Anton und Marlene und die wahrhaftigen Wahrheiten - Antje Herden - E-Book

Anton und Marlene und die wahrhaftigen Wahrheiten E-Book

Antje Herden

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Beschreibung

Willkommen zurück im Universum der Unwahrscheinlichkeiten: Zwei Freunde müssen die Welten retten!Eigentlich würden sich Anton und Marlene gerne einmal um das wirkliche Leben um sich herum kümmern. Aber dazu bleibt ihnen keine Zeit. Denn das Paralleluniversum ist in Gefahr, und es ruft ausgerechnet nach ihnen! In der anderen Welt begegnen ihnen rosa Bonbonberge und blaue Wesen, die niemals auf die Toilette müssen. Doch zwischen ebendiesen Wesen herrscht Streit, und dadurch droht alles aus den Fugen zu geraten. Leider wäre davon auch unsere Welt betroffen … Ob Anton und Marlene tatsächlich die Retter sind, für die sie gehalten werden?Ein turbulentes Abenteuer voll sprühender Phantasie über Zusammenhalt, die Freundschaft und wahrhaftige Wahrheiten.

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Seitenzahl: 202

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Antje Herden

Anton und Marlene und die wahrhaftigen Wahrheiten

Mit Vignetten von Regina Kehn

FISCHER E-Books

Inhalt

WidmungProlog1. Wir lagen vor Madagaskar2. Das Sparbuch3. Der Ruf nach uns4. Soundsysteme5. Das Paralleluniversum in der Kiste6. Zwischen zwei Universen7. Wieder hier8. Pommes und Kakerlaken9. Küsen aus Plastik und schwarzer Staub10. Der Bonbonberg11. Der Clownomat12. Die rosafarbenen Bonbons13. Die anderen14. Aufs Klo15. Beim Chef16. Ohne Gefühle17. Heimat18. Die Wilden19. Der andere Anton20. Heureka – ich hab’s!21. Die Aufzeichnungen der Alten22. Das Gefährt23. Der Tag der Vernichtung24. Im Auge des Sturms25. Abgeschnittene ZöpfeEpilogDank

Für Aaron und Shawna und alle Jungen und Mädchen,die gerne lesen

Prolog

Das blaue Glimmen wurde schwächer und schwächer. Wäre ich ein Erdenmensch, würde wahrscheinlich gleich eine Uhr stehenbleiben, dachte es. Mit diesen sogenannten Uhren konnte es nicht viel anfangen. Sie zeigten, wie Zeit verging. Wer wollte so etwas wissen?

Das Portal verschwand. Ob die Nachricht noch hindurchgelangen und bei ihnen ankommen würde, wusste es nicht. Doch die Hoffnung stirbt zuletzt. Auch dort, wo es herkam. Zumindest hoffte es das.

1. Wir lagen vor Madagaskar

»Da passt keiner mehr rein«, sagte Marlene.

Wir blickten schaudernd auf die offene Doppeltür der Aula, durch die Schüler drängten wie das Innere aus einer Knackwurst, nachdem die Haut geplatzt war.

Wir hatten vor dem verschlossenen Klassenzimmer auf unsere Lehrerin Frau Wolfert gewartet, als die Durchsage kam, dass wir uns alle in der Aula versammeln sollten. Und alle bedeutete sämtliche Schüler der Jahrgänge fünf bis zwölf. Das sind eintausendzweihundert Kinder und Jugendliche. Keine Ahnung, ob die Lehrer da vorher mal drüber nachgedacht hatten. Aber vielleicht musste an einer Schule, deren wahnsinniger Leiter vor einigen Tagen verhaftet worden war, einfach das Chaos ausbrechen.

»Los, wir kämpfen uns da auch rein«, sagte Kaspar voller Tatendrang. »Ist doch eine super Übung.«

»Eine super Übung wofür?«, fragte ich.

»Für die überfüllten Rockkonzerte, auf die wir später gehen werden«, sagte Kaspar grinsend. Er hatte seine Entführung glücklicherweise ziemlich gut überstanden.

Wir ließen unsere Rucksäcke im Vorraum stehen und quetschten uns durch die Massen hindurch, bis wir es tatsächlich geschafft hatten, vor die Bühne zu kommen.

