Apfelblütensommer - Kerstin March - E-Book
SONDERANGEBOT

Apfelblütensommer E-Book

Kerstin March

0,0
4,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 4,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Welche Träume sind es wert, dafür zu kämpfen?

Als Shelby auf der Apfelplantage ihrer Großeltern Ryan das Jawort gibt, bedeutet dies für sie Happy End und Neuanfang zugleich. Sie folgt dem Erben eines einflussreichen Medienmoguls in seine Heimatstadt Chicago und vertraut ganz darauf, dass sie durch Ryans Liebe dort glücklich werden wird. Doch als das Schicksal Shelbys Ehe auf eine harte Probe stellt, spürt sie deutlich, dass ihre Wurzeln stärker sind als ihr Wunsch zu fliegen ...

Warmherzig, gefühlvoll und bewegend schreibt Kerstin March von einer tief verwurzelten Liebe, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Band 1: Die Zeit der Apfelblüten
Band 2: Apfelblütensommer

eBooks von beHEARTBEAT - Herzklopfen garantiert.

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 351

Veröffentlichungsjahr: 2024

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.


Ähnliche


Inhalt

Grußwort des Verlags

Über dieses Buch

Titel

Widmung

Motto

1

2

3

4

5

6

7

8

9

10

11

12

13

14

15

16

17

18

19

20

21

22

23

24

25

26

27

28

29

30

31

32

Danksagungen

Über die Autorin

Alle Titel der Autorin bei beHEARTBEAT

Hat es Dir gefallen?

Impressum

Liebe Leserin, lieber Leser,

herzlichen Dank, dass du dich für ein Buch von beHEARTBEAT entschieden hast. Die Bücher in unserem Programm haben wir mit viel Liebe ausgewählt und mit Leidenschaft lektoriert. Denn wir möchten, dass du bei jedem beHEARTBEAT-Buch dieses unbeschreibliche Herzklopfen verspürst.

Wir freuen uns, wenn du Teil der beHEARTBEAT-Community werden möchtest und deine Liebe fürs Lesen mit uns und anderen Leserinnen und Lesern teilst. Du findest uns unter be-heartbeat.de oder auf Instagram und Facebook.

Du möchtest nie wieder neue Bücher aus unserem Programm, Gewinnspiele und Preis-Aktionen verpassen? Dann melde dich für unseren kostenlosen Newsletter an:

be-heartbeat.de/newsletter

Viel Freude beim Lesen und Verlieben!

Dein beHEARTBEAT-Team

Melde dich hier für unseren Newsletter an:

Über dieses Buch

Als Shelby auf der Apfelplantage ihrer Großeltern Ryan das Jawort gibt, bedeutet dies für sie Happy End und Neuanfang zugleich. Sie folgt dem Erben eines einflussreichen Medienmoguls in seine Heimatstadt Chicago und vertraut ganz darauf, dass sie durch Ryans Liebe dort glücklich werden wird. Doch als das Schicksal Shelbys Ehe auf eine harte Probe stellt, spürt sie deutlich, dass ihre Wurzeln stärker sind als ihr Wunsch zu fliegen …

KERSTIN MARCH

Apfelblütensommer

Aus dem amerikanischen Englisch von Anja Mehrmann

Für Lily, in liebender Erinnerung

I have to be gone for a season or so.

My business awhile is with different trees,

Less carefully nourished, less fruitful than these,

And such as is done to their wood with an axe –

Maples and birches and tamaracks.

I wish I could promise to lie in the night

And think of an orchard’s arboreal plight

When slowly (and nobody comes with a light)

Its heart sinks lower under the sod.

But something has to be left to God.

»Good-bye and Keep Cold« von Robert Frost

1

Dunkle Ecken

Shelby Meyers’ elfenbeinfarbenes Kleid berührte leicht den Fußboden der Scheune; eine dünne Staubschicht hatte sich auf den empfindlichen Saum gelegt. Sie lehnte in dem breiten, offen stehenden Tor und spähte hinaus in den Obstgarten ihrer Großeltern. Die versammelten Familienmitglieder und guten Freunde ließen sich gerade auf weißen Gartenstühlen nieder, die in Reihen auf dem Rasen vor einer Gartenlaube und vor weiten Feldern voller blühender Apfelbäume standen. Wie Schneeflocken taumelten rosa-weiße Blüten im leichten Wind, landeten sanft auf dem Gras und milderten so die fast greifbare Spannung, die zwischen den beiden Familien bestand.

Shelby spürte, wie ihre Großmutter sie sanft an der Schulter berührte, um sie aus dem Tor ins Innere der Scheune zu locken.

»Nun komm schon herein. Hab ich dir nicht gesagt, dass es Unglück bringt, den Bräutigam vor der Hochzeit zu sehen?«

»Du weißt aber schon, dass das nur ein alter Aberglaube ist, oder?«, fragte Shelby. Dennoch trat sie einen Schritt zurück und begann, gedankenverloren mit dem Daumen ihrer rechten Hand über den zierlichen Verlobungsring zu streichen, in dessen Fassung ein funkelnder runder Stein saß, der von einem Kranz kleinerer Diamanten umgeben war.

»Die Trauung hat noch nicht einmal begonnen, und schon jetzt ist dieser Tag schöner, als ich es mir jemals erträumt hätte«, sagte Ginny Meyers. »Ich freue mich so für dich, Liebes. Und vergiss nicht: ganz ruhig bleiben und tief durchatmen. Nimm alles in dich auf. An diesen Augenblick wirst du dich dein Leben lang erinnern.«

Shelby lächelte ihre Großmutter an. Sie war stolz darauf, eine so starke, liebenswürdige Frau an ihrer Seite zu haben. Dank der Großzügigkeit ihres Verlobten, Ryan Chambers, trug ihre Großmutter Perlen und ein Kleid aus Paris, das ihr aus silbergrauer Rohseide perfekt auf den zierlichen Leib geschneidert worden war. Andererseits hatte Shelby ohnehin schon immer eine elegante Dame in ihr gesehen, sogar, wenn Weizenmehl ihre Wange bestäubte und gestreifte Socken unter den Aufschlägen ihrer Jeans hervorlugten.

»Ich kann einfach nicht fassen, wie herausgeputzt diese alte Scheune aussieht«, sagte Ginny. »Es sieht unglaublich aus. Charlotte hat wirklich zu viel des Guten getan, aber ich bin natürlich die Erste, die zugibt, dass ihr all das verdient habt, Liebes.«

»Danke, Gran. Ich kann gar nicht glauben, dass es heute so weit ist«, sagte sie, überglücklich, Ryan an dem Ort zu heiraten, den sie mehr liebte als jeden anderen auf der Welt.

