Antisemitismus in Österreich nach 1945 -  - E-Book

Antisemitismus in Österreich nach 1945 E-Book

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Beschreibung

"Antisemitismus in Österreich" bildet die Vielgestaltigkeit der heterogenen Antisemitismen in Österreich ab. Die Beiträge widmen sich dem Antisemitismus in religiösen und politischen Milieus, im Kontext erinnerungspolitischer und -pädagogischer Auseinandersetzungen, in unterschiedlichen Medien sowie in staatlich-institutionellen Kontexten. Die Autorinnen und Autoren schließen eine Publikationslücke: Bisher existiert kein Überblickswerk oder Sammelband über die Facetten des Antisemitismus in Österreich.

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Christina Hainzl, Marc Grimm (Hg.)

Antisemitismusin Österreichnach 1945

Ein Projekt in Kooperation mit Forum Morgen

Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte Daten sind im Internet über https://portal.dnb.de/ abrufbar.

© 2022 Hentrich & Hentrich Verlag Berlin Leipzig

Inh. Dr. Nora Pester

Haus des Buches

Gerichtsweg 28

04103 Leipzig

[email protected]

http://www.hentrichhentrich.de

Lektorat: Federico J. Antonelli

Umschlag und Gestaltung: Gudrun Hommers

1. Auflage 2022

Alle Rechte vorbehalten

eISBN 978-3-95565-469-6

Inhalt

Antisemitismus in Österreich nach 1945

Christina Hainzl und Marc Grimm

Jüdischsein ist keine Selbstverständlichkeit

Christina Hainzl

Der demokratisch legitimierte legislative Antisemitismus der Zweiten Republik und sein Einfluss auf die Entnazifizierungs- und Restitutionspolitik

Barbara Serloth

Antisemitismus als politische Strategie. Plenumsdebatten im österreichischen Nationalrat nach 1945

Karin Bischof und Marion Löffler

Antisemitismus in der FPÖ und im „Ehemaligen“-Milieu nach 1945

Margit Reiter

Vom Antizionismus zur selektiven positiven Parteinahme der FPÖ für Israel: Politische Strategie oder tiefergehende Bemühungen um eine Aufarbeitung des Antisemitismus in der eigenen Partei?

Helga Embacher

Studentenverbindungen und Antisemitismus in Österreich

Bernhard Weidinger

Israel als Streitfall. Antisemitismus und die radikale Linke in Österreich

Stephan Grigat

Antisemitismus unter Muslimen in Österreich

Mouhanad Khorchide

Antisemitische Argumentationsmuster in bosnischmuslimischen Communities

Hasan Softić

Immer noch Antisemiten? Katholischer Antisemitismus in Österreich nach 1945

Matthias Falter

Antisemitismus unter Jugendlichen in Österreich

Bernadette Edtmaier

Antisemitismus und der Nachkriegsfilm in Österreich

Klaus Davidowicz

Erhoben und erfragt, gemessen und vermessen: Antisemitische Einstellungen in Österreich 1973 bis 2020

Heinz P. Wassermann

„Giftschlangen sollten lieber den Mund halten“. Antisemitismus in österreichischen Medien

Florian Markl

Red Pill. Antisemitismus und Social Media

Ben Dagan

Die Herausgeber:innen

Die Autor:innen

Antisemitismus in Österreich nach 1945

Christina Hainzl und Marc Grimm

Antisemitismus ist ein aktuelles Problem. Zuallererst für Jüdinnen und Juden, für die er eine Bedrohung ihrer physischen und psychischen Gesundheit darstellt und denen damit eine Lebensführung verwehrt wird, die von der Bewältigung von Alltagsproblemen geprägt ist. Das wachsende Ausmaß des Antisemitismus hat dazu geführt, dass auch der politische Handlungsdruck mittlerweile groß ist. Zu den politischen Reaktionen auf den Antisemitismus gehört auf europäischer Ebene die verabschiedete Strategie zur Bekämpfung von Antisemitismus und zur Förderung des jüdischen Lebens durch die EU-Kommission, die auf „die Eindämmung von Antisemitismus […], den Schutz jüdischen Lebens und eine Auseinandersetzung mit der Zeit des Holocaust“ zielt.1

Über das Ausmaß des Antisemitismus in Österreich geben die vorliegenden empirischen Untersuchungen Auskunft. Die zwei von der Parlamentsdirektion 2018 und 2020 beauftragten Antisemitismus-Studien bieten umfassenden Einblick in aktuelle Tendenzen und Entwicklungen. Der Antisemitismus in Österreich ist quantitativ empirisch gut erfasst, gleiches gilt für die Facetten des historischen und aktuellen Antisemitismus. Publikationen jedoch, die den für Österreich spezifischen Antisemitismus konturieren, sind kaum vorhanden.

Eine von uns mit Kolleginnen des Austrian Democracy Lab durchgeführte Befragung von ÖsterreicherInnen im Rahmen des Demokratieradars zeigt, wie notwendig eine eingehende Beschäftigung mit dem Thema ist: Die Aussage „Österreich war das erste Opfer des Nationalsozialismus“ wird von Personen mit höherer Bildung entweder völlig (33 %) oder überwiegend (18 %) abgelehnt. Menschen mit geringerem Bildungslevel hingegen lehnen dies nur zu 15 % völlig bzw. zu 11 % überwiegend ab.

n=4.574, max. Schwankungsbreite +/-1,4, Feldarbeit 15.03.2021 bis 11.05.2021

Quelle: Perlot, Flooh/Grimm, Marc/Hainzl, Christina/Ingruber, Daniela/Juen, Isabella/Nutz, Viktoria/Oberluggauer, Patricia (2021). Demokratieradar, Welle 7 – Autoritarismus und Corona. Datensatz. Version 1.0. Krems/Graz.

In Abbildung 2 zeigt sich, dass die Aussage „Die Diskussion über den Holocaust sollte beendet werden“ über alle Altersgruppen hinweg eher oder völlig abgelehnt wird. Demgegenüber findet die Aussage aber auch Zustimmung, insbesondere in der Gruppe der über 60-Jährigen, bei der sowohl die größte Zustimmung als auch die größte Ablehnung aller Altersgruppen ausgemacht werden kann.

Hauptanliegen des vorliegenden Sammelbandes ist es, zentrale Erscheinungsformen des Antisemitismus nach 1945 abzubilden und der Diskussion Raum zu geben. Ausgangspunkt bildet dabei ein Interviewprojekt von Christina Hainzl zum Thema „Jüdisches Leben in Österreich“. Ziel dieses Projekts war eine Bestandsaufnahme zur Wahrnehmung des Antisemitismus durch Jüdinnen und Juden in Österreich.

Besteht in der Forschung heute weitgehend Konsens, dass Antisemitismus ein variables Phänomen ist, das mit unterschiedlichen politischen und religiösen Anschauungen kompatibel ist, werden in „Antisemitismus in Österreich nach 1945“ neben politischen und religiösen ebenfalls verschiedene mediale und kulturelle Facetten untersucht. Die AutorInnen des Sammelbandes nähern sich dem Thema aus unterschiedlichen Theorietraditionen und Perspektiven und zeichnen ein vielgestaltiges Bild des zeitgenössischen Antisemitismus in Österreich. Es ist uns ein Anliegen, persönliche Erfahrungen, Wahrnehmungen sowie Forschungsergebnisse und Einschätzungen der AutorInnen nebeneinanderzustellen, weil diese erst die unterschiedlichen Facetten zu fassen und in der Gesamtschau der Vielgestaltigkeit des Antisemitismus einzufangen vermögen.

n=4.574, max. Schwankungsbreite +/-1,4, Feldarbeit 15.03.2021 bis 11.05.2021

Quelle: Perlot, Flooh/Grimm, Marc/Hainzl, Christina/Ingruber, Daniela/Juen, Isabella/Nutz, Viktoria/Oberluggauer, Patricia (2021). Demokratieradar, Welle 7 – Autoritarismus und Corona. Datensatz. Version 1.0. Krems/Graz.

Christina Hainzl und Marc Grimm, Wien März 2022

1https://bundeskanzleramt.gv.at/themen/europa-aktuell/eu-kommission-legt-strategie-zur-bekaempfung-von-antisemitismus-und-zur-foerderung-des-juedischenlebens-vor.html [18.11.2021].

Jüdischsein ist keine Selbstverständlichkeit

Christina Hainzl

Einleitung

Antisemitismus und jüdisches Leben sind in Europa und Österreich nicht zuletzt durch zahlreiche Angriffe auf jüdische Einrichtungen und Personen präsente Themen. In den letzten Jahren sind insbesondere zu Antisemitismus zahlreiche Studien erschienen, aber auch viele Berichte zu jüdischer Kultur in Europa. Studien zu Antisemitismus befragen zumeist die Gesamtbevölkerung, also jüdische wie nichtjüdische Personen. Die vorliegende Interviewstudie basiert auf der Überlegung, mit jüdischen Personen zu sprechen, um ihre Erfahrungen, Sichtweisen und Einschätzungen im aktuellen Kontext kennen zu lernen.

Ziel ist eine Bestandsaufnahme: Welche Themen bewegen? Wie bewerten jüdische Personen das alltägliche Leben, aber auch Erfahrungen mit Antisemitismus? Für diesen Beitrag wurden aus den Interviews vor allem jene Aspekte entnommen, welche sich mit den Erfahrungen von Antisemitismus beschäftigen. Gleichzeitig geht es dabei auch sehr oft um Fragen der Identität, um biographische Faktoren und Erlebnisse.

An dieser Stelle möchte ich jenen danken, die sich die Zeit genommen haben, mit mir zu sprechen. Es waren fast immer sehr lange und offene Gespräche. Diese wurden in ganz Österreich geführt, die meisten jedoch in Wien, da hier die überwiegende Mehrheit der jüdischen Personen in Österreich lebt.