»Hundert Sardinen in einer Büchse haben garantiert mehr Platz«, keuchte ich.

Die ohrenbetäubenden Geräusche aus eintausendzweihundert Mündern – minus mindestens drei, denn Rüdiger, Lisa und Katharina hatten nach ihrer Entführung die Schule verlassen – brachen plötzlich ab, als alle Lehrer in Zweierreihe vom Hintereingang in Richtung Bühne marschierten. Nur die dicke Biolehrerin Frau Jennick ging alleine. Das fiel aber nicht weiter auf, weil sie genauso viel Platz brauchte wie die anderen zu zweit. Die Lehrer formierten sich wie ein Chor. Es waren so viele, dass einige von ihnen beinahe seitlich wieder von der Bühne herunterfielen. Sie hatten wohl auch diesen Massenauflauf vorher nicht geprobt.

»Ich bin gespannt, was das werden soll«, sagte Marlene.

»Wahrscheinlich wird der neue Schulleiter bekanntgegeben«, vermutete Kaspar.

»Oder sie singen ein Lied für uns«, witzelte ich.

Und dann sangen die Lehrer unserer Schule ein Lied für uns. In der Aula brach ein wildes Geheul aus.

»Jubeln oder buhen die?«, schrie mir Marlene ins Ohr.

»Keine Ahnung. Es könnte beides sein«, schrie ich zurück und starrte fassungslos auf die singende Lehrerschaft.

»Was war denn da drinnen los?«, fragte Tim, als wir uns eine halbe Stunde später aus der Aula wieder über den Hof ergossen hatten. Er hatte hier draußen gewartet, weil es ihm drinnen zu voll gewesen war.

»Totale Superpanik«, berichtete Kaspar.

»Aha«, sagte Tim. »So hat es sich auch angehört.«

»Scheinbar wollen viele Eltern ihre Kinder abmelden, und nun hat die Schule Angst, dass sie deswegen Probleme mit dem Land und irgendwelchen Fördergeldern kriegt«, fasste ich die langweilige Ansprache der Vizeschulleiterin nach dem Gesang zusammen.

»Und die Maßnahme der Lehrer, mit der sie uns hier halten wollen, war einfach spitzenmäßig!«, rief Kaspar.

»Wieso?«, fragte Tim. »Was haben sie gemacht? Schokolade verteilt? Oder jedem eine Eins in Physik versprochen?«

»Sie haben gesungen!«, riefen Kaspar, Marlene und ich wie aus einem Mund. Dann prusteten wir los.

»Alle Lehrer, die Sekretärin und der Hausmeister standen auf der Bühne und haben gesungen! Stell dir das mal vor!«, sagte Marlene glucksend.

Kaspar schlug sich auf die Schenkel und konnte gar nicht mehr aufhören zu lachen. Ich befürchtete schon, er würde sich totlachen, womöglich ersticken oder so.

»Was haben sie denn gesungen?«, fragte Tim noch ziemlich ungerührt.

»Wir … wir … lagen vor … Madagaskar«, stieß Kaspar zwischen Lachsalven hervor.

Da konnte sich Tim auch nicht mehr halten und lachte mit uns.

»Es war zum Davonlaufen, dabei sollte es uns doch zum Dableiben verführen«, sagte Marlene.

Wir hörten das alte Seemannslied aus allen Ecken des Schulhofs zu uns herüberwehen.

 

Wir lagen vor Madagaskar,

und hatten die Pest an Bord.

In den Fässern, da faulte das Wasser

und täglich ging einer über Bord.

Ahoi Kameraden.

Ahoi, ahoi!

 

Wahrlich der perfekte Song, um uns davon zu überzeugen, dass wir in eine phantastische Schule gingen. Aber man musste versuchen, das zu verstehen. Alle waren traumatisiert. Denn der Schulleiter und der Physiklehrer waren letzte Woche verhaftet worden, weil sie Kaspar, Uwe Bommel und drei Schüler aus der Sechsten entführt, in Dauerschlaf versetzt und durch Pseudoklone ersetzt hatten. Da kann es schon mal zu Übersprunghandlungen kommen.

