haut wie Rilla hat doch noch keiner von den vornehmen MacAllisters, Crawfords und Elliotts jemals gesehen. Nein, liebe Frau Doktor, ich weiß, es steht mir nicht zu, aber ich kann nicht zulassen, daß Sie Rilla schlechtmachen. – Hören Sie her, Mrs. Marshall Elliott!“

Susan hatte eine Gelegenheit entdeckt, es Miss Cornelia für ihre Bemerkungen über die Liebesaffären der Kinder heimzuzahlen. Sie las den Artikel genüßlich vor.

„Miller Douglas hat sich entschlossen, nicht nach Westen zu gehen. Er sagt, das alte Prince Edward Island sei gut genug für ihn, und er wird weiterhin für seine Tante, Mrs. Alec Davis, die Landwirtschaft betreiben.“

Susan sah Miss Cornelia durchdringend an.

„Mrs. Marshall Elliott, ich habe gehört, daß Miller hinter Ihrem Pflegling Mary Vance her ist.“

Dieser Schuß durchbohrte Miss Cornelias Panzer. Ihr gutmütiges Gesicht lief rot an.

„Das wäre ja noch schöner, wenn Miller Douglas um Mary herumscharwenzelte“, ereiferte sie sich. „Bei der gewöhnlichen Familie, aus der er kommt. Sein Vater war sogar bei den Douglases so was wie ein Ausgestoßener, sie haben ihn nie richtig dazugezählt. Und seine Mutter war eine von diesen schrecklichen Dillons aus Harbour Head.“

„Mrs. Marshall Elliott, soweit ich weiß, stammt Mary Vance aber auch nicht gerade aus einer adeligen Familie.“

„Mary Vance ist immerhin gut erzogen worden, und sie ist ein kluges, tüchtiges Mädchen“, verteidigte sie Miss Cornelia. „Sie wird sich Miller Douglas schon nicht an den Hals werfen, das können Sie mir glauben! Sie weiß, wie ich darüber denke, und bis jetzt hat Mary immer auf mich gehört.“

„Ich glaube, Sie brauchen sich da keine Sorgen zu machen, Mrs. Marshall Elliott, denn Mrs. Alec Davis ist genauso dagegen wie Sie. Sie sagt, es käme überhaupt nicht in Frage, daß einer ihrer Neffen eine so unbedeutende Person wie Mary Vance heiratet.“

Susan kehrte, nachdem dieses Wortgefecht ganz zu ihren Gunsten verlaufen war, wieder zu ihren Notizen zurück.

„Mit Freuden haben wir erfahren, daß Miss Oliver ein weiteres Jahr bei uns unterrichten wird“, las sie vor. „Miss Oliver wird ihre wohlverdienten Ferien zu Hause in Lowbridge verbringen.“

„Ich freue mich, daß Gertrude dableibt“, sagte Anne. „Wir würden sie schrecklich vermissen. Und sie übt einen so erfreulichen Einfluß auf Rilla aus, Rilla verehrt sie geradezu. Sie sind richtige Freundinnen, trotz des großen Altersunterschieds.“

„Wollte sie denn nicht heiraten?“

„Ja, davon war wohl die Rede, aber die Heirat ist um ein Jahr verschoben worden.“

„Wer ist denn der junge Mann?“

„Robert Grant, ein junger Rechtsanwalt aus Charlottetown. Ich hoffe, Gertrude wird glücklich mit ihm. Ihr Leben ist bisher ziemlich traurig verlaufen. Sie hat viele Enttäuschungen durchgemacht, deshalb ist sie besonders empfindlich. Ihre Jugendzeit ist vorbei, und sie ist praktisch allein auf der Welt. Diese neue Liebe ist für sie so überwältigend, daß sie anscheinend Angst hat, sie könnte nicht von Dauer sein. Als die Hochzeit verschoben werden mußte, war sie sehr verzweifelt – obwohl das bestimmt nicht Mr. Grants Schuld war. Es gab Unstimmigkeiten im Testament seines Vaters; sein Vater starb letzten Winter. Bevor die nicht aus dem Wege geräumt sind, kann er nicht heiraten. Ich glaube, für Gertrude war das ein schlimmes Omen, sie hatte Angst, ihr Glück würde ihr jetzt schon wieder weggenommen.“

„Es ist nicht gut, wenn man seine Gefühle zu sehr an einen Mann bindet, liebe Frau Doktor“, bemerkte Susan ernst.