Die interviewten Personen haben sehr unterschiedliche Hintergründe. Einige kommen aus Israel, andere aus europäischen bzw. osteuropäischen Ländern; die Anzahl der interviewten Frauen sowie älteren Personen unter den Befragten ist etwas höher. Der Bezug zur Religion und jüdischen Kultur variiert deutlich. Mit allen Personen wurde Anonymität vereinbart, daher wird auch in Folge auf die Angabe soziodemographischer sowie biographischer Daten verzichtet (und in der Folge immer mittels der Bezeichnung „InterviewpartnerIn“ (IP) anonymisiert).

Methode

Im Zeitraum von Dezember 2018 bis März 2020 wurden über 30 Interviews mit jüdischen Personen in Österreich zum Thema „Jüdisches Leben in Österreich“ geführt. Einige davon waren Hintergrundgespräche, deren Input in die Auswertung miteingeflossen ist, 22 davon wurden aufgezeichnet, transkribiert und mittels sequentieller Codierung analysiert. Die Interviews selbst wurden offen zum Thema gestaltet; meist begannen diese mit autobiographischer Erzählung und thematisierten dann verschiedene Facetten und Erfahrungen.

Nachstehend sind nun ausgewählte Aspekte dargestellt, die sich durch die Auswertung ergeben:

Gemeindeleben in Wien und den Bundesländern

Die Zahlen, wie viele Jüdinnen und Juden heute in Österreich leben, variieren. Generell geht man davon aus, dass es etwa 15 000 Personen sind. Etwa 8000 davon sind Mitglieder der Israelitischen Kultusgemeinde. Die Interviews wurden sowohl mit religiösen als auch mit nichtreligiösen Jüdinnen und Juden geführt. Auffallend ist dabei, dass in Wien das Leben in der jüdischen Gemeinde als florierend wahrgenommen wird. Viele InterviewpartnerInnen betonen, dass sie sich in Wien im Großen und Ganzen sicher fühlen und dass sie das vielfältige jüdische Leben mit all seinen Veranstaltungen und Möglichkeiten zum Einkaufen koscherer Lebensmittel in Wien schätzen:

„Wenn man das Leben heute betrachtet, es ist eine unglaublich lebendige, spürbare Gemeinde die so stark vertreten ist in jedem Bereich … von der Kultur, der Tradition, der Religion. Es ist alles so sichtbar, es ist präsent, es wird wahrgenommen, es wird geschätzt, das war alles nicht der Fall.“ (IP 16)

IP 11 berichtet:

„Es sind alle überrascht, welch tolle Einrichtungen wir hier haben. Es wurden Einrichtungen geschaffen, die wirklich einzigartig sind hier in Europa … und wir haben schon ein florierendes Gemeindeleben und es ist auch bekannt, dass etwa Mitglieder der Gemeinde von München oder von Frankfurt zu den Feiertagen nach Wien kommen und hier koscheres Essen kaufen, weil die Qualität und der Preis hier sensationell ist im deutschsprachigen Raum.“

In den Bundesländern existieren nur relativ kleine Gemeinden; hierzu wird von den GesprächspartnerInnen oft darauf hingewiesen, dass es jüdisches Leben nur eingeschränkt oder je nach Bundesland kaum gibt. IP 4 etwa meint: „Wie ich es wahrnehme, sieht man auch im Zustand der Gemeinde selber. Es gibt sie eigentlich gar nicht.“

Die hebräische Sprache wird verstärkt gesprochen und schafft nicht nur eine Verbindung für Jüdinnen und Juden aus verschiedenen Ländern, sondern nimmt auch eine symbolische Funktion ein. „Hebräisch ist, innerhalb der Gemeinde, auch von den jungen Leuten so eine Art Lingua franca geworden, auch unter Jugendlichen und das hat noch einmal etwa Verbindendes, kulturell Verbindendes“ (IP 10).

Umgang mit der Shoah

Problematisch wird vielfach der Umgang mit der Shoah wahrgenommen. Viele berichten, dass ihre Eltern und Familien früher dazu geschwiegen hätten. Die zweite und dritte Generation hingegen beschäftigt sich damit intensiver und „seit den 80er, Anfang der 90er Jahre ist ganz viel aufgebrochen“, so IP 16. „Es war dieses Schweigen, am besten nichts mit irgendetwas zu tun zu haben, auf jeder Seite, und ja nur nicht über die Vergangenheit reden. Das war so etwas von präsent.“

Einige empfinden auch Angst, wenn sie sich mit der Shoah beschäftigen: „Ich muss auch sagen, dass mit dieser Beschäftigung mit der Geschichte eigentlich meine Angst und meine Unsicherheit definitiv mehr geworden sind. Und mich das schon immer wieder sehr beunruhigt.“ (IP 2)

Einige Personen weisen auch darauf hin, dass es an Wissen über die Shoah, aber auch über die Geschichte nach 1945 fehlt.

IP 16 berichtet aus dem Arbeitsalltag: „Es fehlt sehr viel an Wissen und zwar die jüngere österreichische Geschichte wird ausgeblendet. Waldheim, Kreisky, Vranitzky, Wiesenthal … Namen, die nicht bekannt sind. Und, das würde man nicht glauben, auch auf höheren Schulen“. IP 4 formuliert es so: „Viele Menschen haben keine Vorstellung, was jüdisches Leben bedeutet. Sie haben Filme gesehen, wo Menschen im Konzentrationslager sterben, aber in Wahrheit ist es ja nicht jüdisches Leben, das ist jüdisches Sterben.“

Vorurteile

Auch von Stereotypen berichten einige Interviewte. IP 11 erzählt: „Wir haben verhandelt und dann hat ein Geschäftspartner gesagt: ‚Das ist ja fast jüdisches Verhandeln, was du da machst.‘ Und ich habe gesagt: Naja, ich bin halt Jude. Und er meinte dann: ‚Das habe ich nicht gewusst … aha … aber so viel Geld wie die Juden hast du nicht?‘ … Der Stammtisch-Antisemitismus, den gibt es.“ IP 22 meint: „Ich denke, etwa 15 % haben tiefe Vorurteile. Dieses Festmachen von Geldgier und Reichtum und was auch immer, das sitzt tief drinnen, in dem was sie von den Eltern, von den Großeltern, in der Schule gelernt haben … das sitzt tief.“ Andere wiederum sehen aber auch Veränderungen: „Wo viele Dinge früher einfach so hingenommen wurden, habe ich heute das Gefühl, das geht nicht.“ (IP 16)

Heimat Österreich?

Auf die Frage, ob Österreich als Heimat empfunden wird, sind die Antworten zwiespältig. IP 15 hält fest: „Kulturell bin ich hier, aber emotional … ich glaube, es ist schwer, sich in Österreich als JüdIn zu Hause zu fühlen“. Einige GesprächspartnerInnen teilen mit, dass sie auf Unverständnis gestoßen seien, als sie nach Österreich gezogen oder zurückgekommen sind. IP 18 berichtet, aufgrund einer Heirat nach Österreich gekommen zu sein, und erinnert sich an die Frage einer/eines FreundIn: „Wie kannst du auf Deutsch lieben?“ IP 15 drückt es so aus: „Wir sind irgendwie Luft-Menschen, aber wenn man sich damit abfindet, dann kann man so leben. Sich als Österreicher zu fühlen, zu leben, geht.“

In diesem Zusammenhang wird auch deutlich, dass zahlreiche Interviewte Erfahrungen mit Othering (Stuart Hall) gemacht haben: „Man hat immer gewusst, man ist anders, man gehört eigentlich nicht dazu zu dieser Gesellschaft“ (IP 21). IP 1 berichtet von Erfahrungen mit Philosemitismus: „In dem Moment, wo Lehrer wussten über meinen Background, habe ich eher eine positive Diskriminierung erlebt.“

Erfahrungen mit Antisemitismus sind vielfältig

Die Wahrnehmung von Antisemitismus zeigt sich sehr unterschiedlich. Einige InterviewpartnerInnen sagen, sie selbst hätten Antisemitismus nie persönlich erlebt: „Wenn Sie mich als Person fragen, habe ich nicht viel Antisemitisches erlebt“ (IP 6). IP 15 aus Israel etwa meint: „Wir haben, seitdem wir hier leben, nie irgendeinen persönlichen Antisemitismus gespürt.“ Gleichzeitig vermutet IP 20, wenn man in Wien mit Davidstern und Kippa gehen würde, „hätte ich doch eine andere Auffassung von Antisemitismus“.

Von ähnlichen Eindrücken berichtet auch IP 1: „Meine Mutter hat mir, als ich klein war, eine kleine Kette mit einem Davidstern gegeben. Sie hat mir immer gesagt, dass ich das unter dem Gewand tragen muss, dass ich das nicht nach außen tragen darf. Das macht natürlich etwas mit einem.“

Vermeidungsverhalten

Wenngleich einige InterviewpartnerInnen erzählen, bisher persönlich nicht von Antisemitismus betroffen gewesen zu sein, so berichten alle von Erfahrungen von Bekannten. Deutlich wird in den Gesprächen eine Angst vor Ausgrenzung, vor Antisemitismus. Dies führt zu einem Vermeidungsverhalten. IP 15 etwa erzählt: „Ich kann mich erinnern, als ich klein war, sind wir nach Israel gefahren. Und wie wir zurückgekommen sind, hat in der Schule jeder erzählen sollen, wo wir in Urlaub waren und ich habe nur gesagt, wir waren im Ausland“. IP 16 sagt, dass „manche sich gar nicht trauen zu sagen, dass sie jüdisch sind“. IP 22 erwähnt, dass ihr Sohn meinte, er würde heute in Wien nicht mehr mit einer Kippa in der U6 fahren.

In den Gesprächen wird klar, dass das Tragen von religiösen Symbolen häufig vermieden wird, um nicht erkannt zu werden. Einige Interviewte berichten von vor allem verbalen Übergriffen, die zumeist passieren würden, wenn jemand als jüdisch erkennbar sei.