Der Obstgarten ihrer Familie, der sich oberhalb der Uferklippen von Bayfield, Wisconsin, erstreckte, war in etwas Magisches verwandelt worden. Ryans Mutter Charlotte hatte von ihrem Hochhausapartment in Chicago aus den größten Teil der Hochzeitsplanungen übernommen. Während manch andere Braut vielleicht das Gefühl gehabt hätte, dass Charlotte ihre Grenzen überschritt, war Shelby erleichtert, ihr die Einzelheiten überlassen zu können. Seitdem sie im Sommer zuvor nach Chicago gezogen war, war sie vollauf damit beschäftigt gewesen, ihre erste eigene Wohnung einzurichten und ans College zurückzukehren, um dort einige Kurse nachzuholen. Sie musste sich erst noch an Ryans Leben unter den Augen der Öffentlichkeit gewöhnen, und eine Woche vor der Hochzeit hatte sie endlich ihren Abschluss gemacht. Die Planung einer aufwändigen Hochzeitsfeier wäre das Letzte gewesen, was sie sich nun noch hätte aufbürden wollen. Tatsächlich wäre Shelby auch mit einer bescheidenen Trauung in einer Kirche und einem anschließenden Barbecue im Garten zufrieden gewesen. Als Charlotte also ihre Hilfe angeboten hatte, nahm Shelby das Angebot bereitwillig an und stellte nur wenige Forderungen – eigentlich nur die, dass die Hochzeit auf Meyers’ Obstplantage stattfinden sollte.

Was Charlotte geschaffen hatte, war märchenhaft. Sie hatte einen überwältigenden Empfang geplant, eine perfekte Mischung aus großstädtischer Eleganz und dem Charme von Shelbys Heimatort. Die Scheune, ein verwittertes Gebäude, das weder die Größe noch die Raffinesse besaß, um einen eleganten Empfang zu beherbergen, war für diesen Anlass eigens renoviert worden. Die verblichene Fassade war abgeschliffen und frisch mit roter Farbe gestrichen, die landwirtschaftlichen Geräte und leeren Apfelkisten waren ordentlich weggeräumt und die staubigen Oberflächen und Ecken voller Spinnweben gesäubert worden. Als die Verwandlung vollendet war, sah die Scheune blendend aus. Überall hingen Kronleuchter und weiße Lichterketten, und auf den mit Leinen gedeckten Tischen standen übergroße Blumentöpfe.

»Ich habe Ryan draußen gar nicht gesehen. Bist du ihm begegnet?«, fragte Shelby ihre Großmutter.

»Natürlich.«

»Wie geht es ihm? Wirkt er nervös?«

»Ganz und gar nicht. Ich glaube, das Einzige, was diesen Mann im Augenblick interessiert, ist, dein Jawort zu hören.«

Ryan und seine Familie hatten nicht nur den Empfang geplant, sondern sie waren auch sorgfältig darauf bedacht gewesen, diesen Tag nicht zu einem Medienspektakel werden zu lassen. Bislang sah es so aus, als wäre ihnen das gelungen. Shelby betete im Stillen, dass alles so verlaufen möge wie vorgesehen.

Ginny rückte einen zarten Blütenzweig in dem Gewirr aus offenen Haarsträhnen und Locken zurecht, die locker in Shelbys Nacken zusammengenommen waren. »Wie ich schon sagte, einen attraktiveren Bräutigam habe ich noch nie gesehen.«

Ihre Großmutter wirkte völlig gelassen. Es war, als wüsste sie Dinge, die Shelby nicht wusste. Sie hatte immer geglaubt, dass ihre Großeltern ihre größte Freude waren – das solide Fundament ihres Lebens –, und nachdem ihr Großvater verstorben war, wusste Shelby nicht, was aus ihrer Familie werden sollte. Aber sie hatten einfach weitergemacht. Der Farm ging es gut. Obwohl Shelbys Mutter Jackie noch immer unglaublich ungeschickt und langsam war, wenn es darum ging, so etwas wie echte Arbeit zu verrichten, versuchte sie immerhin, verlorene Zeit wiedergutzumachen. Und Shelby hatte die Kraft aufgebracht, die Sicherheit ihres Heimatortes zu verlassen, um der Liebe eine Chance zu geben.

An ihrem Hochzeitstag wurde Shelby klar, dass ihr größtes Geschenk nicht die Familie war. Es war der Mut, das zu verlassen, was ihr Sicherheit gab, damit ihr Herz sich entfalten konnte. Ryan zu lieben und seinen Antrag anzunehmen, ihr Leben mit ihm zu verbringen, hatte sie von ihren inneren Kümmernissen befreit und ihr eine neue Welt eröffnet. Mit neu entdecktem Selbstvertrauen verspürte Shelby die Kraft in sich, Unsicherheiten und Ängste zu überwinden, die sie bisher gehemmt hatten.

Obwohl sie kein Mensch war, der gern im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit stand, war ihr diesmal die Gelegenheit willkommen, ihre Liebe zu diesem Mann vor all den Menschen zum Ausdruck zu bringen, die sich auf dem Rasen versammelt hatten. Sie wusste, dass sie keinen Moment zögern würde, es zu tun.

»Bist du bereit?«, fragte Ginny.

»Du kennst mich doch«, antwortete Shelby und blickte zu den zahlreichen Lichtern auf, die von den Dachbalken herabhingen. »Es ist alles wunderschön hier, aber ich wäre ebenso damit zufrieden gewesen, Ryan ohne all das Trara in dieser Scheune hier zu heiraten. Irgendwas Einfaches, nur mit dir und seinen Eltern.«

»Und Jackie … natürlich hättest du auch Jackie miteinbezogen.«

Shelbys verzerrtes Lächeln sagte alles. Nachdem sie Shelby jahrelang vernachlässigt hatte, unternahm Jackie seit Olens Tod alle möglichen Anstrengungen, um ihre Beziehung zu kitten. Seitdem sie wieder auf die Farm gezogen war, hatte sie sich für Ginny sogar als einigermaßen nützlich erwiesen, was Shelby sehr zu schätzen wusste.

»Da wir gerade von ihr reden – sollte sie nicht mittlerweile längst hier sein?«, fragte Shelby. Die heitere Musik eines Streicherquartetts hatte das gedämpfte Geplauder der Gäste auf dem Rasen ersetzt. In Kürze würde die Trauung beginnen, und Shelby hatte ihre Mutter nicht mehr gesehen, seitdem die Frauen sich ins Haus begeben hatten, um sich festlich anzukleiden. Tatsächlich hatte sie auch ihre Trauzeugin noch nicht gesehen. »Nic habe ich auch aus den Augen verloren.«

»Sie kommen sicher bald …« Ginny runzelte besorgt die Stirn, als sie über Shelbys Schulter blickte.

Gerade, als Shelby vorschlagen wollte, jemanden ins Haus zu schicken, um nachzusehen, hörte sie vom anderen Ende der Scheune Geräusche.

