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Längst hat das Corona-Virus seinen Schrecken verloren. Da beginnt sich eine neue Variante zu verbreiten, tödlich für diejenigen, die sich mit einem bestimmten Wirkstoff impfen ließen. Während die Gesellschaft droht, an der erneuten Pandemie-Panik zu zerbrechen, forscht das für den Wirkstoff verantwortliche Unternehmen mit Hochdruck an einer Lösung. Der skrupellose Forschungsleiter Dr. Ivan Borag lässt Geimpfte entführen, um sie vor einer Infektion zu bewahren. Sein junger Assistent Alexander Densky, beauftragt mit der Organisation der „Unternehmung“, gerät dabei zusehends in ein moralisches Dilemma, da Dr. Borag den Tod der Probanden einkalkuliert hat. Unter den wachsamen Augen schwerbewaffneter Söldner lernt Alexander, wie schnell die Grenze zwischen Richtig und Falsch verwischt. Gleichzeitig ist Frank verzweifelt auf der Suche nach seiner Ehefrau, die vor seinen Augen von Vermummten entführt wurde. Im Chaos des nächsten Lockdowns führt ihn eine Spur zu einem Lastwagen voller Leichen und einem kooperativen Insider, der ihm die Rettung seiner Frau in Aussicht stellt. Doch die Rettung entpuppt sich als lebensgefährliches Unterfangen, dass sich für Frank und seine Mitstreiter als tödlich erweisen könnte. Ein Roman für alle, die eine spannungsgeladene Handlung zu schätzen wissen.
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Veröffentlichungsjahr: 2023
Roman
Thies Schuster
© Copyright Thies Schuster
Boeselagerstr. 13, D-56410 Montabaur
1., überarbeitete Auflage - November 2023 - v1.4
ISBN: 978-3-75795-687-5
Dieses Werk ist urheberrechtlich geschützt.
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Epilog
»Es ist kurz vor acht, schalt doch schon mal ein«, rief Nicole aus der Küche. Die Sonne war bereits untergegangen. Die Temperatur mäandrierte um den Gefrierpunkt, ein steter Nieselregen drückte auf die Stimmung. Ein typischer Wintertag, den die Begünstigten vor dem prasselnden Kaminfeuer verbrachten, und die große Mehrheit, zu der Nicole und ihr Mann Frank gehörten, mit heißem Tee auf dem Sofa. Frank warf einen Blick auf die Uhr. Verwundert runzelte er die Stirn. Er hatte nicht bemerkt, wie spät es war, so sehr hatte ihn dieser Zeitungsartikel gefesselt. Er las eine Analyse zu einem Thema, welches seit kurzer Zeit die Nachrichten dominierte. Schon wieder. Wie so oft gab es mehr als eine plausibel klingende Theorie, eine ganze Reihe von Spekulationen und noch viel mehr unbeantwortete Fragen. Während er die Zeitung auf die Kommode neben der Couch legte, antwortete er seiner Frau:
»Natürlich!«
Und mehr zu sich selbst meinte er:
»Aber ob sie heute mehr wissen, ist unwahrscheinlich.«
Dann beugte er sich ächzend vor, eigentlich nur eine Angewohnheit, denn so anstrengend war das nun wirklich nicht, und griff nach den beiden Fernbedienungen. Mit der Kleineren schaltete er die Steckdosenleiste hinter der TV-Bank ein. Der Bequemlichkeit einer einzigen Fernbedienung wollte er aus Sparsamkeit einfach nicht verfallen. Im Standby fräßen die Geräte immer so viel Strom, und der würde sowieso jedes Jahr teurer, wurde Frank nicht müde zu wiederholen. Mit der großen Fernbedienung schaltete er den alten Fernseher ein, wählte die ARD und erhöhte die Lautstärke.
»Genau rechtzeitig!«, freute sich Frank.
In diesem Moment kam Nicole ins Wohnzimmer, in den Händen ein Tablett, auf dem zwei Tassen dampfender Tee einen wohligen Duft nach Spekulatius und Bratapfel verbreiteten. Sie stellte alles auf den Couchtisch und setzte sich zu ihrem Mann. Frank bedankte sich, griff nach seiner Tasse und pustete hinein, während die allzu bekannte Fanfare als Einspieler ertönte.
Hier ist das Erste Deutsche Fernsehen mit der Tagesschau. Heute im Studio Julia Krumm, schallte es aus dem Lautsprecher.
»Hallo Julia«, sagte Nicole lächelnd.
Auch Frank musste daraufhin schmunzeln. Dies war eine ihrer Angewohnheiten, die er in den vierzehn Jahren ihrer Ehe liebgewonnen hatte: Der Hauptsprecher oder die Hauptsprecherin wurde immer mit Vornamen begrüßt.
KRUMM:
Guten Abend meine Damen und Herren. Die erneute Gesundheitskrise weitet sich aus. Nach übereinstimmenden Forschungsberichten steht Deutschland erneut vor einer Infektionswelle einer neuen Art von Coronavirus, welches vor allem bei bereits geimpften Menschen zu einer tödlichen Immunreaktion führt. Bei diesem Erreger handelt es sich um eine vor zwei Wochen entdeckte Unterart des SARS-CoV-2 Virus, welches für den weltweiten Ausbruch von COVID-19 in den Jahren 2019 bis 2022 verantwortlich war. Das neue Virus trägt die Bezeichnung SARS-CoV-3. Vor vier Tagen wurden die ersten Todesfälle in Deutschland registriert, die nachweislich durch eine Infektion mit SARS-CoV-3 verursacht wurden. Inzwischen berichten Krankenhäuser und Gesundheitsämter von einer stark gestiegenen Sterblichkeit in ganz Deutschland. Für heute wurden den Gesundheitsämtern insgesamt sechstausendundzwölf Todesfälle gemeldet, die nachweislich mit dem neuen Virus im Zusammenhang stehen. Damit liegt die Gesamtzahl der Opfer bei vierzehntausendzweihundertundfünf. Auch aus dem Ausland kommen Meldungen von außergewöhnlich vielen Todesfällen. In einer Dringlichkeitssitzung hat die Bundesregierung den nationalen Gesundheitsnotstand ausgerufen und den entsprechenden Notfallplan aktiviert, um eine weitere Ausbreitung einzudämmen. Die zu erwartenden Maßnahmen sind strenger als jene in den Jahren 2020 und 2021 verhängten Einschränkungen. Konkret wurde eine generelle Ausgangssperre angekündigt. Aufenthalte im Freien sind demnach nur Berufstätigen gestattet. Eine allgemeine Maskenpflicht wird wieder eingeführt. Demnach ist eine Mund-Nasen-Maske im Freien, sowie in öffentlichen Gebäuden zu tragen. Schulen und Kindergärten werden geschlossen und der Präsenzunterricht wird ausgesetzt. Stattdessen wird nach Möglichkeit virtuell unterrichtet. Die Maßnahmen treten am Dienstag in Kraft. Weiterhin hat Bundesgesundheitsminister Linus Flachberg heute ein Forschungsergebnis vorgestellt, dass den Zusammenhang zwischen einer Corona-Schutzimpfung mit dem Impfstoff CoVVAC der Deutschen Firma ImmoPlus und der tödlichen Immunreaktion des neu entdeckten Virus bestätigt.
FLACHBERG:
Die Ergebnisse weisen eindeutig darauf hin, dass eine unvorhersehbare Komplikation für Menschen, die seit zwanzigzwanzig mit dem Präparat CoVVAC gegen COVID-19 geimpft wurden bei einer Infektion mit SARS-CoV-3 zum Tod führt. Momentan laufen Tests zur Inkubationszeit und zum Übertragungspotential von SARS-CoV-3. Wie soeben auf der Bundespressekonferenz verkündet, trifft die Bundesregierung umgehend Maßnahmen zum Schutz der Gesundheit und des Lebens aller Mitbürgerinnen und Mitbürger.
KRUMM:
Die Auslieferung und Verabreichung des Impfstoffs wurden mit sofortiger Wirkung gestoppt. Der Hersteller sagte vollständige Kooperation mit Gesundheitsämtern und dem Robert-Koch-Institut zu. In einem internen Papier des Gesundheitsministeriums, das der ARD vorliegt, wurde prognostiziert, dass mit Todesfällen im Millionenbereich zu rechnen ist, falls es nicht gelänge, die Verbreitung des neuen Virus einzudämmen. Bundeskanzler Fischer hat in einer Videobotschaft alle Bürgerinnen und Bürger dazu aufgerufen, Ruhe zu bewahren und sich an die Maßnahmen zu halten.
FISCHER:
Meine Damen und Herren, ja, Corona ist wieder da. Wir alle erinnern uns noch an die außergewöhnlichen Einschnitte in unsere Freiheiten, die wir alle erdulden mussten. Und ich möchte auch daran erinnern, dass wir damit Corona besiegt haben. Wir haben es geschafft, und wir können es wieder schaffen. Das vor wenigen Tagen identifizierte Virus bringt ohne Zweifel einen Großteil unserer Mitbürgerinnen und Mitbürger in Lebensgefahr. Und mich übrigens auch. Deswegen meine Bitte: Bleiben sie zu Hause! Seien sie vernünftig. Helfen sie mit, diese Notlage schnell zu überwinden.
KRUMM:
Der Bundestagsabgeordnete Wilfried Wagner ist tot. Am Nachmittag verstarb Wagner während einer Ausschusssitzung im Bundestag. Wegen des Verdachts auf eine Infektion mit SARS-CoV-3 wurde ein Teil des Reichstagsgebäudes geräumt, und alle Kontaktpersonen unter häusliche Quarantäne gestellt. Dazu aus Berlin Lilli Geigenmacher.