„Wenn ich überlege, was ich alleine in einem Jahr im Schnitt zu hören bekomme … selbst wenn ich mit einer Sportkappe herumgehe und nicht mit einem Hut. Und ich habe eine gute Ahnung davon, wie es ist, wenn man tagtäglich erkennbar als JüdIn auf der Straße geht.“ (IP 10)

Häufig wird überhaupt vermieden, darüber zu sprechen: „Ich war unlängst bei einem Abendessen mit mehreren Personen und es hat sich dann jeder geoutet, dass es jüdische Vorfahren gibt. Das war eine unglaubliche Entwicklung.“ (IP 16)

Der Nahostkonflikt als Projektionsfläche

Der Nahostkonflikt evoziert häufig antisemitische Aussagen. Die interviewten Personen etwa berichten, dass sie als in Österreich lebende Juden und Jüdinnen mit Anschuldigungen und Aussagen zum Nahostkonflikt konfrontiert würden. „Ich habe eine Kollegin, mit der habe ich eine spannende Beziehung. Sie ist, je nachdem was in Gaza passiert, zugänglich oder nicht zugänglich“ (IP 18). IP 9 erzählt: „Ich höre Sachen‚ was ihr mit den Palästinensern macht‘. Was heißt hier wir? Ich bin kein Israeli, ich wohne in Wien.“ Viele berichten, dass sie sich Israel verbunden fühlen, unabhängig davon, ob sie dort gelebt haben oder nicht (IP 18, 10, 11, 15, 3), räumen aber ein, „dass man Israel kritisieren darf, nicht jede Kritik ist Antisemitismus“ (IP 15). Problematisch hingegen ist die Projektion des Nahostkonflikts auf in Österreich lebende Personen.

Angst vor muslimischem Antisemitismus

Häufig tritt auch die Angst vor muslimischen Antisemitismus deutlich zutage:

„Ich glaube, es ist wirklich mehr Antisemitismus in der muslimischen Welt in Wien, als in der nicht- muslimischen.“ (IP 22)

IP 10 sieht den muslimischen Antisemitismus hingegen überproportional betont: „Wenn man heute laut sagt, der muslimische Antisemitismus ist so schlimm, bekommt man sofort Gehör, das heißt aber nicht, dass der klassische rechte Antisemitismus nicht da wäre, aber es manifestiert sich anders.“

IP 19 merkt dazu an: „Der rechte Antisemitismus kommt meistens versteckt. Auf muslimischer Seite habe ich die Erfahrung gemacht, dass mit Antisemitismus mit pädagogischen Mitteln am leichtesten zu verfahren ist, wenn man Begegnungen ermöglicht.“

Auch soziale Medien spielen bei Anfeindung und Ausgrenzung eine wesentliche Rolle:

„Ich glaube durch soziale Medien sind Leute mehr bereit, das, was früher nicht so offen gesagt worden ist, zu sagen. Und ich glaube in diesem Spannungsfeld bewegen wir uns im Moment. Ich halte den Anti-Islamismus eigentlich heute für gefährlicher als antisemitische Tendenzen, auch weil die Zahlen ganz andere sind und die jüdische Gemeinde integriert ist bis zu einem gewissen Grad … und nicht diese Art der Diskriminierung erfährt.“ (IP 1)

Zusammenfassung

Der qualitative methodische Zugang ermöglichte einen Einblick in jene Erfahrungen und Themen, die jüdische Personen in Österreich in den letzten Jahren bewegen. Das sind zum einen Themen wie etwa der Nahostkonflikt und dessen Projektion auf Juden und Jüdinnen in der Diaspora, zum anderen die Wahrnehmung verschiedener Formen von Antisemitismus oder die Begegnung mit Vorurteilen. Die Interviews zeigen eine sehr vielfältige Sichtweise, weswegen auch der Weg gewählt wurde, die Aussagen für sich selbst sprechen zu lassen.

Zusammenfassend lässt sich sagen, dass Jüdischsein nach wie vor keine Selbstverständlichkeit darstellt. Dies zeigt sich deutlich im Vermeidungsverhalten und an den zahlreichen Übergriffen, von denen viele nicht gemeldet werden.

Es verändert sich aber auch etwas: Gerade junge GesprächspartnerInnen berichten davon, dass Stereotype bei jüngeren Generationen ihre Aussagekraft verlieren; die jüdische Kultur und das jüdische Leben haben in den letzten Jahren, insbesondere in Wien, einen enormen Auftrieb erhalten.

Quellen:

Hainzl, Christina: Studie Jüdisches Leben in Österreich. Interviews 2018–2020, Donau-Universität Krems.

Der demokratisch legitimierte legislative Antisemitismus der Zweiten Republik und sein Einfluss auf die Entnazifizierungs- und Restitutionspolitik

Barbara Serloth

Nach der bedingungslosen Kapitulation der Wehrmacht und der Beendigung des Zweiten Weltkrieges war die österreichische politische Elite der Ersten Republik sehr rasch in der Lage, die grundsätzlichen Gründungsakte zu setzen. Mit der Provisorischen Staatsregierung rund um Karl Renner (SPÖ) wurde Ende April / Anfang Mai 1945 eine gewisse Normalität in die Tage des Chaos und Umbruchs gebracht. Dies geschah, obwohl die von sich selbst eingesetzte Regierung weder von den westlichen Bundesländern noch von den Westalliierten anerkannt worden war.

Überraschend schnell gelang es, nicht nur Regierungsstrukturen zu schaffen, sondern auch Narrative von Österreich, Nazideutschland und der österreichischen Unschuld hinsichtlich des radikalen Vernichtungs- und Vertreibungsantisemitismus zu platzieren. Die zentrale Positionierung war: Österreich wurde am 12. März 1938 von Nazideutschland okkupiert, die politische Elite von den neuen Machthabern verfolgt und die Bevölkerung unterworfen. In den offiziellen Darstellungen während der langen Nachkriegszeit1 wurde Österreich ausschließlich in dieser Opferrolle beschrieben, womit nicht nur die Unschulds-, sondern auch die Unzuständigkeitsthese in Bezug auf die NS-Untaten und Reparations- und Restitutionsforderungen einhergingen.

Diese Narrative sind als eine umfassende Verharmlosung der Geschichte zu verstehen. Sie wurden allerdings nicht nur aus dem Bestreben kreiert, sich in eine möglichst günstige Verhandlungsposition zu manövrieren und damit die zu erwartenden Reparationsforderungen zu minimieren. Sie bauten vielmehr auf Tendenzen in der Selbstwahrnehmung der Mehrheitsbevölkerung auf. Letztlich ging es um den Versuch, den Beitrag der Österreicher:innen am Nationalsozialismus und der Shoah so weit wie möglich zu beschönigen.

Die politische Elite vertrat demnach Narrative, die eine grobe Verharmlosung des Geschehenen und an diese Politik angepasste Opfer-Täter-Verzerrung tradierten. Auf der nationalstaatlichen Ebene ergab sich daraus die Möglichkeit des demokratischen Kontinuitätsnarrativs, mit dem suggeriert wurde, dass Österreich seit dem Niedergang der Habsburgermonarchie demokratisch ausgerichtet gewesen sei und nur durch die NS-Okkupation eine Unterbrechung erfahren müsse. Damit wurde eine bequeme, dem Opfernarrativ entsprechende Kette an Erklärungen, Argumentationen und letztlich Normen, wie z. B. den Amnestiegesetzen, legitimierbar.

Die sogenannten Gründerväter entschieden sich nach dem Sieg der Alliierten über das NS-Terrorregime und der Befreiung des Landes nicht für einen Neuanfang, der die Möglichkeit für einen politischen, moralischen, und juristischen Dialog geboten hätte: über Schuld und Sühne, über die Aufarbeitung der Entmenschlichung, über die Arisierungen sowie die mit Raffgier gepaarte zivilgesellschaftliche Gewaltausübung und über den radikalen Solidaritätsentzug. Sie entschieden sich nicht dazu, die Opfer des Nationalsozialismus und der eigenen enthemmten Zivilbevölkerung zur Rückkehr einzuladen, sie an einem Dialog auf allen Ebenen teilnehmen zu lassen oder ihnen auch nur den Lebensabend in ihrer alten Heimat zu ermöglichen, wie dies z. B. Adolf Sturmthal, der Mitarbeiter von Friedrich Adler, in einem Interview im Jahre 1985 erläuterte.2 Vielmehr entschieden sie sich für das Opfer- und Kontinuitätsnarrativ. Damit kausal verbunden war allerdings zwangsweise, dass Antisemitismus zwar tabuisiert wurde, aber weiterhin Teil des österreichischen Selbstverständnisses sowohl auf der Mikro- als auch auf der Makroebene blieb. Mit der Tabuisierung wollte man, wie Hilde Weiss betonte, „beinahe erzwingen, dass der Antisemitismus damit am raschesten von selbst verschwinden“ würde.3

Restitutionspolitik und die Selbstverständlichkeit antisemitischer Diskriminierung

Ziel dieser kurzen Aufarbeitung ist es, die Voraussetzungen des Rückzugs der österreichischen politischen Elite auf das Opfer- und Kontinuitätsnarrativ und Konsequenzen für das Normsystem der langen Nachkriegszeit vor allem in Bezug auf die Entnazifizierungs- und Restitutionspolitik skizzenhaft aufzuzeigen. Anzumerken ist, dass beide Normenfelder, vom individuellen Zugang aus betrachtet, als einander ergänzende Themen aufzufassen und damit zu jenen Normbereichen zu zählen sind, welche die zentrale Nebensächlichkeit der demokratischen Normsetzung offenbaren: die persönliche Wertehaltung der Abgeordneten.

