April. Mai. Tot. - Georg von Andechs - E-Book

April. Mai. Tot. E-Book

Georg von Andechs

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Beschreibung

Gibt es etwas, das auch einen Polizisten zum Mörder werden lassen kann? Auf der Hochzeitsreise mit Marion Paschen erinnert sich Klaus Heppner an den traumatischen Fall, in dessen Verlauf sie sich kennenlernten. Während die Mordkommission noch fieberhaft nach dem Täter einer brutalen Mordserie in Walsum fahndet, schlägt dieser erneut zu, und wieder wird ein totes Paar nackt in seinem Bett aufgefunden. Heppner erkennt entsetzt, dass sein Freund und Kollege Christian Paulsen unvermittelt zum Hauptverdächtigen wird, denn die Tote war seine Frau, die sich offenbar vor ihrem Tod mit ihrem Liebhaber vergnügt hatte. Paulsens Reaktion verstört Heppner noch mehr, und er beginnt sich zu fragen, ob sein Freund nicht doch etwas mit der Tat zu tun haben könnte ...

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Seitenzahl: 257

Veröffentlichungsjahr: 2018

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Georg von Andechs ist das Pseudonym des Kriminalbeamten Jörg Ziemer, der seit über fünfundzwanzig Jahren in seiner Heimatstadt Duisburg Verbrechern das Handwerk legt – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Seine dienstlichen Eindrücke und Erfahrungen verarbeitet er in seinen Büchern. Hauptsächlich bekannt ist er in Duisburg und Umgebung durch seine gesangliche Tätigkeit als Solotenor des Duisburger Polizeichores und des Vokalensembles »Restroom Singers«. Jörg Ziemer ist in zweiter Ehe verheiratet und Vater von vier Kindern.

Disclaimer:

Die handelnden Personen, ihre Namen, Handlungen, Aussagen und Einstellungen und geschilderten Ereignisse entspringen ausschließlich der Fantasie des Autors, könnten aber durch tatsächliche Personen und Ereignisse inspiriert worden sein.

Gewidmet den Menschen, die durch ihre Worte oder Handlungen zum Entstehen dieses Buches beigetragen haben.

Danke dafür.

Inhaltsverzeichnis

Prolog: Jetztzeit

Kapitel Eins: 26. April 2010, nachts

Kapitel Zwei: 26. April 2010, 10:00 Uhr

Kapitel Drei: 27. April 2010, 01:00 Uhr

Kapitel Vier: 29. April 2010, 01.00 Uhr

Kapitel Fünf: 30. April 2010, 09.00 Uhr

Kapitel Sechs: 1. Mai 2010, 00.45 Uhr

Kapitel Sieben: 1. Mai 2010, 11:00 Uhr

Kapitel Acht: 2. Mai 2010, 06:30 Uhr

Kapitel Neun: 2. Mai 2010, 16:00 Uhr

Kapitel Zehn: 3. Mai 2010, 06:30 Uhr

Kapitel Elf: 3. Mai 2010, 15:00 Uhr

Kapitel Zwölf: 4. Mai 2010, 01.00 Uhr

Kapitel Dreizehn: 5. Mai 2010, 06:30 Uhr

Kapitel Vierzehn: 6. Mai 2010, 06.00 Uhr

Kapitel Fünfzehn: 7. Mai, 07:30 Uhr

Kapitel Sechzehn: 8. Mai 2010, 10:00 Uhr

Epilog: Jetztzeit

Prolog Jetztzeit

„Nein, das mache ich auf keinen Fall!“

Klaus Heppner verschränkte die Arme und sah so trotzig drein, dass seine Frau Marion lauthals lachte. Ganz recht: seit etwa 14 Tagen stand in ihrem Personalausweis Marion Heppner geborene Paschen, und obwohl sie bei der Anmeldung im Hotel in Lazise am Gardasee noch unwillkürlich mit ihrem Mädchennamen unterschrieben hatte, gewöhnte sie sich jetzt an den neuen Zustand.

„Ach Klaus, nun hab dich doch nicht so“, versuchte sie ihren Liebsten umzustimmen. „Das machen doch alle Männer, die hierherkommen.“ Ihr Mann zog einen Flunsch. „Das macht die Sache aber nicht besser. Wenn alle Männer plötzlich anfingen von Brücken zu springen würdest du auch nicht sagen ‚Mach den Quatsch mit’. Nee, nicht mit mir.“

„Vielleicht doch, denn nach der Sage bringt das Glück, und es ist auch nichts Anderes, als in Auerbachs Keller in Leipzig den Fuß von Doktor Faust anzufassen.“ – „Ein Fuß ist aber kein sekundäres Geschlechtsteil. Außerdem ist das Stück dort viel zu kalt und zu abgegriffen.“ Er deutete auf die Bronzeskulptur einer jungen Frau, deren rechte Brust im Gegensatz zum übrigen Körper keinerlei Spuren von Patina aufwies. „Nein, da kenne ich etwas Wärmeres, Lebendigeres.“ Er grinste anzüglich, und Marion errötete.