Später saßen wir allein gelassen im Klassenzimmer. Frau Wolfert tauchte nicht auf.

Es hatte sich längst herumgesprochen, dass Marlene und ich es waren, die den Schulleiter und unseren Physiklehrer Herrn Kux überführt hatten. Letzten Freitag hatte darüber ein großer Artikel in der Zeitung gestanden. Der beschrieb allerdings nur die Hälfte der Geschehnisse um die fünf entführten Schüler. Über die andere Hälfte – die wahrscheinlichen Unwahrscheinlichkeiten und die tatsächlichen Tatsachen – wussten nur der ehemalige Schulleiter, die Marvelhelden, unser Freund Theobald Holzhammer, Marlene und ich Bescheid. Keiner von uns würde darüber allerdings öffentlich ein Wort verlieren, dazu war die ganze Geschichte viel zu unglaublich, und man weiß ja, wie die Menschen darauf reagieren, wenn man Unglaubliches erzählt.

Kaspar, Marlene und ich saßen auf unseren Plätzen, und die anderen standen um uns herum. Sie waren total aufgeregt und wollten natürlich alles genau wissen. Die Sache war immerhin in echt passiert und darum besser als jeder Actionfilm. Es war gar nicht so einfach zu erzählen, wie wir die entführten Kinder im Keller gefunden hatten, ohne das Paralleluniversum oder irgendwelche Unwahrscheinlichkeiten zu erwähnen. Kaspar erzählte zum Schluss von der Befreiung, die er ja selbst miterlebt hatte. Er zwinkerte uns kurz zu, weil wir ausgemacht hatten, einiges zu verschweigen. Dabei kannte er die ganze Wahrheit ja auch nur zu einem Bruchteil.

Die anderen feierten uns wie Helden. Mir war der Jubel, der uns immer wieder unterbrach, schrecklich peinlich. Marlene lächelte, propellerte ihren Zopf jedoch dermaßen schnell, dass ich schon befürchtete, sie würde jeden Moment abheben. Ein sicheres Zeichen dafür, dass sie am liebsten ganz woanders gewesen wäre. Nur Kaspar genoss die Aufregung, die um ihn herum herrschte. Die hatte er sich auch redlich verdient.

Dann kam leider unsere Französischlehrerin zur Tür herein, und wir hatten ganz normalen Unterricht. So, als sei gar nichts gewesen. Hin und wieder brach jedoch jemand in Gekicher aus. Wahrscheinlich, weil er sich vorstellen musste, wie unsere ältliche Französischlehrerin mit dem grauen Pagenkopf singend auf der Bühne in der Aula gestanden hatte.

Ahoi Kameraden. Ahoi, ahoi!

Nach der Schule gingen Marlene und ich zum Mittagessen ins Restaurant.

»Erbsensuppe!«, rief ich entsetzt.

»Auf der Tageskarte steht doch Wiener Schnitzel«, wunderte sich Marlene und zwirbelte ihren Zopf.

»Das stimmt«, raunte Kalle, der dicke Wirt. »Omas Erbsensuppe gibt es erst morgen.«

Ich starrte auf den tiefen Teller, den Kalle gerade vor mir abgestellt hatte und in dem sich ganz eindeutig schon heute Erbsensuppe befand.

Kalle setzte sich zu uns an den Tisch und tupfte sich mit meiner Serviette die schweißnasse Stirn. Dann faltete er das feuchte Tuch wieder ordentlich zusammen und legte es zurück neben meinen Teller.

»Ähm, die brauche ich eigentlich nicht mehr«, murmelte ich.

»Der Koch ist gestern die Kellertreppe heruntergefallen«, sagte Kalle und stopfte die Serviette in seine Hosentasche. »Dabei hat er sich beide Beine gebrochen.«

»Um Himmels willen!«, riefen Marlene und ich im Chor.

»Das ist nicht nur für ihn schlimm, sondern auch für uns eine wahre Katastrophe«, sagte der Wirt und seufzte zum Gotterbarmen. »Wir haben doch gerade erst eröffnet, und nun haben wir keinen Koch.«

»Könnt ihr nicht einen Aushilfskoch anstellen?«, fragte ich.

