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April 1989. Ein historischer Tag. Am kantonalen Abstimmungssonntag treffen sich in Appenzell Ausserrhoden die Männer zur Landsgemeinde. Die ganze Schweiz fragt sich: Werden die traditionsbewussten Appenzeller es richten, oder bleibt es dabei, dass achtzehn Jahre nach Einführung des nationalen Frauenstimmrechts die Frauen hier keine politische Stimme haben? Auf dem Dorfplatz in Hundwil verfolgt die achtzehnjährige Karin Bendel das Spektakel. Eine engagierte junge Frau, die etwas bewegen, sich gegen ihren konservativen Vater behaupten, in die Politik gehen und es den Männern zeigen will! Dreißig Jahre später findet ein Wanderer die Leiche der achtundvierzigjährigen Karin im Wald. Jock Kobel, Teamleiter der Fachgruppe Gewaltkriminalität der Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden in Herisau, soll die Ermittlungen übernehmen. Doch er ist befangen: Vor ein paar Monaten in die alte Heimat zurückgekehrt, hat er sich auf eine Affäre mit der verheirateten Karin eingelassen. Auf eigene Faust will er herausfinden, was ihr zugestoßen ist.
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Seitenzahl: 263
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Christian Johannes Käser
Jock Kobel und die Schatten der Landsgemeinde
Kriminalroman
Atlantis
Für meine Eltern Annemarie und Hansruedi Käser-Heierli
»Deiner Gegenwart Gefühl
sei mein Engel, der mich leite,
dass mein schwacher Fuß nicht gleite,
nicht sich irre von dem Ziel.«
Letzte Strophe des Landsgemeindelieds nach dem Text von Carolina Christiana Louisa Rudolphi (1753–1811)
Hundwil 30.4.1989, Tag der Landsgemeinde
Karin Bendel zeigte den Appenzeller Hügelkuppen ihren ausgestreckten Mittelfinger. Sie sog die frische Luft dieses Aprilmorgens in sich hinein, während sie den Arm langsam wieder senkte. Auf den Hängen lag da und dort noch etwas Schnee, und der Himmel hatte sich in zurückhaltendes Grau gekleidet, wie eine alte Dame, die angesichts der Ereignisse, die da kommen sollten, nicht zu sehr auffallen wollte.
Karin befand sich auf einem etwa anderthalb Meter hohen hölzernen Podest, das auf dem Landsgemeindeplatz in Hundwil stand. Die Leute nannten es »den Stuhl«. Es war kein Stuhl im herkömmlichen Sinne, sondern der Ort, wo sich an jeder Landsgemeinde in Appenzell Ausserrhoden die Regierungsvertreter, der Landammann und der Landweibel vor dem Volk aufstellten. Das Volk, das waren im Appenzellerland die Männer, die sich heute hier im sogenannten Ring treffen sollten. Jeder mit einem kurzen Säbel, Dolch oder sogar einem Schwert in der Hand. Das waren die Insignien, welche die Männer als Stimmberechtigte kennzeichneten.
»Hey, geht’s noch?«, schallte es plötzlich von unten zu ihr herauf. Pädi Landshauser in einer blauen Uniform, die sich über seinem üppigen Bauch etwas spannte, stand vor ihr auf der Wiese, in der Hand einen schwarzen Instrumentenkoffer. Karin kannte ihn flüchtig von der Kantonsschule in Trogen, wo sie in einem Jahr ihre Maturaprüfungen ablegen würde.
Ruhig holte sie sich ein Haargummi aus der Hosentasche, griff in ihre langen blonden Haare und band sie zusammen. Sie schaute dabei mit klarem Blick zu Pädi hinunter.
»Ja, es geht. Danke.«
»Komm sofort da runter.«
»Hast du den Stuhl aufgebaut?«, fragte sie und schaute ihn dabei herausfordernd an.
»Es ist Landsgemeinde. Mach keinen Scheiß.«
»Was hast du da für eine Trompete drin?«
»Das ist eine Klarinette. Du kannst nicht einfach da oben stehen.«
Karin glitt mit einer eleganten Bewegung vom Holzpodest. Unten angekommen, strich sie sich das rot-weiß karierte Männerhemd zurecht, das sie in Herisau in einer Brockenstube gekauft hatte. Sie blickte ihm direkt in die Augen.
»Vielleicht werd ich ja mal gewählt?«
Pädis Gesichtsausdruck lag irgendwo zwischen Abscheu und Verwunderung.
»Dafür müsste heute erst mal das Frauenstimmrecht durchkommen. Das wird nicht passieren«, sagte er und drehte sich dann mit einem Kopfschütteln weg.
Wenige Minuten später betrat sie das Restaurant Kreuz. Es waren noch keine Gäste da. An den Fenstern zum Dorfplatz standen Stühle, und auf jedem der Tische wartete eine Menage mit Salz, Pfeffer, Aromat und Zahnstochern. Hinten an einem runden Tisch saß ihr Vater Albert Bendel und schaute mit einem Blick durch den Raum, der Karin an den Ausdruck eines Spitzensportlers vor einem wichtigen Wettkampf erinnerte. Über seinem Kopf hing ein hellbraunes Kruzifix. Sie blieb wenige Meter vor ihm stehen.
