Antisemitismus, Pogrome und Judenfreunde im russischen Zarenreich -  - E-Book

Antisemitismus, Pogrome und Judenfreunde im russischen Zarenreich E-Book

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Beschreibung

Dargeboten wird hier ein umfangreiches Lese-Werk über "Antisemitismus, Pogrome und Judenfreunde im russischen Zarenreich" mit historischen Quellentexten und Forschungen aus den Jahren 1877-1927. Es ist konzipiert als Ergänzung zu einem ebenfalls in der Tolstoi-Friedensbibliothek erscheinenden Band "Leo N. Tolstoi: Begegnung mit dem Judentum" (TFb_B013). Die Auswahl ermöglicht Zugänge zu den Standorten des Dichters Fjodor M. Dostojewski und des Religionsphilosophen Wladimir Solowioff. Die beiden Männer nehmen gegensätzliche Haltungen zur sogenannten Judenfrage ein. In den frühen 1880er Jahren kommt es zu einer ersten Folge von Pogromen mit Dutzenden Mordopfern. Hierauf reagieren mehrere russische "Autoritäten" mit Stellungnahmen zugunsten der Juden. Diese Voten sind entnommen einer Dokumentation, die zunächst in Russland nicht erscheinen konnte. Vier weitere Quellentexte beziehen sich auf die zweite antijüdische Pogromwelle 1903 bis 1906 mit bis zu 2000 Toten und zahllosen Verwundeten. Vollständig dargeboten wird das Buch "Der Antisemitismus in Russland" des Grafen Iwan Iwanowitsch Tolstoi aus dem Jahr 1907. Nach der Revolution von 1905 legt hier ein entfernter Verwandter des Dichters L.N. Tolstoi, der 1905/06 als Minister für Volksbildung der Regierung angehört hat, sein Plädoyer für die vollständige Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung des russischen Kaiserreiches vor. Die Aufhebung aller diskriminierenden Gesetze lässt sich indessen erst Anfang 1917 nach Abdankung des Zaren verwirklichen. Die Massaker der rechten - nationalistischen und antibolschewistischen - Waffenträger im Bürgerkrieg mit Morden an hunderttausend oder mehr Juden in den Jahren 1918-1921 sind nicht mehr Thema des vorliegenden Buches. Sie fallen in die Zeit nach Leo Tolstois Tod und dem Ende der zaristischen Autokratie. Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe D, Band 2 (Signatur TFb_D002) Herausgegeben von Peter Bürger

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Tolstoi-Friedensbibliothek Reihe D ǀ Band 2

Herausgegeben von Peter Bürger

Inhalt

Zu diesem Band der Tolstoi-Friedensbibliothek

Peter Bürger

I. D

IE

J

UDENFRAGE

(Aus dem ‚Tagebuch eines Schriftstellers‘, zuerst veröffentlicht im März 1877)

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

Vorbemerkungen

Pro und contra

Status in statu. Vierzig Jahrhunderte Existenz

Nun, es lebe die Brüderschaft!

Die Beerdigung des Allmenschen

Ein einzelner Fall

II. D

OSTOJEWSKI UND DAS

J

UDENTUM

(‚Der Jude‘ ǀ Sonderheft ‚Judentum und Christentum‘ 1927)

Dr. A. S. Steinberg

III. P

ROTOTYP DES

P

OGROMS IN DEN

1880

ER

J

AHREN

(Aus: Die Judenpogrome in Russland, Band I ǀ 1909)

A. Linden

ǀ d. i.

Leo Motzkin

IV. D

IE

J

UDEN IN

R

USSLAND

Urkunden und Zeugnisse russischer Behörden und Autoritäten (zusammengestellt 1891, Auszüge)

Übersetzt von August Scholz

ǀ 1900

Zur Orientierung

1. Der hochwürdige Erzbischof Nikanor ǀ 1881-1886

2. Der Hochwürdige Erzbischof Makarius ǀ 1884

3. Simeon Kutscherewski, Erzpriester des Kriegsdepartements zu Simferopol ǀ 1881

4. Alexandra Michailowna Kalmykowa ǀ 1882

5. Iwan Sergejewitsch Turgenjew ǀ 1882

6. Wladimir Sergejewitsch Solowjow ǀ 1886

7. „Moskowskija Wjedomosti“ ǀ 1882

8. „Golos“ – Die Stimme ǀ 1881

9. „Russki Kurjer“ ǀ 1882-1883

10. Bittgesuch von Moskauer Kaufleuten ǀ 1882

V. D

ER

P

HILOSOPH

W

LADIMIR

S

OLOWIOFF UND DAS

J

UDENTUM

Protest gegen Antisemitismus (Buchfassung ǀ 1927)

Feiwel Goetz

[

Gec

]

Vorwort

1. W. Solowioff und das Judentum

2. W. Solowioffs Protest gegen den Antisemitismus

3. Das religiöse Gewissen erweckt in W. S. Interesse für das Judentum

4. W. Solowioffs Interesse für Juden

5. Die Bekanntschaft mit Juden macht W. S. zu ihrem Apologeten

6. Juden zu verteidigen war für W. S. religiöse und patriotische Pflicht

7. W. Solowioffs jüdische Apologie

8. W. S. über das Verhältnis des Christentum zum Judentum

9. W. S. über die Beziehungen der Evangelien zum Talmud

10. W. Solowioffs originelle Polemik

11. Widerlegung der nationalen Beschuldigungen

12. Widerlegung der ökonomischen Beschuldigung

13. Widerlegung der politischen Beschuldigungen Schluss

VI. K

ISCHINEW

1903 (Aus: Die Judenpogrome in Russland, Band II: Einzeldarstellungen ǀ 1909)

A. Told

ǀ d. i.

Berthold Feiwel

VII. D

IE

D

IMENSIONEN DER

O

KTOBERPOGROME

1905 (Aus: Die Judenpogrome in Russland, Band I ǀ 1909)

A. Linden

ǀ d. i.

Leo Motzkin

VIII. D

AS

O

KTOBERPROGROM

1905

IN

K

ISCHINEW

(Aus: Die Judenpogrome in Russland, Band II: Einzeldarstellungen ǀ 1909)

A. Umanski

IX. D

ER

A

NTISEMITISMUS IN

R

USSLAND

Von Graf Iwan Iwanowitsch Tolstoi

ǀ 1907 Übersetzt von Dr. Arcardius Silberstein, Rechtsanwalt in St. Petersburg

X. U

RSACHEN UND

V

ERLAUF DER

J

UDEN

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OGROME IN

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O

KTOBER

1905 (Dissertation ǀ Bern 1916)

Jakob Jaffé

1. Einleitung

2. Verlauf der Oktober-Pogrome im Jahre 1905

3. Die Ursachen der Oktober-Pogrome Im Jahre 1905

4. Historisch-kritische Bewertung der Oktoberpogrome

5. Schluss

6. Literaturnachweis

Anhang

Zeittafel ǀ Chronologie

Gesamtverzeichnis der Literatur (mit Kurztiteln)

Übersicht zu den Bänden der Tolstoi-Friedensbibliothek

Zu diesem Band der Tolstoi-Friedensbibliothek

Die hier mit einer zweiten Veröffentlichung fortgesetzte Reihe D der Tolstoi-Friedensbibliothek erschließt Texte über Leo N. Tolstoi, sein Werk, seine Zeit und die Wirkungsgeschichte seines Schaffens. Das vorliegende umfangreiche Lesewerk über „Antisemitismus, Pogrome und Judenfreunde im russischen Zarenreich“ enthält historische Quellen und Forschungen aus den Jahren 1877-1927. Es ist konzipiert als Ergänzung zu einem ebenfalls in der Tolstoi-Friedensbibliothek1 erscheinenden Band „Leo N. Tolstoi: Begegnung mit dem Judentum“ (TFb_B013), der eine sehr ausführliche einleitende Darstellung des Herausgebers enthalten wird.

Dieses Vorwort soll nur eine kurzgefasste Orientierung zu den dargebotenen Inhalten des ‚Beibandes‘ vermitteln. Es handelt sich – mit zwei Ausnahmen – um Quellentexte, Aufsätze und Forschungsbeiträge, die noch vor dem Tod von LEO N. TOLSTOI (1828-1910) veröffentlicht wurden. Die unterschiedlichen Abteilungen vermitteln also Einblicke in Standortbestimmungen, Denkmuster, Mentalitäten und ‚Wissensbestände‘ während der Lebenszeit des Dichters. Der chronologische Aufbau unserer Auswahl korrespondiert mit einer „Zeittafel“ im Anhang (→S. 519-522).

Die Lektüre der ausgewählten – gemeinfreien – Forschungsbeiträge (1909, 1916) ersetzt natürlich nicht die Heranziehung neuerer sozial- und geschichtswissenschaftlicher Literatur. Gleichwohl ist der Herausgeber der Überzeugung, dass die nicht selten geübte Geringschätzung oder gar Missachtung früher – zeitgenössischer – Darstellungen eine dumme Sache ist. Denn die Zeitnähe der altvorderen Autoren und Autorinnen geht nicht nur mit Befangenheiten, blinden Flecken und beschränkten Archivzugängen (Akteneinsicht, Kommunikationswege etc.) einher, sondern oftmals auch mit einer großen Wirklichkeitsnähe, die von mutigen Thesen-Aufstellern der Gegenwart nicht allzu leichtfertig ‚dekonstruiert‘ werden sollte.

