Antoinette - Robbert Welagen - E-Book

Antoinette E-Book

Robbert Welagen

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Beschreibung

"Ich wusste nicht, dass man auch etwas verlieren konnte, was man noch nicht besaß." Ein Mann wartet in einem Budapester Thermalbad auf eine Frau, seine Frau, auf Antoinette. Vor sieben Jahren waren sie schon einmal hier. Ganz am Anfang. Ganz am Anfang ihres Glücks. Dazwischen unzählige erfolglose Kinderwunschbehandlungen, Entfremdung und schließlich eine gescheiterte Ehe. Werden sie sich jetzt wiederbegegnen, wird ihre Liebe eine zweite Chance bekommen? Robbert Welagen, ein Meister der leisen, wohldosierten Worte, entwirft in diesem Roman das Panorama einer Ehe und das Seelenleben zweier Menschen, die an ihrer Kinderlosigkeit zu zerbrechen drohen. Sehr atmosphärisch, von minimalistischer Schönheit und ungemein tröstlich.

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Robbert Welagen

Antoinette

Aus dem Niederländischenvon Rolf Erdorf

OKTAVEN

Inhalt

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

1

Vor dem Eingang, auf der obersten Stufe der Marmortreppe, sitzt ein Mädchen. Sie trägt ein weißes Kleidchen und hat ein ovales Gesicht. Ihre nassen Haare werden von einem Haarreif zurückgehalten. Ich schätze sie auf ungefähr zehn Jahre; sie wartet darauf, abgeholt zu werden. In einer Tasche neben sich ihre Badesachen: ein feuchtes Handtuch, ein Badeanzug und ein Paar Latschen. Sie hat das Kinn auf die Knie gestützt und schaut die baumbestandene Auffahrt hinunter, als würde sie sich fragen: Wie lange dauert es noch?

Sie sieht ein schwarzes Auto durchs Tor fahren und langsam auf sie zukommen. Wohin sonst in dieser so stilisierten Umgebung sollte sie blicken? Es gibt einen Rasen, die Auffahrt und einen Pavillon unter Bäumen. Das alles umsäumt von den Stäben eines dunkelgrünen Gitterzauns, hinter dem sich die Straßen von Budapest verlieren.

Hätte mein Kind so ausgesehen? Klassisch gekleidet, etwas brav, nicht mehr ganz zeitgemäß? Womöglich. Aber ich hätte meine Tochter nicht so lange warten lassen. Schon als sie herausgelaufen kam, hätte ich rechtzeitig mit offener Wagentür bereitgestanden. Ein solcher Vater wäre ich gewesen – das jedenfalls attestiere ich mir. Tagträume und Wunschdenken vereinfachen die Realität. Was ihnen fehlt, sind die Launen des Alltags: Straßensperren, länger dauernde Termine.

Das Auto hält vor der Treppe, aber es ist nicht das, auf das sie wartet. Eine Frau steigt aus. Sie trägt einen Hut, der ihre Augen verschattet. Sie geht an dem Mädchen vorbei die Stufen hoch. Die beiden grüßen sich mit einem Kopfnicken. Der Wagen, der die Frau gebracht hat, fährt wieder ab. Das Grün der überhängenden Blätter spiegelt sich in dem funkelnden Schwarz. Das Auto rollt an mir vorbei und verschwindet durchs Tor.

Oben an der Treppe dreht sich die Frau kurz um. Prüfend betrachtet sie das Kind, wie angespannte Menschen es tun, als sei es unverantwortlich, es draußen warten zu lassen. Die Frau geht hinein und verschwindet in die Empfangshalle.

In der Halle stehen tiefe Sofas, in denen Menschen sitzen, um sich entspannt zu unterhalten. Manche Lehnen sind so hoch, dass man von hinten nicht sehen kann, ob jemand darin sitzt. Die Empfangshalle wird auch Trinkhalle genannt. Dort gibt es einen Brunnen, aus dem man Thermalwasser trinken kann.