»Es gibt viel zu tun heute«, sagte er und nippte an einer Schale mit dampfendem Kaffee.
Karin trat näher an ihn heran. Auf dem Tisch lag ein Schwert mit einem goldenen Griff, das etwa die Länge von ihrem Unterarm hatte. Sie schob die erstaunlich schwere Waffe wie ein ekliges Lebensmittel an den Rand des Tisches. Die Erzählungen von Großvater Bendel, wie er damit einst die Schweizer Grenze im Zweiten Weltkrieg bewacht hatte, waren noch präsent. Karin nahm sich fest vor, etwas Nettes zu sagen.
»Wir sind also unwürdig, Papi?«, fragte sie stattdessen und setzte sich auf einen Stuhl.
»Wieso unwürdig?«
»Du hast gesagt, eine Landsgemeinde mit Frauen sei unwürdig.«
»Es ist nicht mehr das Gleiche.« Nervös bearbeitete er mit seinen klobigen Fingern ein Zuckersäckchen.
»Weil die Wiiber dann dabei wären?«
»Was meinst du denn? Könnten wir diesen Betrieb führen, wenn deine Mutter sich auch noch um Politik kümmern müsste?«
»Dann kümmerst du dich also um die Politik? Da bin ich aber dankbar.« Sie verdrehte die Augen.
»Hast du die Harasse gestern noch hochgebracht?«
»Ja, Chef, das hab ich. Ihr werdet heute viel saufen müssen, um euren Frust zu verarbeiten.«
Er senkte den Blick zum Boden und schien nachzudenken. Dann erhob er sich und ging zum Buffet. Überall lagen Schachteln, auf denen Zweifel-Chips stand.
»Und wenn wir’s ablehnen?«, fragte er.
»Dann könnt ihr den Laden heute selbst schmeißen.« Sie presste ihre Finger in die Holzleiste der Theke.
Ihr Vater beugte sich etwas nach vorn und schaute sie direkt an. »Du bist heute Abend hier in der Beiz und hilfst. Ist das klar?«
Karin griff in einen der Kartons, zog eine Packung Chips heraus, riss sie auf und begann nervös zu essen. »Und wenn nicht?«
»Dann kannst du hier nicht mehr wohnen. Wer nicht im Betrieb hilft, der geht.«
Er sagte das ohne Emotion in der Stimme. Trotzdem zuckte Karin zusammen, weil ihr in diesem Moment bewusst wurde, dass er es ernst meinte. Eine Mischung aus Wut und Verzweiflung kroch in ihr hoch. Sie merkte, wie sie zitterte, warf die Chipspackung auf die Theke, rannte aus dem Saal die Treppe runter und trat aus dem Restaurant ins Freie.
Die kühle Luft tat gut.
»Er ist ein alter, verbohrter Macho«, murmelte Karin vor sich hin. Wieso diskutierte sie noch mit ihm? Wieso konnte sie seinen konservativen Dickschädel nicht als eine Art Krankheit sehen? Eine Krankheit, die auch nicht dadurch geheilt werden konnte, das Frauenstimmrecht zuzulassen. Sie kam noch nicht weg von hier, erst brauchte sie die Matura. Und das bisschen Geld, das sie für ihre Stunden im Restaurant von den Eltern bekam, konnte sie auch ganz gut gebrauchen.
Auf dem Landsgemeindeplatz waren inzwischen einige Leute mehr beschäftigt. Die einen streuten Stroh auf die nasse Wiese, die anderen installierten Kameras fürs Schweizer Fernsehen, das die historische Entscheidung nicht verpassen wollte.
Wenn die Kameraleute ihre Linsen jetzt von Hundwil nach Herisau richteten, fingen sie bereits eine Kolonne von Leuten ein, die sich Richtung Landsgemeindeplatz bewegten. Väter, Mütter, Kinder, Großmütter und Großväter, sie alle waren sich bewusst, dass ein bedeutender Tag bevorstand. Die ganze Schweiz fragte sich: Werden es die dickköpfigen Appenzeller in Ausserrhoden richten, oder bleibt es dabei, dass achtzehn Jahre nach Einführung des nationalen Frauenstimmrechts die Frauen in Appenzell Ausserrhoden kein Recht auf eine politische Stimme haben?
Als Karin zu den Fenstern der Beiz hochblickte, an denen man heute für fünfundzwanzig Franken pro Stuhl sitzen durfte, trat ihr Vater in ihr Gesichtsfeld und legte den Arm um sie. Erst hatte sie den Impuls, ihn wegzustoßen, doch dann atmete sie diese Geruchsmischung aus Tabak, Holz und Bouillon ein. Sie konnte sich nicht dagegen wehren. Es weckte angenehme Erinnerungen an ihre Kindheit. An ein Zuhause.
»Hier, ich hab dir eine Ovi gemacht«, sagte er und streckte ihr mit der anderen Hand eine Tasse mit orangem Aufdruck hin.
Karin nahm sie etwas erstaunt entgegen und trank einen großen Schluck. Das süßliche Schokoladenmalzgetränk wärmte ihren Hals. Früher hatte sie immer dann eine Ovi bekommen, wenn sie aus Angst vor den Monsterfratzen an der Holzdecke nicht einschlafen konnte.
