Revier in Angst - Georg von Andechs - E-Book

Revier in Angst E-Book

Georg von Andechs

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Beschreibung

Hamit El Tannoui, Fahnder des PP Duisburg muss in Marrakesch den Tod eines Informanten miterleben. Selbst angeschossen und schwer verletzt gelingt es ihm, die ihm übergebenen Dateien per Handy ungezielt zu versenden. Kurz darauf werden in Duisburg und Umgebung scheinbar wahllose Morde verübt, die Klaus Heppner und seine Kollegen vom KK 11 vor Rätsel stellen. Derweil sucht der Leiter des Duisburger Staatsschutzkommissariats nach vier verschwundenen jungen Nordafrikanern, und er erkennt entsetzt, es mit einer neu gebildeten Terrorzelle zu tun zu haben. Was haben diese Ereignisse miteinander zu tun? Heppner und seine Kollegen ahnen, dass von der schnellen Beantwortung dieser Frage viele Leben abhängen können ...

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Georg von Andechs ist das Pseudonym des Kriminalbeamten Jörg Ziemer, der seit fast fünfundzwanzig Jahren in seiner Heimatstadt Duisburg Verbrechern das Handwerk legt – mal mit mehr, mal mit weniger Erfolg. Seine dienstlichen Eindrücke und Erfahrungen verarbeitet er in seinen Büchern. Hauptsächlich bekannt ist er in Duisburg und Umgebung durch seine gesangliche Tätigkeit als Solotenor des Duisburger Polizeichores und des Vokalensembles »Restroom Singers«. Jörg Ziemer ist in zweiter Ehe verheiratet und Vater von vier Kindern.

Disclaimer

Alle geschilderten Ereignisse und beschriebenen Personen entspringen ausschließlich der Fantasie des Verfassers, wiewohl sie von tatsächlichen Geschehnissen und Personen inspiriert worden sein können.

Oder, um meinen großen Kollegen Dick Francis zu zitieren:

Meine Bösewichter sind alle erfunden. Meine Freunde könnten einige ihrer positiven Eigenschaften in den Helden wiederfinden.

Für meine Freunde, die mir auch an trüben Tagen den Mut geben, immer weiter zu machen.

Inhaltsverzeichnis

Prolog

Kapitel Eins: 28. Mai, Vormittag

Kapitel Zwei: 28. Mai, Nachmittag

Kapitel Drei: 29. Mai, Vormittag

Kapitel Vier: 29. Mai, Nachmittag

Kapitel Fünf: 30. Mai, Vormittag

Kapitel Sechs: 30. Mai, Nachmittag

Kapitel Sieben: 31. Mai, Vormittag

Kapitel Acht: 31. Mai, Nachmittag

Kapitel Neun: 31. Mai, Abend

Kapitel Zehn: 1. Juni, Morgens

Kapitel Elf: 4. März, nachmittags

Kapitel Zwölf: 2. Juni, Vormittag

Kapitel Dreizehn: 2. Juni, Nachmittag und Abend

Kapitel Vierzehn: 3. Juni, Vormittag

Kapitel Fünfzehn: 3. Juni, Nachmittag

Epilog: Eine Woche später

Prolog

Das Herz des Mannes hämmerte in der Brust, als ob es die Rippen nach außen drücken wollte. Sein Atem ging keuchend und stoßweise, und er versuchte verzweifelt, sich an die Lektionen zu erinnern mit deren Hilfe er seinen Biorhythmus kontrollieren konnte, doch der Schmerz in seinem Unterleib hinderte ihn daran.

Als er die Hand vom Unterbauch nahm, verstärkte sich das zwischen seinen Fingern herausrinnende Blut zu einem stetigen Strom, der seine Hose rot färbte und sie an seinen Beinen kleben ließ. Hamit El Tannoui zerbiss einen Fluch zwischen den Zähnen und erhöhte schleunigst den Druck auf die Verletzung, deren Schwere ihm niemand zu erklären brauchte. Er lehnte sich schwankend an die nächste Hauswand und holte tief Luft, während seine Gedanken rasten.