„Mr. Grant ist genausosehr in Gertrude verliebt wie sie in ihn, Susan. Er ist es nicht, dem sie mißtraut. Es ist das Schicksal. Sie hat so etwas wie eine mystische Ader. Manche Leute würden sie wahrscheinlich als abergläubisch bezeichnen. Sie glaubt an Träume, und wir haben es bisher einfach nicht geschafft, sie davon zu überzeugen, daß Träume völlig harmlos sind. Ich muß allerdings zugeben, daß einige ihrer Träume … Aber solche ketzerischen Anspielungen lasse ich Gilbert lieber nicht hören. Na, was hast du denn nun wieder Interessantes gefunden, Susan?“

„Hören Sie her, liebe Frau Doktor!“ rief Susan aufgeregt. „Mrs. Sophia Crawford hat ihr Haus in Lowbridge aufgegeben und wird in Zukunft bei ihrer Nichte, Mrs. Albert Crawford, wohnen. Sophia ist meine eigene Cousine, liebe Frau Doktor! Als Kinder haben wir uns mal um ein Bild von der Sonntagsschule gestritten, mit einem Rosenkranz darauf, und in der Mitte stand: Gott ist Liebe. Seitdem haben wir nie mehr miteinander geredet. Und jetzt soll sie plötzlich direkt auf der anderen Straßenseite von uns wohnen.“

„Da wirst du wohl den alten Streit bereinigen müssen, Susan. Mit seinen Nachbarn sollte man nie auf Kriegsfuß stehen.“

„Cousine Sophia hat damals angefangen, also kann sie auch jetzt den Anfang machen, liebe Frau Doktor“, sagte Susan hochmütig. „Und wenn sie’s wirklich tut, dann kann ich nur hoffen, daß ich christlich genug bin, ihr auf halbem Wege entgegenzukommen. Die kann keinen Spaß vertragen. Als ich sie das letzte Mal sah, war ihr Gesicht von tausend Falten durchzogen. Vielleicht waren’s mehr, vielleicht auch weniger. Bestimmt vor lauter Verdrossenheit und Schwarzseherei. Beim Tod ihres ersten Mannes heulte sie ganz fürchterlich, aber es dauerte kein Jahr, da heiratete sie den Nächsten. – Aha, als nächstes geht es um den Sondergottesdienst, der am Sonntagabend in unserer Kirche stattfand. Die Dekoration wird in den höchsten Tönen gelobt.“

„Apropos Dekoration: Mr. Pryor kann Blumen in der Kirche nicht ausstehen“, sagte Miss Cornelia. „Als dieser Mann aus Lowbridge hierherzog, habe ich schon Ärger kommen sehen. Er hätte hier nie Kirchenältester werden dürfen. Das war ein Fehler, und wir werden schon sehen, was wir davon haben, darauf könnt ihr euch verlassen! Er soll sogar gesagt haben, wenn die Mädchen ‚weiterhin die Kanzel mit Unkraut verunstalten‘, dann käme er nicht mehr in die Kirche.“

„Die Kirche ist früher auch ohne das alte Mondge-sicht-mit-Schnauzbart ausgekommen, also wird sich auch nichts ändern, wenn er wieder weg ist“, sagte Susan.

„Wer hat ihm bloß diesen lächerlichen Spitznamen gegeben?“ wollte Anne wissen.

„Seit ich überhaupt denken kann, haben ihn die Jungen aus Lowbridge schon so genannt, liebe Frau Doktor. Wahrscheinlich, weil er so ein rundes rotes Gesicht hat mit so einem komischen rotblonden Bart außen rum. Er darf es natürlich nicht hören, daß man ihn so nennt. Aber schlimmer als der Bart ist seine Unvernunft. Was dieser Mann für komische Ideen hat! Jetzt ist er Kirchenältester und angeblich sehr fromm. Aber ich erinnere mich noch gut, liebe Frau Doktor, wie er vor zwanzig Jahren dabei ertappt wurde, als er seine Kuh auf dem Friedhof von Lowbridge weiden ließ. Ja, wirklich, das habe ich nicht vergessen, und ich muß oft daran denken, wenn er im Gottesdienst betet. So, das waren die Notizen, und das dürfte wohl schon alles gewesen sein, was an Wichtigem in der Zeitung steht. Ich interessiere mich nie besonders für das, was woanders passiert. Wer ist denn zum Beispiel dieser Erzherzog, der da ermordet worden ist?“