Kalle schüttelte den Kopf. »Das ganze Geld ist für die Renovierung des A.U.M.S. draufgegangen.«

»Was ist denn das A.U.M.S.?«, fragte Marlene verwundert.

»Na, Antons und Marlenes Speisezimmer«, murmelte ich.

»Stimmt ja«, sagte Marlene und grinste. »Ist noch ein bisschen ungewohnt.«

Hinter dem Namen steckte eine lange Geschichte, die ich schon an anderer Stelle erzählt habe. Auf alle Fälle hatten es der dicke Kalle und unser Freund Theobald Holzhammer Marlene und mir zu verdanken, dass sie vor zwei Tagen das Restaurant eröffnen konnten. Darum hatten sie es nach uns benannt. Außerdem durften wir hier nach der Schule gratis zu Mittag essen. Darüber freuten wir uns sehr. Allerdings hatte ich nicht mit Erbsensuppe gerechnet.

»Theobald und ich müssen das irgendwie anders hinkriegen«, fuhr Kalle mit besorgt gerunzelter Stirn fort.

»Glauben Sie, dass es eine gute Idee ist, Erbsensuppe aus der Dose anzubieten?«, fragte ich.

»Die ist nicht aus der Dose! Das ist wirklich das Rezept meiner Oma«, ereiferte sich Kalle. Dann seufzte er wieder. »Leider kann meine Oma nicht persönlich kochen. Sie ist schon sechsundneunzig Jahre alt und lebt im Schwarzwald in einem Seniorenheim. Ich habe die Suppe gekocht, und Oma hat mir am Telefon gesagt, was ich machen muss.«

»Und jetzt sollen wir probieren, ob sie schmeckt, stimmt’s?«, fragte Marlene und schaute auf ihren Teller.

»Genau«, sagte Kalle. »Bitte, Kinder. Ich bin da nicht objektiv, versteht ihr? Mir schmeckt sie doch, weil sie mich an meine Kindheit erinnert.« Kalle deutete aufmunternd auf die Teller vor uns.

»Ausgerechnet Erbsensuppe«, stöhnte ich und senkte meinen Löffel in die grüne Tunke. Dann hob ich ihn etwas hoch und ließ das meiste davon wieder runterlaufen. Als der Löffel fast leer war, führte ich ihn mit zögerlicher Hand und angehaltenem Atem an meine Lippen. Da stieg mir jedoch ein köstlicher Geruch in die Nase. Kurzentschlossen steckte ich den Löffel in meinen Mund.

»Lecker!«, rief Marlene. »Die Suppe ist echt lecker.«

Dann lachten wir wie verrückt, weil wir uns für den dicken Kalle, für Theobald Holzhammer und vor allem für uns freuten, denn wir hatten Hunger.

»Wo ist Theobald Holzhammer?«, fragte ich.

»In der Küche. Er brät die Schnitzel und die Bratkartoffeln für den heutigen Mittagstisch. Er hat gesagt, so was kann er.« Kalle klang zweifelnd, was mich nicht wunderte. Immerhin war Theobald Holzhammer bis vor wenigen Wochen noch ein schmuddeliger Obdachloser gewesen, der in Hinterhöfen oder im Park übernachtet hatte. Keiner von uns wusste, was er davor gemacht hatte und ob er jemals ein Leben mit einer Wohnung und einem Herd, mit einem Job und vielleicht auch mit einer Frau gelebt hatte.

Ich schaute mich um. Den Leuten an den anderen Tischen schien es zu schmecken.

»Könnte ich nach der Suppe noch ein Schnitzel bekommen? Oder ein paar Bratkartoffeln? Ich habe echt großen Hunger«, fragte ich.

»Natürlich, Kinder«, sagte Kalle eilfertig. Er sprang auf. »Ich bringe euch jedem noch ein Schnitzel.«

»Trotzdem probieren wir natürlich gerne jeden Tag, ob das Essen für den nächsten gut schmeckt«, sagte Marlene.

»Abgemacht«, sagte der dicke Wirt und strahlte uns an.