Shelby blickte sich um und sah Nic, deren kurzes, sonst stets zerzaustes platinblondes Haar glatt gekämmt, mit einem kleinen Blumenzweig geschmückt und hinter die Ohren gesteckt war. Sie hob den Saum ihres Kleides über ihre Schuhe, als sie in die Scheune gestürmt kam. Die hochhackigen Sandalen, die Nic eigentlich hasste und nur aus Loyalität trug, behinderten sie offensichtlich, als sie unbeholfen auf die beiden Frauen zugelaufen kam. Wäre Nics Miene nicht so besorgt gewesen, hätte Shelby beim Anblick ihrer besten Freundin gelacht, die wie eine Dame gekleidet war, aber in so merkwürdig gekrümmter Haltung angetrabt kam.

»Gerade noch rechtzeitig!«, rief Shelby.

Shelby hatte Nic vermisst, seit sie in Chicago wohnte. Nachdem sie zusammen aufgewachsen waren und alles miteinander geteilt hatten, hatten sie schließlich beide beschlossen, fortzuziehen. Zuerst hatte Shelby Bayfield verlassen, um Ryan nach Chicago zu folgen. Kurze Zeit später hatte Nicole »Nic« Simone Hank Palmer geheiratet und im Gemeindehaus einer Kirche einen Empfang mit einem Buffet gegeben, zu dem die Gäste etwas beisteuern sollten. Dann war sie in die Twin Cities gezogen. Obwohl die beiden Frauen ihr Bestes taten, um miteinander in Verbindung zu bleiben, fragte Shelby sich immer noch, ob sie Mrs Palmer jemals so gut kennen würde, wie sie die quirlige, streitlustige Miss Simone gekannt hatte.

»Ist sie hier?«, fragte Nic, an Ginny gewandt.

Ginny schüttelte den Kopf.

»Okay, kein Problem.« Shelby zuliebe rang Nic sich ein Lächeln ab, bevor sie auf die gegenüberliegende Seite der Scheune eilte und über die Schulter rief: »Fangt nicht ohne mich mit der Trauung an – es dauert nur einen Augenblick!«

»Was ist denn los?«, fragte Shelby.

»Mach dir keine Sorgen«, sagte Ginny und tätschelte Shelby sanft den Rücken. »Wir haben alles unter Kontrolle.«

»Dein Gesichtsausdruck sagt aber was anderes. Komm schon, was ist los?«, hakte Shelby nach.

Ginny zögerte. Dann seufzte sie tief und antwortete geradeheraus: »Jackie ist nicht da.«

»Was soll das heißen, sie ist nicht da? Vor weniger als einer Stunde war sie doch noch im Haus.«

»Wir scheinen sie aus den Augen verloren zu haben. Nic geht wahrscheinlich gerade wieder zurück ins Haus; und ich glaube, Hank sieht sich draußen nach ihr um.«

»Warum überrascht mich das jetzt nicht?«

Mit leiser, beruhigender Stimme sagte Ginny: »Mach dir keine Gedanken. Früher oder später wird sie schon wieder auftauchen – wir wissen doch beide, dass sie sich keine Gelegenheit entgehen lässt, eine Show abzuziehen.«

Shelbys Mutter hatte als Collegestudentin in Kalifornien gelebt und nach einem »besseren« Leben gestrebt als dem, das sie auf der Farm ihrer Familie in einer Kleinstadt am Südufer des Lake Superior auf sich zukommen sah. Jackie hatte weder Zeit noch Interesse daran gehabt, ein Kind aufzuziehen, das das Ergebnis einer leichtsinnigen Sommernacht gewesen war.

»Sieh uns beide nur an. Diese Kleider waren wirklich viel zu teuer; Ryan hätte das nicht tun sollen«, sagte Ginny und bewunderte das in einem komplizierten Muster mit Perlen bestickte Mieder von Shelbys Hochzeitskleid. Sie strich die duftigen Stofflagen des Rocks glatt, obwohl sie beide wussten, dass Shelbys Kleid bereits perfekt saß. Ginny wollte nur Zeit schinden. »Aber ich glaube, ich habe noch nie eine hübschere Braut gesehen.«

Als Shelby ihr in die Augen blickte, verschwanden all die Dinge, die sie ihrer Großmutter an diesem Hochzeitstag hatte sagen wollen. Die Worte, die ihr durch den Kopf gegangen waren, wenn sie in den vergangenen Nächten zu schlafen versucht hatte, die Ausdrücke, die der Dankbarkeit in ihrem Herzen nie gerecht zu werden schienen – all das verschwand. Ginny fuhr Shelby sanft mit dem Daumen über die gefalteten Hände, eine Geste, mit der sie einst die Sorgen ihrer heranwachsenden Enkelin zu beschwichtigen pflegte und dafür sorgte, dass sie ihren Gefühlen Ausdruck verleihen konnte. So viele Worte waren ihr durch den Kopf gegangen … und nun stürzten die Gedanken, die Erinnerungen und die Dankbarkeit in wenigen einfachen Worten aus Shelby heraus.

»Ich liebe dich, Gran.«

Ginny umfasste Shelbys Hände fester und hob sie an ihre Lippen. Sie küsste sie und hielt sie fest, als wäre sie mit ihrer Enkelin im Gebet vereint. »Ich liebe dich auch, und ich war noch nie so stolz auf dich wie heute.«

Shelby ließ die Hände ihrer Großmutter los und zog ihre kleine, aber starke Gestalt in ihre Arme. »Danke, dass du mit mir zum Altar gehst. Es gibt niemanden, den ich lieber an meiner Seite hätte.«

»Und ich hätte mir das um nichts in der Welt nehmen lassen«, sagte Ginny. Ihre Stimme stockte. »Dein Großvater hätte diesen Tag so gern erlebt.«

»Er fehlt mir.«

»Mir auch, Liebes.« Ginny hob die Finger an die Augenwinkel und verwischte eine Tränenspur. »Mir auch.« Einen Augenblick später nahm sie einen tiefen Atemzug, trat aus der Umarmung, straffte den Rücken und tätschelte Shelby sanft die Wangen. »Also, auch wenn du jetzt heiratest, vergiss nicht, was ich dir gesagt habe: Wann immer du ihn vermisst …«

»… achte auf die Zeichen.« Shelby nickte. Seit Olens Tod hatte sie sie viele Male bemerkt. Wenn sie den Schwimmer einer Angel an einem Ort entdeckte, wo sie ihn nie vermutet hätte, oder wenn bisweilen eine einzelne Möwe auf dem Dach der Scheune landete und langsam um die kupferne Wetterfahne stakste, während sie Shelby etwas zuzuschreien schien.