»Hueregopfertellisiech«, fluchte ihr Vater plötzlich, und Karin zuckte zusammen.
»Was ist denn jetzt los?«
»Ich habe mein Feuerzeug oben vergessen.«
»Und darum fluchst du so in der Gegend herum?« Sie lächelte versöhnlich, griff in ihre Hosentasche, zog eine Zündholzschachtel hervor und schüttelte sie wie ein Rhythmusinstrument. Dann grinste auch er, nahm seinen Arm von ihrer Schulter, kramte nach seiner Zigarrenschachtel und steckte sich eine Krumme in den Mund.
Im Süden hinter den Hügelketten und versteckt unter einem gräulichen Schleier thronte der Säntis wie ein alter König über dem Land der Appenzeller.
»An den Tag werden wir uns noch erinnern«, murmelte er zwischen zusammengekniffenen Lippen.
30 Jahre später
Als am Ufer der Urnäsch ein Wanderer die Leiche derachtundvierzigjährigen Karin Äschermann, geborene Bendel, entdeckte, saß Jock Kobel in einer Dachwohnung an der Gossauerstrasse in Herisau vor seinem Plattenspieler. In der Hand hielt er das Bild eines brennenden Zeppelins. Er entfernte die Plastikhülle und betrachtete diesen fragilen Flugkörper, der dabei war, in die Tiefe zu stürzen. Dann ließ er die Vinylplatte in seine rechte Hand gleiten, drehte sie elegant nach allen Seiten und sog ihren Geruch ein. Schließlich legte er die Nadel vorsichtig auf die Rillen. Zu einem schweren Gitarrenriff stimmte Robert Plant ein Klagelied über das Dasein als Mann an. Für Jock hatte Led Zeppelin immer perfekt zum Appenzellerland gepasst. Auch als er in Zürich gewohnt hatte, erinnerte ihn diese Kombination aus harmonischen Klängen und harten, direkten Rockriffs an die sanften Hügel, die zum Alpstein in klare Felsformationen übergingen.
Wenn er hier an der Gossauerstrasse aus dem Fenster schaute, sah er keine sanften Hügel und Felsen, sondern einen Betonbau aus den Achtzigern, der sich zwischen die Appenzeller Häuser gedrängt hatte. Es war nicht der einzige Schandfleck, den Herisau zu bieten hatte. Doch ein Blick auf die Kirchturmuhr der reformierten Kirche, die gleich dahinterlag, ließ ihn aufspringen. Er sollte längst im Präsidium sein. Mit einer schnellen Handbewegung stoppte er den Plattenspieler, griff nach der schwarzen Lederjacke, strich sich einige Strähnen seiner struppigen, leicht ergrauten Haare aus den Augen und stürzte aus der Wohnung.
Als er draußen auf das Kopfsteinpflaster trat, begrüßte ihn von der gegenüberliegenden Straßenseite mit einem Lächeln Santiago Rubio, der Besitzer des Musikladens Musica Viva. Er trug ein kurzärmliges Hemd mit leuchtend gelben Zitronen und hielt inne, seine Schaufensterscheibe weiterzuputzen, hinter der ein knallgelbes Schlagzeug stand, umrahmt von Gitarren in verschiedensten Formen und Farben.
»Du brauchst eine neue Gitarre, Comisario, gib’s zu?«, rief Santiago ihm zu.
»Sorry, Mann, aber ich hab keine Zeit, ich muss zum Präsidium.« Jock wechselte die Straßenseite. Er wollte nicht zu rüde wirken und schüttelte dem Musikladenbesitzer die Hand. »Du sollst mich nicht Comisario nennen. Jock, einfach Jock.«
»Du bist doch Comisario?«
»Den Kommissar, den gibt’s bei uns nicht. Ich wäre … ja, egal, ich bin halt einfach ein Polizist.«
Santiago nickte, so als ob er genau verstanden hätte.
»Was für eine Brett kann ich dir verkaufen?«
»Santi, ich brauch keine Gitarre.«
»Ihr habt doch bald eine Gig im Mötli, oder?«
»Du kommst vorbei?« Jock strahlte bei dem Gedanken an den Auftritt mit seiner Band. Die Proben mit den Jungs von The Heartpacemakers gehörten für ihn zu den Lichtblicken der Woche.
»Claro. Ich hasse diesen Heavy-Metal-Lärm. Pero, ich komme. Und? Kommt sie auch?« Santiago lächelte verschwörerisch.
»Hör mir auf. Ich hätte dir das nicht erzählen sollen. Das ist nicht wirklich was Ernstes«, wand sich Jock. »Sie ist verheiratet.«
»Und warum sehe ich dann da dieses Schmunzeln im Gesicht?«, fragte Santiago, während er leicht mit dem Kopf hin- und herwippte.
