Die Zeit der Apfelblüten - Kerstin March - E-Book
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Die Zeit der Apfelblüten E-Book

Kerstin March

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Beschreibung

Kann man Wurzeln schlagen, obwohl einem Flügel gewachsen sind?

Shelby hat auf der Apfelplantage ihrer Großeltern am Lake Superior ihre Bestimmung gefunden. Sie weiß genau, was sie will, und vor allem, was sie nicht will - bis sie Ryan trifft. Der Erbe eines berühmten New Yorker Medienmoguls will in der Idylle der Seenlandschaft endlich zur Ruhe kommen und sich darüber klar werden, was er vom Leben erwartet. Doch als er und Shelby sich näherkommen, kann Ryan sich plötzlich nicht mehr vorstellen, in sein altes Leben zurückzukehren. Shelby traut ihrem gemeinsamen Glück jedoch nicht. Sie musste bereits auf schmerzhafte Weise erfahren, dass in der Urlaubsidylle Welten aufeinanderprallen, die im Alltag nicht miteinander zu vereinbaren sind. Kann Ryan sie überzeugen, dass sein Platz im Leben an ihrer Seite ist?

Warmherzig, gefühlvoll und bewegend schreibt Kerstin March von Träumen, für die es sich zu kämpfen lohnt.

Band 1: Die Zeit der Apfelblüten
Band 2: Apfelblütensommer

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Seitenzahl: 394

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Inhalt

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Über dieses Buch

Titel

Widmung

Motto

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Danksagung

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Über dieses Buch

Shelby hat auf der Apfelplantage ihrer Großeltern am Lake Superior ihre Bestimmung gefunden. Sie weiß genau, was sie will, und vor allem, was sie nicht will – bis sie Ryan trifft. Der Erbe eines berühmten New Yorker Medienmoguls will in der Idylle der Seenlandschaft endlich zur Ruhe kommen und sich darüber klar werden, was er vom Leben erwartet. Doch als er und Shelby sich näherkommen, kann Ryan sich plötzlich nicht mehr vorstellen, in sein altes Leben zurückzukehren. Shelby traut ihrem gemeinsamen Glück jedoch nicht. Sie musste bereits auf schmerzhafte Weise erfahren, dass in der Urlaubsidylle Welten aufeinanderprallen, die im Alltag nicht miteinander zu vereinbaren sind. Kann Ryan sie überzeugen, dass sein Platz im Leben an ihrer Seite ist?

KERSTIN MARCH

Die Zeit der Apfelblüten

Aus dem amerikanischen Englisch von Barbara Först

Für David, in Liebe

Dies sagen: Leb wohl an der Dunkelheit Rand,

Und der Frost in dem Obststück, so jung noch im Stand,

Gemahnt mich an viel, was geschehn kann an Harm

Einem Obststück weit weg an dem Ende der Farm.

»Leb wohl und bleib kalt«

Robert Frost

1

Blaumachen

Als Shelby Meyers nach ihren Schlüsseln griff, sah sie den Brief auf dem Tischchen im Hausflur. Die violetten Buchstaben in der vertrauten, unregelmäßigen Handschrift starrten sie höhnisch an. Sie zögerte, dann nahm sie den weißen Umschlag mit der geknickten Marke vom Tisch. Nachdenklich mit den Fingerspitzen über die spitzen Kanten streichend, erwog sie, das Geschreibsel einfach in den Müll zu werfen.

Im Laufe der Zeit war der Briefwechsel mit ihrer Mutter zu einem erbarmungslosen Schlagabtausch geworden. Die Erfahrung hatte Shelby gelehrt, keine freundlichen Worte mehr quer durchs Land in irgendeine Stadt zu schicken, die ihre Mutter gerade zufällig ihre Heimat nannte. Denn zurück kamen unweigerlich Gedankenlosigkeiten. Die Bemerkungen ihrer Mutter waren zu heftig und zu gut gezielt, als dass Shelby sie hätte ohne Weiteres parieren können. Schon in jungen Jahren hatte sie zu akzeptieren gelernt, dass ihre Mutter eine Gegnerin war, die sie offensichtlich nicht liebte. Spiel, Satz und Sieg: Und wieder einmal hatte Jackie Meyers über ihr einziges Kind triumphiert.

»Bist du das, Shelby?« Mit der Stimme ihrer Großmutter drang ein Duft nach gebratenem Schinken in den Hausflur. Selbst an einem Samstagmorgen im August war sie vor Sonnenaufgang wach und kümmerte sich um ihren Haushalt.

»Bin hier, Gran.«

Obwohl Shelby wusste, dass der Brief ihr nur weitere Enttäuschungen bereiten würde, schob sie ihn in einem Anfall von Erwartung in ihren Rucksack. Vielleicht hatte ihre Mutter dieses Mal den Schläger beiseitegelegt und war bereit, ihrer Tochter am Netz friedlich die Hand zu schütteln. Vielleicht hatte sie dieses eine Mal liebevoll geschrieben.

»Für dich ist ein Brief gekommen. Von deiner Mutter.« Ginny Meyers kam Shelby entgegen, während sie sich die nassen Hände an ihrer verblichenen Paisley-Schürze abwischte. Ginny glaubte an harte Arbeit und Bescheidenheit, an Dankbarkeit und Ehrlichkeit. Sie war immer noch schlank und straff von Jahren harter Farmarbeit, aber ihre Wangen waren rundlich und rosig, ihr Gesicht von Freundlichkeit und Fürsorge erfüllt. Die Augen mit den schweren Lidern waren braun wie die Erde und voller Güte, dennoch blitzte aus ihnen mehr als nur ein Fünkchen Übermut.

»Yep, hab ihn schon gefunden«, sagte Shelby.

»Na gut.« Ginny schaute auf den leeren Tisch, wo sie Jackies Brief am Vorabend hingelegt hatte. »Sie meint es ja nicht böse.«

Shelby warf ihrer Großmutter einen Blick zu. Beide wussten es besser.

»Du weißt doch, wie viel sie immer zu tun hat. Ist doch nett, wenn sie sich trotzdem meldet.« Ginny nickte mit Nachdruck, als wollte sie unbedingt, dass Shelby ihr beipflichtete.

»Kann man so sagen.«

»Genau. Also … Sie wird es schon noch begreifen. Da bin ich sicher.« Sie seufzte schwer und ließ die Schultern fallen. Dann zog sie Shelby in ihre Arme und drückte ihr einen Kuss auf die Wange. »Alles bloß eine Frage der Zeit.«

Shelby schloss die Augen und entspannte sich in den liebevollen Armen der Großmutter. »Ich muss allmählich los.«

»Willst du denn gar nicht frühstücken?«

»Sorry, keine Zeit. Ich will die erste Fähre erwischen.«

»Ja, natürlich. Dann ab mit dir!« Ginny machte die Haustür auf und schob Shelby zärtlich aus dem Haus, das von Geburt an ihr Zuhause gewesen war. »Versprich mir, dass du an diesem Wochenende Spaß haben wirst!«

»Hab ich nicht immer Spaß?«, fragte Shelby über die Schulter.

»Soll ich dir darauf wirklich eine Antwort geben?«

»Hab dich lieb!«

Leise fiel die Haustür hinter Shelby ins Schloss. Sie trat auf die Veranda in das Licht des frühen Morgens hinaus. Tief atmete sie die frische Luft ein, nahm deren heilende Kräfte in sich auf, die vertrauten Düfte von Springkraut, Wildblumen, Weymouthkiefern und feuchter Erde von der Apfelplantage ihrer Großeltern. Ein Geruch, der Shelby stets die Verbundenheit mit diesem Ort oberhalb der Uferklippen von Bayfield in Wisconsin spüren ließ.