2. Das Sparbuch

Als ich später nach Hause kam, kauerte Opo hinterm Schreibtisch in seinem oder, besser gesagt, in Paps Arbeitszimmer. Das hatte Opo eines Tages einfach übernommen, weil er sich sowieso meistens in unserer statt in seiner Wohnung aufhielt. Opo kramte in Papieren, Fotos, Büchern und anderen Dingen herum.

»Hallo, Opo«, grüßte ich ihn. »Was machst du da?«

»Ich packe meine Umzugskisten«, schnaufte er. »Erstaunlich, wie viele Sachen immer wieder zusammenkommen. Dabei sollte das mit dem Ansammeln in meinem Alter mal langsam aufhören. Irgendwer muss das ja eines Tages, wenn ich nicht mehr bin, alles wieder entsorgen.«

»Sag doch so was nicht!«, rief ich entsetzt.

Natürlich würde Opo eines Tages sterben, so wie wir alle, und höchstwahrscheinlich würde er auch der Erste von uns sein, denn er war der Älteste. Dennoch: Ich wollte darüber nicht nachdenken. Außerdem sah er so aus, als würde das noch superviele Jahre dauern. Bis dahin konnte er von mir aus noch einige Dinge sammeln, wenn er Spaß daran hatte.

»Ich meine ja nur wegen all der Kisten, die ich packen muss«, brummte Opo.

»Habt ihr denn schon eine Wohnung gefunden?«, fragte ich überrascht.

Opos Kopf erschien hinter dem Schreibtisch. Ich musste grinsen. Sein Gesicht war rot vor Anstrengung, und sein graues Haar stand in alle Richtungen ab. Auf diese Haare war er übrigens sehr stolz, auch wenn man nicht gerade von vollem Haupthaar sprechen konnte. Aber die meisten Männer seines Alters hatten viel weniger davon als er.

»Stell dir vor, das haben wir. Und das auch noch hier im Viertel«, sagte Opo.

»Toll!«, sagte ich.

Ich freute mich für ihn, dass er seit neuestem mit Marlenes Tante Uli ein ganz fabelhaftes Paar war, das nun schnell zusammenziehen wollte. Aber wenn sie in ein anderes Stadtviertel gezogen wären, hätte mich das traurig gemacht.

Opo stand ächzend auf. »Dass ich mich in meinem Alter noch mal mit Yoga und Muskelkater herumquälen würde, hätte ich auch nicht geglaubt«, grummelte er.

Ich musste lachen. »Hättest du dich eben nicht in Tante Uli verlieben dürfen.«

Opo stimmte in mein Lachen ein. »Trotzdem, ein dolles Weib«, sagte er. »Ein wahrlich dolles Weib.«

»Aber du musst doch nicht immer mitturnen, wenn sie Yoga macht und dir das so weh tut«, meinte ich.

»Ach, Anton, ich sage dir, man macht die verrücktesten Sachen aus lauter Liebe. Sogar Yoga.«

Abends saßen wir dann zu viert am Esstisch, und ich erzählte von diesem denkwürdigen Schultag.

»So etwas Albernes habe ich selten gehört«, brummte Opo, nachdem ich meine Erzählung beendet hatte. »Nichts gegen gemeinsames Singen, um das Wir-Gefühl zu stärken. Aber Wir lagen vor Madagaskar? Das will mir doch als äußerst seltsame Wahl erscheinen.«

»Vielleicht haben sie das Lied ausgesucht, weil das eigentlich jeder kennt«, sagte Mama. »Bestimmt haben die Lehrer gehofft, dass die Schüler mitsingen würden.«

»Und haben sie?«, fragte Paps.

»Nur die kleinen. Die anderen waren damit beschäftigt, den absurden Chor mit ihren Smartphones zu filmen«, sagte ich.

»Ich dachte, Handys sind in der Schule nicht erlaubt«, wunderte sich Mama. »Wir mussten doch so einen Zettel unterschreiben.«

»Wir dürfen sie dabeihaben, aber nicht anschalten«, sagte ich.

»Grandios«, murmelte Opo spöttisch. »Und äußerst pädagogisch.«

»Wie geht es nun weiter?«, fragte Paps.

»Keine Ahnung«, sagte ich.