Das Ehepaar Heppner befand sich natürlich in Verona, genauer gesagt im Hinterhof des Hauses der Familie Capulet, und betrachtete die Statue der Julia. „Dann eben nicht, du Spielverderber“, knurrte Marion, durch die Worte ihres Mannes schon wieder halb besänftigt. Klaus Heppner legte seinen Arm um ihre Taille und schob sie vorsichtig an den hereindrängenden Touristen vorbei aus dem Hofeingang. Sie schlenderten langsam an den Filialen der teuren italienischen Modegeschäfte vorbei, und Marion blieb vor der Auslage von Gucci stehen, während sie betrachtend den Kopf an die Schulter ihres Mannes legte.

„Unglaublich“, murmelte sie. „Alles sieht richtig toll aus, aber nur so lange es von Size Zero-Models getragen wird, die wie ein Teenager aus einer Hungerregion aussehen.“ – „Ja genau“, grinste ihr Mann, der zu Marions Verblüffung unvermittelt schallend zu lachen begann.

„Jetzt weiß ich wieder, warum ich Julias Brust nicht streicheln wollte. Ich wollte keinen Ärger mit meinen Kollegen von der Sitte bekommen, denn laut Shakespeare war sie bei der Heirat mit Romeo Montague erst dreizehn…“

Marion knuffte ihn lachend in die Seite. „Na klar, wer keine Ausrede kennt, wird erschossen.“ Sie schlenderten weiter, bis sie zum großen Platz kamen, den das Denkmal von Vittorio Emanuele, dem ersten König Italiens nach der Wiedervereinigung im 19. Jahrhundert zierte. Marion blickte sinnierend auf das Reiterstandbild und versuchte, ihren Mann mit historischen Kenntnissen zu beeindrucken.

„Wusstest du eigentlich, dass die italienischen Revolutionäre um Garibaldi den Schlachtruf ‚Verdi’ auf den Lippen trugen? Damit meinten sie aber nicht den Opernkomponisten, sondern ‚Vittorio Emanuele, Rei d’Italie.“ Heppner verzog das Gesicht. „Verschone mich bloß mit Opern und klassischer Musik. Es genügt schon, wenn ich mir einmal im Jahr mit dir das Weihnachtskonzert des Polizeichores anhören muss. Das reicht dann für meinen Kulturbedarf.“

„Und mit so einem Banausen mache ich meine Hochzeitsreise ausgerechnet in eine Opernstadt“, lachte Marion und deutete auf die Arena, die sich im Hintergrund des Platzes gegen den Abendhimmel abhob. Die Pforten hatten sich bereits für die heutige Vorstellung geöffnet, und die Menschen strömten in das antike Bauwerk, um sich in schmale Metallsitze zu zwängen und trotz der Enge ekstatisch den Klängen zu lauschen. Als Marion ihren Mann ansah, erstarb ihr Lachen. Klaus Heppner war kalkweiß, und durch seine zusammengebissenen Zähne drang ein unterdrücktes Stöhnen.

Marion verstand sofort und führte ihren willenlos mitstolpernden Ehemann zu einer nahestehenden Bank, auf die er sich fallen ließ und die Hände vors Gesicht schlug. Marion streichelte über seine Schulter. „So schlimm?“, fragte sie leise, und er nickte, doch es dauerte eine Weile, bis er den Kopf hob und sie mit tränenfeuchten Augen anblickte. „Es war alles in Ordnung, bis…ja, bis ich den Eingang sah.“ Er deutete auf die Tafel, die ein Segment der Arena genau bezeichnete.

„Poltrone“, murmelte der Polizist. „Poltrone…“

Eins 26. April 2010, nachts

Sie erwachte ohne zu wissen, weshalb. Nicht, dass es später noch eine Rolle gespielt hätte…

Obwohl sie die Augen geöffnet hielt, sah sie nichts. Es musste also noch Nacht sein, was ihr Aufwachen noch unerklärlicher machte. Offenbar hatte sich der Mond hinter eine dicke Wolkenschicht verzogen, denn nicht einmal sein schwacher Schimmer beleuchtete das Schlafzimmer und das Doppelbett, auf dem sie lag. Als ihre Gedanken zum vergangenen Abend zurückkehrten, musste sie lächeln und schloss genussvoll die Augen, während ein wohliger Schauer über ihren Körper jagte und sich auf ihren Armen eine Gänsehaut bildete.

Holger war schon immer ein großartiger und einfallsreicher Liebhaber gewesen, aber am Abend hatte er sich selbst übertroffen. Mehr als die Hälfte der Stellungen, die sie ausprobiert hatten waren ihr völlig unbekannt gewesen, und sie wäre nicht einmal im Traum darauf gekommen, es…. Na ja, es war toll gewesen. Holger war einfach ein Traummann, wenn auch mit kleinen Fehlern. Sein Schnarchen zum Beispiel machte es schwierig, neben ihm... Schlagartig wurde ihr klar, was sie geweckt hatte, und sie riss die Augen erneut auf.

Die Stille.

Sie konnte die Wärme des Mannes neben sich deutlich spüren, aber er war still. Viel zu still, denn obwohl sie angestrengt in das Dunkel lauschte, vernahm sie nicht einmal Atemzüge von der Bettseite neben ihr.