»Jetzt komm. Wenn wir zu weinen anfangen, verschmiert mir noch das ganze Make-up. Und in Anbetracht der Tatsache, dass ich nur zu Hochzeiten und Beerdigungen Lippenstift auflege, wäre es mir lieb, wenn er länger als eine Stunde halten würde. Aber da wir gerade von deinem Großvater reden – ich habe noch etwas für dich.« Unauffällig schob Ginny eine Hand in ihren Ausschnitt und zog ein weißes Papiertaschentuch aus ihrem BH hervor.

Shelby hob abwehrend die Hände. »Danke, aber das brauche ich wirklich nicht.«

»Mach dich nicht lächerlich.« Vorsichtig entfaltete Ginny das Tuch, bis ein Anhänger aus Türkis zum Vorschein kam, der an einer zarten Silberkette baumelte.

Etwas Blaues. Der Anhänger war ein Geschenk von Shelbys Großvater gewesen, als sie noch jung war. Obwohl er nicht mehr bei ihnen war, würde er auf eine gewisse Weise doch Teil ihrer Hochzeit sein. Es war genau das, was sie brauchte, um einen Fuß vor den anderen setzen und in die nächste Phase ihres Lebens eintreten zu können. Es war an der Zeit. Sie würde zu neuen Ufern aufbrechen.

»Du hast diese Kette jeden Tag während so vieler Jahre und an so vielen Tagen getragen, dass ich sie nicht mehr zählen kann«, sagte Ginny. Shelby hob ihr Haar an, als Ginny ihr die Kette um den Hals legte und den Verschluss einhakte. »Also dachte ich mir, du solltest sie auch an deinem Hochzeitstag tragen.« Dann nahm ihre Großmutter sie in die Arme, und gerade, als sie Shelby auf die Wange küssen wollte, zuckte Ginny zusammen.

»Um Gottes willen«, stieß sie kaum hörbar hervor. Als Shelby sah, dass Ginnys Augen schmal wurden und sie die Lippen fest zusammenpresste, wich sie zurück. »Was ist denn?« Sie drehte sich um, um zu sehen, was die Aufmerksamkeit ihrer Großmutter auf sich gezogen hatte.

Die Mutter der Braut kam aus der Pferdebox in der abgedunkelten hinteren Ecke der Scheune, zog sich mit einer Hand den Rock ihres rauchlilafarbenen Kleides zurecht und strich mit der anderen ihre zerzauste Frisur glatt.

»Bleib hier, Shel«, zischte Ginny zwischen zusammengebissenen Zähnen. »Ich werde ein Wörtchen mit deiner Mutter reden, damit sie sich daran erinnert, dass die Trauung gleich beginnt.«

Doch so leicht ließ Shelby sich nicht abwimmeln. Sie lupfte den Saum ihres Kleides und folgte ihrer Großmutter. »Ich komme mit!«

Als sie Jackie erreicht hatten, fasste Ginny ihre Tochter fest am Ellbogen. Als wäre ihr der Einfall erst nachträglich gekommen, blickte sie sich um, um sich davon zu überzeugen, dass sie allein waren, dann richtete sie ihre Aufmerksamkeit wieder auf ihre Tochter.

»Was zum Teufel geht hier vor?«, stieß Ginny hervor. »Wo bist du gewesen?«

Mit einem Ruck entzog Jackie sich Ginnys Griff. »Ich weiß wirklich nicht, was du meinst, Mutter.«

»Hast du dich mal angesehen? Deine Haut ist fleckig, dein Haar ein einziges Chaos und …« Ginny beugte sich vor, um ihre Tochter genauer zu betrachten. »Kannst du mir bitte erklären, wie du es geschafft hast, Lippenstift auf dein Ohr zu schmieren?« Sie leckte sich über den Daumen und hob die Hand, um den Lippenstiftfleck zu entfernen, als würde sie einem Kind verschmierte Schokolade aus dem Gesicht reiben. Jackie schob Ginnys Hand weg und wischte sich das Make-up selbst vom Ohr.

»Wo ist er?«, fragte Shelby nach dem Offensichtlichen. Es war dumm von ihr gewesen zu glauben, dass Jackie sich heute, nur dieses eine Mal in Shelbys Leben, wie eine Mutter benehmen würde. Weil Jackie weder die Zeit noch Interesse daran gehabt hatte, Shelby aufzuziehen, hatten Ginny und Olen die Elternrolle übernommen, ohne zu zögern und von ganzem Herzen.

»Draußen auf dem Rasen spielt die Musik. Ist das nicht das Zeichen für unseren Einsatz?«, fragte Jackie. Sie schob sich an Ginny und Shelby vorbei und ging einige Schritte auf das offen stehende Scheunentor zu. Aber sie war nicht schnell genug. Shelby hörte, dass sich in dem Pferdestall etwas bewegte. Wie eine Ratte, die sich aus ihrem Loch in der Wand hervorwagt, tauchte ein fremder Mann aus dem Stall auf. Shelby erkannte ihn nicht, und wenn sie Ginnys Miene richtig deutete, hatte auch sie ihn nicht erkannt. Er hatte eine rötliche Gesichtsfarbe, einen kurz geschnittenen Haarkranz auf dem ansonsten kahlen Kopf und einen unregelmäßigen Bart, der die weiche Kontur seines Kiefers bedeckte. Er trug einen Sommeranzug und eine lindgrüne Krawatte, die der Hochzeit angemessen gewesen wären, hätte nicht ein Zentimeter Hemdstoff aus seiner Hose mit dem halb geschlossenen Reißverschluss hervorgelugt wie ein Küken aus seinem Nest.

»Du bist einfach unglaublich«, sagte Shelby und blickte ihre Mutter kopfschüttelnd an. Jackie war stehen geblieben und drehte den Kopf, als sie die Schritte des Mannes hörte. Shelby hätte nicht zu sagen gewusst, wer von beiden dreister war, der Fremde, der lächelnd und mit ausgestreckter Hand geradewegs auf sie zukam, oder Jackie, weil sie ihn mitgebracht hatte.

Bevor jemand ein Wort sagen konnte, kam Nic durch das offene Tor hereingestürmt und blieb erst stehen, als sie die Gruppe erreicht hatte.

»Aha«, sagte Nic und schnappte nach Luft. »Wie ich sehe, hast du deine Mom gefunden.«

»Hallo, Mrs Meyers, freut mich, Sie wiederzusehen«, sagte der Mann zu Ginny, die sich weigerte, die ausgestreckte Hand zu schütteln, und den Mann stattdessen kritisch beäugte.

»Wiederzusehen?«, fragte Ginny.

»Wiederzusehen?«, wiederholte Nic.

Shelby gab ihrer Freundin einen kaum merklichen Stups, worauf Nic die Hände von Shelbys und Ginnys Schultern nahm.

»Mutter, du erinnerst dich doch sicher an Chad …«, sagte Jackie.