GEIGENMACHER:
Kurz nach Beginn der Sitzung des Innenausschusses begann Wagner zu husten und brach dann zusammen, so beschreiben es Augenzeugen. Auch ein sofort herbeigerufener Notarzt kann Wagners Leben nicht retten. Die Sitzung wird abgebrochen, doch die geschockten Abgeordneten dürfen den Saal erst verlassen, als die Feuerwehr eine Dekontaminationsschleuse errichtet hat. Wagner ist der erste Bundestagsabgeordnete, der, so wie es den Anschein hat, einer neuen Variante des Coronavirus zum Opfer fällt. Beinahe jedes Mitglied der Bundesregierung hatte sich in der Vergangenheit impfen lassen, die Allermeisten mit dem Mittel der Deutschen Firma ImmoPlus, da es als erstes Präparat die Zulassung erhielt und seit Anfang 2021 in ganz Deutschland verabreicht wird. Das Bundeskanzleramt ist bemüht, die aufkeimende Panik in der Bundesregierung schnellstmöglich zu beenden. Falls sich die Befürchtungen der Gesundheitsexperten jedoch bewahrheiten, stehen Deutschland, Europa und wahrscheinlich der Rest der Welt vor einer Herausforderung epischen Ausmaßes.
KRUMM:
Zum Thema folgt ein ARD extra mit Christian Nitsche im Anschluss an die Tagesschau. Das für Sonntag geplante Spiel zwischen dem FC Bayern München und Werder Bremen wurde nach zwei Todesfällen bei beiden Mannschaften abgesagt. Der DFB veröffentlichte eine Pressemitteilung, nach der mit sofortiger Wirkung der gesamte Ligabetrieb eingestellt wird. Die Gesundheit der Spieler, Mitarbeiter und Fans stehe an erster Stelle, teilte DFB-Vizepräsident Koch mit. Und nun die Wettervorhersage für morgen, Sonntag, den dreiundzwanzigsten Februar. Frank hörte nicht mehr hin. Die Worte hallten in seinem Kopf nach.
Todesfälle.
CoVVAC.
Ausgangssperre.
Opfer.
»Schatz?«
In den vergangenen Tagen hatte es zwar besorgniserregende Berichte gegeben, aber was sie gerade gehört und gesehen hatten, war einfach unglaublich.
»Frank!«
Er spürte einen leichten Stoß in die Seite und realisierte, dass Nicole ihn angesprochen hatte. Leicht den Kopf schüttelnd, als könnte er damit die dunklen Gedanken vertreiben, wandte er sich seiner Frau zu. Nicole war kreidebleich, ihre mandelbraunen Augen, umrahmt von ihrem schwarzen Haar, durch das sich langsam die ersten silbernen Strähnen einen Weg bahnten, waren weit aufgerissenen. Er erkannte die Furcht in diesen Augen.
»Was bedeutet das?«, fragte Nicole mit zittriger Stimme.
Als Frank zu einer Antwort ansetzte bemerkte er, wie trocken sein Hals geworden war, und musste husten, was seine Frau nur noch mehr beunruhigte. Er winkte beschwichtigend und antwortete:
»Ich weiß es nicht. Aber wenn das wirklich stimmt, stehen uns einige harte Tage bevor.«
Zitternd griff er nach der Fernbedienung und schaltete den Fernseher stumm. Was blieb war das Ticken der Porzellantelleruhr mit Stillleben an der Wohnzimmerwand. Die letzten Reste der Weihnachtsdekoration hatte Nicole vor wenigen Tagen auf dem Regal im Abstellraum verstaut. Frank würde ein bestimmtes Accessoire nicht vermissen. Nicole hatte dieses Plastikdiorama einer Lebkuchenhütte im Winterwald mit Schneemann und Rentierschlitten bei Thomas Philipps gefunden. Frank fand es furchtbar kitschig und zu allem Überfluss dudelte es auch noch »Jingle Bells« in penetranter Lautstärke. Nun hatte er ein Dreivierteljahr Ruhe vor diesem Ding.
»Müssen wir uns Sorgen machen?«, wollte Nicole wissen.
»Ich… ich weiß es nicht«, musste Frank zugeben, »Lass uns mal noch diese Extra-Sendung ansehen. Vielleicht ist es ja doch gar nicht so schlimm.«
»Aber wenn es schon in der Tagesschau kommt? Und sogar Fischer die Zähne auseinanderbekommt? Du weißt doch, wie der ist. Wenn der plötzlich seine Stimme verloren hätte, würde man es ein halbes Jahr nicht bemerken, weil er so maulfaul ist.«
Frank musste schmunzeln. Er wusste, wie wenig Begeisterung seine Frau für Bundeskanzler Fischer übrighatte. Und er musste zugeben, dass ihre Kritik berechtigt war. Fischer tat wirklich selten öffentlich seine Meinung kund. Vor diesem Hintergrund war es in der Tat bemerkenswert, dass sich der Kanzler zu diesem Thema geäußert hatte. Und dann die Aktivierung eines Notfallplans. Das Lächeln war inzwischen aus seinem Gesicht gewichen. Voll Sorge schaltete Frank den Ton wieder ein, als die nächste Sendung startete.
Zwei Wochen zuvor.
Dr. Al-Jazeem hob seinen Blick vom Laborbericht, der vor ihm auf dem Konferenztisch lag und fixierte seinen Leiter für Forschung und Entwicklung.
»Dr. Borag, ich bin mir nicht sicher, ob ich das hier richtig verstehe. Können sie das erläutern?«, forderte er den Kollegen auf der linken Seite des Tisches auf.
Schweigen breitete sich im Konferenzraum aus. Erwartungsvoll hob Usman Al-Jazeem die Augenbrauen. Ein Amalgam aus diversen herben, sehr teuren Rasierwassern lag in der Luft. Dazwischen eine blumige Note, sicher von Frau Marin-Baumann, der Leiterin für Marketing und Public Relations. Al-Jazeem nahm es nur unterbewusst wahr, jedoch steigerte es seine Unzufriedenheit, hatten die versammelten Herren und die Dame doch sonst außer Floskeln nichts Konstruktives beigetragen. Dr. Borag kam der Aufforderung umgehend nach und erläuterte:
»Wir haben innerhalb der letzten Tage intensive Tests durchgeführt, und die Ergebnisse sind eindeutig.«
Die nun folgende Pause war genau in seinen Vortrag eingeplant, denn Dr. Borag war sich um die Wirkung seiner Worte wohl bewusst.
Ivan Borag, 54 Jahre alt, Doktor der Medizin, kasachischer Abstammung, geschieden, zwei Kinder, zu denen er formalen Kontakt pflegte. Er hatte die ImmoPlus AG vor etwas mehr als fünf Jahren beinahe im Alleingang zu Ruhm geführt und ihre Angestellten, Investoren und ganz besonders die Führungsriege reich gemacht. Als Hauptverantwortlicher für die Entwicklung des ersten in Europa zugelassenen Impfstoffes gegen COVID-19, damals, auf dem Höhepunkt der Pandemie, hätte der Ruhm eigentlich ihm gebühren müssen. Jedoch war Dr. Al-Jazeem das Gesicht der Firma, und in der öffentlichen Wahrnehmung galt deswegen er und nicht Dr. Borag als der Retter, und auch die Fachwelt schoss sich auf den Gründer und Geschäftsführer ein. Ivan Borag hatte es ertragen, denn er war sich sicher, dass seine Zeit kommen würde. Wie die Entwicklung des Vakzins gegen das Coronavirus überließ Dr. Borag nichts dem Zufall. Entsprechend hatte er auch seine Ausführungen für die heutige außerordentliche Sitzung geplant. Mit fester Stimme fuhr er fort:
»Wir stellen bei allen Testreihen mit immunisierten Probanden bei Infektion mit SARS-CoV-3 das gleiche Ergebnis fest. Durch die Immunisierung mit CoVVAC tritt in allen Fällen ein tödlicher Immunschock ein.«
»Sie testen an Menschen?«, unterbrach ihn einer der Teilnehmer fassungslos.
»Nein, wir verwenden wie üblich Nerze. Deren Immunreaktion deckt sich mit unserer weitestgehend. Die alarmierenden Fakten geben uns recht. Leider sind wir bislang weder in der Lage, durch eine Modifikation des Impfpräparats den Verlauf zu ändern, noch durch Medikation die Fatalität zu verhindern, geschweige denn zu reduzieren.«
»Können Sie eine Prognose abgeben?«, wollte Dr. Al-Jazeem wissen.
»Ja und nein. Für die Entwicklung von CoVVAC benötigten wir etwa ein Jahr, wie sie wissen. Für einen neuen Impfstoff würden wir theoretisch nur halb so lange benötigen. Praktisch ist es jedoch unmöglich, die Entwicklungsdauer in diesem Moment abzuschätzen«, führte Dr. Borag weiter aus.
Dr. Al-Jazeem blickte in die Runde.
»Und woran liegt das? Fehlen ihnen die Mittel?«
Der CFO machte ein zweifelndes Gesicht, wissend, dass ImmoPlus über beträchtliche Liquidität verfügen konnte, auch kurzfristig.
»Nein, Geld ist natürlich nicht das Problem«, erläuterte Dr. Borag, »aber Sie müssen sich alle bewusst machen, was gerade um uns herum passiert, und was in Kürze passieren wird: Seit Anfang zweitausendzwanzig wurden in Deutschland allein etwa achtundvierzig Millionen Menschen mit CoVVAC geimpft. Sie erinnern sich sicher noch an die Empfehlungen der Ständigen Impfkommission, denen die Bundesregierung weitestgehend gefolgt ist: Personal im Gesundheitswesen, in der Pflege, Lehrer, Erzieher, Polizei, Politik. Das waren, neben älteren Menschen, die Prioritätsgruppen bei der Impfung. Falls das neue Coronavirus eine vergleichbare Übertragungsrate wie SARS-CoV-2 aufweist, und genau danach sieht es momentan aus, werden die allermeisten Todesfälle in den Berufsgruppen auftreten, die für die Bekämpfung der neuen Welle und für die Wahrung der gesellschaftlichen Stabilität unerlässlich sind. Und für die Entwicklung eines Impfstoffes brauchen wir schließlich mehr als nur Geld. Wir brauchen Ressourcen und Material, und allem voran natürlich Mitarbeiter.«
Erkenntnis blitzte in den Augen einiger Teilnehmer auf. Frau Marin-Baumann führte die Hand zum Mund und erstickte damit ein »Oh Gott«. Emotionslos setzte er zum makabren Finale seines Vortrags an:
»Fast alle unserer Mitarbeiter sind CoVVAC-geimpft. Jeder einzelne von uns ebenfalls. Sie kennen doch sicher das ein oder andere apokalyptische Szenario. Sie können sich vorstellen, wie es hier in wenigen Wochen aussehen wird, wenn unser Präparat für zweiundvierzig Millionen Todesfälle verantwortlich gemacht wird. Wenn wir dann überhaupt noch leben. Wer auch immer dann noch übrig ist, wird von uns nichts übriglassen.«
Das hatte gesessen. Sekundenlang herrschte Stille im Raum, während sich die Anwesenden individuell in Gedanken den drohenden Horror ausmalten. Es war kurz vor zwölf Uhr mittags. Üblicherweise wurden Sitzungen der Firmenleitung mit einem gemeinsamen Essen beschlossen. Dazu würde es heute sicherlich nicht kommen. Da kurzfristig zu dieser außerordentlichen Dringlichkeitssitzung eingeladen wurde, gab es an der Rückwand des technisch vorzüglich ausgestatteten Konferenzraums nur Kaffee in Kannen und dänisches Gebäck. Niemand hatte auch nur irgend etwas davon angerührt. Dr. Al-Jazeem fragte mit belegter Stimme:
»Und was können wir tun?«
Die Antwort von Dr. Borag folgte prompt:
»Mein Team hat einen Vorschlag ausgearbeitet.«
Seine schonungslose Offenheit hatte ihre Wirkung nicht verfehlt. Nun würde er leichtes Spiel haben, den Ton anzugeben. Schließlich hatte er als einziger einen realistischen Plan, mit dem man die Kontrolle behalten konnte. Zumindest glaubte er, die Ereignisse kontrollieren zu können.