»Wahrscheinlich kümmert sich die stellvertretende Schulleiterin um alles. Aber die nächsten Tage wird es sicher erst mal drunter und drüber gehen«, meinte Mama.

»Na, hoffentlich«, murmelte ich. »Morgen fallen zumindest schon mal die ersten beiden Stunden aus. Physik«, fügte ich grinsend hinzu.

»Wie war eigentlich das Mittagessen im Restaurant? Der Koch ist doch verunglückt«, fragte Mama.

»Lecker«, sagte ich. »Erst mussten wir die Erbsensuppe für morgen probieren, und dann hatten wir noch ein Schnitzel à la Theobald Holzhammer.«

»Tsss«, machte Opo abfällig. »Jetzt soll dieser Gockel in seinem albernen Anzug auch noch kochen können, oder was.«

»Vater, was soll das?«, fragte Paps ärgerlich.

Ich starrte Opo an. Was war denn mit dem los? Das passte gar nicht zu ihm. Eigentlich lässt Opo jeden so sein, wie er will. Er selbst sieht ja auch nicht gerade aus wie ein Jedermann mit seinem längeren Haar und den Tattoos auf den Armen.

Mama begann, die Teller des Abendbrots zusammenzustellen. Sie hielt den Kopf gesenkt, aber ich konnte sehen, dass sie sich ein Grinsen verkneifen musste. Anscheinend wusste sie etwas, das ich nicht so richtig kapierte.

Opo schnappte sich den Tellerstapel und verschwand hocherhobenen Hauptes in der Küche.

»Hört ihr das?«, fragte Mama leise.

Aus der Küche drang Opos Stimme. Er sang voller Inbrunst ein altes Seemannslied.

 

Der lange Hein war der Erste.

Er soff von dem faulen Nass.

Die Pest gab ihm das Letzte.

Und wir ihm ein Seemannsgrab.

Später saß ich auf dem Sofa und spielte Marvel Super Heroes an der Playstation. Da setzte sich Paps neben mich.

»Willst du mitspielen?«, fragte ich.

Doch Paps schüttelte den Kopf. »Ich möchte gerne mit dir reden«, sagte er.

Obwohl ich mitten im Spiel war, machte ich sofort den Fernseher aus. Wenn Paps diesen besonderen Ton hat, dann ist es ernst. Was hatte ich nur ausgefressen? Ich konnte mich an nichts Verbotenes erinnern, abgesehen von einigen Dingen, die Marlene und ich hatten tun müssen, um die Welt zu retten. Aber so was sollte doch echt entschuldigt sein. Außerdem wusste Paps davon gar nichts.

»Okay, was gibt es?«, fragte ich und lächelte ihn an.

Er räusperte sich. »Anton, du weißt, dass Mama und ich nicht in dein Zimmer gehen, wenn du es nicht möchtest, und dass wir dort auch nie herumkramen würden.«

Ich nickte vorsichtig. Klar, das wusste ich, das war eine abgesprochene Sache. Aber so, wie es Paps formulierte, schien es doch vorgekommen zu sein. Was hatte ich in meinem Zimmer, das ich nicht haben sollte? Eigentlich nichts. Bis auf mein neues Sparbuch natürlich. Wo hatte ich das überhaupt hingelegt?

Paps zog etwas aus seiner Hosentasche. Mein neues Sparbuch. Verdammt! Wie sollte ich erklären, dass ich seit neuestem der stolze Besitzer von eintausendfünfhundert Euro war?

»Grundsätzlich finde ich es natürlich gut, wenn du viel sparst, aber woher hast du eintausendfünfhundert Euro?«, fragte Paps auch prompt.

Ich lächelte etwas unsicher und sah ihn mit großen Augen an.