»… Covington«, ergänzte der Mann und beendete damit ihre Vorstellung. »Chad Covington. Wir sind uns vor Jahren einmal begegnet. Ich war auf der Ashland-Highschool.«

»Er war im Jahrgang über mir«, fügte Jackie hinzu.

»Nein, ich erinnere mich nicht«, antwortete Ginny mit ausdrucksloser Stimme.

»Eigentlich haben wir ihn immer Stubbie genannt«, sagte Jackie. »Weißt du das nicht mehr? Er hat für Ashland Football gespielt, und hin und wieder hingen er und seine Freunde mit meiner Clique herum.«

Ginny schüttelte den Kopf, während Shelby die Szene schweigend beobachtete.

»Chad ist der, der Dad damals geholfen hat, den Platten an seinem Truck zu reparieren, unten an der Marina, in dem Sommer, als er sich den Arm gebrochen hatte«, fuhr Jackie fort. »Daran erinnerst du dich doch bestimmt.«

Chad kehrte sein rötliches Gesicht Shelby zu, entblößte seine vom Rauchen fleckigen Zähne zu einem liebenswürdigen Lächeln und sagte: »Freut mich, dich kennenzulernen, Shelby. Ich bin dein Vater.«

»Heilige Scheiße …« Nics Stimme, die sonst laut dröhnte, erklang nun flüsternd an Shelbys Ohr.

»Jacqueline!« Ginny keuchte auf und hob die Hand, um ihren Mund zu bedecken.

Shelbys Herz pochte heftig unter dem Mieder ihres Hochzeitskleides. Nicht nur wegen der Art, wie ihre Mutter sie – wieder einmal – demütigte, und das an ihrem Hochzeitstag. Sondern weil sie – mit Jackie als unangemessenem Rollenvorbild – Schuldgefühle verspürte. Sie war Ryan gegenüber bei ihren Gesprächen über ihre Zukunft nicht ganz aufrichtig gewesen, wenn es darum gegangen war, was es für sie bedeutete, eine Familie zu gründen. Nichts, was ihre Mutter tun konnte, um ihr zu schaden, würde jemals so viel Kummer in Shelby hervorrufen wie die Angst, dass sie selbst eines Tages ihrem eigenen Kind denselben emotionalen Schmerz zufügen könnte. Während der Gedanke, mit Shelby eine eigene Familie zu gründen, Ryan in freudige Erregung versetzte, blieb sie selbst ängstlich und zurückhaltend.

Ich hätte ehrlich zu ihm sein müssen. Mein Gott, warum war ich bloß nicht ehrlich zu ihm? Shelby schloss die Augen, atmete tief durch und lauschte auf Geräusche, die sie beruhigen würden. Das Quietschen des Scheunentors, das durch einen Windhauch leicht nach innen schwang. Ein Flattern in einem Nest zwischen den Dachsparren über ihrem Kopf. Vielleicht werde ich mich anders fühlen, wenn wir erst einmal verheiratet sind. Vielleicht werde ich eine gute Mutter sein. Ich bin nicht wie sie. Ich bin anders.

Shelby schlug die Augen wieder auf, blickte der Eroberung ihrer Mutter direkt in die kühlen blauen Augen und sagte: »Mr Covington, als Gast meiner Mutter sind Sie natürlich willkommen. Aber was diese absurde und, um ehrlich zu sein, unglaublich gefühllose Behauptung betrifft, wir könnten miteinander verwandt sein, so sollen Sie wissen, dass die einzige Vaterfigur in meinem Leben mein Großvater war. Und niemand wird ihn jemals ersetzen. Schon gar nicht irgendein Mann, der es für angemessen hält, es nur wenige Augenblicke, bevor ich vor den Altar trete, in einer dunklen Ecke dieser Scheune mit meiner Mutter zu treiben.«

»Shelby!«, platzte Jackie heraus, legte eine Hand fest auf Chads Arm und sagte zu ihm: »Chad, es tut mir so leid. Ich weiß nicht, was in sie gefahren …«

»Und du, Mutter«, fuhr Shelby fort, den Blick nun fest auf Jackie geheftet, »solltest einen Blick in den Spiegel werfen, dich zusammenraufen und dir einen Platz im Garten suchen. Gran und ich werden jetzt zum Altar gehen, mit oder ohne dich. Lass dich davon nicht stören.«

Und damit drehte sie sich um und ging an der Seite ihrer Großmutter davon. Sie legte sich schützend die Arme um die Brust und schüttelte verärgert den Kopf, während Nic in ihren unbequemen Schuhen hinter ihnen herstakste.

In der Scheune war nichts zu hören als die Schritte der Frauen, das ferne, verlockende Spiel der Geigen auf dem Rasen sowie das leise Rascheln von Shelbys Kleid, als sie zielstrebig auf das offene Tor zusteuerte.

2

Ungesagte Worte

Die Sonne stand bereits tief am Himmel, als William Ryan Chambers Jr. unter einer Laube aus blühenden Zweigen und verschlungenen Weinreben seinen Platz vor dem Altar einnahm. Das Licht des frühen Abends tauchte das Gelände und die weißen Blüten, die die Apfelbäume bedeckten, in goldenen Glanz. Etwas funkelte von der Scheune herab und blendete Ryan. Er blickte zum Dach hinauf und sah die kupferne Wetterfahne, die er schon bewundert hatte, als er das Grundstück der Meyers zum ersten Mal betreten hatte. Geformt wie ein Pferd, das gegen den Wind galoppiert, fing sie mit ihrem mit Bändern geschmückten Schweif die letzten Lichtstrahlen des Tages ein.

Ryan legte eine Hand auf seine Brusttasche. Er spürte den Umriss des Eherings für seine Braut durch den Stoff des maßgeschneiderten Sommeranzugs hindurch und dachte an seinen Heiratsantrag. Er hatte damals nichts Aufwändiges geplant. Das war nicht ihr Stil. Es sollte ein ruhiger Tag fernab des Gedränges in der Stadt sein, draußen auf dem Wasser, denn er wusste, dass sie dort mit sich und der Welt im Reinen war. Der Lake Michigan war zwar nicht der Lake Superior, aber immerhin fast genauso gut.

An einem diesigen Morgen Ende August waren sie vom Chicago Yacht Club aus auf Ryans Segelboot, der Horizon, zu einem Wochenendtrip entlang des Nordwestufers des Lake Michigan aufgebrochen.