„Was geht das uns an?“ fragte Miss Cornelia, ohne eine Ahnung davon zu haben, auf was für eine schreckliche Art und Weise sie das bald etwas angehen würde. „In diesen Balkanstaaten wird doch andauernd gemordet. Das ist doch schon ganz normal dort, und ich finde nicht, daß unsere Zeitungen über solche schockierenden Dinge berichten sollten. Die Enterprise ist immer auf Sensation aus mit diesen fetten Überschriften. So, jetzt muß ich aber gehen. Nein, liebste Anne, zum Abendessen kann ich leider nicht bleiben, falls du das fragen willst. Wenn ich nicht zum Essen zu Hause bin, dann ißt Marshall nämlich auch nichts. Das lohnt sich nicht, sagt er dann – typisch Mann! Also gehe ich lieber. – Du lieber Himmel, liebste Anne, was ist denn mit diesem Kater los? Kriegt er etwa einen Anfall?“

Doc sprang mit einem Satz vor Miss Cornelias Füße, legte die Ohren zurück, fauchte sie an und machte dann einen weiteren Satz durchs Fenster nach draußen.

„Nein, nein. Er verwandelt sich nur gerade in Mr. Hyde. Das bedeutet, daß es noch vor morgen Regen oder Sturm gibt. Doc ist so zuverlässig wie ein Barometer.“

„Ich bin bloß froh, daß er sich diesmal draußen austobt und nicht wieder in meiner Küche“, sagte Susan. „So, und ich gehe jetzt und kümmere mich ums Abendessen. Bei so einer großen Schar, wie wir hier auf Ingleside sind, muß man schon rechtzeitig ans Essenvorbereiten denken.“

Morgentau

Die Sonne verwandelte den Garten von Ingleside in lauter kleine goldene Seen, die sich abwechselten mit geheimnisvollen Schatten. Rilla Blythe schaukelte in der Hängematte unter der großen schottischen Pinie, Gertrude Oliver saß neben ihr am Fuß des Baumes, und Walter lag ausgestreckt im Gras, vertieft in einen Ritterroman, in dem alte Helden und längst vergangene Zeiten für ihn neu zum Leben erwachten.

Rilla war das „Baby“ in der Familie Blythe. Sie war knapp fünfzehn und ärgerte sich darüber, daß niemand sie für erwachsen halten wollte. Noch dazu war sie fast so groß wie Di und Nan. Und sie war beinah so hübsch, wie Susan es von ihr behauptete. Sie hatte große braune, verträumte Augen, einen zarten Teint mit lauter kleinen goldenen Sommersprossen und fein geformte Augenbrauen, die ihr einen ernsten, fragenden Ausdruck verliehen und die Leute aufmerksam machten, ganz besonders junge Männer in ihrem Alter. Ihr Haar war rötlichbraun, und sie hatte ein Grübchen in ihrer Oberlippe, als wenn eine gute Fee ihr dieses Grübchen bei der Taufe mit dem Finger eingedrückt hätte. Rillas beste Freundinnen, die wußten, daß sie ein wenig eitel war, fanden an ihrem Gesicht nichts auszusetzen. Nur ihre Figur gefiel ihnen nicht recht. Wenn man ihre Mutter doch bloß davon überzeugen könnte, daß ihr lange Kleider besser standen! So dick und rund sie als kleines Kind gewesen war, so unglaublich mager war Rilla jetzt. Sie bestand nur aus Armen und Beinen. Jem und Shirley quälten sie, weil sie sie „Spinne“ nannten. Dabei wirkte sie nicht etwa unbeholfen. Vielmehr hatten ihre Bewegungen den Anschein, als ob sie nicht ging, sondern tanzte. Rilla war immer ein kleiner Sonnenschein gewesen, man hatte sie sogar ein kleines bißchen verwöhnt, aber die meisten Leute fanden, daß sie ein süßes Mädchen war, auch wenn sie vielleicht nicht so klug war wie Nan und Di.