In der Stille waren nur ihre Schritte zu vernehmen. Im nahen Wäldchen entstand eine Bewegung. Wachablösung: Die nachtaktiven Tiere suchten ihren Bau auf, während die sonnenliebenden Kreaturen sich eben zu regen begannen.

Shelby ging zu ihrem 84er Chevy-Pick-up, einem rostfleckigen, ursprünglich weiß lackierten Gefährt. Sie öffnete die quietschende Fahrertür, schwang sich leichtfüßig auf den Sitz, legte den Sicherheitsgurt an und startete den Motor. Nachdem sie den Gang eingelegt hatte, rollte der Wagen eine Schotterstraße an langen Reihen knorriger Apfelbäume entlang, passierte die Kelterei und schließlich das handgemalte Schild, das die Besucher in »Meyers Orchard« willkommen hieß.

Die Straße, die sich hügelabwärts nach Bayfield schlängelte, führte an anderen Plantagen vorbei, an Überbleibseln rostiger, achtlos an den Straßenrand geworfener Vehikel, und einem ausgedienten Fischerboot, das kieloben in einem Heufeld lag. Da Shelby wusste, dass die Sonne um diese Tageszeit einen rosigen Schimmer über den See warf, freute sie sich jetzt schon auf die Aussicht an ihrem Lieblingspunkt. Dort, an der höchsten Stelle der Küstenstraße, würde einen Augenblick lang die ganze Chequamegon Bay vor ihr ausgebreitet liegen. Es war keine bewusste Entscheidung, an dieser Stelle das Tempo zu drosseln, doch Shelby nahm jedes Mal den Fuß leicht vom Gaspedal, um den Anblick noch einen Moment länger zu genießen.

Der See enttäuschte sie niemals. Während Shelby ihre Fahrt in Richtung Stadt fortsetzte, betrachtete sie mit Ehrfurcht die gewaltige Menge Wasser. Lake Superior erstreckte sich bis zum Horizont und schmückte sich mit dem Archipel der Apostle Islands. Möwen kreisten über einem auslaufenden Fischkutter, der ruhig durch das spiegelglatte Wasser glitt.

Ihr Pick-up glitt im Leerlauf durch die Kurve, bevor er das letzte gewundene Stück Straße hinunter zum Hafen nahm. An der Marina wimmelte es von Seglern, die ihre Decks schrubbten und die Leinen prüften. Manche liefen bereits aus und bahnten sich einen Zickzackkurs durch die stahlblaue Bucht, die das historische Städtchen von den Inseln trennte.

In Bayfield lebte eine bunte Mischung aus Künstlern, Handwerkern und Seeleuten. An diesem Ort reichte die Chippewa-Kultur so tief wie der See. Weiß getünchte, schindelgedeckte Häuser und Lattenzäune erinnerten an die ersten Einwanderer aus Europa, die ihren Lebensunterhalt mit Fischerei, Holzfällen und Sandsteinabbau bestritten hatten. Hier waren Familien beheimatet, die das Land, ihre Kinder und ihr Leben liebten. In dieser Gemeinschaft zog man sich im Winter warm an und trotzte der unfruchtbaren Ödnis, der zugefrorenen Bucht, die nur über Eisstraßen befahrbar war, und der bitteren Kälte. Zum Ausgleich gab es herrliche Sommer mit lavendelfarbenen Lupinenfeldern, schimmernden Pappeln und der überreichen Blüte der Apfelbäume.

Die gewaltige Kraft hinter allem war der See. Lake Superior war so lieblich und launisch wie eine Frau, konnte seine Bewunderer in einem Moment blenden und im nächsten voller Grimm zuschlagen. In ruhigen Phasen ließ er Kajaks auf seiner blitzenden Fläche tanzen. Doch wenn er seine Launen bekam, dann raubte er einem Mann den Atem und zog ihn in eisige Tiefen.

Dies war Heimat. Shelby konnte sich nicht vorstellen, woanders zu leben.

Sie passierte die Marina und fuhr weiter zur Main Street. So früh am Morgen gab es reichlich Parkplätze auf der Hauptstraße, denn das Städtchen war wie ein träger Teenager, der erst am Vormittag aus den Federn kommt. Unter den ausladenden Ästen eines Ahorns sah Shelby einen wohlbekannten alten Pick-up stehen und schwenkte in die Lücke daneben ein.

»Hey, Gloria!«, rief sie der Frau zu, die auf der Ladefläche aus winzigen Kisten mit Blaubeeren einen provisorischen Obststand baute. Es war ein Wunder, dass Glorias Truck überhaupt noch lief. Rostige Teile baumelten bedenklich von einer Karosserie, die den Eindruck machte, als würde sie lediglich von ein paar Yards Hühnerdraht und silberfarbenem Klebeband zusammengehalten.

»Morn«, gab Gloria zurück, sah kurz auf und zeigte beim Lächeln ihre schadhaften Zähne. Sie war eine leicht schäbig aussehende Person, die aufgrund ihres harten Lebens doppelt so alt wirkte.

»Du verlierst wirklich keine Zeit mit dem Verkauf, wie?« Shelby warf sich den Rucksack über die Schulter, drückte den Türknopf herunter und schlug die Wagentür zu.

»Du weißt doch, früher Vogel und so weiter.«

»Soll ich dir helfen?«

»Willst du Beeren kaufen?« Gloria wohnte knapp außerhalb des Städtchens in einem verwahrlosten Blockhaus auf zehn Morgen Land. Obwohl das Haus nahe an der Hauptstraße lag, kannte es kaum jemand, da es sich hinter einer Reihe Kiefern verbarg. Das Land war in Glorias Familie vererbt worden, und im neunzehnten Jahrhundert hatte darauf eine Ziegelei gestanden. Wenn sie nicht gerade im Garten zu tun hatte, durchstöberte Gloria ihren Besitz und den dazugehörigen Bach nach alten Ziegelscherben, Keramiken und ähnlichen Schätzen. Sie nutzte, was ihr das Land bot, um ihren Lebensunterhalt zu bestreiten, von Tonscherben der alten Ziegelei über Flechtkörbe und Honig im Herbst bis zu den Weihnachtskränzen, die sie aus zartem Moos und Kiefernzapfen flocht.

»Du kannst Gedanken lesen«, sagte Shelby und näherte sich Glorias bescheidener Auslage. »Ich will heute auf die Insel. Da kommen mir deine Beeren gerade recht.«

Gloria beäugte Shelbys Rucksack. »Du machst einfach so blau?«

»Sozusagen«, erwiderte Shelby, nahm zwei Kistchen mit Blaubeeren und legte einen Fünfer auf die Ladefläche. »Großvater hat das Haus selten genug für sich allein. Wenn ich fort bin, geht Gran Freunde besuchen, und dann kann er endlich mal seine Kumpels zum Poker einladen. Vermutlich will er das Geld zurückgewinnen, das er letztes Mal verloren hat.«

Nachdem Gloria die Banknote in ihre Tasche gestopft hatte, beendete sie das Gespräch abrupt mit einem Nicken und wandte sich wieder ihrer Arbeit zu.

Typisch Gloria, dachte Shelby und grinste belustigt, während sie die Main Street hinunterging. Wie üblich war sie eher »outdoor« als modisch gekleidet. Ihre Garderobe bestand hauptsächlich aus verwaschenen Jeans, T-Shirts in neutralen Farben, ausgetretenen Stiefeln, Sandalen und einer Kette mit Türkisanhänger, einem Geschenk ihres Großvaters. Sie tat wenig, um ihre braunen Augen oder ihre von Natur aus schöne Haut zu betonen, und trug ihr langes braunes Haar meist zu einem lockeren Pferdeschwanz gebunden. Doch selbst mit diesem lässigen Stil machte Shelby einen glänzenden Eindruck. Das lag hauptsächlich daran, dass sie sich stets mit heiterer Ungezwungenheit bewegte und ein herzliches Gemüt besaß, das die Menschen zu ihr trieb wie die Möwen zum Wasser.