Als Shelby das erste Mal mit ihm auf der Horizon gesegelt war, hatte sie sofort erkannt, dass die Darfur dasselbe Modell war wie das Boot, das er in Bayfield gechartert hatte, als sie zusammen über den Lake Superior nach Devil’s Island gesegelt waren. So viel war zwischen ihnen passiert seit jenem Wochenende im Oktober, als er nach Bayfield zurückgekehrt war und ihre Leben sich miteinander verbanden. Er hatte die Wettervorhersage überprüft, bevor sie den Hafen verließen, und war erfreut, weil das Wetter ideal war für einen ruhigen Segeltörn durch die Bucht und nach Norden entlang der Uferlinie vor Michigan. Nachdem sie im Hafen von Sutton’s Bay vor Anker gegangen waren, wollte er ihr auf dem Boot beim Dinner und einer Flasche Wein einen Antrag machen.

Aber dazu kam es nicht.

Sie waren kaum neunzig Minuten vom Hafen entfernt, als der Wind abflaute. Die Horizon verlangsamte ihr bisher gleichmäßiges Tempo und trieb nur noch träge dahin. Die Nadel des Geschwindigkeitsmessers schlug kaum aus. Ryan arbeitete fieberhaft daran, den Klüver festzuziehen, das Hauptsegel zu trimmen und das Ruder herumzuwerfen – kurz, alles Mögliche zu versuchen, um in den Wind zu kommen. Aber es war zwecklos. Das Boot lag still im Wasser, bis der Wind wieder auffrischte.

Er war so sehr darauf konzentriert, ihr Ziel zu erreichen, dass er gar nicht bemerkt hatte, wie glücklich Shelby war, die sich auf der gepolsterten Bank der Plicht zurückgelehnt, die Beine ausgestreckt und den Kopf in den Nacken gelegt hatte, um Sonne zu tanken.

»Ist das nicht vollkommen?« Sie seufzte.

Nein! Es ist vollkommen falsch!, hatte er bei sich gedacht. »Ich wollte heute eigentlich bis Sutton’s Bay kommen, aber bei dem Tempo können wir froh sein, wenn wir es vor der Abenddämmerung über die Bucht schaffen, geschweige denn den ganzen Weg bis zum Hafen.«

»Psst!«, flüsterte sie. »Hör mal.«

Das Einzige, was er hörte, war das Kräuseln eines reglosen Segels, das schlaff am Mast hing, und das Wasser, das sanft an den Rumpf des Bootes plätscherte. Während sie sich in der Sonne räkelte, machte er sich an Deck zu schaffen, um ein bisschen Wind in die Segel zu bekommen.

»Ich werde wohl den Motor anlassen müssen«, sagte er schließlich entmutigt und schleuderte seine Enttäuschung in die Segel.

»Ryan, lass und komm her.« Sie streckte die Hand aus und forderte ihn auf, sich neben sie zu setzen. Er seufzte, ließ die schlaffe Leine los, die er in der Hand hielt, und kam über die Plicht zu ihr.

»Hör mal«, sagte sie.

»Ich höre nichts.«

»Genau.« Sie blickte zu ihm auf. »Es ist weg.«

Er legte seine Hände auf ihre und fragte: »Was ist weg?«

»Alles. Der Straßenlärm, das Hupen der Taxis, die Leute, die in ihre Handys sprechen und reden und reden. Hier draußen gibt es nur uns zwei.«

Er wusste, dass das vergangene Jahr schwierig für sie gewesen war – nicht nur, weil sie ihr Zuhause verlassen und ihr Studium abgeschlossen hatte, sondern auch, weil sie mit dem Ausmaß an öffentlicher Kontrolle konfrontiert worden war, die das Leben seiner Familie von jeher begleitete. Und dennoch beklagte sie sich nie. Mit keinem einzigen Wort. Als er an jenem Morgen, draußen auf dem Lake Michigan ihr Gesicht sah, traf ihn die Erkenntnis wie ein Blitz. Dies war das Gesicht der Frau, in die er sich in Bayfield verliebt hatte. In den wenigen Monaten hingegen, die sie in Chicago gewesen war, hatten sich Falten auf Shelbys Stirn gebildet, und sie hatte die Zähne zusammengebissen, wenn sie der Stadt die Stirn bieten musste. Draußen auf dem Wasser waren die körperlichen Anzeichen des Stresses verschwunden. Das war die Shelby, die er am liebsten hatte.

»Ich liebe dich, Shelby.« Er hob die Hand an seine Brust und tastete nach dem Ring, der tief in seiner inneren Jackentasche verborgen war. Wenige Monate zuvor, als sie ihn auf seiner ersten Fotoausstellung überrascht hatte – Stammbäume. Eine Geschichte aus Bayfield –, im Stadtteil River North in Chicago, hatte Shelby ihm den Atem verschlagen. Es war unglaublich gewesen, sie dort stehen zu sehen, vor einem riesigen, gerahmten Porträt von ihr, auf dem sie auf den Uferklippen von Madeline Island über Lake Superior saß. Bis zu jenem Moment hatte er nicht geglaubt, sie jemals wiederzusehen. Aber da war sie. Als sie an dem warmen Juliabend die Ausstellung verließen, hielt er ihre Hand und wusste, dass er sie niemals wieder loslassen wollte.

»Ich liebe dich auch.« Weil er nicht antwortete, setzte Shelby sich einen Augenblick später auf. »Ryan, was ist los?« Sie legte ihm eine Hand auf die Schulter. »Ist alles in Ordnung mit dir?«

»Ich weiß nicht, wie du das machst«, hob er an. »Du gehst Risiken ein und stellst dich auf so viele Veränderungen ein. Schule. Umzug. Mit deiner Familie und mit dem Geschäft auf der Apfelplantage in Verbindung bleiben.«

»Und trotzdem finde ich immer noch Zeit, um mich mit dir auf den See hinauszuschleichen.«

»Das ist das Beste daran, dass du nach Chicago gekommen bist«, sagte Ryan, und er meinte es ernst. »Aber mal ehrlich, eigentlich hast du das alles für dich selbst getan, und dann wurdest du ins Licht der Öffentlichkeit gestoßen.«

Shelby stöhnte und lehnte sich zurück, das Gesicht der Sonne zugewandt. »Ich will jetzt nicht darüber nachdenken. Genießen wir doch einfach, hier draußen auf dem Wasser zu treiben, allein, ohne irgendwelche Ablenkungen und ohne irgendwo hingehen zu müssen.«

Als sie in Chicago angekommen war und angefangen hatte, mit Ryan an Empfängen teilzunehmen, schien die Presse sie geradezu anzuhimmeln. Sie nannten sie frisch. Eine natürliche Schönheit. Sie erwiderte die Liebe jedoch nicht in demselben Maß, wie sie ihr entgegengebracht wurde, und es dauerte nicht lange, bis Shelby dabei fotografiert wurde, wie sie mit gesenktem Blick und abgewandtem Kopf einen Raum betrat, oder ihr Körper verschwand hinter Ryans breiterer Gestalt aus dem Blickfeld.