Miss Oliver, die noch am Abend nach Lowbridge aufbrechen wollte, um dort die Ferien zu verbringen, wohnte seit einem Jahr in Ingleside. Die Blythes hatten sie Rilla zuliebe bei sich aufgenommen. Rilla liebte ihre Lehrerin heiß und innig, und da kein anderes Zimmer zur Verfügung stand, war sie sogar bereit gewesen war, ihr eigenes mit ihr zu teilen. Gertrude Oliver war achtundzwanzig Jahre alt, und sie hatte es schwer gehabt in ihrem bisherigen Leben. Sie fiel auf durch ihre traurigen, mandelförmigen braunen Augen, den hübschen, etwas spöttisch wirkenden Mund und die dichte schwarze Haarpracht. Sie war nicht hübsch, aber ihr Gesicht wirkte interessant und geheimnisvoll, und Rilla fand sie einfach faszinierend. Selbst wenn sie gelegentlich trübsinnig und zynisch war, hatte sie für Rilla immer noch etwas Bezauberndes. Solche Launen überkamen Miss Oliver jedoch nur, wenn sie müde war. Sonst war sie sehr umgänglich und steckte voller Ideen, und die fröhliche Schar von Ingleside vergaß dann ganz, daß sie doch um einiges älter war als sie selbst. Miss Oliver mochte Walter und Rilla besonders gern, und sie war die Vertraute ihrer geheimen Wünsche und Sehnsüchte. Sie wußte zum Beispiel, daß Rilla sich danach sehnte „auszugehen“: Parties zu besuchen, so wie Nan und Di, und elegante Abendkleider zu tragen und – warum sollte man um den heißen Brei herumreden – Verehrer zu haben! Im Plural, wohlgemerkt! Und was Walter betraf, so wußte Miss Oliver, daß er eine Reihe Gedichte „an Rosamunde“ (Faith Meredith) geschrieben hatte und daß er es sich zum Ziel gesetzt hatte, an irgendeiner großen Universität Professor für englische Literatur zu werden. Sie kannte seine leidenschaftliche Vorliebe für alles Schöne genauso wie seine tiefe Abneigung gegen alles Häßliche. Sie kannte seine Stärken und seine Schwächen.

Walter war, wie eh und je, der hübscheste der Ingleside-Jungen. Miss Oliver schaute ihn deshalb gerne an. Er sah genauso aus, wie sie es sich für ihren eigenen Sohn gewünscht hätte: glänzendes schwarzes Haar, leuchtende dunkelgraue Augen und klare Gesichtszüge. Und die Fingerspitzen eines Dichters! Seine Gedichte waren wirklich bemerkenswert für einen jungen Mann von gerade zwanzig Jahren. Ohne für ihn Partei ergreifen zu wollen, wußte sie, daß Walter Blythe eine wunderbare Gabe besaß.

Rilla liebte Walter von ganzem Herzen. Er neckte sie nie, so wie Jem und Shirley es gern taten. Er nannte sie nie „Spinne“. Sein Kosename für sie war „Rilla-meine-Rilla“, in Anlehnung an ihren richtigen Namen „Marilla“. Sie war nach Tante Marilla von Green Gables getauft worden, doch Tante Marilla war gestorben, bevor Rilla überhaupt Gelegenheit hatte, sie richtig kennenzulernen, und der Name als solcher war ihr verhaßt. Sie fand ihn schrecklich altmodisch und spröde. Wieso riefen sie sie nicht bei ihrem ersten Namen „Bertha“, der klang doch so schön und würdevoll! Statt dessen immer dieses blöde „Rilla“! Gegen Walters Version hatte sie jedoch nichts einzuwenden, aber außer ihm durfte niemand sie so nennen, höchstens Miss Oliver ab und zu. „Rilla-meine-Rilla“ mit Walters musikalischer Stimme klang einfach wunderschön. Wie das Plätschern und Sprudeln eines glitzernden Baches. Für Walter würde sie sogar sterben, wenn sie ihm damit etwas Gutes tun könnte, sagte sie im Vertrauen zu Miss Oliver. Rilla neigte, wie fast alle Mädchen im Alter von fünfzehn, leicht zu Übertreibungen. Doch am schlimmsten für sie war der Verdacht, daß Walter Di womöglich mehr von seinen Geheimnissen verriet als ihr.