»Nu’ schau dich doch nur an!« Lou Olson kam aus dem Lebensmittelgeschäft, im Mund ein Plunderteilchen und unter dem Arm eine zusammengerollte Zeitung. Mit seinem fassähnlichen Oberkörper, gewaltigen Oberarmen und einem grauen störrischen Bart, der dem Fell eines Timberwolfs nicht unähnlich sah, wirkte Lou eher wie ein Holzfäller und nicht wie der ortsansässige Zahnarzt. Eigentlich hätte er schon vor langer Zeit in den Ruhestand treten sollen, doch selbst nach elf Jahren hatte Lou immer noch nicht genug Vertrauen zu seiner »neuen Assistentin«, um ihr die Praxis zu überlassen.

»Hey, Lou! Ist ja lustig, dass ich dich treffe. Hast du etwa gelauscht?«, fragte Shelby. »Hab gerade von dir gesprochen.«

»Wegen heute Abend? Kann’s gar nicht erwarten, bis Olens Arsch am Pokertisch sitzt – ’tschuldige die Ausdrucksweise.« Er grinste, rieb sich die fleischigen Hände und machte ein erwartungsvolles Gesicht. »Muss die Scheine zurückgewinnen, die er mir beim letzten Spiel abgenommen hat. Dieser alte Mistkerl.«

»Aber ich dachte …«

»Bei allem Respekt vor deinem Großvater, aber er ist ein hinterhältiger Hurensohn. War er schon immer.«

»Also, so schlecht –«

»Was sagst du?« Lou drehte ihr sein besseres Ohr zu. »Ein schlechter Verlierer? Hat er mich etwa so genannt?«

»Nein!« Shelby lachte und nahm den Rucksack auf die andere Schulter. »Ich würde sagen, er brennt genauso auf das Spiel wie du.«

»Verstehe. Gut. Dann ist ja gut.« Er zögerte noch, rückte die Zeitung unter seinem Arm zurecht. »Sag mal, wo ich dich gerade hier habe … Ich wollte dir sagen, dass es mir immer noch sehr leidtut, weißt du … was damals passiert ist. Kann es einfach nicht aus dem Kopf kriegen. Besonders, wenn wir uns so unerwartet über den Weg laufen.«

»Oh.« Shelby schaute zu Boden und scharrte mit den Füßen.

»Ich meine eben …« Lou verlor den Faden. »Wir alle hoffen, dass du noch mal so jemand Nettes findest. Verstehst du? Du verdienst es.«

»Lieb, dass du das sagst.« Sie schaute an ihm vorbei auf den See, biss sich auf die Lippen und wollte plötzlich nur noch fort.

»Du weißt ja, dass mein Neffe und sein Sohn diesen Sommer zu Besuch kommen. Ist ’n richtig netter Kerl, der Sohn. Arbeitet bei einer Bank. Vielleicht wärt ihr beide …«, setzte er an, doch Shelby fiel ihm ins Wort.

»Das weiß ich sehr zu schätzen, aber …« Sie richtete den Blick wieder auf Lou und brachte ein schwaches Lächeln zustande. »Mir geht’s gut.«

»Genau.«

»Aber trotzdem danke.«

»Also«, sagte er abschließend und beugte sich vor, um sie forschend anzuschauen. »Pass auf dich auf.«

»Du auch. Und viel Glück heute Abend.«

Lou war nicht der Erste, der ihr einen passenden Junggesellen anbot. Shelby dachte im Weitergehen an die Männer, die man ihr im Laufe der letzten drei Jahre angedient hatte, seit Jeff im Sommer vor dem Abschlussjahr am College durch einen Unfall ums Leben gekommen war. Zwar war die Zahl der Männer überschaubar gewesen, und einige hatte sie sogar getroffen. Allesamt nette Menschen. Für andere Frauen gewiss ideale Partner, für sie jedoch nur als gute Freunde geeignet.

Freunde hatte sie mittlerweile genug.

Shelby war es zufrieden zu wissen, was die Zukunft für sie bereithielt. Die kommenden Jahre würden schlicht Variationen ihrer Vergangenheit und Gegenwart sein. Der gleiche Ort. Die gleiche Routine. Die gleichen Leute. Das Einzige, das sich verändern würde, wären das Kalenderjahr und die Menschen, die in ihr Leben eintreten oder es verlassen würden. Shelby träumte nicht mehr vom feierlichen Gang zum Altar. Sie brauchte keinen Mann, um vollständig zu sein. Sie hatte ihre Großeltern, die Apfelplantage, ein paar enge Freunde und vor allem den See. Das genügte.

Als Shelby am Ende der Main Street angekommen war, hatte sie gerade noch Zeit, um bei West Bay Outfitters vorbeizuschauen, das genau dem Hafen und dem Fähranleger gegenüberlag. Es war ein schlichtes Geschäft, das Outdoor-Ausrüstungen, Miet-Kajaks und geführte Abenteuerwanderungen anbot. Obwohl Shelby für Outdoor-Abenteuer kaum Zeit hatte, war sie eine gern gesehene Kundin. Und das hatte einzig und allein mit dem Inhaber von West Bay Outfitters zu tun, einem gewissen John Karlsson.

»Hey, meine Hübsche!«, rief John, als sie auf die Ladentheke zukam, auf der sich aufgeschlagene Seekarten, Wanderkarten und Broschüren häuften. Wann immer Shelby John anschaute, blickte sie hinter die Fassade des rauen Mannes und erkannte das sanfte, liebe Gesicht ihres flachsblonden Freundes aus Grundschultagen. Und immer wieder war sie erstaunt, dass der schlaksige Teenager mit Zahnklammer, der an Sommerabenden mit ihr durch die Apfelplantage getobt war, jetzt sein eigenes Haus und sein eigenes Geschäft besaß. »Wie geht’s meinem Mädchen?«

»John Karlsson, so charmant wie eh und je.« Sie beugte sich über die Ladentheke, um ihn auf den Dreitagebart zu küssen.

»Nur bei dir, Meyers.« John drehte ihr im letzten Moment sein Gesicht zu, und ihre Lippen trafen seinen Mund.

»Strolch!«, schalt sie ihn.

»Du willst mich. Du weißt es bloß noch nicht.« Er schenkte ihr sein unwiderstehlichstes Lächeln.

Shelby stellte ihren Rucksack auf die Ladentheke, zog den Reißverschluss auf und zog Johns schwarze Windjacke heraus. Dann betrachtete sie ihren alten Freund feixend und mit hochgezogenen Augenbrauen.

»Du bist also nicht gekommen, um deine Hände auf mich zu legen?«, fragte er.

»Oh, ich werde schon noch meine Hände auf dich legen.« Sie hob eine geballte Faust. »Du bist wirklich der vergesslichste Mensch, den ich kenne. Ich wette, du hast sie absichtlich liegen lassen, damit Gran mich noch mal herschicken musste.«

»Ich bekenne mich schuldig. Aber komm schon. Gib’s zu. Du stehst drauf«, erwiderte er, kam um die Theke herum und legte kurz den Arm um sie, bevor er ihr die Jacke abnahm. »Also, was hast du heute Schönes vor? Arbeit … oder noch mehr Arbeit?«

»Nein, nein«, entgegnete Shelby und entwand sich seiner Umarmung. »Ich hab vor, eine Weile mit Nic abzuhängen.«

»Der Chef hat dir wirklich Urlaub gewährt?«

»Sozusagen. Nic und ich fahren für einen Tag auf die Insel und übernachten bei den Gordons.«

»Ist ja auch der perfekte Tag dafür. Und wie geht es unserer Miss Nicole in letzter Zeit? Mies gelaunt wie eh und je?«

»Sei nicht so eklig.« Shelby ging zu ein paar übereinandergestapelten Kajaks und ließ ihre Hand liebevoll über die glatte orangerote Oberfläche des neuesten Modells gleiten.