Normen werden oft in ihrem gesellschaftlichen oder juristischen Kontext beleuchtet, ohne dass die wesentliche Frage gestellt wird: Warum wurde die Causa normativ so gelöst, wie sie gelöst wurde? Um meinen Zugang nachvollziehbar zu gestalten, ist Folgendes festzuhalten: Ich gehe davon aus, dass Demokratie ein politisches System der Selbstregierung jener Gruppe der Bürger:innen ist, die sich als Gleiche anerkennen. Dieser Status ist historisch gesehen flexibel. Er kann erworben werden (siehe Emanzipationsbewegungen), aber er kann auch eingeschränkt werden; systemimmanent ist er demnach von Vorurteilen und Diskriminierungsbereitschaft geprägt. Von zentraler Bedeutung ist – dies hat der Vernichtungsantisemitismus des NS-Regimes gezeigt –, dass erworbene Rechte und Gleichstellungen wieder rückgängig gemacht werden können. Wenn dies der Fall ist, müssen sie verstanden werden als niemals selbstverständlich akzeptierte, d. h. zeitgeistbezogen nur als auf das eigentliche System aufgesetzte.

Im Weiteren gehe ich daher davon aus, dass Juden und Jüdinnen aufgrund des latenten wie auch manifesten massiven Antisemitismus in der Nachkriegszeit nicht als gleichberechtigte Subjekte im politischen Entscheidungsraum wahrgenommen wurden. Dies zeigte sich in den Rechtfertigungen der Zurückweisung, wie z. B. den Verharmlosungsgeschichten, in denen die Flucht aus dem NS-Staat zur Emigration bagatellisiert wurde.4 Antisemitische Bilder von Juden als vaterlandslosen Gesellen, die sich nur um ihr eigenes Wohlergehen kümmern, wurden hiermit bedient und im Sinne der Politik der Nachkriegsjahre tradiert.

Mit der Weigerung, Juden und Jüdinnen als gleichberechtigte und selbstverständliche Teilnehmer:innen am politischen Diskurs anzuerkennen, wurde nicht nur das Opfernarrativ vor den Erinnerungen der Opfer abgeschirmt, sondern jedwede Restitutionsforderung vonseiten der Juden und Jüdinnen abgeschmettert. Eine Überzeugung, die in der Rede des Abgeordneten Ernst Kolb (ÖVP) im Nationalrat in folgendem Ausspruch gipfelte: „Österreich hat aber nichts gutzumachen, weil es nichts verbrochen hat.“5

Bemerkenswert ist, dass die Verweigerungsnarrative nicht nur vonseiten der (ehemaligen) Nationalsozialist:innen, die im Nachkriegsösterreich kurz Ehemalige genannt wurden, oder Ariseur:innen in den politischen Diskurs getragen wurden, sondern eine Mehrheitsmeinung darstellten, die auch eine breite Zustimmung bei den Mitgliedern der politischen Elite fanden. Hier müssen wir die Fragen nach dem Bild der Juden und Jüdinnen stellen, das in der Öffentlichkeit gezeichnet wurde und für den öffentlichen Diskurs bestimmend war, und welche Motive dafür verantwortlich waren.

Lars Rensmann führt aus, dass der modernisierte Antisemitismus nach dem Holocaust auf „antisemitische Denk- und Ausdrucksformen verweist, die auf die veränderten demokratischen Ansprüche in der politischen Kultur nach dem Holocaust mit ideologischen Codierungen und Modifikationen reagieren“.6 Diese demokratischen Ansprüche sind in der österreichischen politischen Kultur in der langen Nachkriegszeit kaum bis marginal ausgeprägt. Es lässt sich eher von einer Akzeptanz der Ansprüche der Alliierten in der Zeit der beobachteten Demokratie Österreichs, die bis zur Erlangung der Souveränität dauerte, als von einer merkbaren Veranderung der Einstellung sprechen. Dies wird sowohl in den Entnazifizierungs- als auch in den Restitutionsdiskursen deutlich. Die österreichische politische Elite tabuisierte Antisemitismus zu ihren Gunsten, indem sie die Gleichheitsforderungen, die ohne Differenzierung angewandt wurden, zu einer harten Diskriminierungsfortsetzung der Juden und Jüdinnen umwandelte.

Als bemerkenswert müssen die kaum verschleierte Vorurteilshaltung und Diskriminierungsbereitschaft der politischen Elite gegenüber Juden und Jüdinnen bezeichnet werden, die sich in einem demokratisch legitimierten legislativen Antisemitismus manifestierte. Nachweisbar ist er in den politischen Diskursen innerhalb der normativen Willensbildungs- und Normsetzungsphase ebenso wie in den Normen selbst. In diesem Sinne schlage ich vor, den demokratisch legislativen Antisemitismus als Variante des Judenhasses und der Diskriminierungsbereitschaft gegenüber Juden und Jüdinnen zu verstehen, der in und durch entsprechende Normen verankert wird und als dessen Proponenten vor allem die Mitglieder der politischen Elite anzusehen sind. Durch die Normen, die Juden und Jüdinnen diskriminieren, wird eine nachhaltige Schwächung der Einfluss- und Durchsetzungsmöglichkeiten der Interessen von Juden und Jüdinnen bewirkt. Der demokratische und rechtsstaatliche Gleichheitsgrundsatz wird damit innerhalb des demokratischen Systems ausgehebelt. Die Nachhaltigkeit dieser vom nationalsozialistischen Vernichtungsantisemitismus initiierten und im nachnazistischen demokratischen System zwar angepassten, jedoch weitergeführten Diskriminierung zeigt sich bis heute in der Kunstrestitution. Obwohl betont werden muss, dass es seit den frühen 90er Jahren des vorigen Jahrhunderts Fortschritte gab, sind noch immer diskriminierende Entrechtungsnormen und Entscheidungssysteme vorhanden.

Entnazifizierung – Nazifreundlichkeit als politisches Selbstverständnis der Nachkriegszeit

Die Empathie der politischen Eliten gegenüber den Ehemaligen und ihr frühes Werben um diese Wähler:innengruppe muss als stimmiges Äquivalent zum Opfernarrativ verstanden werden. Die rein formale Entnazifizierung diente gleichzeitig der Untermauerung des Opfernarrativs und stand im Einklang mit der Verweigerungshaltung gegenüber Juden und Jüdinnen. Gefragt werden muss: Welcher politische Wille lag dem Handeln der politischen Elite (parteiübergreifend) zugrunde und welche Vorurteile (positive wie negative) können sichtbar gemacht werden?

Die Stenographischen Protokolle der Provisorischen Regierung lassen erkennen, dass diese ein hartes und klares Vorgehen gegenüber Mitgliedern der NSDAP und ihrer Vorfeldorganisationen beabsichtigte und entsprechende Normen gesetzt werden sollten. Eindeutige Entnazifizierungsbestrebungen signalisierten auch die Urteile der Volksgerichtshöfe, die engagiert arbeiteten und bis ins Jahr 1946 nicht wenige harte Urteile fällten.7 Dem anfänglichen Eintreten für eine entschiedene Politik gegen die NS-Anhänger:innen standen jedoch rasch politisch höhere Ziele entgegen. Im außenpolitischen Bereich waren dies vor allem Bestrebungen, die staatliche Souveränität und damit den Staatsvertrag zu erreichen. Damit war wiederum die Absicherung des Opfermythos verbunden. Innenpolitisch fokussierten sich die politischen Parteien vor allem auf wahl- und machttaktische Überlegungen. Dies hatte u. a. zur Folge, dass für die einzelnen politischen Parteien im Bereich der Entnazifizierungs- und Restitutionspolitik die Rekrutierung der Ehemaligen zum Maß aller Dinge wurde.

Als Markstein für die Einstellung der politischen Elite gegenüber den Nationalsozialisten und der NS-Vergangenheit eines Teils der Zivilbevölkerung kann das „Verbotsgesetz 1945“, das den Umgang mit NS-Parteimitgliedern regelte, angesehen werden. Mit ihm wurde das Verbot der nationalsozialistischen Politikarchitektur für die Nach-NS-Zeit verankert, die sogenannten Illegalen definiert und die Registrierungspflicht für Nationalsozialisten geregelt. Mit § 27 wurde jedoch auch die Möglichkeit des Ansuchens auf Befreiung von der Registrierungsverpflichtung eröffnet.8 Als Umgehungskonstrukt gegen eine ehrliche Entnazifizierung fand der rechtschaffene Nazi Eingang in die österreichische Normsetzung und politischen Narrative. Aufgrund der genannten Bestimmung konnten Personen, die trotz ihrer „Zugehörigkeit zur NSDAP oder einem ihrer Wehrverbände [SS, SA, NSKK, NSFK]“ diese „niemals mißbraucht“ hatten und durch deren „Verhalten noch vor der Befreiung Österreichs auf eine positive Einstellung zur unabhängigen Republik Österreich mit Sicherheit“9 zu schließen war, von der Registrierungspflicht ausgenommen werden. Entscheidungsgremium für diese Befreiung war die Provisorische Staatsregierung. Allen Opfern des Nationalsozialismus musste die Ausrichtung des politischen Willens mit diesem Schritt endgültig klar gewesen sein.

Um das politische Gewicht der damit verbundenen Verharmlosungsbereitschaft zu verdeutlichen, sollte daran erinnert werden, dass ehemalige KZ-Häftlinge Teil der Provisorischen Staatsregierung waren und dass vor allem Leopold Figl (ÖVP) schwerste Misshandlungen erdulden musste. Diese Ambivalenz der Empathie ehemaliger NS-Opfer mit NS-Tätern, die eine solche begünstigende Gesetzgebung begründete, gilt auch für die Mitglieder des Nationalrates.

Auch wenn darauf verwiesen werden kann, dass durch die Einsetzung der Provisorischen Staatsregierung als Entscheidungsgremium mit einer eher geringen Anzahl an Ausnahmeanträgen gerechnet wurde, ändert dies nichts an der Weichenstellung für eine täter:innenfreundliche Entnazifizierung sowie der Signalwirkung an die entsprechende Bevölkerungsgruppe, die mit diesem Paragrafen erfolgte. Noch umfangreicher wurde die Bereitschaft der politischen Elite, den Ehemaligen entgegenzukommen, mit der kurz als „NS-Registrierungsverordnung“10 bezeichneten Durchführungsverordnung der Registrierung, die am 11. Juni 1945 erlassen wurde, dokumentiert. Auf den ersten Blick erscheint die Einbeziehung der Länderebene als Vorentscheidungsgremium bei den Ausnahmebewilligungen als logische Konsequenz der föderalen Strukturen. De facto wurden damit aber auch die Interventionsmöglichkeiten für die „eigenen Leute“ (und jene, die es werden sollten) ausgeweitet.