„Er denkt wohl, ich bin noch nicht erwachsen genug, um ihn zu verstehen“, beklagte sie sich einmal wütend bei Miss Oliver. „Aber ich bin erwachsen genug! Und ich würde niemals etwas weitersagen, noch nicht mal Ihnen, Miss Oliver. Ihnen verrate ich meine eigenen Geheimnisse – ich wäre todunglücklich, wenn ich vor Ihnen Geheimnisse hätte –, aber seine würde ich nie verraten. Ich erzähle ihm alles, sogar mein Tagebuch zeige ich ihm. Aber wenn er mir etwas verschweigt, dann leide ich furchtbar darunter. Er zeigt mir immerhin alle seine Gedichte. Die sind einfach wunderbar, Miss Oliver. Ach, was gäbe ich darum, eines Tages für Walter das zu sein, was Wordsworths Schwester Dorothy für ihn war. Dabei ist das, was Wordsworth geschrieben hat, überhaupt nicht vergleichbar mit Walters Gedichten. Von Tennyson ganz zu schweigen.“

„Das würde ich nicht sagen. Beide haben eine ganze Menge Unsinn geschrieben“, sagte Miss Oliver trocken, fügte aber auf Rillas betroffenen Blick reumütig hinzu: „Aber ich glaube, daß Walter – irgendwann einmal – ein großer Dichter sein wird, vielleicht sogar der erste wirklich große Dichter, den Kanada je gesehen hat. Und wenn du älter wirst, wird er dir auch mehr anvertrauen.“

„Als Walter letztes Jahr mit Typhus im Krankenhaus lag, bin ich fast verrückt geworden“, seufzte Rilla etwas pathetisch. „Niemand hat mir gesagt, wie krank er wirklich ist. Vater wollte das nicht. Ich habe es erst erfahren, als es vorbei war. Aber ich bin froh, daß ich es nicht gewußt habe, das hätte ich einfach nicht ertragen. Ich habe mich ohnehin jeden Abend in den Schlaf geweint. Aber manchmal“, sagte Rilla bekümmert – es gefiel ihr, hin und wieder Miss Olivers Ton nachzuahmen –, „manchmal denke ich, Walter kümmert sich mehr um Monday als um mich.“

Monday war der Haushund von Ingleside. Er hieß so, weil er an einem Montag, als Walter gerade Robinson Crusoe las, in die Familie kam. Eigentlich gehörte er Jem, aber er hing genauso an Walter. Jetzt lag er gerade neben Walter, die Schnauze an seinen Arm gekuschelt, und wedelte aufgeregt mit dem Schwanz, wenn Walter ihn geistesabwesend tätschelte. Monday war weder ein Collie noch ein Setter, geschweige denn ein Jagdhund oder ein Neufundländer. Er war, wie Jem sagte, „ganz einfach ein Hund“. „Ein äußerst einfacher Hund“, wie unbarmherzige Leute zu bemerken pflegten. Gewiß, Monday sah nicht gerade überwältigend aus. Schwarze Flecken verteilten sich, wild verstreut, auf seinem gelben, mageren Fell. Einer davon saß direkt auf seinem Auge. Seine Ohren sahen aus wie ausgefranst. Ein Schmuckstück war er wirklich nicht. Aber er besaß eine gute Gabe. Er wußte, daß nicht alle Hunde hübsch oder ausdrucksvoll oder siegreich sein konnten, aber er wußte, daß alle Hunde lieben konnten. So reizlos sein Äußeres war, hatte er doch das gütigste, treueste und ehrlichste Herz, das je ein Hund besessen hat. Und er hatte die seelenvollsten Augen, die man sich denken kann. Jeder auf Ingleside mochte ihn, sogar Susan, auch wenn seine Vorliebe, sich ins Gästezimmer zu schleichen, um dort auf dem Bett sein Schläfchen zu halten, ihre Zuneigung empfindlich auf die Probe stellte.

An diesem Nachmittag saß Rilla im Garten und brauchte sich um nichts zu sorgen.

„War es nicht ein wunderschöner Juni?“ sagte sie und blickte verträumt in die Ferne, wo kleine silberne Wölkchen friedlich über dem Regenbogental hingen. „Wir haben soviel Spaß gehabt. Und so schönes Wetter. Es war einfach alles wunderschön.“