»Unser kurzfristiges Ziel muss sein zu entscheiden, ob wir den bestehenden Impfstoff modifizieren, um die Letalität zu verhindern oder ob wir sofort mit der Entwicklung eines Impfstoffes gegen SARS-CoV-3 beginnen. Um beide Ansätze parallel zu verfolgen, fehlen uns bereits jetzt die Ressourcen, also müssen wir priorisieren. Mein Team schätzt, dass die Durchführung und Auswertung der notwendigen Testreihen mindestens zwei Wochen Zeit in Anspruch nehmen wird. Im Anschluss daran erfolgt dann die Erforschung des Wirkstoffes nach dem bekannten Muster. Sechs bis acht Monate werden wir mindestens benötigen, bevor wir mit den ersten Humantests beginnen können. Wir müssen also unser Forschungsteam isolieren, und während der gesamten Projektphase mit allem Notwendigen versorgen. Das bedeutet Strom, Nahrung, Forschungsmaterial, Unterkunft, Sicherheit und weiteres. Der Bericht enthält eine Liste im Anhang.«
Er machte eine auffordernde Handbewegung in Richtung Dr. Al-Jazeem.
»Als ersten Schritt sehe ich natürlich die sofortige Zusammenführung des gesamten Forschungsteams und die Verbringung an einen sicheren sowie geeigneten Ort. Hier erwarten wir bereits die ersten Herausforderungen.«
»Welcher Art?«, unterbrach ihn Dr. Al-Jazeem knapp.
Dr. Borag richtete seinen Blick fest auf Dr. Al-Jazeem.
»Wir werden bei manchen der Teammitglieder wahrscheinlich Zwang anwenden müssen. Nicht jeder wird im Angesicht einer apokalyptischen Situation seiner Arbeitsverantwortung die höchste Priorität zugestehen.«
Gabriel Karr, Leiter der Abteilung Human Resources & Talent Acquisition polterte dazwischen:
»Haben sie den Verstand verloren? Wollen Sie ernsthaft ihre eigenen Mitarbeiter entführen und in einem Arbeitslager einsperren?«
Eine solche Reaktion hatte Dr. Borag erwartet. Für ihn war Karr ein Paragraphenreiter, noch viel ätzender als diese Sturköpfe aus der Rechtsabteilung. Schon früher waren sie aneinandergeraten, üblicherweise ging es dabei um ‚Unregelmäßigkeiten bei den Wochenarbeitszeiten‘, wie Karr sich auszudrücken pflegte. Dr. Borag war sich deswegen keiner Schuld bewusst; er gab seinen Mitarbeitern nur die Ziele vor, und die waren schon immer ausgesprochen ambitioniert gewesen. Wie diese erreicht wurden, und ob dabei vielleicht die ein oder andere Überstunde zu viel geleistet wurde, war die Entscheidung jedes Einzelnen. Außerdem musste jedem klar sein, dass außergewöhnliche Ergebnisse nur mit außergewöhnlicher Leistung erreicht wurden, und dass Zuckerbrot und Peitsche (viel, viel Peitsche) erstaunliche Multiplikatoren waren. Mit eiskaltem Blick fixierte Dr. Borag seinen Kollegen und erwiderte ruhig:
»Sie scheinen noch nicht begriffen zu haben, dass mein Team im Moment ihre einzige Chance auf Überleben ist. Arbeitsrechtliche Bedenken sind unangebracht. In Kürze wird es sowieso kaum noch Anwälte oder Richter geben, die sich damit befassen würden.«
Noch gab sich Gabriel Karr jedoch nicht geschlagen.
»Das kann doch nicht unsere einzige Option sein! Dr. Al-Jazeem, das dürfen Sie nicht zulassen!«
Usman Al-Jazeem hob beschwichtigend die Hand. Jetzt galt es, den Zusammenhalt zu wahren. Für den Moment jedenfalls mussten sie alle an einem Strang ziehen. Auf Karrs Unterstützung verzichten zu müssen würde die Durchführung des Plans zwar nicht verhindern, aber doch erschweren.
»Kollegen, ich bitte Sie«, begann er, »Wir können uns unserer Verantwortung nicht entziehen. Ich weiß, dass Sie das alle genauso sehen. Eine übermenschliche Kraftanstrengung liegt vor uns. Wir könnten die nächsten Tage darüber diskutieren, was richtig und was falsch ist, was rechtlich und moralisch vertretbar ist, und würden damit der Lösung keinen Schritt näherkommen. Also werden wir nicht das tun was richtig ist, sondern das, was notwendig ist. Und notwendig ist, dass wir ein Mittel zur Rettung von Menschenleben finden. Millionen Menschenleben. Das sind wir der Welt schuldig. Seien Sie sich dessen bewusst.«
Er ließ einen Moment verstreichen damit seine Worte wirken konnten.
»Dr. Borag, ich gebe ihnen volle Handlungsfreiheit. Nutzen sie alle Ressourcen, die sie brauchen. Bis heute Abend erhalte ich von ihnen einen genauen Plan über die unmittelbaren nächsten Schritte. Diesen Plan besprechen wir alle um einundzwanzig Uhr gemeinsam und beginnen unverzüglich mit der Ausführung.«
Nachdem das ARD extra vorbei war, schaltete Frank den Fernseher aus. Für einen Moment wurde es ruhig. Das Ticken der Uhr wurde untermalt vom gleichmäßigen Rauschen der Spülmaschine aus der Küche. Vom Flur, gedämpft durch die Haustür, klangen Schritte im Treppenhaus. Man hörte die Eingangstür im Erdgeschoss ins Schloss fallen. Über Frank und Nicole wohnte eine junge Frau, Claudia, und die hielt es samstagabends für gewöhnlich nicht lange in ihrer Wohnung aus. Frank dachte darüber nach, dass Claudia sich möglicherweise heute Nacht infizieren würde, und dass sie sicher ebenfalls geimpft war, und dass sie wohl dem Tagesgeschehen nur auf diesen Social Media Plattformen folgen würde. Ob sie wusste, dass sie sich in Lebensgefahr begab?
Als die großflächigen Impfkampagnen im Jahr zweitausendeinundzwanzig Wirkung zeigten, wurden die Maßnahmen zum Infektionsschutz nach und nach aufgehoben. Längst war wieder Normalität in den Alltag eingekehrt. Der Absatz an Mund-Nasen-Masken und Desinfektionsmittel hatte wieder Vorkrisenniveau erreicht. Die Wenigsten hatten überhaupt noch Masken im Haus. Ein neuer Bundestag war gewählt worden. Der vorherige Gesundheitsminister Jan Keil, zunächst gepriesen für seine Kompetenz während des Ausbruchs der Coronavirus-Pandemie, leistete sich Patzer, die ihn schlussendlich die Kanzlerkandidatur kosteten. Frank war stolz darauf, mit seiner Stimme einen Beitrag zum Wahlsieg der SPD geleistet zu haben. Die deutlichen Verluste, die die CDU hinnehmen musste, hatten ihn mit Schadenfreude erfüllt. Die CDU, das war für ihn eine Bonzenpartei, für die Privilegierten, zu denen Frank nun mal nicht gehörte. Weil es zur absoluten Mehrheit dann doch nicht gereicht hatte, war die SPD eine Koalition mit den Grünen eingegangen, die dank eines unerhörten Stimmenzuwachses mutig nach Prestigeposten gegriffen hatten. Die FDP war zwar auch an Bord des Koalitionsdampfers, aber weder auf der Brücke am Steuer noch im Maschinenraum an den Motoren zu finden. Sie hatten sich, metaphorisch gesprochen, in die Kombüse verdrängen lassen. Man bekam sie fast nie zu sehen, aber sie sorgten dafür, dass die Koalitionspartner nicht verhungerten. Aber eine Legislaturperiode ist schnell vorbei und dieses Jahr stand schon wieder eine Bundestagswahl an. Frank war sich jedoch nicht sicher, ob inmitten eines erneuten Ausbruchs gewählt werden würde.
Seine Frau unterbrach seine Gedanken:
»Was bedeutet das alles jetzt für uns?«
Frank blickte sie an, während er das Gehörte nochmal zusammenfasste:
»Also, wenn das wirklich stimmt, was sie sagen, dann müssen wir uns gut in Acht nehmen. Wenn wir uns mit dem neuen Virus anstecken, werden wir wahrscheinlich sterben. Wir sind beide mit diesem Zeug geimpft worden, wie hieß das noch gleich…?«
»CoVVAC, haben sie gesagt«, warf Nicole ein.
»Ja richtig, CoVVAC. Kannst du dich noch erinnern? Die Firma, die das herstellt, ist ja gleich um die Ecke. Wir sind damals hingegangen. Die hatten so ein Zelt vor dem Gebäude aufgestellt mit einer Impfstraße.«
Sein Gesicht verfinsterte sich, als er sagte:
»Am liebsten würde ich rüber gehen und den Laden in Brand stecken!«
»Ach, red‘ doch nicht so einen Unsinn. Das konnte doch keiner wissen!«, unterbrach ihn Nicole.