Relevanz für die Bewertung der Flexibilität der politischen Elite in ihrer Entnazifizierungsstrategie hat der Umstand, dass Karl Renner nur zwei Wochen nach der Installierung der Umgehungsmöglichkeit seine Sorge über die hohe Anzahl der Ausnahmegesuche ausdrückte: „Ich möchte dazu nur bemerken, daß es beinahe abenteuerlich wirkt, wie die Gesuche hereinströmen. In einer Aussprache mit einigen Herren habe ich bemerkt, dass wir eigentlich eine tadellose Statistik anlegen, die den Anschein wecken würde, als ob Österreich tatsächlich naziverseucht war. Um diesen Anschein zu vermeiden, dürfen wir nicht zu weit gehen und müssen einen milderen Maßstab anlegen.“11 Damit wurde deklariert, dass die Entnazifizierung als notwendiges Pflichtprogramm und nicht als Anliegen zu sehen sei. Der „mildere Maßstab“ bedeutete für Ehemalige nichts Geringeres als die Akzeptanz ihres Handelns als zeitbezogene Anomalie und die Signalisierung baldiger moralisch-politischer Absolution.

Dieses Zitat dokumentiert, dass die Absicherung des Opfermythos die österreichische Innen- und Außenpolitik zu diesem Zeitpunkt bestimmte. Gleichzeitig verdeutlicht es, dass die Akzeptanzbereitschaft hinsichtlich der (Un)Taten der Täter:innen, die bis zu einem sehr offen und emphatisch definierten hohen Duldungsgrad beinahe selbstverständlich Arisierungen und Gewaltübergriffe durch die Zivilgesellschaft und selbst die offene Beführwortung der NS-Ideologie inkludierte, als Grundlage für die österreichische Entnazifizierungs- und Restitutionsgesetzgebung diente.

Für die formale Entnazifizierung wurde angestrebt, die Amnestiegesetzgebungen rasch und unbürokratisch abzuschließen. Vor allem mit der Minderbelastetenamnestie im Jahr 1948 und dem Gnadenerlass 1949 durch den Bundespräsidenten setzte die politische Elite Schritte, um die Ehemaligen zu entlasten.

Einer der stärksten Versuche, die Gesetzgebung zugunsten der Täter:innen zu gestalten, war der im Jahre 1950 von den Abgeordneten der Regierungsfraktionen SPÖ und ÖVP eingebrachte Initiativantrag „betreffend ein Bundesgesetz über den Härteausgleich in Rückstellungsfällen und die Errichtung eines Härteausgleichsfonds“.12 Beabsichtigt war, mit diesem Antrag das 3. RStG soweit zu verändern, dass die sogenannten Rückstellungsbetroffenen, d. h., die Ariseur:innen, die eine Rückgabe an die rechtmäßigen Eigentümer:innen zu befürchten hatten oder mit einer Rückstellung konfrontiert waren, wenig bis keine Konsequenzen zu befürchten gehabt hätten. Die beiden Koalitionsparteien beabsichtigten z. B. die Erkenntnisse der Rückstellungskommission für Betriebe, die vor dem März 1938 bereits ernsthafte wirtschaftliche Schwierigkeiten hatten, aufzuheben und neu verhandelbar zu gestalten. In Artikel II § 2 wurde die Enteignungsmöglichkeit im Sinne der Ariseur:innen geregelt, wobei bereits der fehlende Nachweis der „fachlichen Eignung zur Führung einer Land- und Forstwirtschaft“ oder jener, dass eine solche nicht vom Rückstellungsberechtigten „persönlich bewirtschaftet“ wurde, eine Rückgabeforderung verunmöglicht hätte. Die Enteignung sollte „gegen angemessene Entschädigung“ erfolgen. In Art. III wurde die Konstruktion eines Härteausgleichsfonds vorgeschlagen. Dieser sollte aus sogenannten erblosen Mitteln gespeist werden und für die Opfer des NS-Terrorregimes finanzielle Erleichterungen bringen. In § 3 Abs. 2 Z 4 wurden allerdings die „zur Rückstellung verpflichteten Erwerber, die im übrigen die Regeln des redlichen Verkehrs eingehalten haben“, als Begünstigten aufgenommen. Durch diese Regelung hätte eine Unzahl der sogenannten Rückstellungsbetroffenen Zugang zu finanziellen Hilfen aus diesem Fonds erhalten und durch die demokratische Normsetzung der Zweiten Republik doppelt von der völligen Entrechtung und Beraubung bis hin zur Tötung der Juden und Jüdinnen im Nationalsozialismus profitiert. Die Umverteilung zugunsten der NS-Nutznießer:innen wäre durch das angepeilte Gesetz nicht nur gesetzlich zementiert, sondern zudem, mit Hilfe des mitinstallierten Härtefonds, auch finanziell abgefedert worden.

Der Initiativantrag sorgte für diplomatische Verstimmung zwischen den Alliierten und der österreichischen Bundesregierung. Letztere hatte versichert, dass vor der parlamentarischen Sommerpause keine erwähnenswerten Anträge im Nationalrat gesetzt werden würden. Vor allem die US-Amerikaner zeigten sich ob dieses massiven Wortbruchs erbost. Walter C. Dowling13 sprach von einem „unverfrorenen Vorstoß“ seitens der österreichischen Regierung und bezweifelte indirekt die österreichische Paktfähigkeit. Vizekanzler Schärf (SPÖ) verwies in seiner Erklärung auf die Nichtzuständigkeit der Bundesregierung und einen Alleingang des Nationalrates. Er vergaß zu erwähnen, dass er nicht nur Vizekanzler, sondern auch Klubobmann der SPÖ-Parlamentsfraktion und damit über den Initiativantrag informiert war. Auch Bundeskanzler Figl musste als ÖVP-Parteiobmann diesen genehmigt haben. Bei politisch sensiblen oder bedeutsamen Gesetzesanträgen muss davon ausgegangen werden, dass diese den höchsten Parteigremien genehmigungspflichtig vorzulegen waren und auch interne Diskussionen stattfanden. Hinzu kommt, dass die Verschränkung zwischen Bundesregierung und Nationalratsklubs zu diesem Zeitpunkt wesentlich ausgeprägter war als heute. Dies ergab sich schon allein durch den Umstand, dass die Bundesminister zu diesem Zeitpunkt auch Nationalratsabgeordnete waren. Hinzu kamen die genannten Doppelfunktionen, wie ebenjene bei Schärf. Insgesamt ist der Initiativantrag 35/A ein Beispiel für die politisch beträchtliche und diplomatisch beinahe verwegene Bereitschaft der politischen Elite, die ehemaligen Nationalsozialisten begünstigende Normen zu erlassen und die radikal antisemitische Entrechtung der Juden und Jüdinnen nicht infrage zu stellen.

Das Krauland-Ministerium und der Justizapparat als kongeniale Ergänzung der Absicherung des „nationalsozialistisch bedingten Erwerbs“

Peter Krauland muss als äußerst ambivalente Persönlichkeit bezeichnet werden. Julius Raab (ÖVP) holte ihn, der kaum einen politischen Hintergrund hatte, in die Bundespolitik. In der Regierung Figl I war er für die sensible Rückstellungspolitik zuständig. Für die Einschätzung seines Ministeriums ist von Bedeutung, dass in diesem außergewöhnlich viele Ehemalige mit Sonderverträgen angestellt wurden. Dies war mit mehr oder weniger ausgeprägten Karrierebeschönigungen verbunden. In einigen Fällen wurde die Anstellungspraxis mit der im Nationalsozialismus erworbenen Expertise begründet, so etwa bei Walther Kastner, der im NS-Terrorregime eine zentrale Figur bei der Arisierung von Großprojekten war. Kastner, dessen Berufung in diesem Bereich selbst für die damaligen Verhältnisse als heikel zu bezeichnen ist, wurde u. a. vom Abgeordneten Eduard Ludwig (ÖVP) mit einem Schreiben protegiert, in dem er betonte: „Kastner war erfahrener Mitarbeiter der Vermögensverkehrsstelle 1938/45, dann im Bundesministerium für Vermögenssicherung und Wirtschaftsplanung Konsulent der Sektion II (Verstaatlichung) und jetzt, nach Entnazifizierung, kehrte er zur Advokatur zurück. Une bonne tête, zweifelsohne. Und sicher berufen, zu entwirren, an dessen Verknäuelung er namhaft wirkte.“14 Die Verstrickungen konnte er sicherlich entwirren, allerdings auf Basis einer ausgesprochen NS-orientierten Sichtweise, wobei nicht angenommen werden konnte, dass Kastner, der ab 1964 Universitätsprofessor in Innsbruck und ein außerordentlich angesehener Jurist war, sich von seinem Handeln im NS-Terrorregime distanziert hatte. So erklärte er noch im Jahre 1990 hinsichtlich der Scheinarisierung: „Der emigrierende Jude übertrug einem arischen Freund sein Vermögen unter der Auflage, es bei Beendigung der nationalsozialistischen Regierung auf Verlangen wieder zurückzugeben.“15 Abgesehen von der Verwendung des herablassenden Terminus „der emigrierende Jude“, den Kastner noch im Jahre 1990 für geeignet hielt, um die Arisierungsproblematik zu beschreiben, scheint er mehr Probleme mit den sogenannten Scheinarisierungen gehabt zu haben, bei denen Zivilcourage und Solidarität mit Juden und Jüdinnen zum Tragen kamen, als mit den damals rechtmäßigen Arisierungen.