Oft, immer, wenn sie aus dem Haus ging – um Kaffee zu kaufen, zu einem Seminar zu eilen oder sich mit einer Freundin zu treffen –, waren Reporter da und versuchten, irgendeine Reaktion von ihr zu bekommen. Je aggressiver sie wurden und je negativer die Berichterstattung ausfiel, desto mehr zog Shelby sich in sich selbst zurück.

Sie verweigerte Interviews und nahm die Fotografen kaum noch zur Kenntnis, die ihren Namen riefen, wenn sie auf ein Auto zurannte, aus einem Restaurant kam oder in Ryans Wohnung stürmte.

Es war herzzerreißend, diese Entwicklung zu beobachten, und in Ryan erwachte der Wunsch, auf die Paparazzi einzuprügeln und Shelby zu beschützen, aber er war zu klug, um das wirklich zu tun.

»Du würdest es nur schlimmer machen«, hatte Charlotte, seine Mutter, gesagt. »Mach dir keine Gedanken. Das geht bald vorüber. Entweder lernt sie, damit umzugehen, oder die Medien verlieren das Interesse. Du weißt doch, diese Dinge kommen und gehen, Ryan. So etwas dauert nicht ewig. Bald sind sie mit jemand anderem beschäftigt, und ihr beide könnt endlich in Frieden leben.«

Sein Vater fand andere Worte. »Ernsthaft, Ryan, du musst mit ihr reden. Bitte sie, diesen Aasgeiern hin und wieder zumindest die Andeutung eines Lächelns zu schenken. Sie soll sie abschütteln. Unsere PR-Leute im Büro haben alle Hände voll damit zu tun, das Publicity-Chaos zu beseitigen, das ihr beide anrichtet. So was hätte ich früher nie zu dir gesagt, aber vielleicht solltet ihr beide euch mal ein bisschen Zeit für euch nehmen. Geht zurück nach Bayfield und wartet dort ab, bis die Dinge sich beruhigen.«

Bald darauf hatte die Presse die einseitige Beziehung satt, und das Interesse an der Frau aus dem ländlichen Wisconsin erlahmte. Nun nannten sie sie unnahbar. Oberflächlich. Und ein besonders liebenswerter Journalist verglich Shelbys Verhalten mit ihrem geliebten Lake Superior: eiskalt.

Auf dem Boot spürte Ryan, dass sich über dem Lake Michigan eine leichte Brise erhob und über die Plicht wehte. Die Segel raschelten leise, und die Flaggleine klang wie eine Glocke, als sie klirrend an den Mast schlug. »Shel, erinnerst du dich an den Abend, als du zur Ausstellungseröffnung gekommen bist, um mich zu sehen?«

»Natürlich«, nickte sie, ihre Stimme klang träge und behaglich. »Himmel, war ich nervös. Und völlig fehl am Platz. All diese Leute und deine Arbeiten – es war toll, sie überall in der Galerie ausgestellt zu sehen. Das werde ich nie vergessen.«

»Du warst so schön an dem Abend.«

»Ach, ich weiß nicht«, entgegnete sie. »Ich war ein Wrack. Und in den Schuhen konnte ich kaum laufen.«

Bei der Erinnerung daran lächelte er; er fand es entzückend, wie vorsichtig sie dort mit ihren High Heels getrippelt war.

»Weißt du noch, was ich zu dir gesagt habe?«

»Sag es mir noch einmal.«

»Ich sagte, wenn du mich lässt, verbringe ich den Rest meines Lebens damit, dich zu lieben.«

»Ich erinnere mich.«

»Das ist heute wahrer als je zuvor.«

»Ich liebe dich auch«, sagte sie und zögerte dann einen Augenblick. »Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist, Ryan? Du wirkst ein bisschen … ich weiß nicht … zerstreut.«

»Nein.« Ich bin nervös. Ängstlich. Mein Herz zerspringt vor Erwartung. Meine Hände zittern. Berauscht von der Aussicht, dass du vielleicht Ja sagst zu einer Frage, über die wir noch nicht gesprochen haben. Er atmete tief ein, um seine Nerven zu beruhigen, und kniete dann vor ihr nieder. »Shelby?«

Sie öffnete die Augen und setzte sich wieder auf, in ihrer Miene zeigte sich Überraschung, als sie bemerkte, wie verstört er war.

»Ich meine es ernst. Ich weiß, du bist noch dabei, dich einzuleben, und so vieles verändert sich gerade, aber es gibt da noch etwas … Ich glaube nicht an zufällige Begegnungen oder an das Schicksal und auch nicht an Liebe auf den ersten Blick. Aber ich weiß, was ich empfunden habe, als ich dich das erste Mal am See gesehen habe. Und ich erinnere mich, wie stark das Gefühl war, als ich glaubte, dass ich dich nie wiedersehen würde. Ich weiß, wie es sich anfühlt, sich zu verlieben und zu lieben. Ich weiß es durch dich.«

»Ryan, ich …«

»Bitte, bevor du irgendetwas sagst …« Er griff in seine Jackentasche und zog den schmalen Ring heraus. Vom ersten Moment an, als er ihn bei dem eigens vereinbarten Termin in einem Juweliergeschäft auf der Michigan Avenue gesehen hatte, wusste er, dass der Ring perfekt war: elegant und anmutig, ohne protzig zu sein. Es war ein strahlender Diamant, eingebettet in eine doppelte Reihe von Perlen, die sich um den ganzen Ring schnürten.

Obwohl der Ring sich in seinen Händen leicht anfühlte, lag in ihm doch das Gewicht seiner Zukunft.

»Ich will mein Leben damit verbringen, mit dir zu feiern, wenn du erfolgreich bist, und dich zu trösten, wenn du scheiterst. Ich will für immer bei dir sein. In guten Zeiten. Und in schlechten. Ich will mit dir träumen. Mit dir leben, lachen und weinen«, sagte er und hielt den Ring, der so hell strahlte wie der Glanz der Sonne auf dem Wasser. »Wenn du mich lässt, will ich an deiner Seite sein, um all das mit dir zu erleben.«

Sie kniete auf der Plicht nieder, um Ryan ins Gesicht zu blicken und seine Hand zu halten, als er sie fragte: »Shelby Julia Meyers … willst du mich heiraten?«

Shelby zeigte mehr Interesse an Ryan als an dem Ring, als sie ihm antwortete und ihn nach jedem Wort küsste. Zärtlich sagte sie: »Nichts. Würde. Mich. Glücklicher. Machen.«

Die Mitglieder des Streichquartetts saßen auf traubenförmig angeordneten Gartenstühlen aus Teakholz; der Bratschist war mit einem gepflegten Anzug aus Crinkle bekleidet, während die Cellistin und die beiden Geigerinnen Leinenkleider in aufeinander abgestimmten Farben trugen. Sie hoben die Bögen, die Cellistin nickte, und das Quartett begann, das Hochzeitslied zu spielen. Das Stück war »Just like Heaven« von The Cure; Ryan und Shelby hatten es als harmlosen Akt der Rebellion gegen Charlottes Förmlichkeit gewählt. Ryan lachte in sich hinein, denn er wusste, dass Shelby in Hörweite der Musik war und vermutlich auch lächeln musste, während sie darauf wartete, vor den Altar zu treten.