»Du hast ja recht. Aber es gibt genug Leute, die nicht so besonnen sind wie du. Es würde mich nicht wundern, wenn jetzt schon eine Menschenmenge vor deren Tür steht und den Kopf des Chefs fordert. Das ist so ein kleines Hochhaus mit nicht wenigen Stockwerken. Wenn die Leute ins Gebäude eindringen, werden sie sicher die Geschäftsleitung defenestrieren. Das wird ohne Zweifel ein höllisches Event für den versammelten Mob. Dabei könnte es gut sein, dass die da drinnen jetzt schon an einem Gegenmittel arbeiten. Sag, haben die eben eigentlich gesagt, wie schnell man sich ansteckt?«
Frank war ein wenig stolz. Die kürzliche Ausstrahlung einer Dokumentation über den Prager Fenstersturz hatte ihn ein neues Wort gelehrt. In wenigen Tagen würde er es bereits wieder vergessen haben.
»Nein, ich glaube das wird gerade geprüft.«
»Aber es scheint schnell zu gehen,« sagte Frank mehr zu sich selbst, »denn, wenn sie jetzt schon zwölf- nein, wie viele Menschen sind schon gestorben?«
Nicole überlegte kurz, sagte dann:
»Über vierzehntausend Tote in den letzten Tagen.«
»Richtig!«, setzte Frank seine Überlegung fort, »Stell dir das mal vor. Eine Kleinstadt voll Tote. Das neue Virus muss also extrem ansteckend sein, sonst würden doch nicht so schnell so viele Leute sterben. Wir haben also nur eine Wahl: Wir dürfen uns nicht anstecken! Haben wir noch irgendwelche Masken von der ersten Welle?«
Nicole stand auf, ging in Richtung Abstellkammer und erwiderte über die Schulter:
»Ja, ich glaube wir haben noch welche aus Stoff hier irgendwo. Die hatte ich vor Kurzem noch in der Hand.«
Ihre Stimme wurde leiser, als sie durch die Tür zum Flur das Wohnzimmer verließ und nach rechts in der Abstellkammer verschwand. Nun sprach sie zu den Regalen, und Frank hörte nur noch Gemurmel, das wie ‚wo hab‘ ich euch bloß hin gepackt?‘ klang. Einen Moment später ertönte ein triumphales ‚Aha!‘. Nicole kehrte grinsend mit drei Stoffmasken in der Hand ins Wohnzimmer zurück. Es waren solche, die man im Nacken zusammenbinden musste.
»Ich wusste wir haben noch welche!«, sagte sie stolz.
Frank nickte und setzte seine Überlegungen laut fort:
»Gut, das ist zumindest etwas. Aber ich glaube diese Stoffmasken waren nicht so sicher wie echte Schutzmasken. Die bekam man am Anfang nur in der Apotheke, aber am Ende praktisch überall.«
Er stand von der Couch auf und ging zur Kommode.
»Am besten schreiben wir alles auf, damit wir nichts Wichtiges vergessen«, sagte er, während er die oberste Schublade öffnete und darin zu kramen begann.
Zwischen Teelichtern, Taschentücherpackungen, dem Abfallkalender und einem unvollständigen Skatblatt fand er den gesuchten Schreibblock, auf dem noch die Ergebnisse der letzten Partie Kniffel standen. Nicole hatte wirklich unverschämtes Würfelglück gehabt, und ihren Sieg dermaßen ausgekostet, dass Frank fürs Erste die Lust am Spielen verloren hatte. Aus einer anderen Schublade fischte er noch einen blauen Kugelschreiber, setzte sich damit wieder neben Nicole auf die Couch und sagte:
»Ok, jetzt lass uns mal überlegen, wie wir am Leben bleiben.«
Er hatte die Situation mit etwas Humor ein wenig auflockern wollen, aber empfand das noch im selben Moment als völlig unangebracht. Glücklicherweise störte sich Nicole diesmal nicht daran.
»Beim ersten Ausbruch«, sagte Nicole, »hatten wir mehrere Lockdowns. Und jetzt haben sie ab Dienstag eine Ausgangssperre angekündigt. Das lässt uns nur den Montag, um einzukaufen.«
»Richtig! Dazu bestimmt noch weitere, härtere Maßnahmen als bei der zweiten Welle von Corona. Die Leute sind einfach unvernünftig. Da kannst du noch so lange appellieren, man soll sich doch bitte nicht mit Anderen treffen und nur für das zwingend Notwendige rausgehen. Es gibt genug Idioten, denen das völlig egal ist, und die dann die Infektionszahlen nach oben treiben.«
Frank ließ die Ereignisse des globalen Ausbruchs vor fünf Jahren noch einmal Revue passieren. Damals traten die ersten Fälle in China auf, in der Stadt Wuhan. Das SARS-CoV-2-Virus traf die Menschheit völlig unvorbereitet. Obwohl immer wieder neue Stämme von Erregern durch Mutationen entstehen, war eine Pandemie dieser Heftigkeit für viele unvorstellbar gewesen. Spekulationen hielten sich hartnäckig, das Virus sei in einem geheimen Labor gezüchtet worden und nach dem Vorbild von Raccoon City hatten Vorsatz oder Fahrlässigkeit zu einer Freisetzung geführt. Stichhaltige Beweise dafür konnten bislang nicht vorgelegt werden, jedoch nährte die Zurückhaltung der chinesischen Regierung, bei der Aufklärung zu helfen, die Skepsis an der offiziellen Erklärung: Das Virus sei wahrscheinlich von Fledermäusen über mindestens einen Zwischenwirt auf dem Menschen übertragen worden.
Weil die Gefährlichkeit zu Anfang nicht bekannt sein konnte, gelang der chinesischen Regierung die Eindämmung der Epidemie nicht. Infektionen wurden auf dem gesamten Globus registriert. Es dauerte nur wenige Wochen, bis die ersten Erkrankungen in Deutschland auftraten. Die Jecken starteten in die Karnevalssaison, und Sitzungen und Veranstaltungen trugen zur Entstehung örtlicher Infektionsherde bei. Auch Urlaubsrückkehrer schleppten die Infektion ein und gaben sie an Familienangehörige und Kollegen weiter. Die Bundesregierung gab sich grüßte Mühe, der Ausbreitung Herr zu werden. Durch Isolation der Infizierten wurde die Eindämmung versucht, blieb letztendlich jedoch erfolglos, da die Geschwindigkeit der Ausbreitung zunahm. Es folgte die Verordnung einschneidender Maßnahmen, beginnend mit einer Maskenpflicht. Die Kosten für Atemschutzmasken schnellten in die Höhe und die Bundesregierung sah sich gezwungen, jegliche international angebotenen Vorräte aufzukaufen. Einzelne gelangten so zu unerhörtem Reichtum. Auch die Laborärzte verdienten an den Tests der Proben auf eine Infektion durch eine Meisterleistung an Lobbyismus prächtig. Ultimativ wurden Schulen und Kindergärten geschlossen, sogar der Einzelhandel durfte größtenteils nicht öffnen. Für zahlreiche Unternehmen bedeutete der Umsatzverlust das Ende, trotz finanzieller Hilfen durch die Bundesregierung. Die Tagesschau kannte wochenlang nur ein Thema: das Infektionsgeschehen in Deutschland. Im Frühjahr zwanzigeinundzwanzig lief dann die Impfkampagne an. In Kombination mit den Restriktionen zeigten sich die Infektionszahlen allmählich rückläufig. Über die nächsten Monate gab es noch weitere Wellen, ausgelöst durch neue Virusvarianten. Letztendlich verlor das Virus seinen Schrecken, obwohl einige Varianten für Risikogruppen weiterhin gefährlich blieben. Die panikartige Stimmung in der Regierung und in Teilen der Bevölkerung war verflogen. Die Gesellschaft kehrte zum Alltag zurück. Unzählige Gesetze und Verordnungen waren zur Bekämpfung der Pandemie beschlossen worden. Manche davon wurden aufgehoben, liefen aus oder wurden angepasst. Das Corona-Virus galt schließlich nur noch gemeinhin als saisonaler Infekt vergleichbar mit der Grippe.
»Für wie lange gilt die Ausgangssperre? Und danach? Ist dann wieder alles gut?«
Nicole tat sich schwer damit, die Auswirkungen und Folgen zu begreifen. Frank dachte darüber nach, ob er ihr unhaltbare Versprechungen machen sollte, nur um sie ein wenig zu beruhigen, aber verwarf den Gedanken schnell wieder.
»Mein Schatz, ich weiß es nicht. Wenn es wie bei COVID-19 etwa ein Jahr dauert, bis es ein wirksames Medikament oder einen neuen Impfstoff gibt, dann würden wir vielleicht genauso lange hier in unserer Wohnung eingesperrt sein.«
»Ein ganzes Jahr? Wir haben doch noch nicht mal genug Essen für die nächste Woche im Kühlschrank«, merkte Nicole an.
Das war nur ein Problem von vielen. Frank begann zu schreiben, und gleichzeitig das Geschriebene vorzulesen:
»Vorräte… Getränke… Klopapier! Bis jetzt ist es nur eine übliche Einkaufsliste, aber die bereitet mir bereits Kopfschmerzen. Wir haben gar nicht genug Geld für Essen und Trinken für ein ganzes Jahr. Und wo sollen wir das alles aufbewahren? Unser kleines Kellerabteil ist ja jetzt schon fast voll.«
Während er das sagte, wurde ihm dieses signifikante Problem erst richtig bewusst: Geld. Würden Frank und Nicole überhaupt arbeiten können und Geld verdienen? Während der Corona-Pandemie in zweitausendzwanzig hatten sie beide von zu Hause aus arbeiten können. Damals war die Wirtschaft ordentlich durchgeschüttelt worden, aber letztendlich hatte sie sich schnell erholt. Sie mussten sich zwar arrangieren, besonders wenn sie beide gleichzeitig Telefonate zu führen hatten, aber meistens funktionierte es reibungslos. Frank war als Softwaretester stilles, beinahe monotones Arbeiten gewohnt und hatte nur wenige Gespräche mit seinen Teamkollegen oder Vorgesetzten. Kundengespräche führte er sowieso nie. Nicole arbeitete nur halbtags als Schreibkraft in einem kleinen Logistikunternehmen und hatte ein höheres Telefonvolumen, aber geringeres Arbeitspensum. Ihr Arbeitgeber konnte die Coronakrise nur überstehen, indem er die meisten Mitarbeiter in Kurzarbeit schickte und die staatlichen Rettungsmaßnahmen in Anspruch nahm. Das geringere Monatsgehalt hatten Frank und Nicole sofort gespürt, und für einige Monate auf einen Teil ihres bescheidenen Luxus verzichten müssen.