Konnte die Personalpolitik in den einzelnen Ressorts in einem annähernd abgeschlossenen Raum erfolgen, war dies im Bereich der Justiz nicht möglich. Die Provisorische Staatsregierung selbst betonte anfänglich den hohen Anspruch, der an die Richter und Staatsanwälte gestellt werde. So erklärte Karl Altmann (Unterstaatssekretär), dass „kein Strafrichter, kein Staatsanwalt, kein Vollzugsbeamter“16 eingestellt werde, „der jemals Nationalsozialist war oder auch nur seinen Nacken nicht genügend steif gehalten hat“.17 Die Realität sah anders aus. Vor allem aufgrund der Personalnot wurden Ehemalige weiterbeschäftigt. Dies galt sowohl für den administrativen Bereich als auch für Richter und Staatsanwälte. Geflüchtete Jurist:innen wurden nicht zur Rückkehr eingeladen. Damit war der Kontinuität der Vorurteile und nationalsozialistischen Grundhaltungen in der Justiz Tür und Tor geöffnet. Wolfgang Stadler bemerkt zutreffend, dass mit dieser Vorgangsweise die Chance, die österreichische Justiz zu demokratisieren, vertan wurde.18

Halten wir an diesem Punkt der Ausführungen fest, dass der Opfermythos mit all seinen Verweigerungen und Verkürzungen hinsichtlich der Schuldaufarbeitung nicht nur von den Narrativen über Österreich als erstem Opfer des Nationalsozialismus abgesichert wurde, sondern diese Narrative ihrerseits durch eine entsprechende Personalpolitik getragen wurden. Dies ist für die Einschätzung der Wirkung des demokratisch legitimierten Antisemitismus von wesentlicher Bedeutung – einerseits aufgrund der positiven Konsequenzen für die Täter:innen, andererseits für die negativen Auswirkungen auf deren Opfer.

Restitutionspolitik – die demokratische Absicherung der Entrechtung und Enteignung der Juden und Jüdinnen

Die Rückgabe- oder Wiedergutmachungspolitik musste zwangsweise durch entsprechende Normen geregelt werden, wobei die Aufspaltung in Restitutions- und Rückgabegesetze von zentraler Bedeutung war.19 Die Unterscheidung manifestiert die Einstellung zur Legitimität der Ansprüche. Mit den Rückgabegesetzen wurde ausschließlich das im Zeitraum von 1933 bis 1938 entzogene Vermögen geregelt. Der zeitliche Rahmen dokumentierte nicht nur das Selbstverständnis, dass alle gesetzlichen und menschlichen Übergriffe, die im Nationalsozialismus erfolgten, nichts mit dem österreichischen Staat und seiner Verantwortung zu tun hatten.20 Er ließ auch zu, dass die politischen Parteien, die davon unzweifelhaft betroffen waren, maßgeschneiderte Gesetze für sich erlassen konnten, ohne Präjudizfälle für die Rückgabe der Vermögenswerte von Juden und Jüdinnen zu erzeugen.

Entsprechende Narrative bestimmten nach 1945 die Diskussion. So betonte der Abgeordnete Ernst Kolb (ÖVP) bereits im Mai 1946 in einer außerordentlich gewagten Interpretation der NS-Arisierungspolitik, dass die Rückerstattung von Vermögenswerten nur zweitrangig das arisierte Eigentum von Juden und Jüdinnen betreffen würde. Kolb führte u. a. aus, dass die erste Anspruchsberechtigte die Republik Österreich sei, „denn ein erheblicher Teil all des Vermögens, das in den vergangenen sieben Jahren den Eigentümer wechseln musste, gehörte dem österreichischen Staat. Man hat zur Zeit des Nationalsozialismus absichtlich viel von Arisierung gesprochen, um zu vertuschen, dass weitaus der größere Teil alles entzogenen Vermögens nicht aus rassistischen, sondern aus politischen Gründen weggenommen wurde. Hauptsächlich handelte es sich da um Österreicher, weshalb man nicht gut vorschützen konnte, man legte volksfremdes Eigentum in die Hände des Volkes, denn es wurde ja bodenständiges Eigentum von Österreichern in fremde Hände gespielt. Um das zu verdecken, erfand man das Schlagwort der Arisierung; tatsächlich handelte es sich nur bei einem Teil des entzogenen Vermögens um Arisierungen.“21 Kolb, der als Bundesminister für Handel und Wiederaufbau und danach als Unterrichtsminister den Regierungen Figl I bis III sowie Raab I angehörte und ab 1959 eine Professur in Innsbruck innehatte, war keine zentrale Figur in der ÖVP der Nachkriegszeit, allerdings auch keine Randfigur. Seine Rede kann als durchaus aussagekräftig hinsichtlich der Mainstream-Meinung innerhalb der ÖVP, aber auch der politischen Elite insgesamt angesehen werden.

Der politische Wille, der in Norm gegossen werden sollte, ist nicht schwer herauszuschälen. Sein offener Antisemitismus ist letztlich doch überraschend. Juden und Jüdinnen wurden in Kolbs Darstellung der NS-Enteignungspolitik nicht nur weiterhin explizit aus der österreichischen Wir-Gemeinschaft ausgeschlossen. In seiner Rede wurden die Restitutionsforderungen von jüdischer Seite indirekt als überzogen und kontrafaktisch dargestellt. Indem man die antisemitischen Stereotype über die jüdische Geldgier bediente, führte man sie fort. Gleichzeitig baute man seitens der politischen Elite bereits sehr rasch nach 1945 die Narrative der Legitimationsdefizite hinsichtlich der Rückgabeforderungen des arisierten Vermögens in die Abwehrnarrative ein.

Der Umstand, dass Kolb den Nationalsozialisten eine Art Verschleierungstaktik bei ihrer Raubpolitik unterstellte, dokumentiert sowohl die Verweigerung der Verantwortungsübernahme Österreichs als auch die Marginalisierungsstrategie der politischen Elite gegenüber dem Opferstatus der Juden und Jüdinnen.

Für die österreichische Verweigerungshaltung wurde mit der umfassenden Opferharmonisierung ein entscheidender Faktor der Täter:innen-Begünstigung in den politischen Diskurs und Normsetzungsprozess eingeführt. Diese bestand nicht nur in der zwangsweisen Verkürzung des Leidensdrucks, der Entrechtung und Ermordung der Juden und Jüdinnen, sondern – auf der anderen Seite – der Überhöhung und Gleichsetzung des Krieges an sich als Äquivalent. Die Verharmlosung des radikalen Antisemitismus des NS-Systems war in der Nachkriegszeit omnipräsent. Auch der durchaus als ausgewogen zu bezeichnende Entwurf der Wiener Rechtsanwaltskammer für ein Wiedergutmachungsgesetz, der vor allem den Vorteil eines einheitlichen Gesetzes für die Gesamtproblematik vorwies, hätte auf der Vorstellung beruht, dass „in tausenden von Fällen Vermögensübertragungen in der Form von Rechtsgeschäften durchgeführt wurden, bei denen die damaligen Eigentümer selbst oder durch Bevollmächtigte vertreten waren. Juden oder andere politische Gegner des Nationalsozialismus, die im Jahre 1938 zur Auswanderung entschlossen waren, verkauften Häuser, Schmucksachen, Hausrat und andere Vermögenschaften, sei es, um die Mittel für die Auswanderung und für den Aufbau einer neuen Existenz im Ausland zu schaffen, sei es, um die Reichsfluchtsteuer und die sonstigen von ihnen verlangten Abgaben rechtzeitig bezahlen zu können.“22 Festzuhalten ist zu diesem Gesetzesentwurf, dass die unterstellte Freiwilligkeit des Kaufaktes durch die extreme Verharmlosung der Flucht und die Verzerrung der Ausreisebedingungen, mit denen Juden und Jüdinnen konfrontiert waren, ergänzt wurden.

Die politische Elite entschied sich für eine Aufsplitterung der Materie,23 wobei die Normalitätsannahme bei den erzwungenen Veräußerungsakten noch ausgebaut wurde. Für die Mehrheit der Restitutionsfälle war das Dritte Rückstellungsgesetz (3. RStG)24 ausschlaggebend. Das Gesetz war schonend auf Ariseur:innen ausgerichtet. In § 2 Abs. 1 wurde geregelt, dass „eine Vermögensentziehung im Sinne des § 1 (1) [vorliegt], wenn der Eigentümer politischer Verfolgung durch den Nationalsozialismus unterworfen war und der Erwerber des Vermögens nicht dartut, dass die Vermögensübertragung auch unabhängig von der Machtergreifung des Nationalsozialismus erfolgt wäre.“25 Im Weiteren wird in Abs. 2 geregelt, dass „in anderen Fällen eine Vermögensentziehung insbesondere nicht vor[liegt], wenn der Erwerber dartut, dass der Eigentümer die Person des Käufers frei ausgewählt und eine angemessene Gegenleistung erhalten hat oder dass die Vermögensübertragung auch unabhängig von der Machtergreifung des Nationalsozialismus erfolgt wäre.“26 Der Gesetzestext geht eindeutig von der möglichen Freiwilligkeit des Verkaufenden aus, eine Grundsatzhaltung, die, wie gezeigt werden wird, in der Kunstrestitution eine nachhaltige Diskriminierung der ehemaligen Besitzer:innen bewirkte. Die Interpretation der Freiwilligkeit stellte wiederum eine eindeutige Begünstigung der sogenannten Erwerber:innen dar. Die an der Entstehung der Gesetzesentwürfe beteiligten Juristen, die in den meisten Fällen die radikale Entrechtung der Juden und Jüdinnen bewusst miterlebt hatten, blendeten diese umfassend aus, was ihnen erlaubte, von einer Gleichheit zwischen Verkaufenden und Kaufenden auszugehen. In der Nationalratsdebatte erklärte z. B. der Abgeordnete Otto Tschadek (SPÖ), dass die Rechtsgeschäfte „mit dem Stempel der Nichtigkeit versehen“27 waren, allerdings „bei den Beratungen nicht übersehen [wurde], dass die Fälle natürlich verschiedenartig gelagert sein können,“28 wobei er darauf hinwies, dass Käufer „von den Verfolgten selbst gebeten wurden, den Kaufvertrag zu tätigen“, um mit dem so rekrutierten Geld „rechtzeitig über die Grenze fliegen zu können“.29 Diese starke Verkürzung bzw. Verzerrung der allermeisten Fälle bildete die Grundlage für seine Ausführung, dass es eine Ungerechtigkeit darstellen würde, „hier eine vollkommene Gleichschaltung vorzunehmen“.30 Seine Conclusio des politischen Willens: „Wir haben daher in diesem Gesetz die Auffassung verankert, dass bei gewissen Arten dieser Rechtsgeschäfte der Grundsatz des redlichen Verkehrs angewendet werden soll und der Entzieher, richtiger der Erwerber des entzogenen Vermögens, nach den Bestimmungen des Bürgerlichen Gesetzbuches wie ein redlicher Besitzer zu behandeln ist. Dies ist ein Akt der Erkenntnis, unter welchen Umständen sich eben das Leben in diesem traurigen Kapitel der Vergangenheit abgespielt hat.“31