Wie zum Teufel war er nur in diese verdammte Situation geraten? Was wollten diese Kerle von ihm? Und warum kam es ihnen offenbar darauf an, ihn zum Schweigen zu bringen? Hätte er doch nur seine Dienstwaffe dabei, dann könnte er sich schon verteidigen, aber so….

Hamit war Polizist, genauer gesagt: Kriminal-oberkommissar bei der Duisburger Fahndung. Da er aufgrund seines algerischen Vaters fließend Arabisch und Französisch sprach, hatte ihn seine Chefin vor knapp einer Woche damit beauftragt, die Abschiebung eines illegalen Marokkaners namens Nusret Jallanoui nach Marrakesch durchzuführen. Er hatte sich sehr auf den Trip in die Wärme Nordafrikas gefreut, da das Wetter in Duisburg immer noch zwischen Sonne und Sintflut hin und her pendelte und er keinen Bock auf die nächste Bronchitis hatte. Jetzt wäre mir der Husten allemal lieber, dachte er und knirschte mit den Zähnen.

Der Transport des Marokkaners verlief völlig entspannt, und doch hatte sich Jallanoui aufgeführt wie ein Lamm, das zur Schächtung geführt wurde. In der Erinnerung verzog sich das Gesicht des Polizisten zu einem zynischen, bitteren Lächeln. Sein Beschuldigter hatte sich verzweifelt an ihn geklammert, als er feststellte, dass ihr Flugzeug nach Marrakesch gehen würde.

„Das dürfen Sie nicht tun“, hatte er gefleht. „Die haben überall ihre Leute sitzen, und wenn sie mitbekommen, dass ich zurück bin und mit der Polizei geredet habe, bringen sie mich um.“

Hamit hatte nur gelacht. Solche Redensarten waren ihm nicht neu, denn er hörte sie von jedem zweiten, den er in seine Heimat zurückbefördern durfte. Er lieferte Jallanoui also bei den marokkanischen Kollegen am Flughafen ab und genoss den Spaziergang durch eine sehenswerte Stadt, aus deren Schönheiten die Gärten und die Altstadt hervorragten. Der zentrale Marktplatz Jemaa el Fnaa war ihm nicht nur durch dessen ehemalige Funktion als Richtstätte bekannt, und er genoss die malerische Aussicht, während er die würzige Luft tief einatmete. Beim Anblick des Cafè Argana, in dem ein Terroranschlag vor einigen Jahren mindestens 14 Menschenleben gekostet hatte, sah sich der Polizist unwillkürlich um – und versteifte sich beim Anblick des Mannes, der eilig auf ihn zugelaufen kam und mit dessen Erscheinen er absolut nicht gerechnet hatte.

„Jallanoui! Was zum…. Wie sind Sie so schnell freigekommen? Ich dachte…“ Sein ehemaliger Gefangener unterbrach ihn rüde, doch es war nicht die Unhöflichkeit, sondern die Todesangst im Gesicht seines Gegenübers, die den Polizisten verstummen ließ.

„Ich hatte es Ihnen doch gesagt, Herr Kommissar. Ich bin tot. Ich bin schon tot, weil ich einfach zu viel weiß. Sie haben die hiesige Polizei geschmiert und für meine Freilassung gesorgt, damit sie mich problemlos umbringen können. Dass ich bei der deutschen Polizei geschwiegen habe, wissen sie nicht, aber es ist auch irrelevant für sie, denn sie interessiert nur, dass ich etwas hätte sagen können.“

„Also erzählen Sie schon, Mann! Vielleicht ist zu reden Ihre einzige Lebensversicherung“, bot Hamit dem völlig Verängstigten an, doch der schüttelte nur den Kopf. „Nein. Reden allein hilft mir nicht. Ich muss Ihnen ganz schnell…“