Das Mädchen hat auch kurz in der Trinkhalle auf einem Sofa gesessen, stelle ich mir vor, die Füße über den kalten, dekorierten Fliesen baumelnd. Aber dort herrschte zu viel Betrieb. Die Stimmen der anderen Leute hallten durch den Raum. Sie ist hinausgegangen, wo es still ist. Nichts als das Rauschen der Bäume. Ab und zu ein Auto, das sich über die Auffahrt nähert. Die Ankunft von etwas Neuem kündigt sich hier sehr zeitig an.

Sie schaut vor sich hin, erst die Auffahrt entlang, dann schweifen ihre Augen links und rechts über den Rasen. An mehreren Stellen ragen Röhrchen aus dem Gras. Diesen entsteigen Dampfwölkchen; sie stammen von dem 77 Grad heißen und aus 1 200 Metern Tiefe heraufgepumpten Wasser. An früheren Sommernachmittagen – stelle ich mir wieder vor – saß sie auch auf der Treppe. Diese Umgebung hat sie schon so oft gesehen, ihr Blick streift über die Bäume und Sträucher gleich den letzten Strahlen der Nachmittagssonne.

Ein elf- oder zwölfjähriger Junge scheint ebenfalls auf etwas zu warten. Er liegt bäuchlings im Gras und liest einen Comic. Einen Sohn zu haben, wie wäre das gewesen? Neben ihm ein kleiner Rucksack, darin sein nasses Badezeug. Aus den kurzen Hemdsärmeln schauen knochige Arme hervor. Der Junge ist völlig im Bann der gezeichneten Geschichte, die vor ihm liegt.

Ich muss an die Eltern dieser Kinder denken: Obwohl nicht am selben Ort, bleiben sie doch alle durch einen unsichtbaren Faden miteinander verbunden. Diese unendliche Menge an Familienbanden, die sich wie Linien über die Welt spannen.

Das Mädchen verschwindet für einen Augenblick hinter den Beinen eines Ehepaars, das die Treppe hinaufgeht. Sie hat das Paar nicht wie ich mit den Augen verfolgt, denn ein rotes Auto kommt herbeigefahren. Ein Mann steigt aus und öffnet die beiden hinteren Türen. Dienstfertig steht er neben dem Wagen, die Arme eng am Körper, als hätte er das hier vor dieser Treppe schon öfter getan: ein Scherz, er mimt einen Chauffeur in schicker Umgebung. Das Mädchen erhebt sich träge. Der lesende Junge schlägt seinen Comic zu und steht ebenfalls auf. Mit dem Rucksack in der Hand geht er unter den Bäumen zu dem Auto. Etwas an ihrer beider Schritt verrät, dass sie Geschwister sind.

Ich höre den Vater, der sich leicht vorbeugt und sich ihnen gegenüber entschuldigt. Sie klettern auf die Rückbank. Der Mann schließt die Türen, geht um den Wagen herum und steigt ein. Schneckengleich setzt sich das Auto in Bewegung. Mit der Hand kurbelt der Junge das Fenster auf seiner Seite hinunter. Als er an mir vorübergleitet, lächle ich ihm zu und hebe die Hand. Er beantwortet meinen Gruß nicht, sondern rutscht zur Mitte der Rückbank, das Gesicht zwischen den beiden Vordersitzen. Er sagt etwas zu seinem Vater. Ich vermute, er fragt, ob es auch schneller geht, denn sobald das Auto auf die Straße einbiegt, gibt der Mann Gas. Die Reifen quietschen kurz, aber lang genug, um dem Jungen ein Lächeln aufs Gesicht zu zaubern. Er lässt sich gegen die Rücklehne fallen und liest neben seiner Schwester sitzend weiter in seinem Comic.

2

Die Treppe ist leer und der Rasen auch. Die Sonne bescheint den Marmor; das Licht wird jetzt einen Bruchteil schwächer zurückgeworfen. Ich wende mich ab und betrachte die Röhrchen, die über den Rasen verbreitet kleine Dampfwolken ausstoßen.

Ich sitze auf der Terrasse des Pavillons unter den Bäumen, auf der Hälfte der Auffahrt. Ich bin der Einzige, der noch wartet. Aber nicht auf ein rotes Auto. Ich warte auf Antoinette.