»Verrat mir doch, warum ihr so eng befreundet seid.«

»Stopp. Die Frage setzt allmählich Schimmel an. Dass du sie nicht magst, heißt noch lange nicht, dass sie mir nichts bedeuten darf.«

»Das sagt mir gar nichts.« John stellte sich neben Shelby und legte eine Hand auf das Kajak, das sie bewundernd betrachtete.

»Ich weiß nie, was sie im nächsten Augenblick tun oder sagen wird, und das gefällt mir. Sie fordert mich heraus. Sie ist witzig und verrückt und zäh. Was soll ich noch sagen? Sie macht das Leben irgendwie interessanter.«

»Ich versteh’s trotzdem nicht.«

»Na, siehst du. Da habt ihr schon etwas gemeinsam. Sie versteht dich nämlich auch nicht.«

»Autsch!« Er rieb sich die Brust, als hätte er einen Treffer erhalten.

Shelby schüttelte nur den Kopf und schritt, ohne ihre Hand von seiner glatten Oberfläche zu nehmen, um das Kajak herum. »Das gefällt mir total. Wie viel?«

»Zwo-sieben«, erwiderte John. »Hab’s grade diese Woche reinbekommen. Fantastisch, nicht wahr?«

»Wunderschön.«

»Solltest es kaufen.«

»Na klar! Bei meinem Gehalt. Außerdem kenne ich einen supernetten Typen, der mich die Demo-Kajaks umsonst benutzen lässt.«

»Echt jetzt! Wer ist das? Der hat die längste Zeit hier gearbeitet!«

»Verflixt! John, tut mir leid – ich muss weg!«, rief Shelby nach einem Blick auf ihre Uhr. Sie schnappte sich ihren Rucksack. »Die Fähre legt gleich ab – hab dich lieb!«

»Ich dich auch«, erwiderte er leise und machte einen Schritt auf sie zu, aber sie lief bereits davon. Sie waren seit ihrer Kindheit befreundet, doch John war anscheinend immer einen Schritt zu langsam gewesen.

Auf dem Weg zum Eingang schaute Shelby noch einmal über die Schulter … und prallte gegen einen Mann, der eben den Laden betrat. Beim Aufprall gegen seine Brust entfuhr ihr ein »Umpf!«. Sie fasste sich aber rasch wieder – und sah sich drei verblüfften, aber durch den Zwischenfall sehr erheiterten Männern gegenüber.

»Oh! Verzeihung! Ich hatte Sie gar nicht gesehen.« Da ihr keiner der drei Männer bekannt vorkam, musste es sich um Touristen handeln. Shelby lächelte höflich und versuchte, sich in dem voll gestellten Eingang an ihnen vorbeizuzwängen. Als sie zu dem dritten Mann kam, der noch in der Tür stand, stutzte sie. Zwar war er ihr völlig fremd, und doch glaubte sie, ihn von irgendwoher zu kennen. Er war ein wenig über sechs Fuß groß, schlank und dabei doch muskulös, hatte breite Schultern und ein sonnengebräuntes Gesicht. Die dunkelbraunen Haare lockten sich an den Ohren. Seine Mundwinkel waren durch sein Lächeln leicht nach oben gebogen. Seine Augen waren auffallend grün.

Shelby schaute den Mann noch einen Moment an, da sie ihn aber nicht einordnen konnte, dankte sie ihm fürs Türaufhalten und verließ hastig das Geschäft. Dann lief sie den grasbewachsenen Deich entlang, den Blick auf die Fähre gerichtet, die gerade anlegte. Und hörte plötzlich eine vertraute Stimme.

»Schie-bie!«, quiekte das Kind, riss sich von der Hand seines Vaters los und wackelte so schnell auf sie zu, wie es einem Dreijährigen möglich war. Shelby ließ sich auf ein Knie sinken und breitete gerade noch rechtzeitig die Arme aus, damit Benjamin sich hineinwerfen konnte. Sie hielt ihn fest, stand auf und schwenkte den Kleinen so ungestüm im Kreis herum, dass seine Beine wie auf einem Jahrmarktskarussell durch die Luft flatterten. Beide kicherten wie verrückt. Shelby bedeckte Benjamins Nacken mit Küssen und atmete seinen Geruch nach Graham-Keksen und Milch ein.

2

Anonym

Beim Betreten von West Bay Outfitters benahmen sich Ryan Chambers Reisegefährten wie die Kleinen Strolche. Zwar lag ihre Zeit an der Columbia University schon sieben Jahre zurück, doch wenn sie zu dritt verreisten, verfielen die beiden unweigerlich in ihre alten Studentenstreiche. Brad Thorson schubste Pete Whitfield und handelte sich dafür einen Schulterknuff ein. Dann streckte Pete die Arme nach hinten und schubste Ryan. Ihre Possen fanden erst ein Ende, als eine schlanke Brünette unsanft gegen Brads Brust prallte.

»Oh! Verzeihung!«, keuchte sie überrascht. »Ich hab Sie gar nicht gesehen.«

»Hey – nein! Unsere Schuld«, erwiderte Pete breit grinsend. Pete war der selbstironische Typ, der ständig Witze darüber reißen musste, wie groß, dunkelhaarig und gut aussehend er war – eine ziemlich eigenwillige Interpretation, denn Pete lag knapp unter sechs Fuß, hatte Haare von bierbrauner Farbe und Gliedmaßen, die nach jahrelangem Rugbytraining eher als stämmig bezeichnet werden konnten.

»Gentlemen, lasst die Lady vorbei.« Pete schob Brad kurzerhand aus dem Weg, während Ryan ihr die Tür aufhielt.

Die Frau musste sich erst an den beiden anderen vorbeidrängen, dann schaute sie Ryan mit leicht gerunzelter Stirn an, als gäbe sein Anblick ihr Rätsel auf. Ryan wappnete sich für das, was unweigerlich kommen musste: dass eine Frau ihn erkannte. Erkannte als Sohn von William und Charlotte Chambers, dem erfolgreichen Ehepaar aus Chicago, den Besitzern eines Medienimperiums, die sich in den höchsten Kreisen bewegten und deren Namen oft in der Zeitung standen.

Zunächst kam das Erkennen. Sodann ein koketter Augenaufschlag. Der Flirt mit dem Ruhm. Ihm hingegen fiel der Part zu, höflich, aber bestimmt jedwede Form von Bekanntschaft abzulehnen. Während des Studiums hatten Ryans Freunde von der Wirkung profitiert, die er auf Frauen ausübte. Inzwischen waren sowohl Brad als auch Pete verheiratet und zeigten wenig Interesse an dieser Frau, sondern gingen weiter, in den Laden.

Ryan schlug unter dem Blick der schlanken Brünetten die Augen nieder und wartete. Auf ihren ersten Satz. Auf ein Lächeln, das einen Flirt einleiten würde. Doch die Frau lächelte nicht einladend. Sie schien ihn wirklich nicht zu erkennen, dankte ihm lediglich dafür, dass er ihr die Tür aufgehalten hatte. Dann eilte sie davon, sprintete in Richtung Fähranleger.

Das war alles.