Der Mann hielt im Wort inne, sah den Polizisten ungläubig an und torkelte auf ihn zu, bis er unmittelbar vor seinen Füßen in die Knie brach, während er sich nach einem Halt suchend in den Taschen der Windjacke des Fahnders festkrallte. Als El Tannoui am Rücken des Marokkaners herabsah, durchfuhr ihn ein Schock, denn auf seinem Hemd hatte sich ein großer roter Fleck ausgebreitet, der beständig anwuchs. Innerhalb eines Augenblicks durchzuckten zwei Gedanken Hamits Kopf. Jallanoui war kein Spinner, sondern jemand mit wichtigen Informationen, und das machte ihn zu einem lohnenden Ziel für einen Scharfschützen mit Präzisionsgewehr. „Sie haben es“, flüsterte der Mann mit letzter Kraft. „Sie haben es, Herr Kommissar. Denken Sie an Fußpunkt. Und durch drei. Nicht vergessen. Durch drei! Laufen Sie. Schnell! Sie wollen viele töten, und zwar…“

Der Polizist musste nicht auf den sich aufbäumenden Jallanoui sehen um zu wissen, dass dieser ein zweites Mal getroffen worden war. Der scharfe Schmerz in seinem Unterleib bewies nur zu deutlich, dass die tödliche Kugel den Körper des Mannes vor ihm durchschlagen und auch ihn getroffen hatte. Er presste die rechte Hand auf die Wunde, ließ den toten Jallanoui zu Boden gleiten und tat, wie ihm geheißen worden war. Hamit El Tannoui lief um sein Leben, während die Menschen um ihn herum zu schreien begannen und er mit der Linken sein Handy aus der Jackentasche nestelte, um die örtliche Polizei zu rufen. Doch dort meldete sich nur eine Bandansage.

Hamit fluchte wild und wartete, bis das Piepsen ihm zeigte, dass er jetzt eine Nachricht hinterlassen könne. „Hier ist der deutsche Polizist. Jallanoui ist ermordet worden, und ich bin angeschossen. Helft mir! Ich versuche zu entkommen. Ortet mein Handy.“

Das Adrenalin verlieh ihm zunächst eine ungeahnte Kraft, und er versuchte, in die Gassen der Altstadt zu entkommen, doch schon an der Ecke zur Avenue El Mouhahidine jaulte der erste Querschläger an seinem Kopf vorbei, was ihm bewies, dass er seine Verfolger nicht hatte abschütteln können. Die Wunde brannte und pochte, und das Blut sickerte durch seine verkrampften Finger. Das Hotel, dachte er fiebrig, während er sich blindlings im Zickzack durch die engen Gassen schlängelte. Da muss ich hin. Dort wird die Polizei mich finden.

Er hatte gehofft, in der Menschenmenge untertauchen zu können, doch die einheimischen Händler und Passanten wichen entsetzt vor den vorbeihastenden Verwundeten zurück. Dennoch gelang es ihm, sich immer weiter vom Marktplatz zu entfernen, ohne dass nochmals auf ihn geschossen wurde, doch als er um die letzte Ecke bog und auf das Hotel Almoravides zueilte, konnte Hamit schon auf hundert Meter Entfernung sehen, dass zwei verdächtig aussehende Männer vor dem Eingang standen und sich suchend umsahen. Verzweifelt zerbiss der Polizist einen Fluch zwischen den Zähnen, taumelte in das Parkhaus des Hotels, schaffte es irgendwie in die dritte Etage und versteckte sich hinter einem geparkten Mercedes. Hamit wusste, dass es nur eine Frage der Zeit sein würde, bis die Verfolger ihn finden würden. Er beschloss, diese Zeit mit Nachdenken zu verbringen.

Was hatte Jallanoui damit gemeint, als er sagte „Sie haben es, Herr Kommissar?“ Was hatte er? Wissen? Irgendetwas Materielles? Der Polizist schüttelte den Kopf, und plötzlich erinnerte er sich.