Sie griff mit dem linken Arm zur Seite und tastete über den Bauch des Mannes, der reglos neben ihr auf dem Rücken lag. Mit Entsetzen registrierte die Frau, dass sich seine Brust nicht hob und senkte, und als sie die Hand aufwärts zum Herzen bewegte, spürte sie zuerst warme Nässe und dann…

Im gleichen Moment, als ihre Hand auf den Widerstand stieß riss die Wolkendecke auf, und das Mondlicht beleuchtete eine gespenstische Szenerie. Aus der Brust des Mannes ragte eine kurze, dünne Stange, welche unzweifelhaft sein Herz durchbohrt hatte. Jetzt konnte sie auch sehen, dass ein dünner Blutfilm die Einschlagstelle umgab.

Als sie sich aufrichtete und aus dem Bett springen wollte, erstarre sich noch in der ersten Bewegung. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen starrte sie auf die dunkle Silhouette einer Gestalt, die am Fußende des Bettes stand und sie durch die Schlitze einer Skimaske ansah.

„Ruhig.“

Das einzelne Wort ließ den geplanten Schrei in ihrer Kehle ersterben. Ihr Mund stand offen, und der blanke Horror ließ sie nicht einmal auf die Idee kommen, die Bettdecke zu heben und ihre Brüste zu bedecken. Noch einmal sprach der Mann vor dem Bett, und seine sonore Stimme drückte zugleich Mitleid und Trauer aus.

„Es tut mir leid.“

Sie rang nach Atem. „Was…was tut ihnen leid?“, stammelte sie leise. „Was Sie getan haben? Dass Sie Holger ermordet haben?“

Der Mann schüttelte langsam den Kopf. „Nicht nur. Es tut mir vor allem leid, dass Sie aufgewacht sind und mitbekommen, was ich jetzt tun muss. Es ist nichts Persönliches, verstehen Sie? Ich habe nur leider keine andere Wahl.“

Er zog jetzt die rechte Hand hinter dem Rücken hervor und richtete etwas auf die Frau, das aussah wie eine Kreuzung aus Pistole und einem Bogen. Erst jetzt holte die Frau tief Luft, um zu schreien. Doch es war zu spät. Der Bolzen bohrte sich mit einer Geschwindigkeit, die einer Pistolenkugel nur unwesentlich nachstand in ihre Brust. Obwohl der Mann fast aus der Hüfte geschossen hatte, traf er perfekt. Das Geschoß drang in die Lunge der Frau ein und ließ den Schrei zu einem matten Keuchen verkümmern, während sie rücklings auf das Bett zurückfiel.

Trotz der schweren Verletzung war sie immer noch bei Bewusstsein, aber durch den Schock unfähig, sich zu bewegen. Voll namenlosem Entsetzen sah sie, wie der Mann seine Waffe nachlud und sich über sie beugte. „Ich sagte schon: es tut mir leid“, murmelte er.

Der Einschlag des zweiten Bolzens ließ den Körper der Frau noch einmal nach oben schnellen. Das Geschoss zerriss ihr Herz und sandte ihr Bewusstsein in ein schwarzes Nichts, das noch dunkler und lautloser war als das Zimmer, in dem sie zum letzten Mal in ihrem Leben erwacht war.

Während die letzten Zuckungen des Opfers erstarben, kämpfte der Schütze noch immer mit seiner Übelkeit. Blut hatte er noch nie sehen können, und obwohl es unwirklich schien, empfand er vor allem Mitleid für die Toten. Er biss sich auf die Zähne, bis seine Kiefermuskeln zu schmerzen begannen, um das Gefühl der Bitterkeit und den Brechreiz zu unterdrücken. Es musste einfach sein, dachte er. Ich konnte nicht anders handeln.

Der Maskierte blickte auf die vor ihm liegenden Gestalten hinab und erinnerte sich an den ursprünglichen Tatplan. Er packte die Geldbörsen und die teuren Armbanduhren der Ermordeten mit der Tatwaffe in eine Plastiktüte, doch hätte ihn jemand in den folgenden Minuten beobachtet, hätte er sich gewundert. Der Mörder begann, die Lage und den Zustand seiner Opfer zu verändern, bis er einen Schritt zurücktrat und befriedigt nickte. So war es gut, dachte er. Das würde genügen, um etwas Verwirrung in die Mordermittlungen zu bringen. Seine Latexhandschuhe quietschten, als er die Plastiktüte mit den Portemonnaies in seinen mitgebrachten Rucksack steckte, und der Killer verzog das Gesicht, als habe er Zahnschmerzen. Es war Zeit zu gehen.

***

Der Anruf eines anonymen Teilnehmers um 02:30 Uhr morgens verheißt nie etwas Gutes. Nicht für diejenigen, die den Grund für diesen Anruf bilden, und nicht für Klaus Heppner, Mitglied der Duisburger Mordkommission. Es ist nicht jedermanns Sache, sich die Überreste von Toten anzusehen und sich mit Mördern zu unterhalten, aber irgendjemand muss sie aus dem Verkehr ziehen, und das machte Heppner wirklich Spaß. Leider kam der Schlaf dabei oftmals zu kurz.

„Gnade Dir Gott, wenn es nicht wichtig ist", knurrte Heppner anstelle einer Begrüßung. „Hallo Klaus, ich bin es, Helmut Schiller von der Kriminalwache. Es ist mal wieder soweit. Mach hinne und komm schnellstmöglich rüber. Brauchst Du lange? Ich könnte dir einen Wagen vorbei schicken, wenn du fußlahm bist oder…“ – „Ach, halt den Rand", knurrte Heppner und legte auf. Schließlich war es von seiner Wohnung auf der Mercatorstraße nicht weit bis zu seiner Dienststelle.