Jock dachte an den Zettel, den sie ihm geschrieben hatte. Schlaf gut, mein Schöner – Flickflauder-Kuss. War er bereit für eine Beziehung? Und dann auch noch mit einer verheirateten Frau? Er war sechsundvierzig Jahre alt, hatte aber bis jetzt noch nie eine Beziehung geführt, die länger als ein paar Monate gedauert hatte. Sein Vater hatte kein gutes Vorbild abgegeben, weder die Beziehung zu Jock noch zu Jocks Mutter war für ihn besonders wichtig gewesen. Er hatte ihm die Liebe zur Musik mitgegeben, die Liebe zum Rock ’n’ Roll, wie es sein Vater immer genannt hatte. Rock ’n’ Roll war bei ihm alles, was sich echt anfühlte, alles, was Seele hatte. Soul. So hatte er ihm den Namen Joe gegeben, zu Ehren von Joe Cocker, der beim Singen mit dem Song zu verschmelzen schien. Das Verschmelzen mit dem Song hatte Jock auch bei seinem Vater gesehen, wenn er ihn als Kind mit dem schwarz lackierten Elektro-Bass auf der Bühne beobachtete. Es war eine Form der Präsenz, die er im Alltag mit dem Sohn nie hingekriegt hatte. Lag es an seinem Charakter, dem routinierten Konsum von Cannabis oder daran, dass er als Musiker ständig auf Tour war? Jock konnte es bis heute nicht sagen, aber irgendwann wurde es der Mutter zu viel. Als sich die Eltern trennten, nannte seine Mutter ihn nur noch Jock. Für sie klang es wieder etwas mehr nach ihrer alten Heimat, dem Appenzellerland.
Er gab Santiago einen freundschaftlichen Klaps auf die Schulter und zeigte auf sein Handy. Drei Anrufe in Abwesenheit von seiner Kollegin Silvana di Novi. Jock drückte auf Rückruf.
»Wo steckst du?«, fragte Silvana mit schriller Stimme.
»Sorry, ich bin gleich auf dem Präsidium. Du kannst mir alles dort …«
»Komm sofort zum Rossfall. Wir haben eine Leiche.«
Zwanzig Minuten später parkte er seinen violetten Nissan neben dem Restaurant Rossfall. Die Läden waren geschlossen, die Gartenbeiz mit den angeketteten Metalltischen lag verlassen da. Die grüne Rutschbahn hinter dem Haus wartete vergebens auf lachende Kinder. Jock blickte hoch zum Säntis, der zwischen den Wolkenfetzen seine felsigen Flanken zeigte. Die Schwere eines abrupten Todes lag in der Luft. Hinter dem Gebäude führte ein schmaler Pfad durch den Wald, und keine hundert Meter weiter sah er das Absperrband der Kantonspolizei. Daneben stand ein Beamter, den Jock auf Mitte zwanzig schätzte und der aufgeregt an seiner Uniform herumnestelte.
Jock zeigte ihm seinen Ausweis, was angesichts seines Iron-Maiden-T-Shirts und der ausgetretenen blauen Turnschuhe von Adidas auch nötig war. Dann schaute er vom Weg den Abhang hinunter. Zwischen den Bäumen konnte er eine Gruppe erkennen, die auf dem Kies am Ufer des Flusses stand. Und ein weißes Tuch, das einen menschlichen Körper verdeckte.
Als er den jungen Beamten nach dem einfachsten Weg zum Fluss fragen wollte, hörte er hinter sich Silvana Di Novis Stimme.
»Du solltest dir angewöhnen, ans Telefon zu gehen, wenn man dich anruft.«
Jock drehte sich um und blickte in die dunklen Augen seiner Kollegin, die sie immer leicht zusammenkniff, wenn sie redete. Sie war recht klein und hatte einen kräftigen Körper.
»Ich hab volles Vertrauen in dich. Was ist denn passiert?«, fragte Jock.
Silvana trippelte nervös mit beiden Beinen auf dem Waldboden herum, so als ob sie sich für einen Langstreckenlauf aufwärmen wollte.
»Ein Wanderer hat eine Frau tot aufgefunden. Sie ist hier in die Tiefe gestürzt, und es deutet alles darauf hin, dass sie nicht versehentlich runtergefallen ist.«
»Sie wurde gestoßen?«
»Die Wunden am Kopf deuten darauf hin, dass sie mit einem harten Gegenstand erschlagen wurde und dann hinunterstürzte. Vermutlich gestern Abend. Komm.« Silvana deutete auf eine etwa zwanzig Meter weiter rechts liegende Stelle, wo der Abhang weniger steil war und man sich an Wurzeln festhalten konnte, und schloss ihre schlichte Funktionsjacke bis unters Kinn.
Vorsichtig kletterten die beiden zum Fluss hinunter. Jock fröstelte. Der Wind trieb die Wolken etwas weg, und einzelne Sonnenstrahlen drangen durch die Baumwipfel. Durch den Wald hörte er die Geräusche der Motorräder, die auf der Schwägalpstrasse gegen die Schwerkraft ankämpften.
Als sie unten auf dem Kies ankamen, schaute Jock hoch zum Weg. Der Abhang war hier steil und felsig. Er grüßte kurz die Leute von der Spurensicherung, die aber beschäftigt waren, dann wandte sich Jock an Silvana.
»Wisst ihr schon, wer das Opfer ist?«
»Karin Äschermann, geborene Bendel, das ist die Tochter vom Restaurant-Kreuz-Wirt aus Hundwil …«
Jock schaffte es nicht mehr zuzuhören. Sein Blick suchte den weißen Stoff, der den Körper des Opfers bedeckte, wobei er sich ohne Grund auf eine Amsel konzentrierte, die daneben Krümel vom Boden aufpickte. Dann starrte er auf den Arm, der auf der Seite herauslugte. Er war leicht verdreht. Jock wartete darauf, dass sich dieser Arm bewegte, dass der Mensch, der dort unter dem Tuch lag, aufstehen und alles als einen billigen Scherz abtun würde. Er merkte, wie ihn die Übelkeit erfasste.