Als Jallanoui vor ihm zusammengebrochen war, hatte es sich nicht so angefühlt, als wolle er sich festhalten. Eher schien es, als würde er seine Hände in die Jackentaschen schieben. El Tannoui überprüfte mit der Linken seine Tasche und ertastete dort einen Gegenstand, den er herauszog und verblüfft betrachtete. Er war klein und daher sehr leicht zu übersehen gewesen. Kein Wunder, dass Jallanoui ihn hatte verstecken können. Es war eine Micro SD-Karte.

Schnelle, leise Schritte näherten sich, und mit einem Anflug von Zynismus dachte Hamit, dass er den Inhalt des Datenträgers wohl kaum in Ruhe würde auswerten können. Kurzerhand schob er die Karte in sein Handy, kopierte das Gespeicherte, wählte aus den Kontakten wahllos einem kompletten Buchstaben und drückte auf ‚senden an alle’.

Die Nachricht war gerade übermittelt, als ein Schatten auf den Polizisten fiel. Instinktiv schleuderte er sein Handy in Richtung des Verfolgers, der blitzschnell auswich und seelenruhig verfolgte, wie das Handy an der Garagenwand zerplatzte. Die Gestalt entpuppte sich als ein großer Mann mit braunem Teint, der in einen hellgrauen Sommeranzug gekleidet war und unter dessen linker Achsel sich das Schulterhalfter deutlich abzeichnete. Als ein mordlüsternes Grinsen das Gesicht des Mannes überzog, schloss Hamit die Augen und erwartete den Tod. Ich hätte nie gedacht, dass es mich mal in Afrika erwischt, dachte er matt.

„Wo ist es?“ flüsterte der Auftragsmörder. „Sag es, dann stirbst du schneller. “ Der Angesprochene öffnete mühsam die Augen, und gegen seinen Willen sah er die Trümmer seines Handys an. „Ach, so schlau warst du“, höhnte der Angreifer. „Es nützt dir aber nichts.“ Er sammelte die Bruchstücke des Mobiltelefons ein und wandte sich dem stöhnenden Polizisten zu, der sich mit einiger Mühe wieder aufgerappelt hatte.

Hamit witterte Morgenluft als hinter seinem Angreifer Sirenen erklangen, doch die leise Hoffnung machte der Killer sofort wieder zunichte. „Sie kommen zu spät“, grinste er, machte zwei schnelle Schritte auf den Polizisten zu und drückte ihn rückwärts gegen die hüfthohe Mauer. „Ich wünsche dir einen guten Flug“. Er trat einen Meter zurück und zog die Arme an, um nochmals zuzustoßen.

Der ist fertig und leistet keinen Widerstand mehr, dachte der Killer abschätzig. Er beobachtete amüsiert, wie der Beamte wohl zum Abschätzen der Fallhöhe nach unten sah, doch plötzlich erstarrte sein Gesichtsausdruck, denn sein Opfer hatte sich umgedreht, war mit letzter, unerwarteter Kraft auf die Mauer gesprungen und hatte sich abgestoßen, als wolle es an einem Wettbewerb im Turmspringen teilnehmen.

Die Sirenen wurden jetzt lauter, und das auf dem Parkdeck auftauchende Polizeiauto hinderte den Attentäter daran, die Landung El Tannouis zu verfolgen. Er wandte sich ab, ging zu seinem unauffälligen Renault und fuhr unbehelligt in dem Bewusstsein davon, seinen Auftrag erfolgreich ausgeführt zu haben.

Er sah nicht, wie die beiden marokkanischen Polizisten aus ihrem Auto sprangen, nachdem sie von unterhalb des Parkhauses hysterische Schreie vernommen hatten. Als sie sich über die Brüstung beugten sahen sie, wie ein offenbar bewusstloser Mann von zwei Hotel-Securities aus dem Pool gezogen wurde, dessen Wasser sich rot zu färben begann. Bei ihrer Ankunft am Schwimmbecken kämpfte sich Hamit noch einmal aus der Ohnmacht zurück und sah seine Kollegen eindringlich an. „Er sprach Deutsch“, flüsterte er. „V…“. Dann fiel sein Kopf zur Seite.