Der Blick in den Spiegel war mal wieder kein Vergnügen. Heppner war inzwischen 45, und die tief in den Höhlen liegenden, von Falten umgebenen Augen ließen ihn weniger Brad Pitt als vielmehr Humphrey Bogart ähneln. Die Zeit vergeht, sinnierte er, verzichtete aufs Rasieren und zog sich fröstelnd an. Obwohl die Temperaturen bei Tag schon die 20°C-Marke erreichten, war es nachts noch ganz schön schattig, wie man im Ruhrpott zu sagen pflegt. Gott sei Dank ist die Jacke gefüttert, dachte Heppner und kuschelte sich in das Lammfellimitat, während er aus Gewohnheit die 300 m zu Fuß zum Präsidium ging. Beim Briefing auf der Kriminalwache sah Helmut Schiller immer noch blass aus.

„Heute Nacht um 00:45 Uhr hat die Streifenwagenbesatzung 12/21 einen Einsatz zur Sonnenstraße 122 nach Walsum bekommen. Eine Nachbarin hatte bemerkt, dass an der Rückseite des Hauses ein Fenster zum Garten im ersten Stock offen war, und am Fenster stand eine Leiter. Typischer Einbruch, dachten die Kollegen, kletterten hoch und stießen im Schlafzimmer auf eine männliche und eine weibliche Leiche im Bett. Vermutlich handelt es sich bei den Toten um die dort gemeldeten Holger und Jennifer Krampke, beide 32 Jahre alt und seit zwei Jahren verheiratet. Es sieht da aus wie im Schlachthof, Klaus. Die Kollegen von der Streife kotzen immer noch.“ Na bravo, dachte Heppner nur.

Das Tatortteam, bestehend aus Fritz Sattmann und Detlef „Ede“ Vollstraß lief winkend an ihnen vorbei und verschwand Richtung Dienstparkplatz. Sie redeten nie viel, sicherten die gefundenen Spuren und werteten sie fast emotionslos aus. Den restlichen Kommissionsmitgliedern standen andere Aufgaben bevor.

Heppner war klar, dass keiner der Kollegen auf der Bereitschaftsliste der Mordkommission wahnsinnig begeistert sein würde, schon um 05:30 Uhr zum Dienst erscheinen zu müssen. C’est la vie, dachte er, bevor er angewidert schnaubte. Nie hatte der komplette Spruch so gut gepasst wie jetzt. C’est la vie, c’est la guerre, c’est la mort. So ist das Leben, so ist der Krieg, so ist der Tod.

***

In den USA, wo Mordfälle in Großstädten ein Massendelikt sind und auch in Holland werden Morde in der Regel von einem aus zwei Detectives gebildeten Ermittlungsteam verfolgt. Hier in NRW wird bei der Bildung einer Mordkommission Personal aus verschiedenen Dienststellen der jeweiligen Behörde zusammengezogen, da das für Todesermittlungen zuständige Kriminalkommissariat 11 allein personell überfordert wäre. Im großen Besprechungsraum versammelten sich also nicht nur ausgebildete Todesermittler, sondern eine bunte Mischung verschiedenster Talente, bei denen aber eines einheitlich war: die totale Ablehnung der Einstellung, ein Problem über das Töten eines Mitmenschen lösen zu können. Mörder dürfen in unserer Gesellschaft nicht straffrei davonkommen. Jedenfalls noch nicht.

Hans Bombardier, Leiter des KK 11 und der Mordkommission stellte wie immer persönlich die Ermittlungsteams zusammen, die zunächst in der Nachbarschaft des Tatortes nach möglichen Zeugen suchen sollten. „Klinkenputzen“ nennen die Polizisten das, und wer dies für langweilig und stupide hält hat absolut Recht, aber diese Art der Zeugensuche ist unverzichtbar. Den Ermittler, der in seinem Büro sitzt und durch reines Nachdenken einen Mordfall löst, gibt es nur in Fernsehkrimis und schlechten Romanen.

Bombardier und Heppner übernahmen den Tatort, während sich die „Klinkenputzer“ wie ein Bienenschwarm in alle Richtungen verteilten und die Nachbarn aus dem Bett klingelten. Ich möchte nicht mit ihnen tauschen, dachte Heppner, der diese Aufgabe bei seinen ersten Kommissionen ausgeführt hatte. Er ahnte schon, dass die meisten Kommentare der wach geklingelten Nachbarn nicht druckreif sein würden.