Bendel, Äschermann. Beide Namen lösten in ihm etwas aus. Da war Karin Bendel, die Tochter des Kreuz-Wirtes, die zur jungen Frau wurde, in dem Jahr, als Jock mit seiner Mutter die Wohnung in Hundwil geräumt hatte und nach Zürich gezogen war; und dann war da Karin Äschermann, die verheiratete Frau, die ihm in Herisau wiederbegegnet war.
Der Fluss gurgelte und rauschte gleichmäßig. Die Vögel schienen sich über die wärmeren Temperaturen zu freuen und zwitscherten vielstimmig in den Zweigen. Für die Natur war nichts Außergewöhnliches geschehen.
»Jock, hörst du mir überhaupt zu?« Silvana schien zu schreien.
»Ja, klar. Ich muss vermutlich einfach schnell …«
Weiter kam er nicht, denn er hatte gerade noch Zeit, eine Hand an den nächsten Baum zu pressen, dann übergab er sich auf die Kieselsteine, die den Fluss säumten. In seinem Kopf drehte sich alles, und er wollte nur weg von hier.
»Wir sehen uns nachher im Präsidium«, stammelte er. »Es war gut, ich konnte mir einen Eindruck verschaffen, ich muss jetzt erst mal nachdenken.«
Silvana schaute ihn misstrauisch an. Jock lächelte, als ob er es auf der Schauspielschule gelernt hätte, und grüßte von Weitem Pierina Otènger, die Gerichtsmedizinerin, die sich bald mit dem Körper von Karin beschäftigen musste. Dem gleichen Körper, den er vor wenigen Tagen mit brennender Leidenschaft erforscht hatte. Was war übrig von ihr? Wie gut hatte er sie überhaupt gekannt?
»Einen Eindruck verschaffen?«, rief ihm Silvana hinterher, als er bereits dabei war, den Abhang hochzukriechen.
»Hast du gestern gesoffen? Hast du einen Kater? Hey …!«
Wie ein Roboter, der ein Programm abspult, rannte er bis zum Rossfall und startete seinen Wagen. Auf der Fahrt nach Herisau versuchte er einzuordnen, was geschehen war.
Seit er vor einem Jahr hier in Herisau angefangen hatte, war noch kein einziges Tötungsdelikt vorgefallen. Er war froh, dass es hier so ruhig war. In Zürich war es anders. Er dachte an damals, den engen Gang, die Angst, den Schwindel.
Die gleichen körperlichen Symptome waren wieder da. Er war allein und er zitterte. Jemand hatte getötet.
Es war nicht der Tod irgendeiner Frau, es war seine, wie sollte er sie nennen, Affäre. Ja, das war korrekt. Anders hatten sie ihr Verhältnis nie bezeichnet. »Mit Mitte vierzig bin ich entspannt und nehme die Dinge, wie sie kommen«, hatte er ihr immer wieder gesagt. Auch sie hatte über diese Begegnungen im Moment nicht weiter nachdenken wollen. Zumindest vorläufig. Sie hatte Kinder. Sie war verheiratet. Die Sache war klar. Und jetzt war sie tot.
Kurz nach dem Dorfplatz Urnäsch merkte er, wie seineHände immer unruhiger wurden. Der Fahrer eines entgegenkommenden Autos hupte, er hatte offenbar Angst, dass Jock mit seinem Geschlenker einen Zusammenstoß provozieren könnte. Er fuhr rechts ran. Urnäscher Käse stand in grüner Schrift auf dem Gebäude vor ihm. Jock öffnete die Wagentür und stieg aus. Er ging ein paar Schritte. Die frische Luft fühlte sich angenehm an. Es roch nach Milchprodukten, was seinen Magen erstaunlicherweise nicht weiter störte.
»Ich gehe nach Zürich«, sagte er laut zu sich, während er ein paar Kieselsteine mit seinen Füßen traktierte. »Ich gehe nach Zürich.« Schon als er die Worte zum zweiten Mal artikulierte, merkte er, dass diese Idee seltsam abstrakt war. Was sollte er in Zürich machen? Er hatte kaum noch Freunde dort. Aber was hielt ihn noch hier? Ermitteln konnte er ja nicht.
Als er wieder beim Wagen war, schlug er mit beiden flachen Händen auf das Autodach. Der Schmerz in den Handballen tat gut. Sie war tot, sie war tot, sie war verdammt noch mal nicht mehr hier. Plötzlich wurde der Gedanke, diesem Abgrund durch eine Flucht nach Zürich zu entfliehen, von einer Frage verdrängt, als ob Jock ein Bild auf dem Smartphone weitergewischt hätte: Wie konnte das passieren? Wer hatte das getan? Warum, warum, warum?