„Was sollte das bedeuten?“, fragte der Security einen der Polizeibeamten, doch der winkte nur ab. „Nichts von Bedeutung. Er muss echt schon im Delirium gewesen sein. Er meint doch glatt, einen deutsch sprechenden Pfau gesehen zu haben…“

Eins

28. Mai, Vormittag

„Ventura Versicherung, guten Morgen, Sie sprechen mit…“ – „Ich weiß, mit wem ich spreche, meine Süße“, unterbrach Klaus Heppner seine Marion und machte ein unmissverständliches Kussgeräusch. Marion lachte hell auf. „Tja, welch ein Glück, dass ich deine Stimme erkannt habe, sonst hättest du schon ein Verfahren wegen sexueller Belästigung an der Backe“, flachste sie. „Was gibt es denn so Dringendes, dass du mich vom Dienstapparat mit unterdrückter Nummer anrufst? Ist es was Dienstliches, oder…“

„Nö“, knurrte Heppner betreten. „Ich habe nur blöderweise mein Handy zu Hause liegengelassen, als ich zum Dienst gefahren bin. Bis zu meiner Rückkehr nach Feierabend bin ich also nur über meine Büronummer oder mein Diensthandy zu erreichen.“

Seine Frau seufzte leise. Derartige Schusseligkeiten waren ihr nichts Neues. „Na gut, es liegt aber auch nichts Besonderes an, oder?“ Heppner grunzte bestätigend. „Nur Routinefälle. Drei Leichensachen, die ich büromäßig abzuarbeiten habe. Darunter sind zwei über 90 Jahre alte Insassen eines Pflegeheimes mit Krebs im Endstadium, und der dritte Tote ist ein Industriearbeiter, der vor 14 Tagen von einem Gerüst 10 m tief gestürzt, mit dem Kopf zuerst gelandet und jetzt an den Unfallfolgen verstorben ist. Eigentlich alles sonnenklar, aber die Ärzte haben auf den Totenscheinen jedes Mal ‚unklare Todesursache’ angekreuzt. Also kommen wir ins Spiel.“ Heppners Missvergnügen war auch für Uneingeweihte deutlich zu hören.

„Ach du Ärmster“, spöttelte Marion. „Es gibt wohl keine interessanten Tätigkeiten mehr für euch. Irgendwie seid ihr Mordermittler doch ein bisschen schizophren. Wenn viel los ist, jammert ihr über die Belastung, und wenn nichts zu tun ist, über Langeweile. Ich wette, du würdest eine ganze Menge für eine wirklich spannende Mordkommission geben.“

Klaus Heppner stimmte ihr gedanklich uneingeschränkt zu. Er wusste nicht, dass er nur wenige Tage später viel darum gegeben hätte, wieder gelangweilt zu sein…

***

„Wir haben gerade die Meldung einer Streifenwagenbesatzung aus Rahm bekommen, die ziemlich ominös klang. Einerseits ein Suizid, andererseits möglicherweise ein Einbruch mit einem Toten. Der Streifenbeamte klang aufgeregt und verstört. Klaus, fahre mit Marco zur Adresse Am Golfplatz 24 und sieh dir die Sache an. Ich bin hier mit höchst wichtigen Verwaltungsaufgaben beschäftigt und daher unabkömmlich. Unser Erkennungsdienst steht Gewehr bei Fuß und wird dich unterstützen, wenn du ihn anforderst.“ Heppner nickte ergeben und rollte die Augen. Noch mehr Routinekram, dachte er angewidert. Vielleicht hat sich der Bursche umgebracht, weil bei ihm eingebrochen und die Sammlung von Kinderpornos geklaut wurde. Er schüttelte den Kopf und rief sich selbst zur Objektivität auf. Nicht spekulieren, hielt er sich vor. Erst mal zählen die Fakten.