Ulrich Herbeck schreibt in einem überzeugenden Überblick zum „Russischen Antisemitismus vor 1917“ eingangs: „Moderner Antisemitismus bildete sich in Russland in den siebziger Jahren des 19. Jahrhunderts heraus. Er wurde getragen von einer Welle des Patriotismus während des Russisch-Türkischen Krieges von 1877/78. Kreuzzugsrhetorik und eine Aktualisierung des russischen Messianismusgedankens prägten eine konservativ gesinnte Generation der Intelligenz. Die neuesten ‚Erkenntnisse‘ des deutschen ‚wissenschaftlichen‘ Antisemitismus wurden zu dieser Zeit in der russischen Öffentlichkeit interessiert aufgenommen und über die Presse verbreitet. Sie gaben russischen Antisemiten die Bestätigung, dass die eigenen Vorstellungen nicht hoffnungslos veraltet, sondern vielmehr völlig auf dem Stand der Zeit waren. Die sozialgeschichtlich orientierte Antisemitismusforschung, die sich mit den Ausbrüchen antisemitischer Gewalt seit 1881 beschäftigt, betont den Zusammenhang mit der Reformpolitik der 1860er Jahre unter Zar Aleksandr II. Tatsächlich begünstigten die gesellschaftlichen Polarisierungen infolge des beschleunigten wirtschaftlichen Wandels seit der Aufhebung der Leibeigenschaft im Jahr 1861 die Zunahme des Antisemitismus.“2

I. – II. ǀ Wir beginnen in unserem Lesewerk mit dem Jahr 1877, in welchem F. M. DOSTOJEWSKIS3 Schrift „Die Judenfrage“ erscheint. Mit diesem Text will der Verfasser den Vorwurf, Antisemit zu sein, entkräften – was aber auf ganzer Linie misslingt (→ I). Dostojewski stand in Tuchfühlung mit dem reaktionären ‚Großinquisitor‘ des Heiligen Synods (K. P. Pobedonoscev) und sah als ‚Slawophiler‘ seine in der Orthodoxie verkörperte russische Nation berufen zu einer universalen Mission der (All-)Menschlichkeit. Dabei standen ihm, der sonst noch den Allergeringsten gemäß der Wegweisung Christi als Bruder betrachtete, die ebenfalls ‚messianischen Juden‘ (und säkulare Kosmopoliten) im Weg. – Aus heutiger Sicht eher erstaunlich ist, dass Aaron Sacharowitsch Steinberg in seinem Dostojewski-Aufsatz aus den 1920er Jahren nicht verdammen, sondern verstehen will (→II).

III. – IV. ǀ In den frühen 1880er Jahren kommt es zu einer ersten Folge von Pogromen mit Dutzenden Mordopfern. Der Text in unserer Auswahl (→III) stammt aus dem beachtlichen Dokumentationswerk zu den Progromen in Russland, das eine Untersuchungskommission auf breiter Quellengrundlage 1909 im Auftrag des Zionistischen Hilfsfonds in London herausgegeben hat. (Wer darin liest, findet durchaus keine pauschale Verurteilung des vielfältigen Gefüges aller staatlichen Akteure bis hin zur Justiz ohne Differenzierungen – der Ton bleibt selbst gegenüber bösartig berechnenden sozialrevolutionären ‚Theoretikern‘ noch höflich). Das Zarenregime fürchtet ein Image als ‚Judenschützer‘ und antwortet 1882 sogar mit einer Verschärfung der judenfeindlichen Gesetzgebung. – Einige russische ‚Autoritäten‘ reagieren jedoch mit Stellungnahmen zugunsten der Juden. Die exemplarischen Voten (→IV) sind entnommen einer Dokumentation, die zunächst in Russland nicht erscheinen konnte. – Freilich, in den bedrohlichen Jahren konnte man leicht zum gerühmten Anwalt der rechtlosen Minderheit werden, denn die Sehnsucht nach Beschützern war sehr groß. Doch nicht jeder Kirchenmann, der Pogrome und Aufruhr verurteilte, war ein zuverlässiger ‚Freund der Hebräer‘. Judenfeindliche Tendenzen galten dann im späten 20. Jahrhundert auch nicht als Hinderungsgrund für ‚Heiligsprechungen‘.

V. ǀ 1927 veröffentlichte der jüdische Publizist und Pädagoge Feiwel Goetz (Fajvelʼ M. Bencelovič Gec, 1850-1932) in deutscher Sprache neben seiner Schrift über Leo N. Tolstoi ein Büchlein über den von ihm ungleich stärker verehrten WLADIMIR SERGEJEWITSCH SOLOWJOW (V. G. Solovʼev, 18531900), mit dem ihn eine langjährige Freundschaft verband.4 In diesem Text (→V) vermittelt er – mit vielen ‚Primärzitaten‘ – die Haltung des als ‚Judenfreund‘ geltenden russischen Religionsphilosophen zum Judentum und würdigt dessen gesellschaftliches Engagement für die rechtliche Gleichstellung der Juden in Russland. – Ein Leo N. Tolstoi löste sich vom Dogma des konstantinischen Kirchentums (Trinität: „ein Gott in drei Personen“; Jesus als Gott bzw. exklusiver Gottessohn). Deshalb wurde ihm – trotz antijudaistischer Passagen der frühen Bibelarbeit (Bezüge u. a.: ‚Kriegsgewalt‘ und ‚Nation‘) – von jüdischen Anhängern bzw. Verehrern und christlichen Kritikern gleichermaßen eine ‚judaisierende Tendenz‘ bescheinigt. Der erklärtermaßen judophile SOLOWJOW hielt hingegen vollumfänglich an dem – für Juden unannehmbaren – orthodoxen Christusdogma fest, wies den Juden im Rahmen seiner theokratischen Vision jedoch eine geschwisterlich-partnerschaftliche Rolle zu. (Von den judophoben Vertretern der russischen Religionsphilosophie bis hin zu den angeblich projüdischen evangelikalen Fundamentalisten heute erweist sich dieser Ansatz aber als problematisch, sobald das Ende aller Tage ins Blickfeld kommt: Im Endgericht gehen nur jene Juden nicht verloren, die sich beim Finale zur ‚Gottheit Christi‘ bekennen.)

VI.-VIII. ǀ Insgesamt drei ausgewählte Quellentexte aus dem schon genannten Pionierwerk des Zionistischen Hilfsfonds beziehen sich auf die zweite antijüdische Pogromwelle 1903 bis 1906 mit bis zu 2000 Toten und zahllosen Verwundeten. Die Pogromisten im Zarenreich dokumentierten ihre Vorbereitungen und Mordtaten mitnichten so schamlos wie später die deutschen Faschisten während der – unvergleichlichen – Shoa. Umso dankbarer müssen wir dafür sein, dass so früh – ab 1905 – systematisch zahllose Augenzeugen- und Opferberichte, Pressespiegel, zugängliche Archivarien u. a. Quellen zusammengestellt und ausgewertet wurden. – Ulrich Herbeck meint: „Der Zarenhof empfand die Pogromwelle in Reaktion auf das Zarenmanifest vom Oktober 1905 als Loyalitätserklärung an den Zaren und Ausdruck der Sehnsucht im Volk nach der alten mystischen Verbindung des Volkes mit seinem Herrscher, die in der Revolution von 1905 von den Machenschaften des ‚jüdischen Freimaurertums‘ akut bedroht war.“5

IX. ǀ Vollständig dargeboten wird das Buch „Der Antisemitismus in Russland“ des Grafen IWAN IWANOWITSCH TOLSTOI (1858-1916) aus dem Jahr 1907. Nach der Revolution von 1905 legt hier ein entfernter Verwandter des Dichters L. N. Tolstoi, der 1905/1906 als Minister für Volksbildung der Regierung angehört hat, sein Plädoyer für die vollständige rechtliche Gleichberechtigung der jüdischen Bevölkerung des russischen Kaiserreiches vor. (Diese kann erst Anfang 1917 nach Abdankung des Zaren beschlossen werden.) Trotz andersklingender Bekundungen lässt sich schwer übersehen, dass dieser erprobte ‚liberale Judenfreund‘ am Ende doch für den Weg der Assimilation votiert. – Ab 1911 wirkte I. I. Tolstoi u. a. als Vorsitzender der ‚Russischen Gesellschaft zur Erforschung des jüdischen Lebens‘.

X. ǀ Die nicht ganz von tendenziösen Passagen freie Dissertation „Ursachen und Verlauf der Judenpogrome“ (Bern 1916) von Jakob Jaffé spiegelt den Forschungsstand zur Zeit des ersten Weltkrieges, der freilich gegenüber 1909 keine bahnbrechend neuen Erkenntnisse aufweisen kann. – Nach einem Jahrhundert blicken wir heute auf mannigfache Forschungskontroversen bzw. Differenzierungen bezogen auf die Bedeutung der Religion (und des Kirchentums), zugrundeliegende sozio-ökomische Zusammenhänge, den ideologisch-medialen Komplex der kulturellen Hegemonie von Judenfeindschaft (mehr als nur das antisemitische Schrifttum), das Verhalten der – keineswegs uniformen – staatlichen Akteure (‚Ideengeber‘, Flugblattdrucker, Planer, Überforderte, Gleichgültige, Dulder, Zuschauer, Komplizen, Beifallspender, Vertuscher bzw. Täterschützer, Profiteure …), die Justiz oder die trügerischen – bis fatalen – Idealisierungen der bewaffneten jüdischen Selbstwehrgruppen … Am Ende kann man in revisionistischen Projekten natürlich alles in Frage stellen, sogar die Existenz eines informellen rechten Sektors von ‚Schwarzhundertlern‘, der sich bekanntlich erst nach der Revolution von 1905 auch in Parteistrukturen zu organisieren begann. Ganz sicher muss man aber sagen, dass die Opfer richtig lagen mit ihrer Einschätzung, dass vom Staat i. d. R. kein bzw. kein nachhaltiger Schutz zu erwarten war. Sodann wird wohl auch niemand glauben, dass es jeweils von einem zufälligen Wetterumschwung herrührte, wenn in Pogromwellen jüdische Menschen abgeschlachtet wurden.