Die Sonnenstr. 122 entpuppte sich als zweigeschossiges Einfamilienhaus, welches zusammen mit dem Rest der Siedlung Mitte der 90er Jahre erstellt worden war. Typisch für diesen Baustil waren der kleine Vorgarten, der in diesem Fall aus einem Blumenbeet mit geradem, gepflasterten Zugang zu einer mit einem Vordach versehenen Haustür bestand, und der nur unwesentlich größere hintere Garten. Fritz Sattmann öffnete die Tür und ließ seine Kollegen herein, nachdem auch sie die unvermeidlichen Spurensicherungsanzüge angelegt hatten. Ede Vollstraß hasst diese Dinger wie die Pest. „Meine Figur ist so verbaut, dass sie mir nie richtig passen“, pflegt er herumzumaulen. Mittlerweile hatten sich alle Kollegen an sein Lamentieren gewöhnt und nahmen es gar nicht mehr zur Kenntnis. Leider sind die weißen Papieranzüge unverzichtbar, wenn die Ermittler die Tatorte nicht mit eigenen Haar-, Faser- und DNA-Spuren kontaminieren wollen.

Obwohl beide Leichen im Schlafzimmer im ersten Stock lagen, hatten die beiden Männer des Erkennungsdienstes die Spurensuche auf das gesamte Haus ausgedehnt. Der Grund lag auf der Hand. Alle Schränke und Behältnisse waren geöffnet, ein Großteil der Inhalte auf dem Boden verstreut. „Scheint, dass hier jemand was gesucht hat“, knurrte Bombardier trocken. „Schnellmerker“, zog Heppner ihn auf.

Sie verschafften sich einen schnellen Überblick und überließen die Spurensuche den beiden Experten. Die Toten waren schlank und offenbar gut durchtrainiert; dies zu beurteilen war einfach, denn sie waren nackt. Die Frau hielt zudem den Penis des Mannes umklammert. Beide wiesen tatsächlich kleine kreisrunde Löcher im Oberkörper auf, aus denen nur relativ geringe Mengen Blut herausgequollen war, was darauf hindeutete, dass ihre Herzen schon kurz nach den Verletzungen aufgehört hatten zu schlagen. Helmut Schiller hat maßlos übertrieben, dachte Heppner. Ich habe schon weit schlimmeres gesehen. Was die Opfer getötet hatte würde wohl nur eine Obduktion zeigen. Bombardier erriet Heppners Gedanken und nickte. „Das gibt Arbeit für Professor Kürten“.

Damit war der neue Chef der Pathologie in den Düsseldorfer Uni-Kliniken gemeint, welcher für die Mordkommissionen in Düsseldorf, Duisburg und die Landkreise Mettmann, Neuss und Wesel die Autopsien durchführte, nachdem aus Gründen der Kostendämpfung die Pathologien zentralisiert worden waren. Viel Arbeit für wenige Leute, aber warum sollte es den Pathologen besser gehen als den Polizisten oder Staatsanwälten.

Der Rückweg ins Präsidium dauerte dank der chronisch verstopften A 59 eine glatte Stunde, und die Fahrweise mancher Autofahrer ließ Heppner wünschen, wieder in einem Streifenwagen zu sitzen. Sein Chef lachte nur. „Dann würdest du aber feststellen, dass jeder vor dir genau die erlaubten 80 km/h fährt und du nur unwesentlich schneller vorankommst als jetzt.“ – „Auch wieder wahr“, knurrte Heppner frustriert.

Im PP angekommen holte er sich einen Kaffee und verschwand in seinem Büro, stellte die Tasse ab und lehnte sich im Bürostuhl zurück, um über den Text des abzusetzenden Fernschreibens nachzudenken. Als er die Augen wieder öffnete, war es ungefähr eine halbe Stunde später. Er massierte sein schmerzendes Genick und fluchte ziemlich gotteslästerlich. Langsam werde ich alt und brauche mehr Erholung, dachte er und sah auf den Kalender, auf dem mit einem Textmarker sein nächster Urlaub angestrichen war. In Gedanken freute er sich schon auf diese Woche, in der er mit seinen Kindern einige Tage im London verbringen wollte. Na hoffentlich sind wir bis dahin fertig, dachte Heppner. Mordkommissionen halten sich nun mal an keinen Urlaubsplan.

Zwei 26. April 2010, 10:00 Uhr

„Vorbehaltlich des Obduktionsergebnisses müssen wir von einem zweifachen Tötungsdelikt ausgehen, welches durch einen oder mehrere Täter im Rahmen eines Einbruchs begangen wurde. Ob es ein echter Einbruch war, der irgendwie aus dem Ruder gelaufen ist oder das Einbruchsszenario gefaked wurde um uns zu falschen Schlüssen zu verleiten ist ebenfalls offen.“

Im großen Besprechungsraum der Mordkommission ließ Klaus Heppner bei den Ausführungen Bombardiers seinen Blick über die Kollegen schweifen und entdeckte etliche altbekannte Gesichter. Hanna Karl war darunter, eine Kollegin des KK 15, das sich mit der Bekämpfung der Kfz-Kriminalität beschäftigt. Bei ihrem Anblick lächelte Heppner zum ersten Mal an diesem Morgen. Sie war es gewesen, die ihn nach der Trennung von seiner Frau vor Jahren mit den Worten „Oh, dann bist du ja wieder auf dem Markt“ aufgemuntert hatte. In den folgenden Wochen hatte er dann festgestellt, dass sie tatsächlich Interesse an ihm hatte, und auch er mochte Hanna, aber zu einer echten Beziehung hatte es sehr zu ihrem Leidwesen nicht gereicht. Trotzdem gab sie die Hoffnung nicht auf.