Marco de Koning, Kommissaranwärter des Bundeskriminalamtes und während seiner Ausbildung dem KK 11 beim Polizeipräsidium Duisburg zugeordnet sah Heppner mit strahlenden Augen an. Der altgediente Polizist musste sich ein Grinsen verkneifen, als er den Eifer in der Miene des jungen Kollegen bemerkte. So idealistisch war ich auch mal, dachte Heppner melancholisch, bevor der polizeiliche Alltag mein Weltbild verändert hat. Er winkte de Koning zu sich, der ihm ins Geschäftszimmer folgte, wo er sich von einer frustriert aussehenden Regierungsbeschäftigten Nadine Resznick einen Dienstwagen aushändigen ließ.

„Was ist denn mit dir, Nadine? Du machst ein Gesicht wir drei Tage Regenwetter. Dabei solltest du dich freuen, weil du doch vor der Höhergruppierung stehst.“ Seine Kollegin schnaubte in einer Art, die Heppner nur zu gut kannte. Ihm schwante Übles.

„Ach, ja? Diese Höhergruppierung ist eine einzige Verarsche. Stimmt, ich bin dann nicht mehr in Stufe 4, sondern in Stufe 6, was im Grundgehalt einen Lohnzuwachs wegen der gesteigerten Verantwortung bedeutet. Das Grundgehalt ist aber nur eine Komponente des Gesamtlohns. Es kommen nämlich noch die so genannten Erfahrungsstufen hinzu, das heißt wie lange ich schon in der jeweiligen Entgeltstufe bin. Ich habe gerade gerechnet und festgestellt, dass ich durch Höhergruppierung und gleichzeitige Reduzierung der Erfahrungsstufe pro Monat 75 € weniger ausgezahlt bekäme. Da niemand für höher qualifizierte Arbeit weniger Geld bekommen darf, erhalte ich eine Ausgleichszahlung, die sich aber mit jeder Gehaltserhöhung weiter reduziert, und bis ich tatsächlich mal mehr Geld bekomme, stehe ich kurz vor der Rente. Ist doch geil, oder?! Nee, ich denke, ich werde die Höhergruppierung ablehnen – und die damit verbundene Mehrarbeit einfach verweigern. So einfach ist das.“

Heppner blieb die Luft weg. Fairness bei Tarifverhandlungen erwartete er schon lange nicht mehr, seitdem die Landesregierung nur durch Verfassungsklagen dazu gebracht werden konnte, die Tarifabschlüsse im öffentlichen Dienst anzuerkennen. Dass jemand für höher qualifizierte Arbeit letztlich weniger Geld bekommen sollte hatte er aber nicht erwartet. Er winkte de Koning zu, der ihm ergeben wie ein junger Hund zum Dienstwagen folgte.

„Wir sehen uns die Angelegenheit erst mal an. Du machst nichts und beobachtest genau was ich mache, klar?“ Heppner bog auf die A 59 in Richtung Süden ein und sah mehr auf die Benzinpreise als auf seinen Kollegen. 1,25 € für einen Liter Super. Dass ich so etwas noch mal erleben darf… Er trat aufs Gas, und gehorsam schoss der Xedos 6 über die Autobahn, deren traditioneller Name ‚Nord-Süd-Achse’ langsam in Vergessenheit geriet.

„Wann reißen sie die Dinger da eigentlich mal ab? Ist doch ein totaler Schandfleck“, bemerkte de Koning und deutete auf die Ruinen der Gebäude auf dem Güterbahnhofsgelände, welches im Rahmen der Loveparade 2010 zu trauriger Berühmtheit gelangt war. Heppner schnaubte nur. „Was fragst du mich? Frag lieber die Fuzzis im Stadtplanungsamt, oder noch besser diesen Möbelheini, der das Gelände gekauft hat und jetzt alles verfallen lässt, weil …. ihm die Stadt keine maßgeschneiderten Straßen bis vor die Tür baut, er die Erschließungskosten zurückerstattet haben will… was immer er sich halt an Ausreden einfallen lässt. Und währenddessen baut er in einer Nachbarstadt genauso ein Center. Jeder kann sich ausmalen, dass er einen zweiten Laden in unmittelbarer Nähe garantiert nicht bauen wird, nur die Großkopfteten der Stadt merken nix. Die sind doch sowieso alle unfähig, verfilzt oder korrupt.“