Wie würde es werden, wenn ihre Arbeitgeber ihnen während und wegen dieser neuen Krise kündigten? Oder vielleicht einfach aufhörten zu existieren? Frank behielt seine Sorgen vorerst für sich; Nicole war sowieso schon ganz verunsichert und sie mussten sich erst um die dringenden Themen kümmern. Er knüpfte an seinen vorherigen Gedankengang an:
»Wir kaufen also erst mal nur für ein paar Wochen ein, um vorbereitet zu sein. Vielleicht wird es ja auch gar nicht so schlimm.«
Sie diskutierten noch ein wenig weiter und einigten sich darauf, dass sie am Montag früh einkaufen würden. Dafür vervollständigten sie sogleich die begonnene Einkaufsliste. Sie würden wie üblich zum nächsten Netto fahren. Frank erwartete dort wie überall einen Ansturm von Panikkäufern, und zugegebenermaßen waren sie beide nichts anderes. Sie würden früh aufstehen müssen. Neben Dosennahrung und anderen haltbaren Lebensmitteln (Nudeln, Reis, Mehl) fanden sich Zahnpasta, Medikamente und ein Kreuzworträtselbuch gegen die Langeweile auf der Liste. Schlussendlich waren beide Teetassen leer, und Nicole und Frank hatten sich gegenseitig hinreichend beruhigt um schlafen gehen zu können. Spät in der Nacht wurde Frank noch einmal kurz wach, als er im stillen Treppenhaus die Haustür ins Schloss fallen hörte. Er nahm es nicht bewusst wahr, und noch weniger konnte er wissen, dass es die junge Frau, Claudia, aus der Wohnung über ihnen war. Claudia, die an diesem Abend einen Begleiter aus der Kneipe mit nach Hause brachte, von dem sie selbst nichts ahnte. Claudia, die den Tod ins Haus brachte.
Zu Dr. Borags Team gehörte neben den Virologen, Immunologen und medizinisch-technischen Assistenten auch sein persönlicher Assistent, Alexander Densky. Densky und Borag arbeiteten bereits seit vielen Jahren zusammen und Dr. Borag hatte Densky von ihrem gemeinsamen vorherigen Arbeitgeber einfach ‚mitgenommen‘. Überzeugungsarbeit war damals nicht nötig gewesen. Densky war das perfekte Werkzeug, das keine unnötigen Fragen stellte, und als sein Meister ihn unmittelbar nach dessen Wechsel zur ImmoPlus AG aufforderte, es ihm gleichzutun, hatte Densky augenblicklich seine Kündigung eingereicht. Dr. Borag wusste, dass er Densky mit jeder Aufgabe betrauen konnte, sei sie noch so ungewöhnlich. Und solche Aufgaben würde es viele in der unmittelbaren Zukunft geben, so viel war sicher. Zuerst galt es, die Forschungsumgebung zu präparieren und ihr Fortbestehen sicherzustellen.
Das Firmengebäude hatte neben den acht Stockwerken über der Erde auch noch eine Tiefgarage sowie drei weitere Kellergeschosse darunter. Diese Keller bestanden zum Großteil aus Lagern, in einer kleinen Anzahl von Räumen war auch noch die Haustechnik untergebracht. Nicht dazu gehörte die IT, denn die hatte den gesamten zweiten Stock zur Verfügung. Dort standen auch einige Server, die von den Forschungsteams genutzt wurden. Auf ihnen lief die Laborsoftware, es wurden Simulationen und Analysen durchgerechnet und die Ergebnisse wurden mehrfach redundant und verschlüsselt auf den Festplatten abgespeichert. Zusätzlich wurden noch mehrere wöchentliche, vollautomatisierte Backups über verschlüsselte VPN-Verbindungen auf Server in Rechenzentren außerhalb des Gebäudes gespielt. Der Forschungsbereich umfasste ganze drei Stockwerke. Für die Entwicklung eines neuen Wirkstoffs würden nicht alle Labore benötigt werden, aber mindestens ein hinreichend ausgestattetes Labor würde im Keller aufgebaut werden müssen.
Unmittelbar nachdem dem von Dr. Borag vorgelegten Detailplan am Samstagabend die Freigabe erteilt worden war, übertrug dieser seinem Assistenten bereits die ersten Aufgaben. Am nächsten Morgen rief Dr. Borag seinen Assistenten auf dessen Mobilnummer an, um den Fortschritt zu erfragen. Alexander Densky meldete sich nach dem zweiten Klingeln:
»Guten Morgen Dr. Borag. Wie kann ich helfen?«
»Densky. Berichten Sie. Ich gehe davon aus, dass Sie erfolgreich waren.«
»Ja, wir haben bereits Fortschritte erzielt«, bestätigte Densky.
»Die temporären Arbeitskräfte sind bereits bei der Arbeit. Noch in der Nacht wurde damit begonnen, einen Zaun um das Gelände zu ziehen. Er sieht durchaus stabil aus, wird aber im Laufe des Tages nochmal verstärkt. Weiterhin sind inzwischen sechzig Prozent der Lagerfläche geräumt. Ich bin vor Ort und überwache die Arbeiten. Die Beschaffung der benötigten Fahrzeuge ist leider noch nicht gelungen. Am Montag werden wir damit mehr Erfolg haben.«
Dr. Borag lobte sich in Gedanken wieder einmal selbst, einen so fähigen Assistenten zu haben. Er konnte und wollte sich gar nicht vorstellen, über welche Kanäle Alexander Densky innerhalb weniger Stunden Arbeitskräfte und Material beschafft hatte, noch dazu in der Nacht von Samstag auf Sonntag. Densky hatte gegenüber Dr. Borag einmal erwähnt, dass er über seine Brüder gewisse Kontakte hätte, war aber nie konkret geworden. Dr. Borag war sogar froh darüber; wenn er nichts wusste, konnte er auch nicht belangt werden.
»Verstanden«, sagte Dr. Borag.
»Machen sie wie besprochen weiter. Ich bereite die Forschungsteams darauf vor, am Nachmittag die Arbeit aufzunehmen. Melden Sie sich mit einem Update um zwölf Uhr.«
»Wird gemacht«, bestätigte Densky knapp und verstaute sein Handy in der Brusttasche seines schwarzen Mantels, nachdem Dr. Borag das Gespräch grußlos beendet hatte.
Mit höflichen Floskeln hatten sich beide noch nie anfreunden können. Densky zog seine Atemschutzmaske über und verließ den Haupteingang des Firmensitzes der ImmoPlus AG, um mit dem Chef des Arbeitstrupps zu sprechen, der neben dem Eingang eine Zigarette rauchte.
»Kolja, wann bist du mit dem Zaun fertig?«, fragte er den breitschultrigen Glatzkopf mit der Warnweste.
Der Angesprochene drehte nur kurz den Kopf in Richtung Densky und wandte sich dann wieder seinen Arbeitern zu. Mit einer Handbewegung, die sowohl ‚Was willst du eigentlich?‘ als auch ‚Schau dir unseren Fortschritt an!‘ bedeuten konnte, antwortete er:
»Noch etwa vier Stunden, dann ist das Gelände provisorisch umzäunt. Das restliche Material ist schon auf der A drei. Ich habe eben mit dem Fahrer telefoniert. Die Kolonne hat Bad Camberg passiert, in etwa neunzig Minuten sind sie hier. Bis zum Abend sind wir fertig.«
Densky nickte zufrieden. Das war ein Punkt weniger auf seiner Liste, über den er sich Sorgen machen musste.
»Sehr gut, Kolja. Das Finanzielle ist geregelt. Hast du die Bestätigung schon erhalten?«
Der Glatzkopf grinste breit. Dank Finanzdienstleistern und Instant-Überweisungen musste heute niemand mehr Sporttaschen voller Geldscheine herumschleppen. Auch um eventuelle Ermittlungen der Finanzaufsicht musste sich Densky nicht sorgen. Solche Ermittlungen dauerten Monate, manchmal sogar Jahre, und in Kürze würde die Welt sowieso eine andere sein. In einem Buch hatte er einmal die Formulierung gelesen, die Welt hätte sich weitergedreht. Sie würde sich verdammt schnell weiterdrehen, das hatte ihm Dr. Borag klar gemacht. So schnell, dass ein Großteil der Menschen nicht mitdrehen würde.
»Alex, mein Freund«, erwiderte Kolja, »dank dir wird sich meine Mieze über eine schicke neue Handtasche freuen können. Für die Kinder gibt’s ein paar Spielsachen. Sogar für meine Frau wird was übrigbleiben.«
Schmutzig lachend drückte Kolja seine Zigarette im Aschenbecher aus. Densky verzog nur missbilligend das Gesicht. Ein solches Verhalten war ihm zuwider und er musste mit seinen Handlangern nicht gut Freund machen. Für Densky war das eine Geschäftsbeziehung, auch wenn die Mehrheit der Klienten aus diesem Milieu sich gerne brüderlich gab. Sie würden sich trotzdem gegenseitig die Kehlen herausreißen, wenn man mit einem großen Bündel Geldscheine wedelte. Flüchtig bemerkte Densky einen vorbeifahrenden Fahrradfahrer, der das Treiben um das Gebäude neugierig beobachtete.
»Halte dich und deine Leute bereit, wenn ihr fertig seid«, sagte Alexander Densky.