»Also, das war so. Marlene und ich haben ein Zweieurostück in den Spielautomaten geworfen, der in der alten Kneipe von Kalle hing, und verbotenerweise eine Runde daran gespielt. Theobald Holzhammer, der damals noch ein Obdachloser war, hatte uns darum gebeten. Weil der Automat von einer Unwahrscheinlichkeit befallen war, spuckte der sage und schreibe einhunderttausend Euro aus. Und das in Zweieurostücken! Stell dir das mal vor! Diese Unwahrscheinlichkeit kam ursprünglich aus einem Paralleluniversum, das der ehemalige Schulleiter entwickelt hatte, zusammen mit den drei Marvelhelden, die du als Mitarbeiter des Instituts der Zukunft kennengelernt hast. Die vier hatten sich aber zerstritten und der wahnsinnige Schulleiter hatte verschiedene Unwahrscheinlichkeiten hierhergeholt, um die Welt aus der Balance zu bringen und dann die Herrschaft zu übernehmen. Dieses Paralleluniversum gibt es aber zum Glück nicht mehr, weil es längst implodiert ist, und die Unwahrscheinlichkeiten sind inzwischen auch alle wieder wahrscheinlich geworden. Also, keine Sorge, keine Gefahr mehr! Ach ja, und das Geld. Also, nachdem der Automat vierhundertfünfundzwanzig Kilogramm Zweieurostücke ausgespuckt hatte, füllten wir einen Sack mit zehn Kilogramm, um wenigstens diesen Theobald Holzhammer zu geben. Der war aber verschwunden. Außerdem wollte er sowieso, dass wir einen Teil der Beute behielten. Also haben wir den Sack voll Geld mit nach Hause genommen. Na ja, und Opo hat uns dann zwei Sparbücher mit je eintausendfünfhundert Euro angelegt.«

Natürlich sagte ich das alles nicht. Es war zwar die Wahrheit, aber mein Vater wäre ausgerastet. Oder er hätte mir, und das war noch wahrscheinlicher, kein Wort geglaubt, sondern stattdessen meine Stirn gefühlt und die Farbe meiner Zunge gecheckt. Paps ist Arzt und hätte mir höchstwahrscheinlich Wahnsinn im fortgeschrittenen Stadium attestieren müssen.

»Das Geld habe ich Anton geschenkt«, sagte Opo in dem Moment.

Er kam ins Wohnzimmer gelaufen und setzte sich zu uns. Opo wusste zumindest von unserem verbotenen Spiel am Automaten und dachte, die dreitausend Euro wären der gesamte Gewinn gewesen.

»Genau«, sagte ich erleichtert. »Das Sparbuch hat mir Opo geschenkt.«

Zum Glück war das Thema für Paps damit erledigt. Während er zu Mama eilte, die ihn aus der Küche rief, schlugen Opo und ich uns hinter seinem Rücken ab.

3. Der Ruf nach uns

Am nächsten Tag stand vor der Tür des Restaurants ein Aufsteller:

Heute Omas Erbsensuppe!

»Ich bin gespannt, was wir kriegen«, sagte ich und hielt Marlene die Tür auf.

»Rösti mit knuspriger Hähnchenbrust«, sagte Marlene.

»Woher weißt du das?«, fragte ich.

»Stand gestern in der Zeitung.«

Ich muss Marlene ziemlich erstaunt angeschaut haben. Erstens war ich das auch, und zweitens lachte sie los. »Du guckst wie ein überraschtes Huhn.«

»Wenn dann wie ein überraschter Hahn, bitte schön«, murmelte ich.

Marlene kicherte immer noch. »Da war eine Anzeige des Restaurants«, erklärte sie schließlich. »Mit dem Wochenplan für den Mittagstisch.«

»Ach so«, sagte ich.

Wir setzten uns an den letzten freien Tisch. Theobald Holzhammer nickte uns fröhlich zu. Heute bediente er, weil Kalle in der Küche stand und sich um die Erbsensuppe kümmerte.

»Kinder, da seid ihr ja«, flötete jemand vom Eingang.

Marlene und ich grinsten uns an. Dann setzten sich Opo und Tante Uli zu uns.

»Ach, wie schön, das ist ja eine ganz wunderbare Pause«, sagte sie.

»Wie geht die Umzugspackerei voran?«, fragte ich.

Opo winkte ab und verdrehte die Augen.

»Oh, die ist überhaupt kein Problem«, zwitscherte Tante Uli. »Die paar Sachen, die ich habe, sind doch schnell in ein paar Kisten geworfen.«

»In neunundneunzig, um genau zu sein«, quetschte Opo noch heraus, bevor er einen Hustenanfall bekam.