De Koning nickte und sank etwas tiefer in den Beifahrersitz. Er wusste, dass weitere Fragen an seinen Tutor vergeblich sein würden, so lange dieser eine solch miese Laune hatte. Der junge Polizist verschränkte die Arme und starrte wortlos durch die Windschutzscheibe.

Der Weg nach Rahm dauerte lediglich eine Viertelstunde, dann standen die beiden Ermittler vor einem 14-geschossigen Hochhaus, das entgegen populärer Vorurteile einen sehr gepflegten Eindruck machte. Ein Streifenwagen mit eingeschaltetem Blaulicht stand quer im Zugang, und der Rest des Weges war mit rotweißem Flatterband abgesperrt. Heppner und de Koning bückten sich unter dem Band durch, als ein uniformierter Kollege sich ihnen in den Weg stellte.

„Sie können hier nicht rein… ach, du bist es, Klaus. Ich hatte dich nicht erkannt, entschuldige.“ POK Marco Pezzoli schüttelte den beiden Kriminalbeamten die Hand und führte sie um die Ecke des Hochhauses in Richtung des Hauseinganges, wo er ihnen bedeutete anzuhalten. Heppner sah die Bescherung schon auf den ersten Blick, seine Berufserfahrung ließ ihn sofort eine unsichtbare Wand aufbauen, die es ihm ermöglichte, den Anblick abzublocken, doch de Koning, der nicht über diese Fähigkeit verfügte, war dem optischen Eindruck schutzlos ausgeliefert. Er verfärbte sich, wandte sich ab, rannte zum Zaun und entledigte sich würgend seines Frühstücks.

„Wir vermuten, dass es sich bei dem Toten um Sebastian Vorholt handelt. Zu erkennen ist er nicht mehr so gut, aber er hatte seinen Pass in der Tasche. Er wohnte hier im 12. Stock, und gegenüber seiner offen stehenden Wohnungstür befinden sich am Geländer des offenen Flures einige Spuren, die von seinen Schuhen stammen könnten. Der Notarzt meinte, die Verletzungen würden zu einem Sturz aus dem 12. Stock passen. Da ist aber auch das einzige, was hier stimmig ist. Na gut, manche Opfer eines Einbruchs sind darüber schockiert, wenn jemand in ihren Intimbereich eindringt, aber sich gleich umzubringen…. Ich weiß nicht. Bei der Sache habe ich ein sehr mulmiges Gefühl.“

Ich auch, dachte Heppner mit trockenem Mund. Er zog sich einen Spurensicherungsanzug über und ging zu dem Toten, wobei er seinen Weg sorgsam markierte. Die ausgebreitete Blutlache zeigte nur zu deutlich, dass aufgrund der multiplen Verletzungen wohl ein erfahrener Pathologe erforderlich sein würde. Viel Spaß, Professor Kürten, dachte Heppner gallig, sah sich das Gesicht des Toten an und sog scharf die Luft ein, bevor er sich zu dem leichenblassen Marco de Koning umdrehte.

„Ruf Detlef an. Er soll uns die Jungs von der Spurensicherung herschicken, und sie sollen sich auch die Wohnung genau vornehmen. Das hier war kein Suizid, sondern ein Tötungsdelikt.“ – „Sicher?“, fragte de Koning nervös, und Heppner nickte.