»Für euch sind Hotels in der Nähre reserviert. Ich melde mich, wenn wir dich brauchen.«
Der Glatzkopf verabschiedete sich mit dem Hinweis, dass Densky sich auf ihn verlassen könne, und Dr. Borags Assistent begab sich wieder ins Gebäude. In der Tiefgarage sondierte er mit einem schnellen Blick die Lage. Aus den Lagern wurden nicht unmittelbar benötigte Güter wie jegliches Marketingmaterial (Werbeflyer, Broschüren, sogar ein kompletter Messestand), der Großteil des Archivs, veraltete IT-Hardware (Monitore, so viele Monitore!), palettenweise Kopierpapier, ausrangierte Büromöbel und der Menschenkicker in Lieferwagen geladen. Densky musste schmunzeln, als er an die vielen amüsanten Sommerfeste dachte, an denen dieses menschliche Tischfußball für Erheiterung quer durch die gesamte Belegschaft gesorgt hatte. Seit mehreren Jahren wurde die aufblasbare Anlage auf der Wiese hinter dem Gebäude aufgebaut. Die Grundfläche betrug zwölf auf sechs Meter und je Mannschaft fanden vier Spieler und ein Torwart an den Stangen Platz. Sogar die Führungsriege spielte gerne die ein oder andere Partie mit. Im vergangenen Sommer spielte Alexander Densky im Team ‚T-Cells‘ gegen die ‚Viraten‘, als der Torwart der Viraten, der Leiter der Abteilung für Recht und Compliance, bei dem Versuch eines Abschlags seinen Schuh mitsamt Ball auf Reisen schickte. Das an sich war schon hinreichend amüsant. Das Gelächter wurde jedoch noch größer, als sich herausstellte, dass der oberste Anwalt der Firma ein ungleiches Paar Socken trug. Dank des reichlichen Champagnerkonsums nahm dieser die Peinlichkeit jedoch gelassen.
Alexander Densky verscheuchte die Gedanken mit einem Kopfschütteln. Jetzt war nicht die Zeit, um in Erinnerungen zu schwelgen. Auf der Suche nach der Verantwortlichen für diesen Arbeitstrupp begab er sich ein Stockwerk tiefer. Dort fand er Frau Sebilow, die mit zwei Helfern die letzten Ordnerkisten des Archivs auf einen Schubwagen lud. Zwei weitere Arbeiter zerlegten die bereits geleerten Schwerlastregale. Wie vorgeschrieben trug jeder eine Mund-Nasen-Maske. Densky sprach die Frau an, die zwar zuhörte, ihre Arbeit jedoch nicht unterbrach:
»Hallo Frau Sebilow. Wie kommen Sie mit der Räumung der Lager voran?«
Die kräftige Frau, in einer anderen Zeit hätte man sie ehrfurchtsvoll als Amazone bezeichnet, antwortete:
»Machen Sie sich keine Sorgen. In etwa einer Stunde sind wir hier raus. Dann sind die Räume leer. Aber feudeln werden wir nicht, damit das klar ist!«
Das würde kein Problem darstellen. Es würde sich schon jemand finden, der die Räume einmal nass durchwischen würde. Zur Not würde er die Aufgabe dem Laborteam übertragen, als Vorbereitung zur Einrichtung der Umgebung. Er bedankte sich für die Einschätzung und begab sich wieder ins Erdgeschoss, um telefonieren zu können. In den Kellerräumen gab es natürlich keinen Empfang. Auch die Tiefgarage war weitestgehend ein Funkloch. In der Eingangshalle nahm er seine Maske ab und verstaute sie in der Manteltasche. Dann griff er nach seinem Smartphone und rief den Kontakt für die Einrichtung der Zellen und Räume an, um ihm grünes Licht für den Einsatz zu geben. In der Nacht hatte er bereits sein Netzwerk aktiviert und die notwendigen Fachkräfte in Bereitschaft versetzt. Viel Geld war geflossen und nun würden sich die Puzzleteile zusammenfügen. Er beendete das Telefonat, nachdem sein Gesprächspartner bestätigt hatte, in einer Stunde mit der Arbeit beginnen zu können.
Densky nahm sein kleines Notizbuch zur Hand und ging die Punkte des Plans noch einmal durch. Hinter den Eintrag ‚Einzäunung‘ notierte er ‚Feb 23, Abend‘, und hinter ‚Lagerfläche leeren‘ setzte er einen Haken, um diese Aufgabe als erledigt zu markieren. Bislang lief die Operation ohne Probleme an, doch eines seiner liebsten Zitate war ‚Kein Plan überlebt den ersten Feindkontakt‘. Die Punkte ‚Nahrung‘ und ‚Bedarfsgüter / Versorgung‘ stellten an einem Sonntag größere Herausforderungen dar. Ganz zu schweigen von ‚Testmaterial, 20 – 60 Jahre, 15 Personen‘. Sobald die Zellen eingerichtet waren, musste diese Aufgabe angegangen werden, solange es noch Material gab. Bei täglichen Sterberaten im fünf- oder sechsstelligen Bereich, oder sogar noch mehr, würde das Chaos nicht lange auf sich warten lassen. Densky sah auf die Uhr. Es war sieben Uhr vierzig. Er würde den Beginn der Zelleneinrichtung noch abwarten und sich dann im Schlafraum im fünften Stock zwei, vielleicht drei Stunden schlafen legen. In dieser Nacht waren ihm nur drei Stunden Schlaf vergönnt gewesen, dann hatte bereits wieder die Pflicht gerufen. Und die Pflicht, das war natürlich Dr. Borag. Mit seinen zweiunddreißig Jahren konnte Alexander Densky zwar problemlos eine Nacht durcharbeiten, aber am Folgetag würde er sich spätestens ab dem Nachmittag bis zum Abend quälen. Und in Anbetracht der momentanen Sachlage konnte er bis auf Weiteres nicht mit einem geregelten Tagesrhythmus rechnen.
Densky ging zur Kaffeemaschine hinter den Sitzgelegenheiten. Wie für etablierte Unternehmen üblich, wurden Gäste und Besucher nach der Anmeldung vom Rezeptionspersonal gebeten, es sich auf den Sesseln und Sofas bequem zu machen, während die entsprechenden Mitarbeiter informiert wurden, dass ihre Gäste eingetroffen seien. Für angenehmen Komfort während der Wartezeit sorgte eine vollautomatische Kaffeepadmaschine mit großer Sortenvielfalt sowie eine Holzbox mit transparentem Deckel, in dem hochwertige Tees zu finden waren. Densky tastete sich einen Kaffee und gab etwas Süßstoff in die Tasse, während das Getränk hineinplätscherte. Zu seiner Rechten befand sich ein offener Durchgang zu den Aufzügen und der Zugang zum Treppenhaus. Aus den Untergeschossen konnte er gedämpft die Arbeiter in der Tiefgarage hören. Mit der Tasse in der Hand begab er sich zu einem der Sessel, der ihm den Blick durch die Eingangstür ermöglichte. Hier gönnte er sich einen Moment Ruhe und trank nach und nach sein Getränk.
Pünktlich um acht Uhr dreißig begab Densky sich wieder ins zweite Untergeschoss. Tatsächlich waren die Räume leer, bis auf den Vorrat an Toilettenpapier und Labormaterial wie Einweghandschuhe und Reagenzgläser. Er inspizierte noch die beiden weiteren Untergeschosse, insbesondere die zwei Räume, die als Zellen vorgesehen waren. An zwei Stellen würde der nächste Trupp sicherlich die Wand durchbrechen müssen, um die Zellen jeweils an sanitäre Anlagen anzubinden. Auch ein Sichtfenster würde pro Zelle installiert werden müssen.
Zufrieden begab sich Densky wieder ins Erdgeschoss und verließ das Gebäude. Der Zaunbau hatte mittlerweile deutliche Fortschritte gemacht. Inzwischen war die Sonne aufgegangen. Eine Lieferwagenkolonne bog auf das Gelände ein und hielt an der Zufahrt zur Tiefgarage an. Densky nahm seine Maske aus der Manteltasche und zog sie an, während er sich auf die Fahrzeuge zubewegte. Aus dem vordersten Lieferwagen, einem weißen Mercedes Sprinter mit einigen Kratzern an der Fahrerseite, stieg ein Mann, der ebenfalls eine Maske aufsetzte. Densky winkte kurz, und der Mann kam auf ihn zu. Noch bevor Densky sich vorstellen konnte fragte der Fahrer:
»Haben wir telefoniert? Ich bin Viktor Gzenkov. Ich und mein Team sind die Spezialisten für Unterbringung.«
Densky nickte und gab dem Mann die Hand, während er antwortete:
»Ja, ich habe Sie angerufen. Alexander Densky. Gut, dass sie da sind. Sie können mit ihrem Team in die Tiefgarage fahren. Ich treffe sie drinnen.«
Gzenkov war einverstanden und stieg wieder in den Lieferwagen ein. Densky machte sich auf den Weg zur Einfahrt der Tiefgarage. Einer nach dem anderen passierten ihn die Fahrzeuge auf dem Weg die Rampe hinunter. Densky führte Gzenkov und seine Männer ins zweite Untergeschoss und zeigte ihnen die einzurichtenden Räume. Die Männer begannen sofort damit, ihr Material auszubreiten: schwere Bohrhämmer, Kabeltrommeln, Brechstangen, Schweißgeräte und sonstiges Werkzeug. Anschließend zog sich Densky in den Schlafraum zurück und stellte seinen Wecker auf zwanzig vor Zwölf.
Bereits früh am Sonntagmorgen verließ Frank das Haus, um frische Brötchen zu kaufen. Er war noch vor sechs Uhr mit einer unerklärlichen inneren Unruhe aufgewacht und wollte die Zeit sinnvoll nutzen. Zu dieser frühen Uhrzeit würde beim Bäcker nicht viel Betrieb sein, sodass das Infektionsrisiko gering war. Außerdem war der Rest vom Brot bereits gestern Abend trocken gewesen, und er verlor beinahe den Appetit, wenn er nur daran dachte.
Mit einer der Stoffmasken in der Jackentasche, und mit Handschuhen und Stirnband unter dem Fahrradhelm gekleidet, machte Frank sich auf den Weg, um sein Fahrrad aus dem Hinterhof zu holen. Als er im Erdgeschoss an der Eingangstür vorbei kam musste er wieder einmal feststellen, dass die Familie aus dem zweiten Stock ihren Kinderwagen so dicht vor die Briefkästen gestellt hatte, dass fast die Hälfte davon nicht geöffnet werden konnte. Er hatte schon mehrfach freundlich darum gebeten, doch ein wenig Umsicht zu zeigen. Bislang war sein Appell offensichtlich erfolglos geblieben. Doch früher oder später würde das Kind selbst laufen können, und das Ärgernis Kinderwagen würde verschwinden. Kein Grund, den Konflikt zu suchen, dachte Frank.