Die Massaker der rechten – nationalistischen und antibolschewistischen – Waffenträger im Bürgerkrieg mit Morden an fünfzigtausend, hunderttausend oder viel mehr Juden in den Jahren 1918-1921 sind nicht mehr Thema des vorliegenden Lesewerkes. Diese Abgründe fallen in die Zeit nach Leo Tolstois Tod und dem Ende der zaristischen Autokratie. ǀ pb

1 Signatur TFb (Überblick zum gegenwärtigen Stand der Reihen auf →S. 529-531). – Die in den folgenden Fußnoten angeführten Kurztitel sind anhand des – z. T. kommentierten – Literaturverzeichnisses auf →S. 523-537 zu ‚entschlüsseln‘.

2 HERBECK 2009, S. 33-104, hier S. 33 (ohne die Fußnoten).

3 Literatur: STEINBERG 1927*; BOHM 1931*; STEINBERG 1936; INGOLD 1981; DREWER-MANN 1998 (Dostojewskis tiefe Menschlichkeit); HERBECK 2009, S. 34-41.

4 SOLOVJOV 1884/1961 (Das Judentum und die christliche Frage, 1884); GOETZ 1927a* und 1927b*; BELKIN 2008; HERBECK 2009, S. 69-76; ZWAHLEN 2015.

5 HERBECK 2009, S. 47-48. ǀ Vgl. die Literatur zu den Pogromen 1881 - 1906 (und 1946 in Polen) sowie zu den andersartigen – schon ‚genozidalen‘ – Massakern der Bürgerkriegsjahre 1918 - 1921: KAUTSKY 1903*; KOROLENKO 1903/1985; KOMMISSION JUDENPOGROME 1909a* und 1909b; JAFFÉ 1916; JUDGE 1995; WEISS 2014*; WIESE 2016; ZIPPERSTEIN 2018; MARIE 2019*; REDER 2019*.

I. Die Judenfrage

(Aus dem ‚Tagebuch eines Schriftstellers‘, zuerst veröffentlicht im März 1877)6

Fjodor Michailowitsch Dostojewski

VORBEMERKUNGEN

Oh, bitte nur nicht zu glauben, ich beabsichtigte hier wirklich die „Judenfrage“ auszuwerfen! Diese Überschrift habe ich nur zum Scherz geschrieben. Ein Problem von der Größe, wie es die Stellung der Juden in Rußland und anderseits die Lage Rußlands ist, das unter seinen Söhnen drei Millionen Juden zählt, – solch ein Problem zu lösen, geht über meine Kraft. Wohl aber kann ich darüber eine eigene Meinung haben, und zudem hat es sich jetzt herausgestellt, daß viele Juden sich plötzlich für diese Meinung interessieren. Seit einiger Zeit schreiben sie mir Briefe, in denen sie mir ernst, bitter und betrübt vorwerfen, ich fiele über sie her, ich haßte den Juden, und zwar nicht wegen seiner „Mängel“, ,,nicht als Exploiteur“, sondern gerade als „Juden“, als Volk, also etwa in dem Sinne, wie: „Judas hat Christus verkauft“. Das schreiben mir „gebildete“ Juden, d. h. solche, die sich immer bemühen, einem zu verstehn zu geben, daß sie bei ihrer Bildung schon längst nicht mehr weder die „Vorurteile“ ihrer Nation teilen, noch ihre religiösen Gebräuche erfüllen, wie die anderen, einfachen Juden, denn sie hielten dieses für ihrer Bildung unwürdig. „Und auch an Gott glauben wir natürlich nicht mehr“, schreiben sie mir. Dazu will ich vorläufig nur bemerken, daß es von diesen „höheren Israeliten“, die sonst so für ihre Nation einstehn, einfach Sünde ist, ihren bereits vierzig Jahrhunderte lebenden Jehovah zu vergessen und zu verleugnen. Es ist nicht nur aus dem Gefühl der Nationalität heraus Sünde, sondern auch noch aus anderen, tieferen Gründen. Ist es nicht sonderbar, daß man sich einen Juden ohne Gott gar nicht denken kann? Doch dieses Thema gehört schon zu den ganz großen, daher müssen wir von ihm hier vorläufig absehn. Am meisten wundert mich eines: wie und woher kommt es, daß man mich für einen Feind der Juden, als Volk, als Nation, ja, für einen Judenhasser hält? Den Juden als Exploiteur und für einzelne seiner Laster zu verurteilen, wird nur teilweise so-gar von diesen Herren selbst erlaubt, aber … aber nur in Worten: in Wirklichkeit kann man jedoch schwerlich einen reizbareren und kleinlicheren Menschen, als den gebildeten Israeliten, finden, einen, der sich leichter gekränkt fühlt als ein Jude als „Jude“. Doch wann und wodurch habe ich Haß auf die Juden, als Volk, bewiesen? Da ich in meinem Herzen nie so etwas gefühlt habe und alle Juden, mit denen ich in engere oder auch nur flüchtige Berührung gekommen bin, dieses wissen, so weise ich ein für allemal solch eine Beschuldigung, noch bevor ich auf die Judenfrage näher eingehe, von mir ab, um es später nicht immer wieder tun zu müssen. Beschuldigt man mich vielleicht deswegen des „Hasses“, weil ich anstatt ,,Israelit“ „Jude“ sage? Erstens habe ich nicht geglaubt, daß dieser Name kränken könnte, und zweitens habe ich mich seiner, soweit ich mich erinnere, immer nur zur Bezeichnung einer bestimmten Idee bedient: ,,Judentum, verjudet, jüdisch“ u. ä. Es hat sich daher stets um einen gewissen Begriff, eine besondere Richtung, um die Charakteristik irgend einer Epoche gehandelt. Man könnte wohl über diese Bezeichnung streiten, mit ihr nicht übereinstimmen, aber man kann nicht das Wort als beabsichtigte Kränkung auffassen.

Ich erlaube mir, einen Auszug aus dem sehr schönen Schreiben eines äußerst gebildeten Israeliten anzuführen, denn es hat mich ungemein interessiert: es enthält eine der charakteristischsten Anschuldigungen, die gegen mich in Betreff meines ,,Hasses auf die Juden als Volk“ erhoben worden sind.

… nur Eines kann ich mir entschieden nicht erklären: das ist Ihr Haß auf den „Juden“, der fast in jedem Heft Ihres „Tagebuches“ durchbricht.

Ich möchte gerne wissen, warum Sie sich nur gegen den Juden auflehnen und nicht gegen den Exploiteur im allgemeinen? Ich verabscheue nicht weniger als Sie die Vorurteile meiner Nation – ich habe nicht wenig unter ihnen gelitten –, doch niemals werde ich zugeben, daß im Blute dieser Nation gewissenloses Aussaugen der anderen liege.

Sollten Sie denn wirklich nicht das Grundgesetz jedes sozialen Lebens verstehen können: daß ohne Ausnahme alle Bürger eines Staates, wenn sie nur alle Pflichten ihm gegenüber erfüllen, auch an allen Rechten und an allen Vorteilen, die dieser Staat gewährt, Anteil haben müssen und daß für die Übertreter des Gesetzes, für die schädlichen Mitglieder der Gesellschaft ein und dasselbe Gesetz gelten muß? … Warum müssen alle Israeliten in den Rechten beschränkt werden und warum müssen sie spezielle Strafgesetze haben? Wodurch ist die Exploitation der Ausländer – die Juden sind doch immerhin russische Untertanen –: der Deutschen, Engländer, Griechen, deren es in Russland so unzählige gibt, wo-durch ist die besser, als die jüdische Exploitation? Wodurch sind die russischen rechtgläubigen Aufkäufer, Blutsauger, Schmarotzer, Branntweinverkäufer, die betrügerischen Prozeßführer für die Bauern, wie wir sie jetzt überall in Rußland finden können, besser, als dasselbe Handwerk betreibende Juden, die doch immer nur ein begrenztes Feld der Tätigkeit haben? Warum ist dieser schlechter wie jener?

Es folgt ein Vergleich zwischen bekannten berüchtigten Juden mit ähnlich berüchtigten Russen, natürlich solchen, die ersteren in nichts nachgeben. Was beweist das aber? Wir sind doch nicht stolz auf sie, heben sie doch nicht als nachahmenswerte Beispiele hervor; im Gegenteil, wir wissen ja alle, daß diese, wie jene, nicht ehrenwert sind.

… Solche Fragen konnte ich Ihnen zu Tausenden stellen. Währenddessen verstehen Sie, wenn Sie vom ,,Juden“ sprechen, unter diesem Begriff die ganze bettelarme Masse der drei Millionen Israeliten Rußlands, von denen wenigstens zwei Millionen neunhunderttausend einen verzweifelten Kampf um ihre elende Existenz führen und doch sittlich reiner leben nicht nur als die anderen Völker, sondern auch als das von Ihnen vergötterte russische Volk. Ferner verstehen Sie unter diesem Namen die ansehnliche Zahl derjenigen Israeliten, die eine höhere Bildung genossen haben, die sich in allen Gebieten des Staatswesens auszeichnen, wie z. B. …

Hier wiederum mehrere Namen, die zu veröffentlichen, ich nicht das Recht zu haben glaube, denn mehreren von ihnen, außer Goldstein, könnte es vielleicht unangenehm sein, zu erfahren, daß sie israelitischer Herkunft sind.

… und Goldstein, der in Serbien für die slavische Idee den Heldentod gefunden hat, und alle die Anderen, die fürs Wohl der Gesellschaft und der Menschheit arbeiten? Ihr Haß auf den ,,Juden“ erstreckt sich sogar auf Disraeli, der wahrscheinlich selbst nicht einmal weiß, daß er von spanischen Israeliten abstammt und der die englische konservative Politik selbstverständlich nicht vom Standpunkt des „Juden“ leitet … (?)