Ryan spähte zu seinen Eltern hinüber, die nebeneinander in der ersten Reihe saßen und unverkennbar nicht geahnt hatten, welche Musik das Paar gewählt hatte. Sein Vater, William Chambers Senior, war Vorstandsvorsitzender und CEO von Chambers Media, einem Medienkonzern mit Hauptsitz in Chicago. Mit geradem Rücken und übereinandergeschlagenen Beinen saß er da, tadellos gekleidet in einem wollenen Sommeranzug aus Kammgarn. Ryans Mutter strahlte in ihrem taubenblauen Kleid mit Gürtel und Perlen Eleganz aus. »Das ist Haute Couture«, hatte sie stolz gesagt, als er sie auf der Hochzeit erblickt hatte, obwohl Ryan nicht verstand, was das bedeuten sollte. Nach außen gaben sie das Bild stolzer Eltern ab, doch Ryan wusste, dass sie so ihre Zweifel gehabt hatten. Und sie zweifelten sogar an diesem Tag noch, während er und Shelby sich darauf vorbereiteten, einander das Jawort zu geben.

Niemand hätte geglaubt, dass es Ryan und Shelby gelingen würde, die Beziehungen zu ihren jeweiligen Familien so sehr zu verbessern – wenn auch noch nicht gleich zu festigen. Ryans Eltern hatten einige Zeit gebraucht, um seine Beziehung zu Shelby zu akzeptieren und die Hoffnung aufzugeben, dass er eines Tages in eine Familie einheiraten würde, die ebenso prominent war wie seine eigene. Aber Shelbys Charme hatte rasch dafür gesorgt, dass sie ihre Vorbehalte ablegten, und sie fand ihren Weg zu den wohlgehüteten Plätzen in ihren Herzen. Ryan sah, dass seine Mutter nach der Hand seines Vaters griff, und in dem Augenblick, als ihre Hände sich verschränkten, ließ die Anspannung in seinem Gesicht nach, die es wie gemeißelt hatte wirken lassen. Sein Vater lächelte und tätschelte die Hand seiner Frau, dann beugte er sich zu ihr und küsste sie auf die Wange.

Während das Quartett noch spielte, ließ Ryan den Blick über die anderen Gäste schweifen, die sich auf dem Rasen versammelt hatten. Sein Freund Pete Whitfield saß dort mit seiner Frau, Meredith. Brad Thorson stand als Trauzeuge neben ihm, während seine Frau Holly ihnen von der fünften Reihe aus zusah. Ihre kleine Tochter zappelte auf ihrem Schoß herum. Ryans Schwester Martha war mit ihrem Ehemann Joe und ihren beiden kleinen Kindern aus South Carolina angereist. Shelbys engste Freunde saßen mit Nics Ehemann Hank zusammen. Und Ryan war zwar nicht übermäßig erfreut, als er ihn weiter hinten erblickte, aber auch Shelbys Kindheitsfreund John Karlsson war gekommen.

Ryan und die Hochzeitsgäste blickten auf, als sie Stimmen aus der Scheune hörten und die durchsichtigen Gardinen in und neben dem offenen Tor flattern sahen. Anstelle des Hochzeitspaars huschten Jackie und ein Mann, den Ryan nicht kannte, aus der Scheune heraus. Die Absätze von Jackies Schuhen schienen im Boden zu versinken, als sie mit dramatischen Gesten über den Rasen stelzte wie ein rosafarbener Flamingo, der von Panik ergriffen über einen Strand lief. Jackie griff nach der Schulter ihres Begleiters und blieb stehen, um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, während sie sich die störenden Schuhe von den Füßen kickte. Als die Musiker den Tumult bemerkten, kamen ihre Bögen auf den Saiten mit derselben Grazie zum Stillstand, mit der ein Auto auf einer vereisten Straße mit kreischenden Bremsen zum Stehen kommt.

Die Brautmutter hob mit einer Hand ihre Schuhe auf, blickte stur geradeaus und führte ihren speziellen Freund an seinen Platz. Niemand sagte ein Wort oder wagte auch nur, sich zu räuspern. Doch die Mienen zeigten Bestürzung, und sogar die Kinder saßen schweigend und mit offenen Mündern da.

Und dann, in diesem Augenblick unbehaglicher Stille, gerade, als Jackie und ihr Begleiter ihre Plätze in der ersten Reihe einnehmen wollten, zog eine tief fliegende Möwe über ihre Köpfe hinweg. Sie flog allein. Ihre weißen Flügel waren weit gespreizt, den Kopf hielt sie hoch erhoben. Sie machte kein Geräusch, bis sie im Sinkflug auf die Hochzeitsgesellschaft zuglitt, plötzlich herabschoss, den Schnabel öffnete und ein durchdringendes Kreischen ausstieß. Jackie blickte auf. Genau in diesem Augenblick ließ die Möwe einen Klumpen weißer Exkremente fallen. Bevor Jackie sich ducken konnte, landete er genau zwischen ihren Augenbrauen und sickerte ihr über die gepuderte Nase hinab. Sie stieß einen schrillen Schrei aus, der dem der triumphierend davonfliegenden Möwe in nichts nachstand.

Über den Rasen hinweg war ein Keuchen zu hören, was bei manchen Gästen ein unterdrücktes Glucksen hervorrief, bei anderen dagegen unbeherrschtes Kichern. Jackie warf ihre Schuhe ins Gras und rannte barfuß davon, an Ryan vorbei, der vor dem Altar stand, bis zum Farmhaus der Meyers. Ihr Gefährte jagte hinter ihr her.

Ryan wandte sich von dem Schauspiel ab und blickte noch einmal zur Scheune. Diesmal erhaschte er einen Blick auf Ginny und Shelby, die die Gardinen zur Seite geschoben hatten und nun unter dem Scheunentor standen. Als die vier Musiker ihre Bögen wieder aufnahmen, fielen sich seine Braut und ihre Großmutter in die Arme, unfähig, ihr Gelächter zu unterdrücken.

3

Wahrheit und Schwüre

Als die Eingangstür des Farmhauses hinter Jackie und ihrem Begleiter zugefallen war und die Musiker sich das Zeichen zum erneuten Einsatz gaben, blickte Ryan den beiden immer noch neugierig hinterher, bis Brad ihn schließlich leicht von der Seite anstieß.

»Wow, Ryan«, flüsterte Brad. »Sie sieht fantastisch aus.«