Peter Elgert und Tom Hermanns vom KK 32, dem Betrugskommissariat saßen wie üblich direkt nebeneinander. Elgert war etwa so groß wie Heppner mit seinen 186 cm, wirkte aber durch seine extreme Schlankheit fast wie ein 2m-Mann. Dagegen war sein Kumpel Tom Hermanns eher klein und bestach durch krasse Säbelbeine, die ihn eigentlich polizeidienstuntauglich machen würden, ihn aber zu einem Fußballer Marke Pierre Littbarski machten. Nur eine schwere Verletzung hatte eine Profikarriere verhindert. Herausragend an Hermanns war sein absurder Humor Marke Monty Python, dem er zu jeder passenden Gelegenheit die Zügel schießen ließ.

Das KK 23 vertraten Rudi Brack, Jimmy Hellwich und Christian Paulsen, mit dem Heppner auch privat eng befreundet war. Früher einmal hatten sie mit- und gegeneinander Hockey gespielt; während Christian Paulsen als Strafeckenspezialist für die Tore sorgte, verhinderte Heppner als Torhüter die Gegentreffer – manchmal, jedenfalls. Heppner, der auch Trauzeuge bei seiner Heirat mit Juliane gewesen war, überraschte Paulsens Anwesenheit, da er als stellvertretender Leiter des Kommissariats zur Bekämpfung von Wirtschaftskriminalität eigentlich nicht mehr an MKs teilnehmen musste. Auf Heppners hochgezogene Augenbrauen raunte er ihm nur „Personalmangel“ zu, um Hans nicht zu stören. Heppner winkte ab. Leidiges Thema.

Inzwischen ist es leider so, dass man sich von der Vorstellung verabschieden muss, die Polizei könnte jede gemeldete Straftat aufklären. Angesichts geringer werdender Personalressourcen bei ständig wachsenden Aufgaben nimmt die Polizei zwar jede Anzeige entgegen und bearbeitet sie auch, doch wirklich in die Tiefe gehende Ermittlungen sind schon aufgrund der Anzeigenflut nur noch punktuell möglich. Die größten Personalressourcen werden aktiviert, wenn die Straftat öffentlichkeitswirksam ist. Zynisch gesagt ist es also wahrscheinlicher bei einem Straßenraub mit 1,50 € Beute als Täter überführt zu werden als bei einem Kapitalanlagebetrug mit Millionenschaden. Christian Paulsen hatte Klaus Heppner einmal in weinseliger Stimmung frustriert berichtet, dass er bei seinem letzten Fall aufgefordert wurde, die Sache klein zu halten. „Stell dir vor, ich sollte bei der Asservateauswertung schludern und nur flüchtig darüber gucken. Da braucht der Täter keinen hoch bezahlten Wirtschaftsanwalt um die Sache kaputt zu machen; jeder Winkeladvokat erwirkt einen Freispruch aus Mangel an Beweisen, wenn ich vor Gericht sagen muss ‚ich glaube’ oder ‚ich vermute’, statt Beweise auf den Tisch legen zu können. Und dann machen die Täter munter weiter. Den Politikern ist es egal, weil der Fall doch statistisch als geklärt gilt. Der Effekt ist klar: noch mehr Arbeit für uns, und wir schieben Frust ohne Ende. Drei Mann meiner Truppe sind schon in Burnout.“

Mordkommissionen sind davon Gott sei Dank noch nicht betroffen, dachte Heppner. Um jemand zu fangen, der gegen das Gebot ‚Du sollst nicht töten’ verstößt, werden immer noch alle Register gezogen – jedenfalls bis jetzt noch. Er schreckte auf, als sich Bombardier ihm zuwandte.

„Die Obduktion ist für 12.00 Uhr angesetzt. Ich habe dich dafür eingeteilt, weil du bekanntlich leichenfest bist. Professor Kürten erwartet dich in der Pathologie der Düsseldorfer Uni-Kliniken.“

Heppner zog dennoch einen Flunsch. Im Gegensatz zu manchen anderen gelang es ihm zwar, beim Aufschneiden einer Leiche sein Frühstück im Magen behalten, aber nur weil er die Übelkeit stets mit der Erinnerung an seine erste Obduktion bekämpfte. Bei dieser hatte ein drei Monate altes Baby auf dem Stahltisch gelegen, welches fachgerecht zerlegt wurde um herauszufinden, ob jemand den Tod herbeigeführt hatte. Es war plötzlicher Kindstod gewesen, doch die Wut darüber, dass dieses kleine Wesen niemals würde spielen, lieben, Trauer und Freude empfinden können hatte ihn alle Übelkeit vergessen lassen. Bei jeder neuen Obduktion dachte er nur an diese Wut, die er als seine „unsichtbare Wand“ bezeichnete. Das half zuverlässig.

Heppner fuhr allein nach Düsseldorf, wo ihn ein blendend gelaunter, schlanker Mittvierziger erwartete und sich als Professor Kürten vorstellte. Irgendetwas assoziierte Heppner mit dem Namen, und diese Gedanken spiegelten sich offenbar auf seinem Gesicht, denn der Pathologe begann still zu feixen, sagte aber nichts.