Bedauerlicherweise kennen Sie nicht unser Volk, weder sein Leben, noch seinen Geist, noch endlich seine vierzig Jahrhunderte alte Geschichte. Bedauerlicherweise, sage ich, weil Sie jedenfalls ein aufrichtiger, absolut ehrlicher Mensch sind, doch unbewußt der riesigen Masse eines bettelarmen Volkes Schaden zufügen. Die mächtigen „Juden“ jedoch, die die Mächtigen dieser Welt in ihren Salons empfangen, fürchten natürlich weder die Presse noch selbst die ohmnächtige Wut der Exploitierten. Doch nun genug über dieses Thema! Schwerlich werde ich Sie überzeugen können – wohl aber wünschte ich sehr, daß Sie mich überzeugten.“

Dieser Auszug dürfte genügen. Bevor ich jedoch etwas zu meiner Verteidigung sage – denn solche Anschuldigungen kann ich nicht ruhig hinnehmen – möchte ich noch auf die Wut des Angriffes und den Grad der Empfindlichkeit hinweisen. Erstens, so lange wie mein ,,Tagebuch“ erscheint, hat in ihm noch kein einziger Satz gegen den „Juden“ gestanden, der solch einen erbitterten Angriff rechtfertigen könnte. Zweitens fällt es einem unwillkürlich auf, daß der verehrte Schreiber, wenn er auch auf das russische Volk zu sprechen kommt, sich in seinen Gefühlen nicht bezwingen kann und das arme russische Volk denn doch etwas zu sehr von oben herab behandelt. Jedenfalls zeigt dieser Ingrimm nur zu deutlich, mit welchen Augen die Juden selbst auf uns Russen sehn. Der Schreiber dieses Briefes ist wirklich ein gebildeter und talentvoller Mensch – nur glaube ich nicht, daß er auch ohne Vorurteile wäre –; was für Gefühle soll man daraufhin noch von den zahllosen ungebildeten Juden erwarten? Ich sage das nicht etwa als Beschuldigung: diese Gefühle sind ja ganz natürlich. Ich will nur darauf hinweisen, daß an unserer Unverschmelzbarkeit vielleicht nicht nur wir Russen die Schuld tragen, sondern, daß es auf beiden Seiten Gründe gibt, die eine Vereinigung ausschließen, – und noch fragt es sich, auf welcher Seite es solcher Gründe mehr gibt?

Doch jetzt will ich einige Worte zu meiner Rechtfertigung sagen und überhaupt klarlegen, wie ich mich zu diesem Problem stelle; natürlich – es zu lösen, steht nicht in meiner Kraft, doch irgend etwas ausdrücken, werde auch ich vielleicht können.

PRO UND CONTRA

Es mag vielleicht sehr schwer sein, hinter die vierzig Jahrhunderte alte Geschichte solch eines Volkes, wie das der Juden, zu kommen – ich weiß es nicht. Eines aber weiß ich bestimmt, nämlich, daß es in der ganzen Welt kein zweites Volk gibt, das so über sein Schicksal klagt, so ununterbrochen, nach jedem Schritt und jedem Wort, über seine Erniedrigung, über sein Leiden, über sein Märtyrertum jammert, wie die Juden. Man könnte ja wirklich denken, daß nicht sie in Europa herrschen. Wenn sie es auch meinetwegen nur auf der Börse tun, so heißt das doch, die Politik, die inneren Angelegenheiten, die Moral der Staaten regieren. Mag auch der edle Goldstein für die slavische Idee gestorben sein, so würde doch diese selbe „slavische“ Frage schon längst zu Gunsten der Slaven und nicht zu Gunsten der Türken entschieden sein, wenn die jüdische Idee in der Welt nicht so stark gewesen wäre. Ich bin bereit, zu glauben, daß Lord Beaconsfield vielleicht selbst seine Herkunft von einstmals spanischen Juden vergessen hat – oh, er wird sie bestimmt nicht vergessen haben! –, daß er aber im letzten Jahre die englische ,,konservative“ Politik teilweise vom Standpunkt des Juden aus geleitet hat, daran, glaube ich, kann man nicht mehr zweifeln.

Doch nehmen wir an, daß alles bisher von mir über die Juden gesagte noch kein schwerwiegender Einwand ist – ich gebe es selbst zu. Trotzdem aber kann ich dem Geschrei der Juden, daß sie so furchtbar erniedrigt und gequält und verprügelt wären, doch nicht ganz widerspruchslos glauben. Meiner Ansicht nach trägt der russische Bauer, oder überhaupt das niedrigere russische Volk noch viel größere Lasten, als die Juden sie zu tragen haben. Im zweiten Brief schreibt mir derselbe Herr, aus dessen erstem Schreiben ich vorhin schon einiges angeführt habe:

… Vor allen Dingen ist es unbedingt notwendig, uns Israeliten alle Bürgerrechte zu gewähren (bedenken Sie doch bloß, daß uns jetzt noch das allererste Recht verwehrt ist: die freie Wahl des Aufenthaltsortes, woraus sich eine Menge furchtbarer Konsequenzen für die ganze Masse der Israeliten ergeben), Bürgerrechte, wie sie alle anderen fremden Völkerschaften in Rußland genießen, und dann erst von uns die Erfüllung aller Pflichten dem Staate wie dem Stammvolte gegenüber zu verlangen …

Doch bitte ich nun auch Sie, mein Herr, bloß zu bedenken, da Sie mir selbst schreiben, auf der zweiten Seite desselben Briefes, daß Sie „das schwerarbeitende russische Voll unvergleichlich mehr lieben und bedauern, als das israelitische“ – was für einen Israeliten wohl etwas zu viel gesagt ist – bedenken auch Sie doch, bitte, daß zur Zeit, da der Israelit bloß nicht das Recht hatte, sich seinen Aufenthaltsort frei zu wählen, dreiundzwanzig Millionen des ,,schwerarbeitenden russischen Volkes“ in der Leibeigenschaft zu leiden hatten, was, glaube ich, etwas schwerer zu ertragen war. Und wurden sie dann etwa von den Israeliten bedauert? Ich glaube nicht: im Westen und Süden Rußlands wird man Ihnen ausführlichst darauf Antwort geben. Auch damals schrieen die Juden ganz ebenso nach Rechten, die das russische Volk nicht einmal selbst hatte, schrieen und klagten, daß sie Märtyrer seien, und daß man erst dann, wenn sie größere Rechte bekommen haben würden, von ihnen auch „die Erfüllung der Pflichten dem Staate und dem russischen Volke gegenüber verlangen“ könnte. Da kam nun der Befreier und befreite den russischen Bauern, und – wer war der erste, der sich auf ihn, wie auf sein Opfer stürzte? – wer benutzte so vorzugsweise seine Schwächen und Fehler zu eigenem Vorteil? – wer umspann ihn sofort mit seinem ewigen goldenen Netz, wer ersetzte im Augenblick, wo er nur konnte, die früheren Herren, – nur mit dem Unterschied, daß die Gutsbesitzer, wenn sie auch die Bauern stark exploitierten, doch darauf bedacht waren, ihre Leibeigenen nicht, wie es der Jude tut, zu Grunde zu richten, – meinetwegen aus Egoismus, um ihre eigene Arbeitskraft nicht zu erschöpfen –? Was aber liegt dem Juden an der Erschöpfung der russischen Kraft? Hat er das Seine, so zieht er weiter. Ich weiß schon, die Juden werden, wenn sie dieses lesen, sofort losschreien, daß es nicht wahr sei, daß es eine Verleumdung wäre, daß ich löge, daß ich all diesen Klatschereien nur glaubte, weil ich ihre ,,vierzig Jahrhunderte alte Geschichte“ nicht kenne, die Geschichte dieser reinen Engel, „die unvergleichlich „sittlicher sind, nicht nur als die anderen Völker, sondern auch als das von mir vergötterte russische Volk“ – Zitat aus dem mir gesandten Briefe, siehe oben. Nun schön, mögen sie hundertmal sittlicher sein, als alle Völker der Erde, vom russischen schon gar nicht zu reden, so habe ich doch vor kurzem erst in der Märznummer des „Europäischen Boten“ die Nachricht gelesen, daß in Amerika in den südlichen Staaten die Juden sich auf die befreiten Neger gestürzt haben und sie jetzt bereits ganz anders beherrschen, als die Plantagenbesitzer. Natürlich tun sie es wieder auf ihre bekannte Art und Weise mit dem ewigen ,,goldenen Netz“, – wobei sie sich wieder so trefflich der Unwissenheit und Laster des zu exploitierenden Volkes zu bedienen verstehen! Als ich das las, fiel es mir sofort ein, daß ich diese Nachricht schon vor fünf Jahren erwartet hatte. „Jetzt sind die Neger wohl von den Plantagenbesitzern befreit, wie aber sollen sie in Zukunft unversehrt bleiben, denn dieses junge Opferlamm werden doch die Juden, deren es ja so viele in der Welt gibt, ganz zweifellos überfallen.“ Dieses dachte ich vor fünf Jahren, und ich versichere Ihnen, ich habe mich nachher noch des öfteren gefragt: „Wie kommt es nur, daß man aus Amerika nichts von den Juden hört, daß die Zeitungen von den Negern nichts zu berichten haben? Diese Sklaven sind doch ein wahrer Schatz für die Juden, sollten sie ihn wirklich ungehoben lassen?“ Nun, er ist ihnen also glücklich nicht entgangen. Und vor zehn Tagen las ich in der ,,Neuen Zeit“ einen Bericht aus Kowno, der ungemein charakteristisch ist: „Die Juden,“ heißt es, ,,haben dort fast die ganze lithauische Bevölkerung durch den Branntwein zu Grunde gerichtet, und nur den Priestern ist es noch gelungen, die Armen durch Hinweisung auf die Höllenqualen und durch Bildung von Mäßigkeitsvereinen vor größerem Unglück zu bewahren.“ Der gebildete Berichterstatter errötet zwar für sein Volk, das noch an Priester und Höllenqualen glaubt, und so fügt er denn hinzu, daß gleich nach den Priestern sich auch die Reicheren zusammengetan haben, um Landbanken zu gründen – um das Voll vom jüdischen Wucherer zu befreien –, und Landmarkte, damit der ,,arme, schwerarbeitende Bauer“ die notwendigsten Gegenstände zum angemessenen Preis kaufen kann, und nicht zu dem, den der Jude bestimmt. Ich zitiere nur, was ich selbst gelesen habe, doch weiß ich schon im voraus, was man mir im Augenblick zuschreien wird: ,,Alles das beweist nichts und kommt nur daher, daß die Israeliten selbst arm und unterdrückt sind; alles das ist bloß ‚Kampf ums Dasein‘ – was nur ein bornierter Zeitungsleser nicht einsehen kann – und die Israeliten würden sich, wenn sie nicht selbst so arm, sondern im Gegenteil reich wären, sofort von der humanen Seite zeigen; und zwar das in solch einem Maße, daß die ganze Welt darüber in Erstaunen geraten würde.“ Aber, erstens, diese Neger und Lithauer sind doch noch ärmer als die Juden, von denen ihnen das Letzte herausgepreßt wird, und doch verabscheuen sie – bitte, die Zeitungskorrespondenz zu lesen – diese Art Handel, auf die der Jude so erpicht ist. Zweitens ist es nicht schwer, human und moralisch zu sein, wenn man selbst satt ist und im Warmen sitzt; zeigt sich aber ein wenig „Kampf ums Dasein“, so ,,komm dem Juden nicht zu nah“! Meiner Meinung nach ist das gerade kein Zug, der ,,wahren Engeln“ zusteht. Und drittens, ich stelle ja diese beiden Nachrichten aus dem ,,Europäischen Boten“ und der ,,Neuen Zeit“ keineswegs als kapitale und alles entscheidende Tatsachen hin. Wollte man anfangen, die Geschichte dieses Allerweltvolkes zu schreiben, so könnte man sofort hunderttausend solcher und noch wichtigerer Fakta finden, so daß zwei mehr oder weniger nichts zu bedeuten hätten. Doch bei alledem ist nur Eines auffallend: braucht jemand, sei es im Streit oder sonst aus irgend einem Grunde, eine Auskunft über die Juden und ihre Taten, so gehe er nicht in die Bibliotheken, krame er nicht in alten Büchern oder eigenen Notizen; nein, er strecke nur, ohne sich vom Stuhl zu erheben, die Hand nach irgend einer ersten besten Zeitung, die neben ihm liegt, aus und dann suche er auf der zweiten oder dritten Seite: unbedingt wird er etwas finden, das von Juden handelt, unbedingt gerade das, was ihn interessiert, unbedingt das allercharakteristischste und unbedingt ein und dasselbe – d. h., immer die gleichen Heldentaten! Man wird mir wohl zugeben: das hat doch irgend etwas zu bedeuten, das weist doch auf etwas Bestimmtes hin, eröffnet einem doch etwas, selbst wenn man ein vollkommener Laie in der vierzig Jahrhunderte alten Geschichte dieses Volkes ist!? Selbstverständlich wird man mir hierauf antworten, daß alle vom Haß verblendet wären, und infolge dessen lögen. Natürlich ist es sehr leicht möglich, daß alle, bis auf den letzten, lügen, doch erhebt sich dann sofort eine andere Frage: wenn alle bis auf den letzten von solch einem Haß beseelt sind, daß sie sogar lügen, so muß doch dieser Haß auch einen Grund, eine Ursache haben und irgend etwas muß doch dieser allgemeine Haß bedeuten, ,,irgend etwas bedeutet doch das Wort alle!“, wie einstmals Belinski ausrief.