Der Bäcker lag einige Minuten entfernt. Keine große Distanz, aber doch zu weit, um bequem zu Fuß zu gehen. Wie Frank erwartet hatte, war außer ihm jetzt um kurz nach sechs noch niemand unterwegs, und es war ja auch noch dunkel. Sein Weg führte ihn auch am Firmensitz der ImmoPlus AG vorbei, und Frank stellte fest, dass das Gebäude nicht erstürmt und niedergebrannt war. Ganz im Gegenteil, hier herrschte rege Betriebsamkeit. Unzählige Arbeiter errichteten in diesem Moment einen stabilen Stahlzaun um das Gebäude. In regelmäßigen Abständen verließen Lieferwagen die Ausfahrt der Tiefgarage. Große Scheinwerfer waren aufgestellt worden und tauchten das Treiben in steriles Licht. Die feuchte Luft zeichnete Koronen aus Helligkeit um die Scheinwerfer. Schon war Frank vorbeigefahren, und er grübelte den restlichen Weg darüber nach, was dort vor sich ging. Bei der Bäckerei angekommen wehte ihm ein herrlicher Duft um die Nase und sein Bauch signalisierte wie ein kleines Kind vor Quengelware: Ich will das haben! Er kaufte Brötchen für sich und seine Frau, dazu ein großes Brot als Vorrat. An Sonntagen gönnten sie sich den Luxus frischer Brötchen. Unter der Woche gaben Sie sich mit Brot zufrieden.
Auf dem Rückweg fuhr er nochmal an dem ImmoPlus-Gebäude vorbei, diesmal etwas langsamer, damit er mehr Zeit zum Beobachten hatte. Der Zaun war ein wenig mehr vervollständigt, aber ansonsten hatte sich nichts verändert. In der Nähe des Eingangs sah Frank zwei Männer stehen, die sich offenbar unterhielten, denn einer gestikulierte dabei ausladend. Beide trugen Mund-Nasen-Masken. Einer der Herren passte nicht ganz ins Bild. Während alle anderen Männer Arbeitskleidung und teilweise Helme trugen, war dieser in einen schwarzen Mantel gekleidet. Seine Hände steckten in ebenfalls schwarzen Lederhandschuhen. Frank konnte nicht verstehen, was sie sprachen, aber er war sich sicher, dass es nicht Deutsch war. Es klang slawisch. Mit unbefriedigter Neugier fuhr Frank weiter. Zu Hause angekommen stellte er das Fahrrad wieder im Hinterhof in den Fahrradständer und verriegelte das Schloss. Er blickte an den Rückwänden des Häuserblocks nach oben. Nur in zwei Fenstern brannte bereits Licht. Bei den anderen Gebäuden blätterte teilweise der Putz an den Ecken der Fenster ab, eine typische Schwachstelle der Bausubstanz aus den Sechzigern. Unter den Simsen vieler Fenster waren Gestelle zum Trocknen von Wäsche befestigt, doch bei diesen Temperaturen würde feucht aufgehängte Wäsche nachts sowieso nur festfrieren. In den vergangenen zwei Nächten waren die Temperaturen nochmal leicht unter null gefallen. Der Frühling ließ sich noch etwas Zeit. Sein Blick glitt über die Mülltonnen und den Haufen Sperrmüll, den ein Nachbar dort abgeladen hatte. Es sah aus wie Regalreste voller bunter Aufkleber und eine Stehlampe von IKEA. Fast wie ein Bilderbuch, das aus einem fremden Leben erzählt. Frank fragte sich, ob dieser Abfall wohl bereits zur Abholung angemeldet war oder ob der hier die nächsten Jahre vor sich hin modern würde. Dabei wurde Sperrmüll hier in der Stadt kostenlos abgeholt. Man brauchte nur einen einzigen Anruf zu tätigen, und dann wäre die Sache erledigt. Frank schüttelte den Kopf und machte sich auf den Weg in den ersten Stock, wo seine Frau wohl noch im Bett liegen würde. Leise schloss er die Wohnungstür auf und entledigte sich seiner Jacke. Den Fahrradhelm hängte er an den dafür vorgesehenen Haken an der Garderobe. Von Nachbarn hatte er gehört, dass bereits Helme aus dem Hinterhof gestohlen worden waren, die die Nachbarn dort an ihren Rädern belassen hatten. Dieses Risiko war Frank nicht bereit einzugehen, also opferte er lieber einen Garderobenhaken für ihre beiden Helme.
Nachdem er sich die Hände gewaschen hatte, ging er in die Küche und füllte frisches Wasser in den Wasserkocher. Die Tüte mit den Brötchen legte er auf die Küchenarbeitsplatte. Nachdem er die vertrockneten Scheiben des Vorgängers aus dem Brotkorb entsorgt hatte, verstaute er das frische Brot dort und griff nach den Filtertüten für den Kaffee. Zwei Kaffeetassen standen schon neben der Spüle bereit. Mit einer frischen Filtertüte in der Hand blickte er sich suchend um, da er den Kaffeetropfer nicht finden konnte. Frank und Nicole hatten über den Kauf einer elektrischen Kaffeemaschine nachgedacht, aber da der Kaffeetropfer wunderbar funktionierte und keinen Strom verbrauchte, fiel Frank die Entscheidung gegen eine Investition nicht schwer. Er fand den Gesuchten in der Spüle, verborgen unter einen Schneidebrett, dass ob der Aufregung am gestrigen Abend nicht mehr gespült worden war. Als das heiße Wasser durch das Kaffeepulver für die zweite Tasse sickerte und der aromatische Duft von Bitterschokolade und erdigen Aromen die Küche erfüllte, hörte Frank die Schritte seiner Frau hinter der Schlafzimmertüre. Einen Moment später stand sie bereits in der Küche, bekleidet mit Hausschuhen aus Lammfell und einem Morgenmantel. Dankbar nahm Nicole die dampfende Tasse Kaffee entgegen.
»Ich war schon beim Bäcker«, begann Frank zu berichten, »und du weißt ja, auf dem Weg kommt man bei der ImmoPlus vorbei. Die schotten sich ab.«
»Wie meinst du das?«, fragte Nicole, in die Kaffeetasse atmend.
»Die ziehen einen Zaum um das Gebäude. Vielleicht wollen sie sich wirklich vor der Wut der Leute schützen. Es war sogar jemand aus der Chefetage vor Ort. Es muss schon eine gewisse Dringlichkeit haben, wenn ein Trupp Arbeiter am Sonntag früh vom Chef beaufsichtigt wird.«
Frank ließ die Bilder nochmal im Geiste Revue passieren. Nicole dachte darüber nach und sagte, mehr zu sich selbst:
»Vielleicht wollen sie ja auch etwas einsperren.«
»Das ist nicht ausgeschlossen«, griff Frank den Gedanken auf, »Der Patient null von Corona wurde nie gefunden, und es gab ja schnell die Theorie, dass das zwanzigneunzehner Virus in einem chinesischen Labor gezüchtet wurde. Aber wenn das neue Virus ebenfalls gezüchtet wurde, dann ist es doch bereits ausgebrochen. Warum also einen weiteren Ausbruch verhindern?«
Nicole wusste darauf keine Antwort. Während Frank den Frühstückstisch deckte, schaltete sie das Radio ein. Als die Nachrichten um sieben Uhr von einer hohen Anzahl an Todesfällen zu berichten begann, schaltete Nicole wieder ab.
»Ich möchte einen Sonntagmorgen nicht mit solchen Schreckensmeldungen beginnen«, sagte sie entschuldigend.
Frank lächelte nur verständnisvoll und reichte ihr ein Brötchen. Während des Essens diskutierten sie über den Tag. Üblicherweise besuchten sie sonntags gemeinsam Franks Vater in der Pflegeeinrichtung einige Straßen weiter. Bei gutem Wetter fuhren sie mit den Fahrrädern, bei Regen oder Schnee gingen sie zu Fuß. Vor Jahren war bei Franks Vater Demenz diagnostiziert worden, und sie war nun so weit fortgeschritten, dass die Tage an denen sein Vater Frank und Nicole erkannte immer seltener wurden. Und trotz allem besuchten beide seinen Vater regelmäßig, denn er war der letzte lebende Verwandte, zu dem sie noch Kontakt hatten. Nicoles Eltern waren bereits gestorben, ihr Vater an Lungenkrebs und ihre Mutter Ende zwanzigneunzehn an Corona, als das Virus in vielen Pflegeheimen um sich griff. Nicoles Mutter lebte zu der Zeit in einer Einrichtung auf der anderen Seite des Flusses und sie mussten immer ihren alten Fiat bemühen, um sie zu besuchen. Letztendlich wurde es nie geklärt, ob das Virus durch unachtsame Besucher oder Angestellte eingeschleppt wurde. Nach Bekanntwerden der ersten Infektionen wurde die gesamte Einrichtung unter Quarantäne gestellt, jedoch kam diese Maßnahme für Nicoles Mutter zu spät. Die alte Frau starb allein, ohne Sohn und Tochter an ihrer Seite. Lange hatte sich Nicole Vorwürfe gemacht und letztendlich half ihr die Tatsache, dass wenigstens sie für ihre Mutter da gewesen war, den Verlust zu verarbeiten. Ihr Bruder Michael hingegen… der wusste wahrscheinlich noch nicht einmal, dass die gemeinsame Mutter nicht mehr lebte. Vor acht Jahren hatte sie zuletzt mit ihm Kontakt gehabt und obwohl es weder Nicole noch ihr Bruder ausgesprochen hatten war klar gewesen, dass beidseitig kein Interesse daran bestand, am Leben des Geschwisters teilzuhaben.