»Ach, doch so viele«, murmelte Tante Uli. »Wer hätte das gedacht?«

Natürlich hätte das jeder gedacht, der auch nur einen Blick auf Tante Uli geworfen hatte. Auch heute trug sie wieder mehrere glitzernde Kleider übereinander, dazu unzählige Ketten, klimpernde Ohrringe, einen goldenen Schal und einen kleinen Hut mit einer großen Brosche. Marlene zwinkerte mir zu. Ich versuchte mein Glück und zwinkerte zurück.

»Ha!«, machte Marlene überrascht, und ich nickte zufrieden. Ich machte eindeutig Zwinkerfortschritte. Das hielt ich allerdings auch für angebracht, immerhin übte ich seit einigen Tagen jeden Abend im Bett für etwa zehn Minuten. In den letzten Wochen war ich zu der Überzeugung gekommen, dass ein Junge einfach zwinkern können muss.

Theobald Holzhammer kam mit einem riesigen Tablett und stellte uns die Rösti mit der knusprigen Hähnchenbrust vor die Nase. Dann begrüßte er Opo mit einem knappen Nicken. Tante Uli hingegen schüttelte er mit einem breiten Lächeln die Hand.

»Meine Verehrteste, welche Freude, Sie hier begrüßen zu dürfen«, säuselte er.

Tante Uli strahlte Theobald Holzhammer an. Aus Opos Richtung kam ein leises, aber sehr böses Knurren.

»Meine Verlobte und ich nehmen dann auch den Mittagstisch«, brummte er.

»Aber natürlich, gerne«, sagte Theobald Holzhammer und ließ Tante Ulis Hand endlich los. Schweren Herzens, wie mir schien. Ich sah, dass Marlene Mühe hatte, nicht loszuprusten.

»Wir sind also seit neuestem verlobt«, sagte Tante Uli, als Theobald Holzhammer auf dem Weg zu einem anderen Tisch war.

»Na, ist doch wahr«, brummte Opo. »So ein Gockel.«

Tante Uli lächelte ganz fein, dann beugte sie sich zu Opo rüber und gab ihm einen kleinen Kuss auf die Nase. »Eifersüchtiger Brummbär«, murmelte sie.

In dem Moment sah ich sie. Ich hatte sie vorher nicht bemerkt, weil sie sich verkleidet hatten und aussahen wie ganz normale Leute.

»Unglaublich! Kaum gibt es irgendwo Erbsensuppe, sind die Marvelhelden da«, raunte ich Marlene zu.

»Was? Wie? Wo?«, fragte sie und blickte sich suchend um. Dann grinste sie. »Tatsächlich.«

Wir winkten den dreien zu, die wohl schon eine ganze Weile versucht hatten, unsere Aufmerksamkeit zu erregen, denn nun atmeten sie erleichtert auf.

»Sie sind heute gar nicht als Mystique, Doctor Doom und Doctor Strange verkleidet«, stellte Marlene fest.

Das absolut Verrückte war, dass die drei sich normalerweise nicht nur so kleideten, sondern sich auch so nannten. Mystique, die heute über ihrem tomatenroten Haar seltsamerweise eine blonde Lockenperücke trug und damit aussah wie eine ganz normale Frau, stand auf und kam zu uns.

»Können wir nach dem Essen kurz mit euch reden? Es ist wichtig«, raunte sie.

»Na klar«, sagte ich.

»Wir warten draußen«, zischte Mystique noch und ging zurück zu ihren Freunden.

»Na, die hat ja geheimnisvoll getan. Wer war das denn?«, fragte Opo.

»Das war die Frau vom Institut der Zukunft«, antwortete ich. »Erinnert ihr euch noch an die Preisverleihung zum ersten Platz im Nachhaltigkeitswettbewerb? Sie hat uns begrüßt und die Präsentkörbe überreicht.«

»Ach, diese aufregende Person ist das?«, wunderte sich Opo. »Hatte sie nicht eigentlich rote Haare und ein silberblau bemaltes Gesicht? Und trug sie nicht ein hautenges blaues Kleid?« Dann fügte er grinsend und mit einem Seitenblick auf Tante Uli noch einen Satz hinzu. »Die Figur dazu hat sie ja.«