„Freie Wahl des Aufenthaltsortes!“ Können sich denn die unbemittelten Russen so vollkommen frei ihren Aufenthaltsort wählen? Leidet denn der russische Bauer nicht heute noch unter den früheren, aus der Zeit der Leibeigenschaft gebliebenen unerwünschten Beschränkungen in der Freiheit der Wahl des Aufenthaltsortes, so daß die Regierung schon längst ihre Aufmerksamkeit darauf verwendet? Und was die Juden anbetrifft, so kann sich ein jeder davon überzeugen, daß ihre Rechte in dieser Beziehung in den letzten zwanzig Jahren bedeutend vergrößert worden sind. Wenigstens sieht man sie jetzt in Rußland in Gouvernements, wo man sie früher nie gesehen hat. Aber die Juden klagen ja immer über Haß und Verfolgungen. Wenn ich auch die jüdische Lebensweise nicht kenne, Eines jedoch weiß ich wiederum bestimmt und werde es daher allen gegenüber bezeugen: daß in unserem einfachen Russen ein apriorischer, stumpfer, religiöser Haß, in dem Sinne wie: „Judas hat Christus verkauft“, nicht vorhanden ist. Hört man letzteres vielleicht einmal von Kindern oder Betrunkenem so sieht doch unser ganzes Volk, ich wiederhole es, ohne jeglichen voreingenommenen Haß auf die Juden. Davon habe ich mich fünfzig Jahre lang selbst überzeugen können. Ich habe mit dem Volk in ein und denselben Kasernen gelebt, auf denselben Pritschen geschlafen. Es waren dort auch einige Juden: niemand hat sie verachtet, niemand sie ausgestoßen oder verfolgt. Wenn sie beteten – und die Juden beten mit großem Geschrei und ziehen sich dazu besondere Kleider an – so hat niemand das sonderbar gefunden, noch sie gestört oder über sie gelacht, was man übrigens gerade von solch einem, nach unserer Meinung so „ungebildeten“ Volke, wie das russische, hätte erwarten können. Im Gegenteil, sie sagten, wenn sie die Juden beten sahen: „Sie haben solch ʼnen Glauben, sie beten so“, und ruhig, ja fast billigend, gingen sie an ihnen vorüber. Und diese selben Juden nun taten diesen selben Russen gegenüber fremd, wollten nicht mit ihnen zusammen essen, und sahen auf sie fast von oben herab; und das an welch einem Ort? – im Sibirischen Gefängnis! – Überhaupt zeigten sie überall Widerwillen und Ekel vor dem russischen, dem „eingeborenen“ Volke. Dasselbe geschieht auch in den Soldatenkasernen und überall in ganz Rußland. Man erkundige sich doch, ob der Jude in der Kaserne als ,,Jude“ seines Glaubens, seiner Sitten wegen beleidigt wird? Ich kann versichern: in den Kasernen wie überhaupt im Leben sieht und begreift der einfache Russe nur zu gut, daß der Jude mit ihm nicht essen will, ihn verabscheut und ihn meidet so viel er nur kann, – das geben ja die Ju-den sogar selbst zu. – Nun, und? – Anstatt sich durch solches Benehmen gekränkt zu fühlen, sagt der einfache Russe ruhig und vernünftig: „Das tut er, weil er solch ʼnen Glauben hat“, – d. h., nicht etwa weil er böse ist. Und nachdem er diesen tieferen Grund eingesehen, entschuldigt er ihn von ganzem Herzen. Nun habe ich mich aber zuweilen gefragt: was würde wohl geschehen, wenn in Rußland 3 Millionen Russen und, umgekehrt, 80 Millionen Juden wären, in was würden dann letztere die Russen verwandeln, wie würden sie dann diese behandeln? Würden sie ihnen auch nur annähernd die gleichen Rechte geben? Würden sie ihnen erlauben, so zu beten, wie sie wollen? Würden sie sie nicht einfach zu Sklaven machen? Oder, noch schlimmer als das: würden sie ihnen nicht ganz und gar das Fell über die Ohren ziehen? Würden sie sie nicht vollständig ausrotten, nicht ebenso vernichten, wie sie es früher in ihrer alten Geschichte mit anderen Völkerschaften getan? Nein, ich versichere Ihnen, im russischen Volk ist kein vorurteilsvoller Haß auf den Juden. Es ist aber vielleicht eine Antipathie gegen ihn vorhanden, besonders in einzelnen Gegenden, und dort ist sie vielleicht sogar sehr stark. Ohne sie scheint es nun einmal nicht zu gehen, doch beruht diese Antipathie durchaus nicht auf irgend einem Rassen- oder Religionshaß, sondern auf gewissen Tatsachen, an denen aber nicht das russische Volk schuld ist, sondern der Jude selbst.

STATUS IN STATU. VIERZIG JAHRHUNDERTE EXISTENZ

Die Juden beschuldigen uns des Hasses gegen sie und dazu noch eines Hasses aus Vorurteilen. Doch da jetzt einmal von Vorurteilen die Rede ist, so will ich zuerst fragen: hat der Jude gegen den Russen etwa weniger Vorurteile, als der Russe gegen den Juden, oder sollte er ihrer vielleicht nicht noch mehr haben? Ich habe Briefe von Juden erhalten, und zwar nicht von einfachen, sondern von gebildeten Juden – und wie viel Haß auf die ,,autochtone Bevölkerung“ ist doch in diesen Briefen! Das Auffallendste aber – sie bemerken es selbst nicht einmal, daß sie gehässsig schreiben.