Wir hatten uns für drei Uhr verabredet. Mittlerweile sind zwei Stunden vergangen. Während des Wartens habe ich manchmal den Kopf in den Nacken gelegt und in die Sonne gestarrt, die durch die Baumwolle des Sonnenschirms schien. Das Licht wandelte sich allmählich: Das Hellblau des Himmels wich einem satteren Farbton. Um mich herum blieben immer mehr Tische leer. Der Kellner räumte die leeren Tassen, Flaschen und Kuchenteller ab. Nur ich bin sitzen geblieben und warte geduldig. Um den Kellner zu beruhigen, bestellte ich in gebrochenem Ungarisch dann und wann ein Getränk.

Einmal bin ich aufgestanden und zur Toilette gegangen. Ich betrat den achteckigen Pavillon einzig aus dem Grund, das Warten zu durchbrechen. Ich bildete mir ein, dass Antoinette bei meiner Rückkehr wie durch ein Wunder an meinem Tisch säße. Im Pavillon erklang leise Musik, und hinter dem Tresen standen spiegelblank geputzte Apparate und aufgestapelte Gläser. Ich betrachtete alles eingehend, um die Pause zu intensivieren und die Wahrscheinlichkeit zu erhöhen, dass Antoinette bei meiner Rückkehr auf der Terrasse zugegen wäre. In dem kleinen Waschraum hielt ich meine Hände lange unter den Wasserhahn und trocknete jeden Finger einzeln ab. Am Tresen vorbei ging ich zum Ausgang und spürte draußen wieder die staubige, windlose Wärme. Die Terrasse jedoch war leer.

Irgendwann meinte ich sie durch die Gitterstäbe des Zauns auf der anderen Straßenseite zu sehen. Sie saß auf dem Beckenrand eines Brunnens. Es war Antoinette, da war ich mir sicher. Warum saß sie da? Ich hob die Hand. Sie winkte nicht zurück, schaute auch nicht in meine Richtung. Instinktiv erhob ich mich halb aus meinem Stuhl und stützte mich noch mit den Händen auf den Lehnen ab, als mir die Sicht auf den Brunnen plötzlich von einem Autostrom und einem Stadtbus genommen wurde; irgendwo musste eine Ampel auf Grün gesprungen sein, und eine lange Schlange stehender Fahrzeuge wurde wie in einer einzigen Bewegung vorwärts gespien. Die Welle versiegte von selbst wieder. Als ich die andere Straßenseite wieder sehen konnte, war der Brunnen verlassen.

Ich ließ mich in den Stuhl zurückfallen und hoffte, Antoinette würde für mich unsichtbar die Straße überqueren und durch das Eingangstor den Park betreten. Sie trug ein mintgrünes Kleid, die schlichte Eleganz. Am Brunnen hatte sie sich nur die Schnürsenkel gebunden oder die Schnalle ihrer Sandale festgemacht; sie war raschen Schrittes gekommen, hatte sich beeilt. Jeden Augenblick würde ich ihre gebräunten Beine sehen, ihre Stimme hören, ihre Lippen auf meiner Wange fühlen. Schon spürte ich ihren warmen Mund – oder noch immer, wie eine lebendige Erinnerung an das letzte Mal. Während mein Blick auf der sandfarbenen Fassade des Thermalbads ruhte, warteten meine gespitzten Ohren auf die sich nähernden Schritte auf dem weißen Kies. Doch das Geräusch blieb aus.

Der Kellner fragt mich zum dritten Mal, ob ich noch etwas bestellen möchte, was ich tue. Die Tasse Kaffee lasse ich unangerührt auf der runden Tischplatte erkalten, und nach einer Weile wird sie wieder abgeräumt.

Um die Rechnung zu bitten wäre der Schlussstrich unter ein ausgebliebenes Ereignis, den ich noch nicht akzeptieren will. Ebenso wenig möchte ich den Park verlassen, die öffentliche Straße betreten und in mein Hotel zurückkehren. Und sei es auch nur mit einem dünnen Faden, den allein ich gespannt halte: Ich will verbunden bleiben mit diesem Ort, wo – für einen Moment – die Möglichkeit bestanden hat, Antoinette wiederzubegegnen.