Frank und Nicole besuchten seinen Vater nur vormittags. Dann war die Chance, dass er ansprechbar war, am größten. Für den Rest des heutigen Tages planten sie, die neuesten Corona-Entwicklungen im Internet oder Radio zu verfolgen, und dann zu entscheiden, wie sie sich die kommenden Tage verhalten würden. Nach dem Frühstück machte sich Nicole zurecht, um das Haus zu verlassen, während Frank den Frühstückstisch abräumte und das Geschirr spülte. Ihr Badezimmer war zu klein, als dass sie sich beide gleichzeitig darin bequem bewegen konnten. Um kurz nach neun Uhr verließen sie gemeinsam die Wohnung und gingen in den Hinterhof, um die Fahrräder aufzuschließen. Während Nicole die Eingangstür offenhielt schob Frank erst ihres, dann sein eigenes Fahrrad aus dem Haus.
Sie nahmen die Route durch das angrenzende Wohngebiet und passierten kurz vor dem Ziel den südlichen Eingang des Stadtparks. Vor dem Pflegeheim angekommen schlossen sie ihre Fahrräder am Fahrradständer an. Der Morgennebel hatte sich mittlerweile aufgelöst, oder war verweht worden. Der Fluss war weniger als fünfhundert Meter entfernt, Nebel konnte sich hier also nie lange halten. Die Wolken ließen an wenigen Stellen das Blau des Himmels durch. Es war wie ein leiser Ruf, ein Flüstern voller Versprechen, dass dort oben alles besser sei. Eine trügerische Versuchung jedoch, denn um die Freiheit des blauen Himmels über den Wolken genießen zu können musste man sich in ein luftdichtes Flugzeug quetschen, inmitten von hunderten anderen Reisenden. Eine einzige Corona-kranke Person an Bord infizierte annähernd alle anderen Passagiere. Das hatte die erste Pandemie eindrucksvoll gezeigt, als mehr als eine internationale Fluglinie versucht hatte, Vorfälle dieser Art mit Schweigegeld und Drohungen zu vertuschen. Die Staaten, die als Retter in der Krise teils mit Milliardensummen in die Unternehmen eingestiegen waren zeigten keine Gnade und zerschlugen drei Fluglinien, klagten die Manager an und erzwangen strengere Regeln für die Haftbarkeit von Führungskräften. Mittlerweile hatte sich die zivile Luftfahrt wieder gänzlich erholt. Die Herausforderungen der Fluglinien waren wieder Schwankungen beim Kerosinpreis und Streiks von Bodenpersonal oder Piloten. Frank dachte sich, es würde nicht lange dauern, bis die Fluggesellschaften erneut reihenweise ins Trudeln gerieten.
Die Gedanken an seinen Vater verscheuchten jene ans Fliegen. Nicole nahm die beiden Masken aus der Tasche und reichte ihm seine, und sie zogen sie vor der Eingangstür an. Er gab seiner Frau die Hand und sie betraten das Wohnheim durch den Haupteingang. Hier war alles ordentlich und gepflegt. Das Personal hatte den Eingangsbereich frühlingshaft geschmückt und es roch nach Desinfektionsmittel. Gleich hinter dem Windfang war wieder der Handspender aufgestellt worden.
»Fast wie in schlechten alten Zeiten«, murmelte Frank, als er sich die Flüssigkeit in die Handflächen laufen ließ und verrieb.
»Hast du etwas gesagt?«, fragte Nicole und hielt kurz inne, bevor sie zum Aufzug weiterging.
»Nein, nein«, erwiderte Frank, während er auf den Rufknopf für den Aufzug drückte.
»Ich habe nur bemerkt, dass sie noch keine strengen Besucherregeln durchsetzen.«
Seine Frau sah sich um. Von Ende zwanzigneunzehn bis etwa zum Sommer zwanzigzwanzig musste sich jeder Besuch, sofern er überhaupt ins Haus gelassen wurde, erst an der Anmeldung registrieren. Nicole und Frank bekamen damals, wie alle anderen Besucher auch, während dieser Periode nur zwanzig Minuten Besuchszeit zugestanden. Das ehemalige Hygienekonzept zwang den Besucherstrom mit Blumenkästen und Hinweistafeln am Empfang vorbei. Inzwischen war der Vorraum frei zugänglich. Nicole nickte, während sie bemerkte:
»Du hast recht. Die Einschränkungen werden sicher auch hier bald wiederkommen.«
Die Türen des Aufzugs öffneten sich und beide stiegen ein in ein Bouquet aus Alter, Urin und Einsamkeit. Auch ein herausgeputzter Eingangsbereich und frische Blumen konnten über die traurige Realität nicht hinwegtäuschen, dachte sich Frank. Wenn man den rückwärtigen Hauseingang benutzte, der im Stockwerk unter dem Haupteingang lag, wurde man bald mit der Tatsache konfrontiert, dass das System Altenpflege, dessen Defizite nach der COVID-Pandemie von der Politik nicht mehr ignoriert werden konnten, auch nach fast fünf Jahren immer noch ein verfallender, totkranker Patient war. Anerkennung war ja gut und wichtig, nur konnten die Pflegekräfte damit keine Rechnungen begleichen. Nicht eine Pflegerin hatte die Wohnungsmiete mit dem Applaus ihrer Mitbürger bezahlen können. Im dritten Stock angekommen stiegen sie aus dem Fahrstuhl aus und gingen geradeaus zum Pflegerzimmer, um sich über den Tageszustand von Franks Vater zu erkundigen. Eine Mittvierzigerin mit müden Augen gab ihnen Auskunft:
»Leider ist heute kein guter Besuchstag für ihren Vater. Er war am Morgen sehr verwirrt und hat sich während der Morgentoilette heftig gewehrt. Wir mussten ihm durch den diensthabenden Arzt ein Beruhigungsmittel geben lassen. Sie können natürlich trotzdem zu ihm.«
Frank dankte der Pflegering für die Information und er und Nicole gingen durch die rechte Glastür auf den Gang, der zu den Zimmern der Bewohner führte. Nachdem sie einige Türen passiert hatten, teils geschlossen, teils offen, dahinter Menschen, die scheinbar apathisch auf imaginäre Punkte in der Ferne starrten, erreichten sie das Zimmer von Franks Vater. Nach leisem Klopfen traten sie ein, und schlossen die Tür hinter sich.
»Hallo Papa«, begrüßte Frank seinen Vater, »ich bin’s, und Nicole ist auch dabei.« Auch Nicole sagte »Hallo« in den stillen Raum hinein.
Franks Vater lag mit leicht angehobener Rückenstütze im Bett und hatte die Augenlider halb geschlossen. Sein Atem ging ruhig und gleichmäßig. Er nahm keine Notiz von seinem Besuch. Frank bemerkte den stickigen Geruch im Zimmer, und vor allem die Hitze. Generell war es in diesen Einrichtungen immer warm, aber hier im Zimmer kam es ihm unangenehm vor. Nicole musste es ebenfalls bemerkt haben, denn sie ging zum Fenster und öffnete es. Dann drehte sie die Heizung eine Stufe niedriger. Frank stellte die zwei Besucherstühle ans Bett und setzte sich auf Kopfhöhe, dann nahm er die Hand seines Vaters und streichelte sie liebevoll. Nicole setzte sich auf den zweiten Stuhl und flüsterte zu Frank:
»Ich denke es wäre besser ihn nicht aufzuwecken. Lass uns einfach nur hier sein. Er wird bestimmt merken, dass er nicht allein ist.«
Frank nickte, auch wenn es ihm schwerfiel. Gerne hätte er seinen Vater auf das vorbereitet, was sicher kommen würde: ein weiteres Besuchsverbot. Sein Vater hätte es vermutlich nicht verstanden, aber er hätte es wenigstens gewusst. Und vielleicht würde er sich ja daran erinnern, wenn er an vielen der kommenden Sonntage vergeblich auf seinen einzigen Sohn und seine geliebte Schwiegertochter warten würde. Wenn er sich überhaupt an etwas erinnern würde.
Frank nahm die Trinkflasche vom Nachttisch, leerte sie in der Nasszelle ins Waschbecken und füllte aus einer frischen Flasche stilles Wasser nach. Dann stellte er die Kopfhörer für den Fernseher zurück auf die Ladestation. Alle Heimbewohner wurden beim Einzug mit Infrarot-Kopfhörern ausgestattet und angehalten, diese auch zu nutzen, sofern sie das überhaupt noch selbstständig konnten. Damit wurde verhindert, dass aus jedem Zimmer eine andere Schallkulisse auf den Gang dröhnte. Weiter gab es im Zimmer nichts aufzuräumen. Zur Sicherheit waren mittlerweile die meisten persönlichen Gegenstände entfernt worden und in Frank und Nicoles Keller eingelagert. Nur zwei gerahmte Fotos hingen noch an den Wänden. Eines davon zeigte Franks Vater und Mutter bei einer Geburtstagsfeier. Ein weiteres zeigte Frank und Nicole bei deren Hochzeit. Frank fragte sich, ob mit würdevollem Sterben eigentlich diese Sterilität gemeint war. Abschließend rückte er noch den Notfallknopf so zurecht, dass sein Vater ihn sofort sehen und erreichen konnte.
Dann blieben sie einige Zeit still am Bett von Franks Vater sitzen. Die Geräusche des Hauses waren trotz geschlossener Tür allgegenwärtig. Langsame, schlurfende Schritte der Bewohner auf dem Gang, die noch ausreichend Fitness zur eigenständigen Fortbewegung besaßen. In unregelmäßigen Abständen das gehetzte Quietschen der weißen Pflegerschuhe auf dem Linoleum. Leise, monotone Rufe nach der Schwester, unerbittlich und unnachgiebig, eine Litanei wie ein Perpetuum Mobile, dem nur die Zeit ein Ende bereiten würde. Schließlich suchte Frank den Blick seiner Frau und sie nickte, für beide das Zeichen zum Aufbruch.
Nicole schloss das Fenster und sie verabschiedeten sich leise, bevor sie das Zimmer verließen. Zu Hause angekommen hörten sie die Nachrichten um zwölf Uhr im Radio während Nicole ein kleines Mittagessen zubereitete. Es gab Nudeln mit Käse-Sahne-Sauce und sie besprachen während des Essens wie die nächsten Wochen aussehen könnten.
»Die Todesfälle«, sagte Nicole, »sind seit gestern wieder gestiegen. Im Radio haben sie gesagt, dass ab Dienstag eine generelle Ausgangssperre verhängt werden wird. Und dass die meisten Opfer in den Großstädten auftreten.«