Ein Volk, das vierzig Jahrhunderte aus der Erde existiert, also fast seit dem Anfang der historischen Zeitordnung, und noch dazu in einem so festen und unzerstörbaren Zusammenhang, das so oft sein Land, seine politische Unabhängigkeit, seine Gesetze, wenn nicht gar seinen Glauben verloren hat, – und sich noch jedes Mal wieder vereinigen, sich in der früheren Idee wieder gebären, sich wieder Gesetze, und fast auch den Glauben von neuem hat schaffen können, – nein, solch ein zähes Volk, solch ein ungewöhnlich starkes, energisches, solch ein in der ganzen Welt beispielloses Volk hat nicht ohne status in statu leben können. Und diesen status hat es überall und während der schrecklichsten tausendjährigen Verfolgungen aufrecht erhalten. Doch will ich nicht etwa, indem ich vom status in statu rede, irgend eine Anklage gegen die Juden erheben, trotzdem aber: worin besteht denn dieser status in statu, worin seine ewige, unveränderliche Idee, und worin das Wesen dieser Idee? Allerdings lassen sich Fragen von solcher Größe nicht in einem kurzen Artikel genügend auseinandersetzen, und zudem wäre das auch aus einem anderen Grunde ganz unmöglich: noch ist die Zeit für das endgültige Urteil über dieses Volk nicht gekommen, trotz der verflossenen vierzig Jahrhunderte; noch steht das letzte Wort aus, das die Menschheit über dieses mächtige Volk zu sagen hat. Aber auch ohne in das Wesen der Sache einzudringen, kann man doch wenigstens einige, wenn auch nur äußerliche Kennzeichen dieses status in statu angeben. Diese Kennzeichen sind: die bis zum religiösen Dogma erhobene Absonderung und Abgeschlossenheit von allem, was nicht Judentum ist, und die Unverschmelzbarkeit mit anderen Völkern, der Glaube, daß es in der ganzen Welt nur ein einziges persönliches Volk gibt – die Juden –, und die Überzeugung, die anderen Völker, wenn sie auch vorhanden sind, doch so behandeln zu müssen, als ob sie nicht vorhanden wären. ,,Scheide dich aus von den Völkern und bilde deine Besonderheit, und wisse, daß Du von nun ab a l l e i n b e i G o t t bist. Die anderen vernichte, oder mache sie zu deinen Sklaven, oder exploitiere sie. Glaube an deinen Sieg über die ganze Welt, glaube, daß alles dir untertan sein wird. Alle anderen Völker sollst du verabscheuen und mit keinem von ihnen Umgang pflegen. Und selbst wenn du dein Land und deine politische Persönlichkeit verlierst, selbst wenn du über die ganze Erde hin unter allen Völkern verstreut sein wirst – einerlei –: glaube an all das, was dir versprochen ist, ein für alle Mal, glaube, daß es also sein wird, – inzwischen aber lebe, verachte, exploitiere und – erwarte, erwarte, erwarte …“ Das ist die Quintessenz dieses status in statu. Und dann gibt es natürlich noch innere und geheime Gesetze, die diese Idee lebendig erhalten.

Sie sagen, meine gebildeten Herren Israeliten und Gegner, daß dieses nichts als Unsinn sei, und: „… Wenn es auch einen status in statu gibt, – das heißt, selbstverständlich, früher einmal einen gegeben hat, von dem jetzt vielleicht noch schwache Spuren vorhanden sein mögen, – so haben einzig die Verfolgungen aller Zeiten und besonders des Mittelalters zu ihm geführt; folglich ist dieser status in statu ausschließlich aus dem Trieb der Selbsterhaltung entstanden. Setzt er sich heute auch noch fort, besonders in Rußland, so geschieht das nur, weil der Israelit noch nicht dieselben Rechte genießt, wie der Russe.“ Ich aber glaube, daß er, selbst wenn er die gleichen Rechte hätte, doch auf keinen Fall seinem status in statu entsagen würde. Den Status in statu nur den Verfolgungen und dem Selbsterhaltungstrieb zuzuschreiben, geht meiner Meinung nach nicht an. Die Widerstandskraft zur Selbsterhaltung würde ja doch nie und nimmer auf vierzig Jahrhunderte ausgereicht haben. Selbst die größten und stärksten Kulturen haben sich nicht einmal durch die Hälfte von vierzig Jahrhunderten erhalten können, und ihre politische Kraft und Volksgestalt in noch kürzerer Zeit eingebüßt. Hier ist nicht die Selbsterhaltung die erste Ursache, sondern eine Idee, die mit sich fortreißt, die leitet und erhält, etwas Weltbeherrschendes und Ewiges, worüber das ,,letzte Wort“ zu sagen, die Menschheit vielleicht noch nicht fähig ist. Daß der religiöse Charakter in dieser Idee das Übergewicht hat – darüber kann kein Zweifel bestehen. Es ist doch klar, daß der Fürsorger unter dem Namen des früheren alten Jehovah mit seinem Ideal und seiner Verheißung fortfährt, sein Volk zum festen Ziele zu führen. Es ist ja ganz unmöglich, wiederhole ich, sich einen Juden ohne Gott vorzustellen, oh, und ich glaube auch nicht an gebildete jüdische Atheisten: alle sind sie eines Wesens, und Gott weiß, was der Welt von der jüdischen Intelligenz noch bevorsteht! Als Kind habe ich oft die Legende von den Juden gehört, daß sie auch jetzt unverwandt ihren Messias erwarten, alle, wie der niedrigste so der höchste von ihnen, der gelehrteste Philosoph wie der kabbalistische Rabbiner; daß sie alle glauben, ihr Messias würde sie wieder in Jerusalem versammeln und alle Völker mit seinem Schwerte zu ihren Füßen strecken; daß nur aus diesem Grunde die Juden – wenigstens in ihrer übergroßen Mehrzahl – bloß eine einzige Arbeit allen anderen vorzögen: den Handel mit Gold, und mit allem, was sich schnell in Gold verwandeln läßt –, und dieses, heißt es, nur darum, um dann, wenn der Messias kommt, kein neues Vaterland zu haben, um nicht durch Besitz an das Land Fremder gebunden zu sein, sondern um ihr Hab und Gut in Gold und Wertsachen mit sich führen zu können –

„Wenn aufsteigt und erglänzt der Strahl der Morgenröte Und Cinellen, Cymbeln, Pauken und Schalmeien tönen – Dann bringen wir nach Palästina In den alten Tempel unsres Gottes Alle Schätze, die wir haben: Edelsteine, Gold und Silber.“

Ich habe das als Legende gehört, doch bin ich fest überzeugt, daß dieser Glaube unbedingt existiert, vielleicht nicht bewußt im Einzelnen, wohl aber in Gestalt eines instinktiven, unbezwingbaren Triebes in der ganzen Masse der Juden. Auf daß aber solch ein Glaube lebendig bleibt, ist es natürlich erforderlich, daß sich der status in statu aufs strengste erhalte. Und so erhält er sich denn. Folglich ist und war nicht nur die Verfolgung die Ursache des status in statu, sondern –: die Idee …

Haben aber die Juden wirklich solch ein besonderes inneres, strenges Gesetz, das sie zu etwas Ganzem und Besonderem zusammenbindet, so kann man ja noch über die Frage, ob man ihnen die volle Gleichberechtigung mit dem eigenen Volke geben soll, nachdenken. Selbstverständlich muß alles, was Humanität und Gerechtigkeit verlangen, für die Juden getan werden. Doch wenn sie in ihrer vollen Rüstung und Eigenart, in ihrer nationalen und religiösen Absonderung, im Schutze ihrer Regeln und Prinzipien, die den Grundsätzen, nach denen sich bis jetzt die ganze europäische Welt entwickelt hat, so durchaus entgegengesetzt sind, – wenn sie dann noch die vollständige Gleichberechtigung mit der autochthonen Bevölkerung in allen möglichen Rechten verlangen: bekämen sie daraufhin nicht, wenn man sie ihnen gewähren würde, bereits mehr als das, was das autochthone Volk selbst hat, etwas, was sie über letzteres stellen würde? Hieraus wird man natürlich auf die anderen Fremdvölker in Rußland hinweisen: „Die sind gleichberechtigt, oder doch so gut wie gleichberechtigt, wir Israeliten aber haben von allen Fremdvölkern am allerwenigsten Rechte, und das nur, weil man uns fürchtet, weil wir Juden, wie es heißt, schädlicher als alle Fremdvölker sein sollen. Doch wodurch sind denn gerade wir Israeliten schädlich? Wenn auch unser Volk einige schlechte Eigenschaften haben mag, so hat es sie doch nur, weil das russische Volk selbst zur Entwickelung dieser Eigenschaften beiträgt, und zwar einfach durch seine eigene Unwissenheit, seine Unbildung, durch seine Unfähigkeit, selbständig zu sein, durch seine geringe ökonomische Entwickelung. Das russische Volk verlangt ja selbst einen Vermittler, einen Leiter, einen Vormund in den Geschäften, einen Kreditor, ruft ihn selbst, verkauft sich ihm freiwillig! Seht doch, wie es in Europa ist: dort haben die Völker einen festen und selbständigen Willen, eine starke nationale Entwickelung und das Verständnis für die Arbeit, an die sie von jeher gewöhnt sind – dort fürchtet man auch nicht, den Israeliten dieselben Rechte, wie sie die eigene Nation hat, zu geben! Hört man etwa in Frankreich von einem Schaden, den der status in statu der dortigen Israeliten verursachte?“