Ryan spürte, wie die Anspannung aus seinen Schultern wich. Ihre Reaktion oder vielmehr das Fehlen jeglicher Reaktion bestärkte ihn darin, dass er hier den perfekten Zufluchtsort gefunden hatte. In diesem Städtchen konnte er bekommen, was er daheim für alles Geld der Welt nicht kaufen konnte: das Geschenk der Anonymität.

Als er sich wieder dem Laden zuwendete, vernahm er das glückliche Jauchzen eines Kindes. Ryan drehte sich um und sah, wie die Frau einen kleinen Jungen in ihre Arme nahm, wie sie ihn im Kreis herumschwenkte, an sich drückte und auf den Nacken küsste. Der Ausdruck ihrer Gesichter verschlug ihm den Atem. Er sah bedingungslose Liebe. Eine Liebe, die jedes Kind verdiente. Eine Zärtlichkeit, die ein Sinnbild für Mütterlichkeit war. So etwas hatte er oft in den Filmen gesehen, die von der Firma seines Vaters produziert wurden, aber niemals daheim erlebt. Als Erbe eines der erfolgreichsten Medienkonzerne des Landes war Ryan im Scheinwerferlicht und mit der hohlen Bewunderung durch die Öffentlichkeit aufgewachsen, während er sich im Grunde nach der Zuwendung seiner Eltern sehnte.

Der jungen Frau, die ihn ignoriert hatte, gehörte nun seine volle Aufmerksamkeit. Als Ryan sie mit den Augen des kleinen Jungen sah, wurde ihm bewusst, dass er zu sehr mit sich selbst beschäftigt, zu sehr auf seine kostbare Privatsphäre bedacht gewesen war. Denn wie sonst hätte er übersehen können, wie schön sie war?

»Erde an Ryan!«, rief Pete. »Weilst du noch unter uns?« In der Öffentlichkeit war Ryan als William Chambers Jr. oder einfach als Will bekannt. Seine engsten Freunde riefen ihn jedoch mit seinem mittleren Namen.

»Komme schon!« Beim Klang von Petes Stimme wurde ihm bewusst, wie lange er schon da stand und der Frau nachschaute, die sich gerade von dem Kind und seinem Vater verabschiedete. War das ihr Ehemann? Ryan riss sich von ihr los, machte entschlossen die Tür zu und gesellte sich im Laden zu seinen Freunden.

»Gab’s was Interessantes zu sehen?«, fragte Pete und schielte ihn an.

»Bloß das Beladen der Fähre«, antwortete Ryan ausweichend. Er mied Petes Blick und streckte stattdessen dem Mann hinter der Theke, der ein T-Shirt mit dem Outfitters-Logo trug und eine mit Schnörkeln verzierte Seekarte glatt strich, die Hand hin. »Sie müssen John sein.«

»Hey, Mr Chambers.«

»Bitte nicht so förmlich«, bat Ryan und hielt dem Mann immer noch die Hand hin. »Ryan.«

»Freut mich.« John schüttelte ihm die Hand.

»Gleichfalls.« Ryan grinste. »Sie haben ja einen tollen Laden hier.«

»Was soll ich sagen? Das Leben ist gar nicht mal so übel, wenn ein Tag im Büro ein Tag auf dem See ist.«

»Kann ich mir vorstellen«, stimmte Ryan zu. Er betrachtete die Seekarte. »Habt ihr schon die Route festgelegt?«

»Ja«, sagte Pete. »John hat uns statt eines Vier-Tages-Törns empfohlen, einen kurzen Trip zur Madeline-Insel zu machen und morgen Nachmittag wieder in Bayfield einzulaufen.«

»Und erst wieder rauszufahren, wenn das Wetter besser wird«, setzte Brad hinzu.

Ryan beugte sich über die Karte und studierte den Kurs, den John mit Bleistift eingezeichnet hatte. »Sturm aus Südwest?«

»Fürchte ja.« John schaute mit zusammengekniffenen Augen aus dem Fenster auf den See, in dem sich die aufgehende Sonne spiegelte. »Wenn der Sturm nicht die Richtung ändert, erreicht er uns morgen Abend gegen sechs.«

»Ich hab schon in Chicago im Wetterbericht gesehen, dass der Sturm diese Gegend treffen könnte. Wie verlässlich ist die Voraussage?«, wollte Ryan wissen.

»Er kommt«, erwiderte John mit Gewissheit. »Und glaubt mir, wenn es so weit ist, wollt ihr nicht im Kajak mitten auf dem See sein.«

»Einverstanden.« Ryan schaute seine Freunde an und suchte in ihren Mienen nach Zustimmung. »Wir sind auch ziemlich gut darin, unsere Pläne im letzten Augenblick zu ändern.« Ein gemeinsamer Hang zu Spontaneität hatte ihre Freundschaft auf dem College mitbegründet. In Wahrheit jedoch waren die Freunde nicht mehr im gleichen Maß wie früher gewillt, seine impulsiven Ausbrüche aus der Realität mitzumachen. Sie bastelten an ihren Karrieren und Häusern, während Ryan immer noch so spontan lebte wie während ihrer Studentenzeit. Seine Eltern wurden allmählich ungeduldig. Es sei Zeit zu einer Entscheidung, bedrängten sie ihn. Es sei dringend geboten, dass er sich seiner Verantwortung stellte, die Initiative ergriff, die Ärmel aufkrempelte und für das Familienunternehmen sorgte.

Pete nickte.

»Kein Problem«, sagte auch Brad. Er war einer seiner ersten Freunde auf dem College gewesen. Beide hatten sich damals im Prozess der Loslösung von ihren Familien befunden, hatten jedoch keinerlei Übung im praktischen Leben besessen. Während Ryans Mutter den Haushalt und die Erziehung ihres Sohnes von Angestellten besorgen ließ, war Mrs Thorson eine Glucke, die ihrem Brad einfach alles abnahm. Also waren Brad und Ryan gleichermaßen schlecht gerüstet, um in der wahren Welt zu bestehen. Auf dem Campus führte die Bedienung von SB-Waschmaschinen und die Bereitung von Instant-Nudeln in Kaffeetassen dazu, dass die beiden Erstsemester sich aneinander anschlossen. Und als Brad und Ryan einander während eines Streits auf einer Party ihrer Studentenverbindung – bei dem es um ein gestohlenes Bierfass, einen Wrestling-Pokal der Unimannschaft und ein ausgestopftes Gürteltier ging – treu unterstützt hatten, war ihre Freundschaft endgültig besiegelt.

»Noch etwas: Heute findet eine Segelregatta statt. Und darüber hinaus fahren noch eine Menge Rennboote herum, auf die ihr beim Durchkreuzen der Bucht ein Auge haben müsst. Und haltet euch von Fährrouten fern. Die verlaufen hier«, fuhr John fort und zeigte auf eine gestrichelte blaue Linie zwischen Bayfield und dem historischen Städtchen La Pointe auf der Madeline-Insel. »Vorsicht auch an der Südspitze von Madeline. Da kann der See ganz schön kabbelig werden. Auf der Ostseite von Madeline sind die Sandsteinklippen. Ich muss euch wohl nicht sagen, dass Wellen mit Schaumkronen Gefahr anzeigen?«

»Wir wissen die guten Ratschläge wirklich zu schätzen, John, aber auf dem Wasser kennen wir uns aus«, versicherte Pete.

»Wir haben auch unsere Kajak-Scheine dabei«, fügte Brad an.