Im Sektionssaal lagen beide Leichen bereits auf den Stahltischen. Heppner betrachtete die Toten mit Bedauern. Die Farbe des Lebens war bereits aus der Haut gewichen, und nur an den Körperunterseiten zeigten sich ausgedehnte rote Flecken, wo sich das Blut aufgrund der Schwerkraft angesammelt hatte. „Ausgeprägte Hypostase“, bestätigte Professor Kürten. Er drehte den Körper der toten Frau auf die Seite und drückte auf den bläulichvioletten Bereich. „Die Livores sind noch wegdrückbar, verändern sich aber nach Umlagerung der Leiche nur noch teilweise. Demnach ist diese Frau zwischen 6 und 12 Stunden tot. Ihre Kollegen von der Spurensicherung haben die Rektaltemperatur gemessen; sie betrug bei Auffindung 33,8 Grad Celsius. Sofern keine massiven Temperatureinflüsse auf die Frau eingewirkt haben, würde ich den Zeitpunkt des Todeseintritts in ein Fenster zwischen 23.00 Uhr gestern Abend und 02.00 Uhr heute Morgen legen.“

„Präzise Schätzung, Herr Professor. Wollen wir?“ – „Aber natürlich, Herr Heppner.“ Er schnippte mit dem behandschuhten Finger, und seine beiden Mitarbeiter traten an die Tische, während der Polizist sich zurückzog und aus der Distanz das blutige Treiben durch seine unsichtbare Wand beobachtete. Es ist gesetzlich vorgeschrieben, dass bei einer sectio (so lautet der Fachbegriff für eine Obduktion) ein Polizist anwesend sein muss. Zumeist werden die Beamten dabei von dem zuständigen Staatsanwalt begleitet, doch heute musste Oberstaatsanwalt Hartung an der gleichzeitig stattfindenden Verhandlung gegen den letzten überführten Täter teilnehmen. Mörder haben nun mal mehr Aufmerksamkeit verdient als ihre Opfer, dachte Heppner zynisch.

„Interessant, interessant“, hörte er den Rechtsmediziner murmeln. Heppner verscheuchte die trüben Gedanken und trat zu ihm. „Ich habe mir der Frau angefangen, Ladies First, könnte man sagen.

Wir sind uns bereits sicher, dass der Tod beider Personen durch äußeres und inneres Verbluten hervorgerufen wurde. Ich habe mir daher die Wunden genau angesehen.

Die Frau hat insgesamt vier Löcher im Oberkörper. Eines sitzt genau unterhalb der rechten Brust, das zweite leicht nach innen versetzt unter der linken. Die beiden anderen Löcher befinden sich im Rücken in korrespondierender Höhe. Wir haben es nach meiner Meinung also mit zwei Eintritts- und zwei Austrittswunden zu tun. Und jetzt kommt das Interessante dabei.“

Kürten drehte den Körper des Mannes, neben dem er stand auf die Seite, sah hin und nickte. „Fällt Ihnen an den Wunden etwas auf?“ Heppner sah ebenfalls hin und stutzte. „Sie haben die gleiche Größe, denke ich. Und das finde ich wirklich interessant. Jetzt frage ich mich, womit die beiden erschossen wurden“. Kürten nickte eifrig.

Wenn ein normales Projektil einen Körper trifft, gerät es durch das Durchstoßen von Haut, Fettgewebe und eventuell Knochen ins Taumeln. Deshalb sind die Austrittswunden in der Regel viel größer als die Einschüsse. Hier war es jedoch nicht der Fall.

„Highspeed-Geschoß?“, fragte Heppner gespannt, doch Kürten schüttelte den Kopf. „Ihre Kollegen haben weder in Wänden noch im Bett Projektile gefunden, und die Wunden verhalten sich anders. Nein, das Geschoss war langsamer. Fast würde ich denken… Nein, ich will nicht spekulieren.“

Kürten machte sich wieder an die Arbeit, und der Polizist sah wortlos zu, wie er die Leichen aufschnitt, Organe untersuchte und vermass und sie anschließend wieder in die Leichen legte. Nach etwa drei Stunden streckte er seinen Rücken, zog die blutbefleckten Handschuhe aus und warf sie in einen Mülleimer. „Kommen Sie, Herr Heppner, ich brauche einen Kaffee.“

In der Kantine der Uni trank Kürten seinen ersten Kaffee auf ex, was Heppner klarmachte, warum er sofort drei Tassen auf sein Tablett gestellt hatte. Sein genussvolles Seufzen zeigte, dass sein Kaffeekonsum dem des Ermittlers wahrscheinlich in nichts nachstand. Dieser nippte an der Tasse und nickte anerkennend. Das Zeug war nicht nur heiß, sondern auch gut. Kürten streckte die Beine unter dem Tisch aus und begann zu berichten.

„Die Frau starb durch zwei Schüsse. Einer zerriss die linke Lunge und führte dazu, dass sie sich unmöglich durch Schreien bemerkbar machen konnte, der zweite zerstörte die rechte Herzkammer. Nach meiner Schätzung dürfte die Frau danach noch etwa 30 Sekunden gelebt haben, aber sie war höchstwahrscheinlich durch die Einschläge bewusstlos.

Für den Mann hat ein Schuss gereicht, der Herz und Lunge durchbohrt hat. Wahrscheinlich hat er noch einmal kurz gezuckt und geröchelt, dann war es vorbei.