Allem Anschein nach ein starker Einwand, doch geht daraus nicht hervor, daß die Juden es gerade dort gut haben, wo das Volk noch unwissend ist, oder unfrei oder wirtschaftlich wenig entwickelt, – daß es ihnen also gerade dort vorteilhaft zu leben ist? Anstatt nun durch ihren Einfluß das Niveau der Bildung zu heben, das Wissen zu verbreiten, die ökonomische Fähigkeit in der autochthonen Bevölkerung hervorzurufen und zu entwickeln, wie es die anderen Fremdvölker tun, anstatt dessen haben die Juden überall, wo sie sich niedergelassen, das Volk noch mehr erniedrigt und verdorben, überall dort ist die Menschheit noch niedergebeugter, und ist das Niveau der Bildung noch tiefer gesunken, hat sich noch schrecklicher aussichtslose, unmenschliche Armut verbreitet, und mit ihr die Verzweiflung. Man frage doch in unseren Grenzgebieten die autochthone Bevölkerung, was die Juden treibt und sie so viele Jahrhunderte hindurch getrieben hat! Man wird eine einzige Antwort erhalten: „Die Unbarmherzigkeit … Getrieben hat sie so viel Jahrhunderte hindurch bloß ihre Gier, sich an unserem Schweiß und Blut zu sättigen.“ Die ganze Tätigkeit der Juden in unseren Grenzgebieten hat bloß darin bestanden, daß sie die autochthone Bevölkerung in eine rettungslose Abhängigkeit von sich gebracht hat, mit wirklich bewunderungswürdiger Ausnutzung der Verhältnisse. Oh, in solchen Angelegenheiten haben sie es immer verstanden, die Möglichkeit zu finden, über Rechte zu verfügen. Sie haben es immer verstanden, gut Freund mit denen zu sein, von denen das Volk abhängt; in dieser Beziehung wenigstens sollten sie doch über ihre geringen Rechte im Verhältnis zum Stammvolk nicht klagen. Sie haben ihrer bei uns schon übergenug –, dieser Rechte über das Stammvolk! Was in den Jahrzehnten und Jahrhunderten aus dem russischen Volke dort geworden ist, wo sich die Juden niedergelassen haben – davon zeugt die Geschichte unserer russischen Grenzgebiete. Bitte jetzt irgend ein anderes Volk von den Fremdvölkern Rußlands zu nennen, daß sich in dieser Beziehung mit den Juden messen könnte? Man wird keines finden. In diesem Sinne erhalten die Juden ihre ganze Originalität im Verhältnis zu den anderen Fremdvölkern Rußlands, und der Grund dazu ist natürlich dieser ihr status in statu, dessen Wesen gerade diese Unbarmherzigkeit allem gegenüber, was nicht Jude ist, gerade diese Verachtung jedes Volkes und jeder Rasse und jedes menschlichen Wesens, das nicht Jude ist, ausmacht. Und was liegt darin für eine Rechtfertigung, daß im Westen Europas die Völker sich nicht haben besiegen lassen, und daß somit das russische Volk selbst die Schuld daran trägt, wenn der Jude es knechtet? Weil das russische Volk in den Grenzgebieten sich schwächer als die europäischen Völker erwiesen hat – infolge seiner schrecklichen Jahrhunderte langen politischen Darniederlage –, nur deswegen soll man es also endgültig durch die Exploitation erwürgen, anstatt ihm zu helfen?

Wenn sie auch auf Europa, auf Frankreich z. B.; hinweisen, so ist dieser status in statu dort wohl kaum so unschädlich gewesen, wie es anfänglich scheinen mag. Das Christentum und seine Idee fallen dort natürlich nicht durch die Schuld der Juden, sondern durch eigene Schuld, doch nichtsdestoweniger kann man auch in Europa auf einen großen Sieg des Judentums, das viele früheren Ideen schon durch seine Idee verdrängt hat, hinweisen. Oh, versteht sich, der Mensch hat zu allen Zeiten den Materialismus vergöttert und ist immer geneigt gewesen, die Freiheit bloß in der Sicherstellung seiner selbst durch „aus allen Kräften angesammeltes und mit allen Mitteln erhaltenes Geld“ zu sehn und zu verstehn. Doch noch niemals sind diese Bestrebungen so offen und so belehrend zum höheren Prinzip erhoben worden, wie in unserem neunzehnten Jahrhundert. „Jeder für sich und nur für sich und alle Gemeinschaft zwischen den Menschen einzig für sich“ – das ist das moralische Prinzip der Mehrzahl der heutigen Menschen7 und nicht einmal schlechter, sondern arbeitender Menschen, die weder morden noch stehlen. Und die Unbarmherzigkeit zu den niedrigeren Massen, der Verfall der Brüderlichkeit, die Ausnutzung des Armen durch den Reichen – oh, natürlich ist das auch früher schon und überhaupt immer gewesen, aber – aber es ist doch nicht auf die Stufe einer Wahrheit und Weltanschauung gestellt, sondern vom Christentum bekämpft worden! Jetzt aber wird es im Gegenteil zur Tugend erhoben! So darf man wohl annehmen, daß es nicht einflußlos geblieben ist, daß überall dort Juden auf den Börsen herrschen, nicht umsonst sie die Kapitale lenken, nicht umsonst sie die Kreditgeber, und nicht umsonst, wiederhole ich, sie die Beherrscher der ganzen internationalen Politik sind!

Und das Resultat davon: ihr Reich nähert sich, ihr volles Reich! Es beginnt der Triumph der Ideen, vor denen sich die Gefühle der Menschenliebe, der Wahrheitsdurst, die christlichen und die nationalen Gefühle, und sogar der Rassenstolz der europäischen Völker beugen. Der Materialismus triumphiert, die blinde, gefräßige Begierde nach persönlicher materieller Versorgung, die Gier nach persönlichem Zusammenscharren des Geldes, und – der Zweck heiligt das Mittel –: all das wird als höheres Ziel anerkannt, für das Vernünftige, für die Freiheit, an Stelle der christlichen Idee der Rettung, einzig mittels der engsten, moralischen und brüderlichen Vereinigung der Menschen. Man wird hierauf vielleicht lachend erwidern, daß das keineswegs durch die Juden gekommen sei. Natürlich nicht durch die Juden allein; doch wenn die Juden in Europa gerade seit der Zeit – da diese neuen Grundsätze dort den Sieg davongetragen – die Oberhand gewinnen und gedeihen, sogar in dem Maße, daß ihre Grundsätze zum moralischen Prinzip erhoben werden, so kann man doch sagen, daß das Judentum einen großen Einfluß gehabt hat. Meine Gegner weisen immer darauf hin, daß die Juden im Gegenteil arm sind, und zwar überall, in Rußland nur noch ganz besonders; daß nur der kleine Wipfel dieses Volksbaumes reich ist, die Bankiers und die Könige der Börsen, von den übrigen aber fast neun Zehntel buchstäblich Bettler sind, die sich für ein Stück Brot zerreißen, und Maklerlohn anbieten, um eine Kopeke zu erhaschen. Ja, das ist wahr, doch was bezeichnet es? Sagt das nicht gerade, daß selbst in der Arbeit der Juden, daß selbst in ihrer Exploitation etwas Unrechtes, Unnormales, etwas Unnatürliches ist, das seine Strafe bereits in sich trägt? Der Jude verdient durch Vermittlergeschäfte, er – handelt mit fremder Arbeit. Ein Kapital ist angesammelte Arbeit; der Jude schlägt sein Kapital aus fremder Arbeit! Doch all das verändert bis jetzt noch nichts: dafür erobern die reichen Juden immer mehr und mehr die Herrschaft über die Menschheit und streben immer eifriger, der Welt ihr Antlitz auszudrücken und ihr Wesen zu verleihen. Spricht man über diese Eigenschaft der Juden, so sagen sie immer, auch unter ihnen gäbe es gute Menschen. Herrgott! Handelt es sich denn hier etwa darum? Ich spreche doch in diesem Fall nicht von guten oder schlechten Menschen. Und gibt es unter Letzteren nicht gleichfalls gute? War denn der verstorbene James Rothschild etwa ein schlechter Mensch? Ich spreche doch nur im allgemeinen vom Judentum und von der jüdischen Idee, die die ganze Welt ergreift, an Stelle des ,,mißlungenen“ Christentums.

NUN, ES LEBE DIE BRÜDERSCHAFT!

Doch was rede ich eigentlich und wozu? Oder bin ich vielleicht wirklich ein Judenfeind? Sollte es doch wahr sein, was mir eine zweifellos gebildete und edle junge Israelitin schreibt – bin ich wirklich, wie sie sagt, ein Feind dieses „unglücklichen“ Volkes, das ich ,,bei jeder Gelegenheit grausam angreife“? ,,Ihre Verachtung für das jüdische Volk, das an nichts anderes, als an sich selbst denkt, wie Sie sagen“, schreibt sie mir, „ist nur zu augenscheinlich.“ – Nein, gegen diese Augenscheinlichkeit lehne ich mich auf und bestreite sie. Im Gegenteil, ich sage und schreibe gerade, daß ,,alles, was die Humanität und die Gerechtigkeit verlangen, alles was die Menschlichkeit und die Gebote Christi von uns fordern, für die Juden getan werden muß.“ Diese Worte habe ich schon einmal geschrieben und jetzt füge ich nur noch zu ihnen hinzu: abgesehen von allen Bedenken, die von mir ausgesprochen worden sind, bin ich doch für die vollkommene Erweiterung der Rechte unserer Juden in der russischen Gesetzgebung, und, wenn es nur möglich ist, auch für die vollste Gleichheit der Rechte mit der autochthonen Bevölkerung – NB. obgleich sie schon jetzt vielleicht mehr Rechte haben, oder, richtiger, mehr Möglichkeiten, sich ihrer zu bedienen, als das autochthone Volk selbst. Bei der Gelegenheit geht mir natürlich wieder etwas anderes durch den Sinn: wie, wenn nun unsere Dorfgemeinde, die unseren armen Bauern vor so viel Bösem bewahrt8, aus irgend einem Grunde ins Wanken und Zerbröckeln käme – wie, wenn dann diesen befreiten Bauer, der so unerfahren ist und so wenig der Verführung zu widerstehen weiß, und den bis jetzt gerade die Dorfgemeinde bevormundet hat, die Juden überfluten – was dann? Dann würde es ja mit ihm einfach aus sein, dann hätte er im Augenblick alles verloren: sein ganzes Eigentum, seine ganze Kraft würde dann schon am nächsten Tage in die Hände der Juden übergehn und dann käme eine Zeit, die man nicht nur mit der Zeit der Leibeigenschaft vergleichen könnte, sondern eher mit der des Tatarenjoches.