John legte beide Hände auf die Ladentheke und beugte sich zu ihnen vor. »Bei allem schuldigen Respekt, und wenn ihr Captain Ahab höchstpersönlich wärt. Ihr seid zum ersten Mal auf diesem See. Es ist mein Job, dafür zu sorgen, dass ihr Bescheid wisst. Ihr müsst eure Neoprenanzüge tragen und Achtung vor dem Wasser haben. Und haltet auf jeden Fall immer ein Auge auf den Himmel. Das Wetter hier kann sich im Handumdrehen ändern. Und ich hab keine Lust, Kajakfahrer aus dem See zu fischen«, schloss er unverblümt. »Auch keine erfahrenen.«

»Ist ja gut! Ist ja gut!« Pete hob beschwichtigend die Hände.

»Jesus«, brummelte Brad.

»Wir haben’s kapiert, John«, sagte Ryan ruhig. Er zollte John Respekt, weil er ihn keinen Deut anders behandelte als die anderen. Tatsächlich schien es ihm völlig egal zu sein, wer Ryan war. »Wir wissen die Ratschläge zu schätzen. Die Jungs wollen damit nur sagen, dass wir schon in eisiger Kälte und völliger Einsamkeit auf dem Meer gepaddelt sind.«

»Wie ihr wollt«, meinte John und öffnete den Seiteneingang, der zum See führte.

John ging voraus und zum Strand hinunter, wo drei Kajaks zum Ablegen bereit im Sand lagen. Während sie auf die Boote zu schlenderten, erkundigte sich Brad betont beiläufig: »Hey John, die Frau eben – kennen Sie die?«

»Wer?« John erschrak und ließ sein Handy fallen. »Verdammt!« Er unterdrückte einen Fluch, dann hob er es auf und wischte den Sand ab.

»Sie wissen schon, die Brünette, die mit uns zusammengestoßen ist?«

John stutzte einen Moment, dann schob er das Handy in die Gesäßtasche. »Nein, kenne sie nicht.«

»Ach was? Sah aber ganz danach aus.«

»Nein.« John schüttelte den Kopf. »Unmöglich.«

Brad sah John neugierig an, doch der wich seinem Blick aus. »Sicher?«, hakte er nach.

»Okay, alles bereit«, verkündete John und klatschte mit der Hand auf das erste Kajak, das einen hohlen Klang von sich gab. »Zeit, dass ihr Jungs aufs Wasser kommt.«

»Wie es scheint, sind wir auf ein Geheimnis gestoßen«, spöttelte Brad, während jeder sich ein Kajak aussuchte und seinen Tagesrucksack in die Decksluke stopfte. »Genau das Richtige für dich, Chambers.«

»Das reicht jetzt. Ab ins Wasser.« Ryan war der Erste, der sein Kajak ins seichte Uferwasser schob. Er zwängte sich in den engen Sitz und nahm das Paddel in die Hände. Vor dem ersten Paddelschlag schaute er über die Schulter zurück und sah John am Strand stehen, die Arme vor der Brust verschränkt. Er stand reglos da, die Füße in den Sand gestemmt. Es war beinahe, als wartete er ab, bis eine Bedrohung ablegen und in den Tiefen des Sees verschwinden würde. Ryan wandte sich dem See zu und machte die ersten Paddelschläge. Dann setzte er das Steuer und paddelte weiter, genoss das Geräusch der klatschenden Wellen am Bootskörper, während er ins Freiwasser hinausglitt.

3

Fels

Da die Fähre bereits voll und bereit zum Ablegen war, rannte Shelby zwischen den beiden Autoschlangen durch, die auf die nächste Fähre warteten, und stürmte über die Rampe auf das Schiff. Wie sie sich gedacht hatte, wartete Nicole »Nic« Simone bereits auf sie.

»Bist heute aber spät dran«, bemerkte Nic, als Shelby atemlos auf sie zukam.

»Ich weiß! Ich wurde abgelenkt«, erklärte Shelby, atmete tief durch und lehnte den Rucksack gegen ihre Schienbeine. Sie warf einen Blick auf den Kai, aber Benjamin und sein Vater waren bereits fort.

»Was du nicht sagst«, murmelte Nic ironisch. Sie folgte Shelbys Blick. »Suchst du jemanden?«

»Hm? Oh, ich habe gerade Benjamin gesehen. Mit seinem Dad.«

»Ich auch. Sonst noch wen?«

»Nein.« Shelby betrachtete einen der Matrosen, der die Hecktaue löste.

»Tatsächlich?« Nic fuhr sich mit der Hand durch ihr wasserstoffblondes streichholzkurzes Haar. Was ihr an Wuchs fehlte, machte sie durch östrogenbefeuertes Draufgängertum wett. Nic konnte den schäbigsten Kerl mit ein paar wohlgesetzten Worten zum Schweigen bringen. Während die meisten Leute versuchten, nicht mit Nic in Raufhändel zu geraten, hatte Shelby, seit sie einander in der achten Klasse begegnet waren, etwas Besonderes in ihr gesehen. Shelby hatte Nics raue Fassade durchbrochen und Eindruck auf die sanfteren Seiten ihrer Persönlichkeit gemacht. Ein Umstand, der niemanden mehr erstaunt hatte als Nic. Im Gegenzug schenkte Nic Shelby in den unwahrscheinlichsten Momenten einen Schuss Spontaneität.

Shelby zuckte die Achseln. »Komm schon, wir legen ab.« Sie entfernte sich ein paar Schritte von der Rampe. Nic folgte ihr.

»Dann weißt du vermutlich nichts von dem großen Kerl, der dir die ganze Zeit nachgeglotzt hat?« Nic machte mit fragender Miene eine Kopfbewegung in Richtung West Bay Outfitters.

»Wer?« Shelby schaute den Matrosen zu, die sich an der Hydraulik zu schaffen machten, um die Heckrampe hochzufahren.

»Ernsthaft?«, fragte Nic ungeduldig, dann rüttelte sie Shelby an der Schulter, damit die Freundin sie ansah. »Mein Gott, du hast wirklich keine Ahnung, von wem ich rede!«

»Meinst du die Typen in Johns Laden?«

»Sag du’s mir.«

Shelby befreite ihre Schulter aus Nics Griff und machte einer vierköpfigen Familie Platz, die aus ihrem Wagen steigen wollte. »Als ich gerade gehen wollte, kamen ein paar Touristen in den Laden. Bin regelrecht mit denen zusammengestoßen.« Sie zeigte auf einen Matrosen, der anscheinend Schwierigkeiten mit dem Lösen des letzten Taus hatte. »Vielleicht solltest du ihm mal helfen.«

»Ach was, der wird schon damit fertig.« Da Nic seit der Highschool-Zeit auf den Fähren der Madeline Island Ferry Line arbeitete, kam sie mit den Handgriffen an Bord besser klar als manche Männer, die dreimal so viel wogen. »Ich hab dich gern, Shel, aber manchmal bist du echt schwer von Begriff. Ein kleiner Flirt ist doch okay. Ein wenig Aufmerksamkeit zu bekommen. Teufel auch, diese Aufmerksamkeit wenigstens zu bemerken wäre schon ein Schritt in die richtige Richtung gewesen.« Sie formte mit den Händen eine Flüstertüte und rief allen in Hörweite zu: »Hey, wer von euch ist auch der Meinung, dass meine Freundin toll aussieht?« Shelby wand sich verlegen, als ein paar »Ho-hos« und Pfiffe aus den offenen Fenstern eines rostigen Lasters drangen. Erbärmlich.