»Ich werde es herausfinden«, sagte er wieder laut zu sich. Hinter ihm ging eine Familie zu ihrem Wagen. Die zwei Kinder rannten voraus und lachten, während der Vater sie mahnend darauf aufmerksam machte, dass hier Fahrzeuge jederzeit rückwärts losfahren könnten. Entschlossen stieg Jock ins Auto, startete es, und als die Familie vollzählig im Wageninneren verschwunden war, gab er Gas.
Er fuhr an der Herisauer Kuhn Champignon AG vorbei und erinnerte sich an eine Führung mit der Primarschule, an den fauligen Geruch, die Dunkelheit. Ein lautes »Bähhh« kam über seine Lippen. Und noch einmal. Da war sie. Die Entschlossenheit.
»Ich stelle den ganzen Kanton auf den Kopf, um herauszufinden, wer das gewesen ist.«
Die Mötley Crüe Bar in Herisau roch, wie eine Bar zu riechen hatte. Jock hatte sich manchmal gefragt, ob Rosy Diegel, die Besitzerin des kleinen Lokals, das alle nur liebevoll das »Mötli« nannten, den Boden am Morgen mit Bier bespritzte, damit er diesen Geruch nach Rock ’n’ Roll verströmte.
Als Jock das Mötli betrat, stand Rosy mit in die Hüften gestemmten Armen aufmerksam wie ein Cowgirl vor dem Duell hinter dem Tresen. Sie war für eine Frau außergewöhnlich groß. Die gebürtige Hamburgerin hatte ihre Haare zu zwei langen Zöpfen geflochten und sah dabei mit ihrem grinsenden Gesicht aus wie die etwas schlankere Version von Obelix. Rechts über ihrem Kopf stand auf einem herausragenden Regalbrett ein ausgestopfter Fuchs, der neben der Motörhead-Flagge mit breit aufgemaltem Totenkopf geradezu niedlich aussah.
Aus den Lautsprechern erklang Run to the Hills, ein in die Jahre gekommener Klassiker von Iron Maiden. Jock bestellte einen Schnaps und schwang sich auf einen Barhocker am äußersten Rand des Tresens.
»Du solltest im Dienst nicht trinken.« Rosy stellte ihm ein Sonnwendlig-Bier hin.
Jock schaute nur kurz auf. »Schnaps. Jetzt!«
»Okay. Ich habe verstanden.«
Keine zehn Sekunden später stand ein Kurzer neben dem Sonnwendlig, wie die Appenzeller hier ihr alkoholfreies Bier getauft hatten.
»Ich habe eine neue Geschirrspülmaschine«, versuchte es Rosy.
»Gratuliere.« Jock blickte in die gläsernen Augen des Fuchses, der zu lächeln schien. Hatte er sich in die Ewigkeit gelächelt, oder hatte der Tierpräparator ihn zum Lächeln gebracht?
»Du musst nicht mit mir reden, aber könntest du dich dann vielleicht irgendwo anders hinsetzen, damit ich hier in Ruhe mein Kreuzworträtsel lösen kann?«
»Es tut mir leid, Rosy, ich … es ist … ach, sorry, ich kann grad nicht wegen … vergiss es.«
»Du bist ein Arschloch, Jock, aber ich liebe dich trotzdem. Und wenn du mich in Ruhe lässt, dann gibt’s sogar Stairway to Heaven.«
Sie tippte auf ihrem iPad herum, und die Boxen spielten das Gitarrenintro, das für die Ewigkeit bestimmt war. So hatte es zumindest Karin beschrieben. Ein Gitarrenintro für die Ewigkeit. Wenn ich mal sterbe, darfst du den Friedhof mit diesem Song beschallen. Aber mit richtig guten Boxen! Er sah sie vor sich, wie sie ihr Haar leicht schüttelte, nur ganz leicht und nur für ihn. Er spürte einen Druck auf seiner Brust und im Bauch, eine Enge, die ihn wie eine eiserne Presse in den Barhocker drückte.
»Stopp!« Seine Faust hämmerte auf den Tresen, und er war selbst über die Lautstärke seines Schreis erschrocken.
Rosy machte die Musik aus und sah ihm in die Augen. »Wenn du nicht mit mir reden willst, Jock, dann ist das okay. Aber hier drin spiele immer noch ich die Mucke. Also verschwinde von hier und sauf dir deine Probleme zu Hause von der Leber. Kapische?!«
In diesem Moment schwang die Tür auf, und Silvana kam in die Bar. Das Mötli in dieser Stille zu erleben, war in etwa so, wie wenn im Petersdom Hells Bells gespielt würde. Sie schaute zu Rosy, die nur mit den Achseln zuckte und sich dann wieder zu ihrem Kreuzworträtsel hinunterbeugte. »Na, dann lass ich mal die Police Academy arbeiten. Heilige Scheiße.«
Silvana setzte sich zu Jock und atmete tief ein. »Kannst du mir bitte erklären, was hier läuft?«, fragte sie ruhig.
»Ich weiß nicht, wovon du redest.«
Sie schaute ihn nur an, und ihr Blick zeigte, dass sie heute in dieser Aufregung nicht bereit war, sich belügen zu lassen.
»Du musst mir etwas versprechen«, sagte Jock und kippte den Schnaps in einem Zug.