Tschadek war während des Nationalsozialismus Jurist und Marinerichter in Kiel. In dieser Funktion schreckte er selbst vor Todesurteilen nicht zurück, ein Zeichen dafür, dass er als regimetreu angesehen werden kann. Gesichert ist, dass er mit den NS-Gesetzen vertraut sein musste. Die „Verordnung über den Einsatz des jüdischen Vermögens“,32 die in § 14 das Verbot für Juden regelte, „Gegenstände aus Gold, Platin oder Silber sowie Edelsteine und Perlen zu erwerben, zu verpfänden oder freihändig zu veräußern“, musste ihm und anderen Juristen genauso bekannt gewesen sein wie die „Verordnung über die Anmeldung des Vermögens von Juden“,33 mit dem die Anmeldungsverpflichtung für Vermögen von Juden geregelt wurde. Hinzu kamen die diversen und vielfältigen Sonderabgaben und Steuerregelungen für Juden und Jüdinnen, die alle zusammen auf die Vernichtung der ökonomischen Existenz der jüdischen Bevölkerung ausgerichtet waren.

Gabriele Anderl und Dirk Rupnow weisen im Zusammenhang mit der Aufarbeitung der Rolle der „Zentralstelle für jüdische Auswanderung“ darauf hin, dass die „Verknüpfung der Auswanderung bzw. Vertreibung einerseits und der Deportationen andererseits mit dem Aspekt des Vermögensentzugs“34 im Zusammenhang zu sehen ist und einen „wesentlichen Teil der antijüdischen Politik der Nationalsozialisten“35 beschreibt. Zentral ist, dass die radikale Entrechtung und Beraubung der Juden und Jüdinnen nicht nur nicht geheim gehalten wurde, sondern ein wesentlicher Teil der Propaganda des radikalantisemitischen Terrorregimes war. Allein der massive Anstieg an Hausrat, Kunst- und Wertgegenständen etc., die ab März 1938 im Dorotheum erwerbbar waren, muss als auffällig gewertet werden.

Diese Auffälligkeit wurde in der Rückstellungsgesetzgebung weitestgehend negiert. Den historischen Tatsachen und eigenen Kenntnissen zum Trotz installierte die politische Elite den redlichen Erwerb nicht als Ausnahme, sondern vielmehr als Normalfall. Gemäß dem von Tschadek (SPÖ) erzählten Narrativ wurden jene Arisierungen, die mit einem Kaufakt einhergingen, als, in den überwiegenden Fällen, normaler Veräußerungsprozess aufgefasst: „Wurden bewegliche Sachen in einer öffentlichen Versteigerung oder außer einer solchen im Zuge eines Exekutions- oder Konkursverfahrens oder von einem zu diesem Verkehre befugten Gewerbsmann oder gegen Entgelt von jemandem erworben, dem sie der Eigentümer selbst zum Gebrauche, zur Verwahrung oder in was immer für einer Absicht anvertraut hat, so gelten sie nur dann als im Sinne des § 1 Abs. 1 entzogen, wenn der Erwerber wusste oder wissen musste, dass es sich um entzogenes Vermögen gehandelt hat.“36 Sämtliche Transaktionen des Dorotheum fielen nach den Regelungen der Nachkriegszeit nicht darunter – was sich auch anhand der verweigerten Kunstrestitution nachvollziehen lässt. Die Normsetzung der Zweiten Republik verharmloste demnach nicht nur den radikalen legislativen Entrechtungsprozess im Nationalsozialismus, sondern tradierte die Diskriminierung der Juden und Jüdinnen in das demokratische Normsystem der Zweiten Republik.

Die Kunstrestitution – Normen und deren Interpretation

Ein besonderes Kapitel innerhalb der Restitutionspolitik muss der Kunstrestitution eingeräumt werden. Neben der mit Kunstobjekten verbundenen Manifestation von Macht und Ansehen war dies vor allem dem österreichischen Normensystem (gesetzlichen Regelsystem) geschuldet. Das Interesse des Staates (nicht nur des österreichischen) an Kunstgegenständen spiegelte sich u. a. in den Ausfuhrverboten wider. So wurde in Österreich ein solches bereits im Jahre 1918 erlassen, wobei 1923 die Ausnahmen geregelt wurden. Nach 1945 war dies ein starkes Instrument in den Restitutionsverhandlungen. Eine weitere Problematik ergab sich durch den Charakter der Kunstgegenstände, die in den allermeisten Fällen mobile Gegenstände sind, womit ihr rechtmäßiger Erwerb mit der Frage des redlichen Erwerbs bzw. der Freiwilligkeit der Veräußerung verbunden ist. Damit kausal ist die allgemeine Verjährungsfrist von 30 Jahren verbunden, die letztlich als besonders nachhaltig wirkt. Neben diesen starken Normen wurden noch kleinere „Fallstricke“ während der Entstehung der Restitutionsgesetzgebungen konstruiert. So wurde im Nichtigkeitsgesetz37 im Jahre 1946 in § 2 festgeschrieben, dass die „Art der Geltendmachung und der Umfang der Ansprüche“ durch ein eigenes Gesetz geregelt werden solle, dieses Gesetz wurde allerdings nie erlassen. Ein weiteres Problem stellten höchstgerichtliche Entscheidungen dar, die von der Politik zur Kenntnis genommen wurden, obwohl eine Gegenlenkung möglich wäre. Hier sei auf die enge Interpretation von § 875 ABGB38 durch den OGH im Jahre 1946 hingewiesen. Der OGH ging davon aus, dass bei Arisierungsgeschäften der Zwang der Situation dem Verkäufer in einem konkreten Verkauf nachzuweisen sei. Eine spezifische Restitutionsgesetzgebung hätte auf diese Rechtsprechung reagieren können.

Die Kunstrestitution, die bis 1969 vor allem in entsprechend anzuwendenden Regelungen der sieben Rückstellungsgesetze eine rechtliche Grundlage hatte, wurde mit dem Ersten Kunst- und Kulturbereinigungsgesetz (BGBl 294/1969) von der Normaufsplitterung befreit und einer Aufbereitungsarbeit (Listenerstellung der Objekte) zugeführt. Ohne hier auf die unterschiedlichen Ereignisse, die zu den weiteren Normsetzungen führten, eingehen zu können, sei hier auf den reaktiven Charakter der Normsetzungsprozesse hingewiesen, dem zumeist internationale Diskussionen vorangegangen waren.

Österreich, das sich als treuhändischer Verwalter der „Restitutionsmasse“ verstand, beabsichtigte nach Aussagen des damaligen Leiters des Bundesdenkmalamtes, Otto Demus, im Jahre 1948 nicht, die herrenlosen Objekte in das Staatseigentum überzuleiten. Dieses Vorhaben wurde in § 7 des besagten Gesetzes gegenteilig geregelt, wobei das Zweite Kunst- und Kulturbereinigungsgesetz (BGBl 2/1986) aufgrund der internationalen Diskussion nach der Veröffentlichung von Decker über die Raubkunst in Österreich zwangsweise durch ein größeres Entgegenkommen gegenüber den ehemaligen Besitzer:innen bzw. deren Erb:innen charakterisiert war.

Festgehalten werden soll, dass es Kunstrestitution sehr wohl gegeben hat und diese auch auf der Grundlage der sieben Rückstellungsgesetze erfolgte. Gleichzeitig ist im Bereich der Kunstrestitution anzumerken, dass die reale Restitutionspolitik die gegebenen Normen zugunsten der Bestandswahrung einsetzte. Restitutionen wurden einerseits von Widmungen und Schenkungen abhängig gemacht, andererseits mit sofortigen Ausfuhrverboten belegt. Dabei wurde die Aufhebung dieser wieder mit Widmungen/Schenkungen in einen kausalen Zusammenhang gestellt.