Ich habe die Wunden präpariert und lasse sie histologisch untersuchen, um Hinweise auf die Tatwaffe zu bekommen. Außerdem sahen die Wunden in der Vergrößerung so aus, als habe das Projektil sie einmal vorwärts und einmal rückwärts durchquert.

Apropos vor und zurück: die Opfer haben übrigens kurz vor ihrem Tod Geschlechtsverkehr gehabt. Ich habe Spermaspuren an verschiedenen Körperstellen der Frau gefunden. Na wenigstens hatten sie vorher noch richtig Spaß gehabt. Hoffe ich wenigstens. Ist aber ein möglicher Grund, warum sie so fest geschlafen und den eindringenden Täter nicht bemerkt haben. Sie wissen ja, wer schläft sündigt nicht, aber wer sündigt, schläft nachher besser.“

Heppner schüttelte nur scheinbar indigniert den Kopf. Ihm gefiel Kürtens Humor. „Na gut, Herr Professor. Haben Sie einen Tipp oder eine Vermutung wegen der Tatwaffe?“ Kürten grinste jetzt breiter, während in seinen Augen der Schalk aufblitzte. „Nur einen Schuss ins Blaue. Verzeihen Sie das Wortspiel. Wenn ich jetzt mal doch spekulieren darf, suchen Sie nach Robin Hood oder Wilhelm Tell. Ich glaube, die beiden Opfer starben durch Pfeile oder Armbrustbolzen. Und seien Sie bei den Ermittlungen vorsichtig: der Täter ist nach wie vor bewaffnet. Wenn meine Hypothese stimmt, hat er die Pfeile oder Bolzen aus den Opfern herausgezogen…“

***

„Pfeil und Bogen oder Armbrust? Ja was zum Teufel…“. Hans Bombardier war sichtlich konsterniert. „Wer zum Henker läuft mit einem Bogen oder einer Armbrust durch die Gegend, um einzubrechen?“ – „Ich kenne da so ein paar Bekloppte“, ließ sich Tom Herrmanns aus dem Hintergrund vernehmen, der seine große Klappe mal wieder nicht halten konnte. „Es gibt so genannte Mittelaltermärkte. Die Leute dort schmieden Schwerter, schießen mit Pfeil und Bogen und…“ – „Ja ja, kennen wir doch“, knurrte Bombardier. „Aber diese Mittelalterfreaks machen das in ihrer Freizeit. Ich habe noch niemals erlebt, dass einer von ihnen seine Mitmenschen massakriert hat.“ – „Vielleicht reicht einem von ihnen ja das bloße Herumlaufen nicht mehr, und er will sich als Raubritter betätigen“, sprang Christian Paulsen Tom Hermanns bei. „Kann doch sein“. Bombardier schüttelte den Kopf. „Keine Spekulationen, bitte. Halten wir uns an die Fakten“.

Sie saßen zur turnusmäßigen 20 Uhr-Besprechung im MK-Raum und trugen die Früchte der heutigen Ermittlungen zusammen. Kurz gesagt: die Ernte war ziemlich dürftig. Es gab schlicht und ergreifend keine Zeugen, die am Tatort und in seiner Umgebung etwas Ungewöhnliches bemerkt hatten oder haben wollten.

„Ich hätte da vielleicht etwas“, meldete sich Carsten Specker. Er war der Frischling im Team, und er ging seine erste MK mit Feuereifer an. „Wir haben beim Regionalkommissariat im Norden seit Anfang Dezember eine atypische Einbruchsserie. Der Täter operiert in der Nacht, und er steigt grundsätzlich in offenstehende Fenster von zweigeschossigen Einfamilienhäusern ein. Zumeist hat er sich irgendwelcher Aufsteighilfen bedient, die vor Ort greifbar waren. Würde ja hier auch passen. Bei ein paar Einbrüchen haben wir aber keine Ahnung, wie er in die Fenster hineingelangt sein soll. Karl Weidmann, der die Sache in unserem KK bearbeitet hat schon vermutet, dass es sich um Vortäuschungen mit dem Ziel des Versicherungsbetruges handelt.“

„Hinweise auf Bewaffnung?“, fragte Bombardier hoffnungsvoll, doch Specker schüttelte den Kopf. „Nee. Der Bursche kommt wie ein Phantom in der Nacht, und verschwindet auch wieder ungesehen. Hat es bisher nicht nötig gehabt, irgendjemand zu bedrohen oder zu killen. An den Tatorten wurde zwar ein paar Mal ein älterer, dunkler Pkw Kombi in Tatortnähe gesehen, aber da haben wir kein Fleisch dran bekommen. Der Täter hinterlässt keine Spuren, zumindest keine auswertbaren. Na ja, bisher haben wir auch noch nicht nach DNA gesucht, nur nach Finger- oder Werkzeugspuren. Bei Massendelikten schießen wir ja nicht mit Kanonen auf Spatzen. Vielleicht sieht das jetzt ja anders aus.“

Hans Bombardier nickte. „Es kann nicht schaden, wenn wir uns die Tatorte noch einmal ansehen. Sagt Bescheid, wenn euch etwas auffällt. Sonst noch Wortmeldungen? Keine? Dann machen wir für heute Schluss. Treffpunkt morgen um 08.00 Uhr hier. Vielleicht haben wir im Schlaf eine Eingebung.“