»Es geht jetzt nicht um dich.«
»Du hast mir ja noch gar nicht zugehört.«
»Ich bin extra ins Mötli gefahren, obwohl wir hier ein Tötungsdelikt mit Gewaltanwendung an der Backe haben, und dann fängst du an von wegen Versprechen und so. Kannst du mal wieder ein bisschen Musik machen?«, rief sie Rosy zu, die hinter der Bar am Boden eine Kiste ausräumte. »Von mir aus darf es auch Eros Ramazotti sein.«
»Vorher brenn ich diesen Laden nieder und ertränk mich im Bodensee«, antwortete Rosy mit versöhnlichem Lächeln.
»Jock, wir kennen uns noch nicht ewig, aber du bist nun mal nicht der Typ, der in den Wald kotzt, sobald er den Namen eines Opfers hört. Hast du Karin Äschermann gekannt?« Silvana trommelte mit beiden Zeigefingern auf das Leder des Hockers.
»Kann ich dir vertrauen?«, fragte Jock flüsternd.
Da waren nur die dunklen ausdrucksstarken Augen von Silvana, die ihn aufmerksam und ohne Vorwurf anschauten. »Ich brauch dich für diesen Fall. Ich bin gerade mal dreißig geworden. Deine Erfahrung mit Tötungsdelikten in Zürich ist jetzt wichtig. Was war da los am Rossfall?«
»Wir hatten eine Affäre.«
»Okay.«
»Ist das alles, was du dazu zu sagen hast?«, fragte Jock.
Silvana bearbeitete mit der Hand ihre Stirn. Es sah aus, als wollte sie einen klugen Gedanken rauskneten. »Ich nehme mal an, ihr Mann wusste nichts davon?«
»Korrekt.« Jock stellte das Schnapsglas kopfüber auf den Tisch und blickte hinein, als ob er darin die Antwort auf die Fragen finden könnte, die ihm durch den Kopf schwirrten.
»Und wie lange ging das schon?«
»Etwa drei Monate.«
Silvana atmete hörbar aus. »Hast du dich verliebt?«
»Was fragst du mich das? Es ist einfach krass, dass sie jetzt plötzlich tot sein soll.«
»Du gehst jetzt erst mal nach Hause und erholst dich. Wir müssen das der Staatsanwaltschaft mitteilen«, sagte Silvana und schloss ihr Trommelsolo auf dem Barhocker mit einem kleinen Wirbel.
Jock nahm das Schnapsglas in die Hand, knetete es in den Fingern. Dann blickte er entschlossen zu seiner Kollegin.
»Silvana, ich möchte diesen Fall übernehmen.«
»Das geht nicht, mein Lieber, du könntest befangener nicht sein. Der neue Staatsanwalt reißt mir den Kopf ab, wenn er erfährt, dass du eine Affäre mit dem Opfer hattest.«
»Nenn sie nicht Opfer.«
Während Jock seine Bierflasche anstarrte, beugte sich Silvana leicht in die Knie und stieß Luft aus ihren Backen. Er kannte Silvana seit einem halben Jahr. Er mochte ihre direkte und manchmal ein wenig hektische Art.
»Sollberger nimmt wohl kaum Rücksicht darauf, ob wir sie jetzt Opfer oder Karin nennen. Er wird dich vom Fall abziehen.«
»Beat Sollberger, der Sohn vom Tabakwirt?«, fragte Jock und schaute auf.
»Ja, wieso, kennst du ihn?«
»Wir haben ihn früher immer Back genannt, weil sein Vater Backwaren verkauft hat. Der war immer unfassbar ehrgeizig, ein Riesenstreber. Der ist jetzt Staatsanwalt?«, fragte Jock.
»Ist er«, sagte Silvana und nickte vielsagend. »War lange in Freiburg und ist jetzt wieder in Herisau. Er ist immer noch ehrgeizig, und sein nächstes Ziel soll die Leitung der Staatsanwaltschaft in St. Gallen sein.«
Jock streckte sein Glas über die Bar nach vorn, und Rosy füllte es grinsend mit billigem Ballantines auf.
»Dann muss ich mir wohl hier den Kummer wegsaufen, zu tun habe ich ja nichts mehr«, sagte Jock zu Silvana, die den Kopf nach hinten fallen und sich kurz mit Nirvanas Come As You Are treiben ließ. Dann schaute sie auf.
»Unter einer Bedingung.«
»Und die wäre?«, fragte Jock.
»Ich leite die Ermittlungen und …«
»Das geht doch nicht …«
»Jetzt warte doch. Offiziell bist du der Teamleiter. Das ist aber nur die Geschichte, die wir erzählen, damit du nicht auffliegst. Für uns ist es mein Fall, es gelten meine Regeln. Wenn du Scheiße baust, bist du raus, verstanden?« Silvana fixierte ihn. »Und noch was: Du verschweigst mir nichts, was du über Karin weißt, verstanden?«
»… and I swear that I don’t have a gun, don’t have a gun …«, sang Jock mit Nirvana, hob sein Schnapsglas und leerte es erneut in einem Zug.
Warum ist das Haus plötzlich so riesig?, dachte Jock, alssie den Wagen vor der Doppelgarage parkten und die Treppen, die von wucherndem Gestrüpp gesäumt waren, hinaufgingen. An der Haustür hing ein etwas vergilbtes geflochtenes Herz, auf dem Herzlich willkommen stand. Ein dünner, hochgewachsener Mann in einem blauen, ausgewaschenen T-Shirt öffnete.