»Ich weiß nicht, was du da gesehen haben willst. Ehrlich. Da war nichts.« Der Mann im West Bay Outfitters war ein Tourist gewesen. Ein Mensch auf der Durchreise. Das Letzte, was sie in ihrem Leben gebrauchen konnte. Shelby hatte das schon zu oft erlebt: Besucher, die einen Kurzurlaub oder auch ausgedehnte Sommerferien in der Stadt verlebten und sich eine Sommerromanze leisteten, deren Feuer spätestens im Herbst verloschen war. Oder, wie im Falle ihrer Mutter Jackie, ein kurzes Abenteuer, das in eine Schwangerschaft mündete. Während ihre Mutter sich wenige Wochen nach Beginn ihres Studiums an einer Universität in Kalifornien die Zukunft verbaute, wuchs Shelby in ihr heran. Vom Augenblick ihrer Geburt an – obwohl sie keinerlei Schuld daran traf, dass das Schicksal ihrer Mutter besiegelt war – hatte Jackie nur höchst widerwillig Mutter gespielt und Shelby hauptsächlich als Mahnung an einen schlimmen Fehler betrachtet.

Einem Touristen schöne Augen machen? Bei diesem Spiel würde Shelby nicht mitmachen. Sollte Nic richtig liegen, dann hatte sich der Mann den falschen Ort dafür ausgesucht.

Der Motor der Fähre startete, und Wasser wirbelte unter dem Schiffskörper auf. Shelby spürte die Vibrationen unter ihren Füßen. Unter lautem Rasseln hievten massive Metallketten das Hubtor hoch. Der Matrose, erkennbar an seinen weiten Khakihosen und dem blauen Hemd der Madeline Island Ferry Line, kam, um das Tor zu verriegeln. »Morgen, Nic!«, rief er ihnen zu.

»Hey, Derrick! Den ganzen Tag Dienst?«

»Yep. Heute die Island Queen. Morgen die Nichevo. Und du?« Er gesellte sich zu ihnen. Die Fähre nahm Fahrt auf.

»Ich hab ein paar Tage frei«, erwiderte Nic. »Kennst du Shelby noch?«

Derrick wischte sich die Hände an der Hose ab, doch dann verschränkte er sie, als wisse er nicht, wohin mit ihnen, unbeholfen vor der Brust. »Ja, klar – hey, Shelby!«

»Hey.« Shelby erwiderte sein Lächeln, wobei ihr ein Ketchup-Fleck auf dem Kragen seines Hemdes auffiel.

Derrick wandte sich wieder Nic zu. Er wiegte sich auf den Schuhsohlen vor und zurück, während die Fähre aus dem Hafen glitt. »Wann nimmst du endlich mal meine Einladung auf ein Bier an?«

»Hör mal, Romeo, du weißt ganz gut, dass das so bald nicht passieren wird.«

»Immer noch mit Hank zusammen?«

»Immer noch«, bestätigte Nic.

Derrick wandte sich mit jungenhaftem Grinsen an Shelby. »Und, Shelby, wie sieht’s bei dir aus? Gehen wir demnächst mal ein Bier trinken?«

»Mit der wirst du’s auch schwer haben. Sie geht so gut wie nie aus«, neckte Nic.

Auch wenn Nic recht hatte, versetzte es Shelby doch einen Stich. »Achte gar nicht auf die, Derrick, du bist ohne sie besser dran«, versetzte sie. »Nett, dich mal wiederzusehen.«

»Dich auch.« Er ging, um die Fahrkarten einzusammeln.

»Wir sehn uns später!«, rief Nic ihm nach. Derrick hob winkend die Hand über den Kopf, dann beugte er sich zum Beifahrerfenster einer silbernen Limousine herab.

Shelby wandte sich dem See zu. Während ihr Blick auf den weißen Schaumkronen hinter der Fähre ruhte, glitten ihre Gedanken zu der Begegnung mit Benjamin zurück. Er kniff die Augen immer so niedlich zusammen, wenn er lächelte, und krauste die kleine, von Sommersprossen gesprenkelte Stupsnase. Und seine blonden Haare waren so fein und flaumig wie Löwenzahnsamen. Die Ähnlichkeit mit seinem Onkel Jeff war unverkennbar – und eine bittersüße Erinnerung an den Verlust, den sie und seine Familie erlitten hatten.

»Kommst du?« Nic bedeutete Shelby, ihr zu folgen. Sie schlängelten sich zwischen den geparkten Autos durch und erklommen eine enge, steile Eisentreppe, die auf eines der Außendecks führte. Jede Stufe gab ein metallisches Scheppern von sich.

Shelby fand Platz auf einer der roten Bänke im hinteren Teil des Decks, während Nic kurz im Steuerhaus vorbeischaute, um dem Kapitän Hallo zu sagen, was sie auf jeder Überfahrt tat. Shelby hatte nichts dagegen. Sie richtete sich auf zwanzig Minuten ruhige Überfahrt nach La Pointe ein.

Sie genoss die warme Sonne auf ihrem Gesicht, die von einer leichten Seebrise ein wenig gemildert wurde. In einiger Entfernung, parallel zum Kurs der Fähre, wurde eine Regatta gesegelt. Es war ein friedliches Bild, aber Shelby wusste aus Erfahrung, wie aufgeheizt die Atmosphäre an Bord werden konnte. Da wurden Kommandos gebrüllt, das Großsegel zu setzen oder die Fock zu spannen, während die Wellen gegen den Bug schlugen und der Wind die flatternden Segel klatschen ließ.

Doch von Shelbys Aussichtspunkt wirkte die Regatta so friedlich wie ein Aquarell, das zufällig in Bewegung geraten war. Die Boote flitzten wie kühne Farbtupfer über die blaue Leinwand des Wassers. Ein leichter Nebel über der Wasseroberfläche schwächte die Konturen der Küstenlinie ab. Shelby verlor sich in dem Anblick. Wie immer befreite sie der See von ihren Sorgen über die Apfelplantage, und ob ihre Großeltern mit zunehmendem Alter noch fähig sein würden, sie zu bewirtschaften. Sie vergaß den unterschwelligen Zorn über ihre Mutter. Die Trauer um Jeff. Und vor allem vergaß sie die Sorge um ihren inneren Kompass, der seine Richtung verloren hatte. Die Nadel zitterte zwischen der Entscheidung, aus Gründen der Familienloyalität in Bayfield zu bleiben oder sich auf eigene Füße zu stellen.

Während die Regatta ihren Fortgang nahm, stellte Shelby sich vor, mit den Segeln, dem Wind und der Gischt davonzugleiten und nicht mehr zurückzuschauen.

Kaum war die Island Queen am Fähranleger von La Pointe vertäut, als Nic Shelby an der Hand packte und auf die Beine zog. »Oh ja, es ist Wochenende, Baby!«, jubelte sie, und ihre gute Laune wirkte ansteckend.

Als Shelby die Eisentreppe hinunterging, schaute sie auf und sah Nics Freund Hank Palmer, der am Ende des Kais in seinem Wagen auf sie wartete. Hank war ein stämmiger Mann, der stets eine schwarze Strickmütze auf einem Gewirr schwarzer, widerborstiger Haare trug. Er sah aus wie ein Küstenfischer, aber statt auf einem soliden Schiff unterwegs zu sein, fuhr Hank einen gelben VW-Käfer, den seine massige Gestalt zu sprengen schien.

Die beiden Freundinnen verließen die Fähre und gingen zwischen Fußgängern, Radfahrern und Autos den Kai entlang. Alles strebte auf das skurrile Inselstädtchen zu. Auch wenn Shelby ihr ganzes Leben in dieser Gegend verbracht hatte, staunte sie immer noch, wie die Zeit auf Madeline Island zum Stillstand zu kommen schien. Hier flossen die Tage so leicht dahin wie ein träger Nachmittag am Strand.

»Hey, Babe!«, rief Hank durch das offene Wagenfenster. Während die beiden Frauen ihre Taschen im Kofferraum verstauten, blieb Hank im Wagen sitzen und trommelte auf seinem Lenkrad wie auf einer Snaredrum. Shelby wurde wieder einmal daran erinnert, dass Ritterlichkeit nicht zu seinen Vorzügen zählte. Sie zwängte sich auf den Rücksitz, während Hank Nic zu einem zärtlichen Kuss an sich zog. »Ich hab dich vermisst«, sagte er und knabberte an ihrem Ohr.