Die Verabredung übrigens war einfach gewesen. Zustande kommen sollte sie auf ihre Initiative hin. Unter den Bäumen dieses Pavillons, bei diesem Bad, um drei Uhr. Sie wollte mich sehen und ich hatte zugestimmt. Ich hatte sofort Ja gesagt. Ganz klar, denn es war zweifelsfrei: ein Treffen mit Antoinette wäre der Höhepunkt der Woche. Danach würde unser Zusammensein noch Tage in meinem Körper und meinen Gedanken nachschwingen.

Ich kann sie anrufen. Ihre Telefonnummer steht auf einem Zettel, und der steckt in meinem Portemonnaie. Sie hat mir das handbeschriebene Stück Papier gleich bei unserem ersten Kennenlernen gegeben, ganz altmodisch. Das gefiel mir und ich habe es aufgehoben, inzwischen ist das Papier an den Falzen schon abgewetzt. Manchmal macht es mir Freude, den Zettel hervorzuholen und anzuschauen. Ich kann es tun und sie anrufen, aber ich lasse es. Es hat keinen Sinn. Sie wird doch nicht abheben.

Zwei Stunden sind verstrichen, ich habe gewartet, sie ist nicht gekommen. Womit dieses Vakuum füllen? Von allen Menschen sehe ich Antoinette am liebsten. Jedes Treffen ist einzigartig und mit einer Intensität gefüllt, die mir bewusst macht: Diese Momente sind einmalig, kein einziger wird sich wiederholen.

Der Kellner legt einen zusammengerollten Kassenbon vor mir auf den Tisch und verschwindet wieder nach drinnen. Er löscht eine Reihe von Lichtern hinter dem Tresen. Die Sicherheit, die dieser Stuhl und dieser Tisch mir bieten, die zeitweise Stütze des Pavillons in meinem Rücken, sie drohen hinfällig zu werden. Als Vorwand, länger bleiben zu können, überlege ich panisch, hier das Abendessen einzunehmen – wohl etwas früh, aber auch nicht zu ungewöhnlich –, bis mir bewusst wird, schon gesehen zu haben, dass der Pavillon gar keine Abendkarte vorhält.

Ich blicke zu dem offenen Tor mit der Straße dahinter. Wie in stummer Verweigerung drehe ich mein Gesicht in die entgegengesetzte Richtung. Ohne das Mädchen und den Jungen mit seinem Comic sind da immer noch der Rasen, die Treppe und der Eingang zur Trinkhalle.

Eine Tasche mit Badesachen habe ich nicht dabei – wir hatten soweit ich weiß nicht vorgehabt, das Bad zu besuchen, aber was hatte Antoinette stattdessen mit mir vor? Dennoch steuere ich, nachdem ich die Rechnung beim Kellner beglichen habe, auf die Treppe zu.

3

In der Empfangshalle ist es kühler und dunkler. Wie ich mir vorgestellt hatte, verschluckt ein alles übertönender Halleffekt sämtliche Einzelgeräusche. Es ähnelt der relativen Geschäftigkeit in einer Bahnhofshalle, aber die Leute hier haben nasse Haare und als Gepäck Taschen mit feuchten Handtüchern. Der Nachmittag ist fast vorüber; Zeit, nach Hause zu gehen.

Durch hoch angebrachte Fenster, weit über den Köpfen der Menschen, fällt Sonnenlicht in Bahnen auf die Bodenfliesen. Vier Palmen in monumentalen Töpfen bilden ein Rechteck mit darin aufgestellten Holzbänken. Auf einer Sitzfläche fehlt eine Latte. In tadellosem Zustand ist die Halle nicht: Der Stuck weist lange Risse auf, das Holzgeländer der Treppe ist blank von all den Händen, die darübergeglitten sind, einige Fliesen im Fußboden haben sich gelockert und hier und da sind Stückchen verschwunden, abgetreten. Der Brunnen aus meiner Fantasie mitsamt Heilwasser fehlt, desgleichen die weichen Sofas. Wohl gibt es einen Informationsschalter. Bei der Frau hinter der Scheibe, sie trägt ein weißes, langärmliges Poloshirt, kann man auch Badebekleidung leihen.

Hätten Antoinette und ich uns auf einer Bank vor einer Kirche verabredet, ich wäre in die Kirche gegangen. Hätten wir uns für ein Museumscafé entschieden, dann wäre ich durch die Ausstellungssäle spaziert. Manchmal braucht der Mensch einen Ort außerhalb der täglichen Ordnung, einen Ort des Trostes.