Doch abgesehen von allem, was mir in den Sinn kommt und was ich geschrieben habe, stehe ich für die vollständige Gleichstellung in den Rechten, – denn also ist es das Gebot Christi. Wozu aber habe ich dann so viel Seiten verschrieben, was habe ich sagen wollen, wenn ich mir jetzt so widerspreche? Gerade das habe ich sagen wollen, daß ich mir nicht widerspreche, daß ich russischerseits kein Hindernis für die Vergrößerung der jüdischen Rechte sehe. Doch behaupte ich, daß es solcher Hindernisse weit mehr auf der Seite der Juden gibt; und wenn sie bis jetzt noch nicht gleichberechtigt sind, so trägt der Russe weniger Schuld daran, als der Jude selbst. Denn gleichwie der einfache Jude mit Russen weder essen noch verkehren will, und diese sich darüber nicht nur nicht ärgern, sondern sofort begreifen und verzeihen –- „das tut er bloß, weil er solch ’nen Glauben hat“ –, ebenso sehen wir auch im intelligenten, gebildeten Juden ungemein häufig dasselbe maßlose und hochmütige Vorurteil gegen uns Russen. Oh, man höre nur, wie sie schreien, daß sie die Russen liebten! Einer von ihnen schrieb mir sogar, es bereite ihm großen Kummer, daß das russische Volk ,,keine Religion hat und sich unter seinem Christentum nichts denkt“! Das ist wohl etwas zu weit gegangen für einen Juden und es wirft sich nur die Frage auf: was versteht denn dieser hochgebildete Israelit selber vom Christentum? Dieser Eigendünkel und Hochmut ist für uns Russen eine der am schwersten zu ertragenden Eigenschaften des jüdischen Charakters. Wer ist von uns unfähiger, den anderen zu verstehen: der Jude oder der Russe? Ich rechtfertige eher den Russen: der Russe hat wenigstens keinen religiösen Haß auf den Juden – entschieden nicht! Die anderen Vorurteile aber – wer hat die mehr? Da schreien nun die Juden, daß sie so viel Jahrhunderte lang verfolgt und unterdrückt worden seien, es sogar jetzt noch wären, und der Russe dieses zum mindesten in Betracht ziehen müsse, wenn er den jüdischen Charakter beurteilt. Gut, wir ziehen es auch in Betracht, was wir sofort beweisen können: in der intelligenten Schicht des russischen Volkes haben sich mehr denn einmal Männer erhoben, die für die Rechte der Juden eingetreten sind. Was aber tun die Juden? Ziehen sie etwa die langen Jahrhunderte der Unterdrückung und Verfolgung, die das russische Volk ertragen hat, in Betracht, wenn sie die Russen anklagen? Wäre es möglich, zu behaupten, daß unser Volk weniger Leid und Elend erfahren hätte, als die Juden, einerlei wann und wo? Und wäre es möglich, gleichfalls zu behaupten, daß es nicht der Jude gewesen, der sich mehr als einmal mit den Unterdrückern des russischen Volkes vereinigte – daß er zur Zeit der Leibeigenschaft den russischen Bauern abkaufte und somit sein unmittelbarer Beherrscher war? Das ist doch wahr, ist doch Geschichte, unleugbare Tatsache! Doch noch nie haben wir gehört, daß das jüdische Volk darüber Reue empfände; es klagt immer nur den russischen Bauern an, daß er es wenig liebe.

Einst wird volle und geistige Einheit unter den Menschen herrschen und es wird kein Unterschied der Rechte mehr bestehn! Darum bitte ich vor allen meine Herren Israeliten-Gegner und -Korrespondenten, doch wiederum uns Russen gegenüber nachsichtiger und gerechter zu sein. Ist der Hochmut der Juden, ihr ewiger ,,mäkelnder Widerwille“ der russischen Rasse gegenüber, nur ein Vorurteil, ein ,,historischer Auswuchs“ und verbirgt sich darunter nicht irgend ein viel tieferes Geheimnis ihrer Gesetze oder ihres Wesens – so wird sich all das nur um so früher zerstreuen und wir werden uns einmütig in guter Brüderlichkeit zusammentun, zu gegenseitigem Beistand und für die große Sache – unserer Erde, unserem Staate, und unserem Vaterlande zu dienen! Die gegenseitigen Anklagen werden allmählich aufhören, die Ausnutzung dieser Anklagen, die das klare Verständnis der Dinge verhindern, wird verschwinden. Für das russische Volk kann man bürgen: oh, es wird dem Juden die größte Freundschaft entgegenbringen, trotz des Glaubensunterschieds, und doch wird es volle Achtung für die historische Tatsache dieses Unterschiedes bewahren. Trotzdem aber ist zu einer vollständigen Brüderlichkeit – Brüderlichkeit beiderseits erforderlich. Möge doch der Jude wenigstens nur etwas brüderliche Gefühle zeigen, um den Russen zu ermutigen. Ich weiß, daß es unter den Juden auch jetzt schon viele gibt, die sich nach der Beseitigung der Mißverständnisse sehnen und wirklich äußerst menschenfreundlich sind – ich will die Wahrheit nicht verschweigen. Auf daß nun aber diese nützlichen und menschenfreundlichen Leute nicht den Mut verlieren, ein wenig ihre Vorurteile abzuschwächen und damit den Anfang der Sache zu erleichtern, wünschte ich die volle Erweiterung der Rechte des jüdischen Volkes, wenigstens soweit das möglich ist: in wie weit das jüdische Volk die Fähigkeit beweist, sich dieser Rechte zu bedienen, ohne daß die autochthone Bevölkerung darunter zu leiden hat. Nur Eines fragt sich noch: werden diese tapferen und guten Israeliten auch viel erreichen und in wie weit sind sie selbst fähig, zur neuen schönen Aufgabe der wirklichen brüderlichen Vereinigung mit ihnen dem Glauben und dem Blute nach fremden Menschen?

DIE BEERDIGUNG DES ALLMENSCHEN

Ich hatte eigentlich die Absicht, über sehr Vieles in dieser Märznummer meines ,,Tagebuches“ zu schreiben, doch ist es wieder geschehen, daß ich über ein einziges Thema, über das ich nur einige Worte hatte sagen wollen, ganze Seiten geschrieben habe. So nehme ich mir, zum Beispiel, immer vor, einmal etwas über die Kunst zu sagen! Auch wollte ich über das Bild Semiradskis sprechen – nur ein wenig –, und vor allen Dingen über den Idealismus und den Realismus in der Kunst, über Repin und Herrn Raphael; werde es aber noch aufschieben müssen. Und wie lange nehme ich es mir schon vor, über die Briefe, besonders die anonymen, die ich so oft erhalte, zu schreiben!

Nun aber will ich doch einen Brief anführen, keinen anonymen, sondern einen von einer mir sehr gut bekannten Dame, Fräulein L., einer jungen Jüdin, deren Bekanntschaft ich in Petersburg gemacht habe. Sonderbarer Weise haben wir kein einziges Mal über die „Judenfrage“ gesprochen, obgleich sie eine strenge und ernste Israelitin zu sein scheint. Wie ich sehe, hat ihr Brief eine Beziehung zu dem heute von mir geschriebenen Kapitel über die Juden. Es wäre vielleicht zu viel über dasselbe Thema, doch hier handelt es sich um etwas Anderes: der Brief zeigt eine ganz andere Seite der Frage, vielleicht die entgegengesetzte, und außerdem ist er geradezu ein Hinweis auf die Lösung des Problems. Ich hoffe, Fräulein L. wird mir verzeihen, wenn ich hier mit ihren Worten jenen Teil ihres Briefes wiedergebe, der von der Beerdigung des Doktors Gindenburg in M. handelt. Unter dem frischen Eindruck dieser Beerdigung hat sie so aufrichtige und in ihrer Wahrheit so rührende Worte gefunden. Ich will es nochmals hervorheben, daß dieses von einer Jüdin geschrieben ist, daß diese Gefühle – Gefühle einer Jüdin sind …

Ich schreibe Ihnen unter dem tiefen Eindruck des Trauermarsches. Der 84jährige Doktor Gindenburg ist heute beerdigt worden. Da er Protestant war, wurde er zuerst in die lutherische Kirche gebracht und dann erst auf den Kirchhof. Solche Trauer, solche von Herzen kommenden Worte, so heiße Tränen habe ich noch an keinem Grabe gesehn. … Er starb in der größten Armut, so daß man zuerst nicht wußte, womit ihn beerdigen.

58 Jahre praktizierte er schon in M. … Und wie viel Gutes hat er in dieser langen Zeit getan! Wenn Sie wissen würden, Fedor Michailowitsch, was das für ein Mensch war! Er war Doktor und Frauenarzt; sein Name wird hier ewig weiterleben, es sind schon Legenden über ihn entstanden. Alle Armen nannten ihn „Vater“, liebten und vergötterten ihn, doch erst seit seinem Tode begreifen sie ganz, wen sie in ihm verloren haben. Als er noch im Sarge lag (in der Kirche), gingen alle, aber auch alle hin, um ihn zu beweinen und seine Füße zu küssen; besonders die armen Jüdinnen, denen er soviel geholfen hat, weinten und beteten für ihn, damit er geradenwegs in den Himmel komme. Heute kam unsere frühere Küchenmagd (sie ist furchtbar arm) zu uns und erzählte, er habe bei der Geburt ihres letzten Kindes, da er gesehn, daß keine Kopeke im Hause war, 30 Kopeken gegeben, damit man ihr eine Suppe koche, und darauf sei er jeden Tag gekommen und habe jedes Mal 20 Kopeken hinterlassen; und als sie sich ein wenig erholt hatte, habe er ihr zwei Feldhühner geschickt. So hat er auch einmal bei einer furchtbar armen Wöchnerin (solche wandten sich immer an ihn) sein Hemd ausgezogen und sein Kopftuch abgenommen (sein Kopf war immer mit einem Tuch umwunden) und beides zu Windeln zerrissen. Auch erzählt man sich hier, wie er einen armen Juden, einen Holzfäller, und dessen ganze Familie kuriert hat. Jeden Tag ist er zwei