»Danke, dass du uns abholst«, sagte Shelby, legte den Kopf zurück und schaute aus dem Fenster.

»Kein Problem. Bin froh, dass ihr endlich da seid. Ich weiß nicht, wie lange ich’s noch mit den Gordons ausgehalten hätte. War ein heftiger Abend.« Hank lenkte mit einer Hand und streckte die andere aus dem Fenster. Der Fahrtwind strömte über seine breite Handfläche und peitschte Shelby die Haare ins Gesicht.

»Es war bestimmt total anstrengend«, sagte Nic todernst.

»Ich sag’s dir, Nic! Die haben Rippchen auf den Grill geschmissen, ein paar kalte Bier aufgemacht …«

»Nur ein paar?« Nic beäugte den Hünen an ihrer Seite.

Shelby genoss das Geplänkel der beiden. Sie bildeten ein ungleiches Paar, das letztlich hervorragend zueinander passte, ungefähr so wie ein Bär und ein Stock voller angriffslustiger, surrender Bienen.

»Was habt ihr denn sonst noch gemacht? Ich meine, was war denn so anstrengend?«, fragte Nic.

»Ich musste den ganzen Abend lang am Kamin sitzen und Scrabble spielen.« Die Vorstellung brachte alle drei zum Lachen, während der gelbe Käfer über die Big Bay Road schoss.

Die Mahlzeiten im Haus von Abby und Luke Gordon waren stets denkwürdig, und das Frühstück am nächsten Morgen bildete von dieser Regel keine Ausnahme. Es gab Spiegeleier, Bratkartoffeln mit Chili, Blaubeermuffins und dunkel gerösteten Kaffee. Obwohl noch nicht lange verheiratet, ergänzten sich die beiden Gordons in der Küche, als würden sie schon seit Jahren Gäste bewirten. Sie schienen alles in vollkommener Übereinstimmung zu tun, ob sie nun in ihrer Junggesellenküche kochten oder im Studio hinter ihrem bescheidenen Cottage töpferten und ihre Erzeugnisse brannten. Selbst im Aussehen ähnelten sie sich: karamellbraunes Haar, von der Sonne blond gesträhnt, Birkenstocksandalen im Sommer und Sorelstiefel im Winter, blaue Augen, eckiges Kinn und lange Beine. Und vor allem konnten die Gordons so ansteckend lachen, dass selbst der größte Griesgram aufgeheitert wurde.

»Wer will einen Spaziergang machen?«, fragte Abby, nachdem alle mit Frühstück fertig waren. Ihr Holzstuhl kratzte über die Dielen, als sie ihn zurückschob. »Ich weiß ja nicht, wie’s euch geht, aber wenn ich nach einem ordentlichen Frühstück nicht vor die Tür komme, liege ich spätestens mittags flach.«

»Klingt gut.« Hank gähnte und rieb sich das verwaschene Rolling-Stones-T-Shirt, das sich über seinem Bauch spannte.

»Du willst dich freiwillig bewegen?«, fragte Nic überrascht.

»Was? Aber nein!« Er fuhr mit dem Finger über seinen Tellerrand und lutschte ihn genüsslich ab. »Ich rede von dem Mittagsnickerchen.«

»Wohin soll’s denn gehen?«, rief Luke vom Spülbecken, wo er warmes Wasser einlaufen ließ. »Was schwebt dir als Ziel vor?«

»State Park?«, schlug Abby vor, während sie ihre Schuhe aus dem Wandschrank in der Diele holte.

»Ich weiß schon, worauf du hinauswillst, Abby«, sagte Nic verständnisinnig. »Ich kenne deine ›Spaziergänge‹. Ich komme mit, aber ich werde ganz bestimmt nicht bis zum State Park joggen, ein Stück wandern und dann den ganzen Weg wieder zurückjoggen.«

»Keine Sorge. So weit geht mein Ehrgeiz heute nicht«, beschwichtigte Abby. »Ich hab eher ans Auto gedacht.«

»Hey, ich weiß noch was Besseres: Wir nehmen die Mopeds!« Nic sprang voller Begeisterung auf. Doch ihr Enthusiasmus ebbte ebenso plötzlich wieder ab, wie er gekommen war, und sie warf Abby einen zweifelnden Blick zu. »Ich meine natürlich, wenn das in Ordnung ist. Ich will ja nicht so tun, als ob ich …«

»Aber du bist doch eine Super-Fahrerin, Nic!«, neckte Abby sie, und alle mussten lachen. Sie legte Nic den Arm um die Schultern. »Klar können wir die Mopeds nehmen. Tolle Idee!«

»Super! Also, wer von euch will mit mir fahren?«, fragte Nic begeistert. Abby schüttelte den Kopf. »Shel?«

Shelby wusste es besser. »Ich würde lieber heil und in einem Stück ankommen. Abby, ich fahre bei dir mit.«

»Feigling«, brummte Nic.

Bevor sie das Haus verließen, ging Abby noch einmal in die Küche. »Eure letzte Chance – seid ihr sicher, dass ihr nicht mitkommen wollt?«

»Fahrt ihr nur. Hank und ich räumen auf und fahren dann zum Boot runter«, erwiderte Luke, der eine Pfanne im Spülbecken schrubbte. Er beugte sich zur Seite und küsste seine Frau, ohne sie nass zu machen.

»Und gucken heute Nachmittag das Spiel«, fügte Hank hinzu. Er saß immer noch gemütlich am Tisch und schlürfte seinen kalt gewordenen Kaffee.

»Na, was für eine Überraschung!« Nic wischte ihm ein paar Brotkrümel aus dem Bart. »Jetzt komm schon, du Faulpelz, steh auf und mach dich nützlich. Du kannst doch nicht erwarten, dass Luke die ganze Arbeit allein macht.«

»Und, später ein Nickerchen?« Er zwinkerte und tätschelte ihren Hintern. »Nur du und ich?«

»Träum weiter, Lover Boy.« Nic zog Hank am Arm, um ihn zum Aufstehen zu bewegen. Er überraschte sie mit einem unerwarteten Sprung, riss sie in seine Arme, begrub sein Gesicht an ihrem Hals und freute sich über ihren erschrockenen Ausruf.

Im Madeline Island State Park stellten Abby, Nic und Shelby die Mopeds am Ausgangspunkt eines Wanderwegs ab. Obwohl es schon auf Mittag zuging, standen nur wenige Wagen am Parkeingang, und sie konnten sicher sein, dass sie bei ihrer Wanderung relativ ungestört sein würden. Der Weg führte durch ein heiteres Wäldchen mit Rotkiefern und Weymouthkiefern, Espen und Ahorn. Er war gut instand gehalten und leicht zu begehen, abgesehen von einigem Geröll und umgestürzten Stämmen, die zum Zerfall liegen gelassen und mit grünen Flechten bedeckt waren. Durch das dichte Laub fielen Sonnenstrahlen und warfen Lichtflecken auf die kleinsten Pflanzen, die auf dem Waldboden einen Teppich bildeten: Büschel von Moosfarnen, blaublättrige Wildblumen und das Orangerot scheuer Pilze.

Im Weitergehen kam eine kühle Brise vom See her auf und verstärkte den Duft des Waldes. Shelby hörte das rhythmische Branden der Wellen an den gewaltigen Küstenfelsen. Sie klangen wie ein schlafender Riese, der in mächtigen Atemzügen Wasser einsog und wieder ausströmen ließ. Vor ihnen, am Waldrand, erwartete sie Lake Superior.