Ich erstehe eine Eintrittskarte und leihe mir ein Handtuch, einen Bademantel, eine Badehose und ein Paar Plastiklatschen. Das Thermalbad hat bis abends um zehn geöffnet, und es gibt verschiedene Möglichkeiten. Der full service ist inklusive Massage und Abendessen. Für dieses Angebot entscheide ich mich. Meinen Aufbruch möchte ich so lange wie möglich hinauszögern.

Ich muss meinen Namen aufschreiben, und die Frau sagt: «Sie brauchen erst hinterher zu bezahlen.»

Sie weist mich auf ein Schild mit einem Piktogramm hin: ein durchgestrichenes Mobiltelefon.

«Auch nicht im Restaurant», fügt sie hinzu.

«Umso besser», erwidere ich.

Der kleine Stapel Badeutensilien ruht auf meiner rechten Hand und ist leicht gegen meine Brust gelehnt; wie ein Tablett, eine Trophäe, ein Beweis, dass ich hier sein darf. Seht, ich gehe auch schwimmen. Gleich gehe ich ins Wasser.

Umkleiden kann man sich im Keller, erreichbar über eine breite Treppe. Zusammen mit dem natürlichen Licht bleibt der Hall oben zurück. Die Decke ist niedriger, der Marmor ist einem matten Stein gewichen. Das gleiche Gefühl wie auf einem U-Bahnsteig: eine unterirdische Welt, ein von Menschen entworfenes Netz von Gängen. Wir begnügen uns nicht mit der Oberwelt, wir zwängen uns zwischen die Maulwürfe und handhaben dabei unsere eigenen Regeln: Die Frauen werden hier von den Männern getrennt.

In der Mitte der Umkleide befinden sich Holzbänke und entlang der Wände hellgelbe Schließfächer. Dieser Raum wurde für Gruppen entworfen, einen großen Zustrom von Individuen. Ich zähle vier Männer mit nassglänzenden Haaren vom Duschen und einer etwas geröteten Haut, alle mit ihrer Kleidung beschäftigt. Ich verspüre den Drang, guten Tag zu sagen wie beim Betreten eines Wartezimmers beim Hausarzt, doch der Anblick der gekrümmten nackten Rücken und des Zurrens an Schuhen hält mich davon ab. Wohl grüße ich den noch vollständig angezogenen Mann, der nach mir den Raum betritt.

Meine Badesachen lege ich auf eine Bank. Ich setze mich, die Hände auf den Knien und den Rücken kerzengerade. Es ist, als verlangte die nackte Bank eine korrekte Haltung. Neue Anstandsregeln, allein gültig in diesem Gebäude. Hierher kommen Menschen, die wissen, dass sie einen Körper haben; sie werden ihn in kaltes und warmes Wasser tauchen, ihn mit sprudelndem Wasser und Dampf umhüllen.

Ich betrachte die anderen Anwesenden. Kann man einem Mann ansehen, ob er ein Vater ist? An einem Blick, einer Geste oder etwas anderem? Ob Zufall oder nicht, im selben Augenblick packt ein Mann seine Badesachen in einen rosa Rucksack mit einem Regenbogen. Ein Stich durchfährt mich. Ich stelle mir einen unordentlichen Haushalt vor, in dem er seine eigene Tasche nicht hat finden können und dann eben den Rucksack eines seiner Kinder genommen hat, die sonntags ohnehin nicht zur Schule müssen. Mit dem kleinen Ding über der Schulter verlässt er die Umkleide.

Ich trödele etwas und hoffe, dass die anderen Männer sich auch rasch entfernen. Das Leinenhemd, die Baumwollhose und die Lederschuhe, die ich für Antoinette angezogen habe, werde ich gleich ausziehen und in ein Schließfach räumen. Ich werde weiße Slipper und eine Badehose tragen. Ich werde praktisch nackt sein.

Ich öffne schon mal die Knöpfe des Hemdes, das Antoinette mir geschenkt hat. Original von Margaret Howell, hatte sie dazugesagt. Die britische Modedesignerin und sie teilen ein einsames Hobby: Kieselsteine am Strand sammeln. Ich sehe