»Herr Äschermann?«, fragte Silvana mit klarer Stimme.
Der Mann schaute die beiden feindselig an. »Ja, das bin ich, darf ich fragen, was Sie hier wollen?«
»Bitte, entschuldigen Sie die Störung, wir sind von der Kantonspolizei Appenzell Ausserrhoden. Dürfen wir reinkommen?«
Thomas Äschermann blickte an Silvana und Jock vorbei, als ob er nach weiteren Beamten Ausschau halten würde.
»Ja, klar. Kommen Sie rein.«
Als Erstes nahm Jock den Geruch nach leicht fauligen Pantoffeln wahr. Das war nicht weiter erstaunlich, lagen doch in diesem großen Vorraum etwa zwölf Paar Schuhe herum. Was ihn eher erstaunte, war die Tatsache, dass er dies bei seinem letzten Besuch gar nicht gemerkt hatte. Er erinnerte sich nur noch an den Geruch ihres Halses. Diesen Geruch nach frischen Blumen, diesen Geruch nach Leben.
Er stolperte Silvana und Äschermann hinterher, die sich wie zwei Geister die Treppe hochbewegten. Oben angekommen, öffnete sich ein großer Raum, der an einer Seite bis zum Dachstock offen war und von dicken braunen Holzbalken getragen wurde. Silvana und Äschermann setzten sich an einen massiven Holztisch. Jock kannte diese Zimmer, er wusste, wie man sich in ihnen bewegte. Er hatte hier ein Wochenende mit Karin verbracht, als der Ehemann und die Kinder bei Verwandten in Luzern waren. Ihn erfasste eine Panik, man könnte ihm anmerken, dass er sich auskannte, wusste, wo welche Gegenstände und Möbel standen. War das nicht am Blick zu erkennen? Oder zumindest an seinem kalten Schweiß, der ihm auf die Stirn trat? Vorsichtig setzte er sich dazu. Silvana schaute ihn streng an, versuchte ansonsten aber, sich nichts anmerken zu lassen.
Wie durch einen Nebel erfasste Jock den Dialog zwischen den beiden.
»… wurde am Rossfall tot aufgefunden … aufgrund der ersten Ermittlungen … dass Ihre Frau unter Einwirkung äußerer Gewalt …«
Sie hatte tatsächlich »unter Einwirkung äußerer Gewalt« gesagt, dachte Jock noch.
Ihm war unfassbar schlecht. Er versuchte, seine Stimme mit größter Anstrengung fest klingen zu lassen.
»Dürfte ich vielleicht Ihre Toilette benutzen?«
Äschermann schien ihn gar nicht zu beachten, so sehr war er von der Nachricht über den Tod seiner Frau geschockt. Schließlich brachte er ein leises »Ja, dahinten links« heraus.
Jock kannte den Weg. Langsam erhob er sich, versuchte seinen Gang zum Bad so normal wie nur möglich aussehen zu lassen. Es fühlte sich an, als ob sein Magen sich einmal um die eigene Achse drehen würde. Er konnte gerade noch die Tür schließen, dann erbrach er sich in einem Schwall in die Toilettenschüssel. Es hatte nicht ganz gereicht. Reste seines Müslis, das dank der Himbeeren eine rosa Farbe bekommen hatte, pappten jetzt auf dem cremefarbenen Boden. Jock atmete stoßweise und versuchte, sich zu konzentrieren. Er nahm ein Handtuch von der Stange, machte es nass und schrubbte wie wild den Boden. Verzweifelt wusch er es aus und drückte die Essensreste in den Abfluss. Sein Hals fühlte sich an, als ob er Schleifpapier verschluckt hätte. Dann nahm er einen Schluck Wasser und spuckte es zurück ins Waschbecken.
Neben der Wanne lag ein flauschiger Badteppich. Er legte sich darauf. Die feinen Pusteln drückten sich sanft in seinen Rücken. Hier wollte er bleiben. Bevor er sich diesem Gefühl ergab, stand er auf, schaute in den Spiegel und versuchte einen möglichst normalen Gesichtsausdruck aufzusetzen. Es gelang ihm nicht. Dann trat er wieder hinaus in den Gang.
Als er zurückkam, entschuldigte er sich kleinlaut und setzte sich dazu, einen säuerlichen Geschmack im Mund. Er versuchte, nach außen eine gewisse Gelassenheit auszustrahlen, und konzentrierte sich auf die Struktur des Holztisches. War der schon immer so rau gewesen? Als er das letzte Mal hier gesessen hatte, stand ein Rührei vor ihm, und dort, wo jetzt Silvana saß, hatte Karin gesessen und ihn in einem hellgrünen Kleid mit weißen Punkten etwas nachdenklich angeschaut. Wie konnte es sein, dass sie jetzt nicht mehr da war? Die Zeit mit ihr erschien ihm wie eine Serie, die ihn zwar emotional mitgenommen, von der er aber bereits wieder viele Details vergessen hatte.
Thomas Äschermann saß kreidebleich und trotzdem gefasst am Tisch und beantwortete die Fragen von Silvana, als müsste er eine mündliche Prüfung ablegen.
»… ich habe sie gestern um etwa