Ein Anriss der Realität in der Kunstrestitution

Manchmal erfolgte dies als „vertrauensbildende Maßnahme“ oder „vorauseilender Gehorsam“ von Seiten der Antragssteller:innen, manchmal wurde dies direkt eingefordert und manchmal setzten sich die Betroffenen oder auch ihre Nachfahr:innen gegen diese neuerliche Enteignung zur Wehr. Beispiele dafür sind u. a. die umfangreichen Restitutionsverhandlungen mit den Familien Rothschild und Lederer. Felicitas Kunth führt an, dass die Ausfuhrabgabe 10 Prozent des Wertes jener Objekte umfasste, die außer Landes gebracht werden sollten. „Wissend, dass die Rothschilds, die während des Dritten Reichs ihr gesamtes Vermögen verloren hatten, nicht in der Lage waren, diese Abgaben zu leisten, baute man auf eine Bezahlung in Form von freiwilligen Schenkungen.“39 Alphonse Mayer von Rothschilds Witwe sah sich, wie Kunth anmerkt, gezwungen, „dem Kunsthistorischen Museum insgesamt 83 Kunstobjekte zu widmen und 70 Musikinstrumente zu leihen. Die Widmung betrafen die Gemäldegalerie (sieben Objekte) und die Sammlung alter Musikinstrumente (vier Objekte).“40 Als im Jahre 1952 die Sammlung restituiert wurde, waren 207 Widmungen und 70 Leihgaben zugunsten der österreichischen Museen getätigt worden.41 Noch im Jahre 1982 wurde von der Direktion des Kunsthistorischen Museums darauf hingewiesen, dass die Auflagen der Kunstausfuhrbestimmungen „in Anbetracht des persönlichen Schicksals der Betroffenen“42 aufgehoben worden waren und sich als „Gegenleistung“ eine Übertragung einiger Bilder in das Eigentum der Republik Österreich ergab, womit die Bilder „somit völlig rechtmäßig in deren Eigentum“43 gelangten. Dass die Eigentümer keine andere Wahl hatten, um einen geringen Teil ihres ehemaligen Eigentums wiederzuerlangen, wurde dabei völlig ausgeblendet. Erst die Aufarbeitung durch den Fachbeirat unter Ernst Bacher, der die vollständige Rückgabe der Kultur- und Kunstgegenstände empfahl, führte letztlich dazu, dass die „Widmungen“ an die Erben der Familie Rothschild übergeben wurden.44

Im Falle der Familie Lederer sind ähnliche Vorgangsweisen nachzeichenbar. August und Serena Lederers45 Klimt- und Schiele-Sammlungen galten als herausragend und beinhalteten u. a. den berühmten Beethovenfries und das Bild „Apfelbaum II“.46 Dementsprechend umfassend waren die Restitutionsforderungen vonseiten ihres Sohnes Erich Lederer, der für sich und seinen Bruder Fritz die Verhandlungen führte.

Die Aufrechterhaltung der rechtlich abgesicherten Übervorteilung

Mit der Novelle zum Bundesgesetz über die Rückgabe von Kunstgegenständen an die Österreichischen Bundesmuseen und Sammlungen (BGBl 117/2009) wurde durch § 1 die Verknüpfung von Ausfuhrverboten mit Restitutionsbewilligungen zugunsten der Restitutionsbegünstigten geregelt, was zwar eine Verbesserung für die Erben bedeuten kann, allerdings nicht zwangsweise muss. Dies begründet sich durch die Regelung, die im Kunstrückgabegesetz (KRG) 1998 gesetzlich verankert wurde. Rückgabeermächtigt wurden die zuständigen Minister:innen. Als beratendes Organ wurde der Kunstrückgabebeirat installiert, wobei die Praxis zeigt, dass die Entscheidungen der Bundesminister:innen von dessen Empfehlungen nicht abwichen. Private Sammlungen wurden in die gesetzlichen Regelungen nicht inkludiert, womit auch die Stiftung Rudolf Leopold ausgeklammert blieb. Im Fall des Beethovenfrieses entschied der Beirat gegen eine Rückerstattung, da er den „engen Zusammenhang“ nicht gegeben sah.47

Es ist beinahe zynisch, dass die Eigentümer und deren Erben aktuell mehr denn je keinen Rechtsanspruch auf Kunstrestitution haben. Durch die allgemeine Verjährung nach 30 Jahren ist es für die Republik Österreich in Fällen der Kunstrestitution einfacher, ein Konstrukt des guten Willens, abgesichert mit der Reputation der Beteiligten (Beirat), aufzubauen, als einen umfassenden Umbau des Rechtssystems zu wagen. So nachvollziehbar diese unausgesprochene Haltung auch ist, bleibt sie trotz allem inakzeptabel. Die Rückgaben oder Nichtrückgaben stehen im Ermessensspielraum eines Beirates sowie der zuständigen Minister:innen. Dies bedeutet, dass die Rückstellungseinfordernden keine Parteienstellung haben und de facto Bittsteller:innen bleiben. Es bedeutet aber auch, dass Fehlentscheidungen nicht rückgängig gemacht werden können, wie dies im Falle des Bildes „Apfelbaum II“ dokumentiert wurde.48 Die Republik Österreich schenkt die Kunstobjekte den Restitutionseinfordernden, sie restituiert sie nicht. Damit verbunden ist, dass die Rückgabe der geraubten Objekte kein Anrecht ist, sondern ein Gnadenakt seitens der Republik Österreich.

Fazit

Die politische Elite der Anfangsjahre der Zweiten Republik setzte sich zum Großteil aus versierten Profis der Ersten Republik zusammen, wobei diese Gruppierung mit Akteuren und hohen Beamten des Austrofaschismus/Nationalsozialismus ergänzt wurde. Aus unterschiedlichen Gründen wurde die völlige Neugestaltung der neu zu gründenden Republik nicht erwogen. Die Erzählungen, mit denen das Selbstverständnis abgesichert wurde, beruhten auf dem umfassenden Unschuldsnarrativ und sicherten die Zurückweisung der Mitschuld und Teilhabe am Nationalsozialismus und dem Vernichtungs- und Entrechtungsantisemitismus ab. Die Narrative bezeugen zudem die Abwesenheit von Empathie mit den Opfern des Nationalsozialismus. Letztlich muss die Frage, wie die vorurteilsbehaftete Gesetzgebung gesetzt werden konnte, mit dem Hinweis auf ebensolche Wertehaltungen der politischen Elite beantwortet werden. Von zentraler Bedeutung ist, dass Juden und Jüdinnen auch in der langen Nachkriegszeit der Zweiten Republik nicht als selbstverständlich handelnde politische Subjekte und Gleiche unter Gleichen wahrgenommen wurden. Damit wurden und waren sie vom politischen Diskurs umfassend ausgeschlossen – ein Umstand, der vor allem bei den Restitutionsforderungen der Juden und Jüdinnen offenkundig wurde.

Die kurze Darstellung zeigt in Grundzügen, dass erstens die antisemitischen Stereotype der politischen Elite die Entrechtung der Juden und Jüdinnen demokratisch legislativ tradierte und die Bevorzugung der Täter:innen strukturell wie legislativ keineswegs beendet wurde. Die Fortsetzung der legislativen Entrechtung der Juden und Jüdinnen ist als neue Interpretation des Entrechtungs- und Beraubungsselbstverständnisses unter demokratischen Rahmenbedingungen zu werten. Hand in Hand ging die Erreichbarkeit der demokratischen Entrechtung mit der Tradierung antisemitischer Stereotype und der radikalen Verharmlosung des ebenso radikalen Entrechtungs- und Vernichtungsantisemitismus im Nationalsozialismus. Die Zivilgesellschaft trug die politischen Entscheidungen nicht nur mit, sondern forderte sie zum Teil auch ein. Daraus ergab sich eine Deckungsgleichheit zwischen dem politischen Willen und der Mehrheitsmeinung der Bevölkerung.

Anmerkungen

1In Anlehnung an Eric Hobsbawms Begriff des „langen 19. Jahrhunderts“ nenne ich die Zeit bis Mitte der achtziger Jahre des 20. Jahrhunderts die „lange Nachkriegszeit“ im Sinne des tradierten Antisemitismusbegriffs.

2Sturmthal, Adolf: „‚Den brauchen wir nicht‘. Die verhinderte Rückkehr der Emigranten“, https://tvthek.orf.at/history/Nachkriegszeit/13425189/Den-brauchen-wir-nicht-Die-verhinderte-Rueckkehr-der-Emigranten/13798525 [15. Mai 2021].

3Weiss, Hilde: Antisemitische Vorurteile in Österreich, Wien 1983, 1.

4Vgl. dazu u.a. Gorbach, Alfons: „Es ist überhaupt etwas Eigenes um diese Emigranten. Kaum, dass die Wogen des Ozeans sich kräuseln, nahmen sie Zuflucht in das rettende Ausland.“ Stenographisches Protokoll, 73. Sitzung des Nationalrates?, V. GP, 14. Jänner 1948, 2100.

5Stenographische Protokolle, 14. Sitzung des Nationalrates, V. GP, 15. Mai 1946, 186.

6Rensmann, Lars: Demokratie und Judenbild. Antisemitismus in der politischen Kultur der Bundesrepublik Deutschland, Wiesbaden 2005, 79.

7Vgl. Butterweck, Hellmut: Nationalsozialisten vor dem Volksgericht Wien. Österreichs Ringen um Gerechtigkeit 1945–1955 in der zeitgenössischen öffentlichen Wahrnehmung, Innsbruck; Wien; Bozen 2019.

8StGBl. Nr. 13/1945.

9Ebd.

10StGBl. Nr. 18/1945 (Titel: „Verordnung der Staatskanzlei im Einvernehmen mit den beteiligten Staatsämtern vom 11. Juni 1945 über die Registrierung der Nationalsozialisten“).

11Protokolle des Kabinettsrates, Kabinettssitzung Nr. 14, 26. Juni 1945, Bd. 1, 308.

1235/A, eingebracht von den Abgeordneten Toncic, Mark, Scheff, Probst, Hartmann, Mentasti und Genossen, Stenographische Protokolle, 30. Sitzung des Nationalrates, VI. GP, 14. Juli 1950, 1035.

13Dowling war stellvertretender Hoher Kommissar der USA für Österreich.

14Serloth, Barbara: Nach der Shoah. Politik und Antisemitismus in Österreich nach 1945, Wien 2019, 59.

15Kastner, Walther: „Entziehung und Rückstellung“, in: Davy, Ulrike u. a. (Hg.), Nationalsozialismus und Recht. Rechtssetzung und Rechtswissenschaft unter der Herrschaft der Nationalsozialisten, Wien 1990, 193.

16Altmann, Karl: „Wieder österreichische Gerichte“, in: Neues Österreich, 16. Juni 1945, 1 f.

17Ebd.

18