„Der Mann ist mit der rechten Körper- und Kopfseite aufgeschlagen, wo er sich wahrscheinlich jeden Knochen gebrochen hat. Er hat aber außerdem Platzwunden an der linken Augenbraue und dem Jochbein, und last but not least – eine Strangfurche am Hals. Was außer massiver äußerer Gewalt könnte solche Spuren hinterlassen?“

„Ein Einbruch, der aus dem Ruder gelaufen ist?“, mutmaßte Pezzoli. Heppner seufzte nur. Die Antwort auf diese Frage zu finden wird uns einige Zeit kosten, dachte er.

Er ahnte nur noch nicht, dass ihm und seinen Kollegen die Zeit bald davonlaufen würde…

***

„Hier ist Mehdi. Wir haben den ersten Hund auf der Liste eingeschläfert“, erklang die Stimme aus dem Lautsprecher des Smartphones. Der Empfänger der Nachricht lächelte zufrieden, stellte aber doch noch eine Frage.

„Und die andere Sache, um die ihr euch kümmern solltet? Ist das auch erledigt?“ – „Spurlos“, bestätigte der Mehdi genannte nickend, ohne zu überlegen, dass sein Gesprächspartner dies natürlich nicht sehen konnte. Er beendete das Gespräch mit „Allahu Akbar“ und sah hinüber zu dem Hochhaus, wo die hektische Aktivität vor seinem Eingang ihn milde lächeln ließ.

Die gesamte Aktion war wie geplant abgelaufen. Sie waren unter einer Legende in das Mehrfamilienhaus gelangt, hatten die Wohnungstür ihrer Zielperson geräuschlos geöffnet und sofort damit begonnen, die Zimmer so herzurichten, dass jeder bei dem Anblick an das Werk eines stümperhaften Einbrechers denken musste. Danach hieß es nur noch: warten.

Das Opfer hatte keine Chance gegen ihn und seinen Kumpan Mahmut gehabt. Als er die Wohnung betrat, waren sie über ihn hergefallen, hatten ihn überwältigt und auf ihn eingeprügelt, bis er alles gesagt hatte was er wusste. Mehdi hatte schon begonnen den Mann zu erdrosseln, als Mahmut ein besserer Gedanke kam. Ein Hieb gegen seine Schläfe raubte dem Opfer umgehend das Bewusstsein, so dass es kein Problem gewesen war, ihn über die Balustrade zu werfen. Der Anblick des Toten hatte die Hausbewohner so gefesselt, dass die Mörder wenige Minuten später mühelos durch den Kellereingang verschwinden konnten, ohne im Mindesten beachtet zu werden. Nein, sie waren sich sicher, dass niemand sie wiedererkennen würde.

Mehdi seufzte, steckte sich eine Zigarette zwischen die Lippen und griff in die Tasche, um die Streichhölzer herauszuholen. „Die Dinger werden noch dein Tod sein“, knurrte Mahmut, der sich gerade aus dem Overall schälte. Sein Partner zuckte nur die Schultern. „Wer will schon ewig leben“, antwortete er lakonisch und suchte weiter in seinen Taschen nach Feuer. Mahmut rollte die Augen, griff in die Hosentasche und hielt seinem Kumpan ein Feuerzeug hin. „Dann habe ich bei dir was gut.“

Sein Freund nickte, zündete seinen Glimmstängel an und inhalierte tief, bevor auch er sich aus dem Arbeitsanzug schälte und diesen in den Laderaum des Fiat Ducato warf, den sie für die Aktion benutzt hatten. „Wenn ihr in ein Haus mit mehreren Mietparteien müsst, gibt es keine bessere Legende als sich als Maler oder Klempner zu tarnen“, hatte ihr Chef ihnen geraten. „In solchen Häusern ist immer was zu renovieren oder zu reparieren, und die Zeugen sehen nur auf die Overalls und nicht auf die Gesichter.“ Natürlich hatte er recht gehabt – wie sich gerade gezeigt hatte.

Die Kleidung würde in ein paar Stunden hundert Kilometer entfernt zusammen mit dem Lieferwagen in Flammen aufgehen. Die beiden Araber wussten, dass die Meldung der dortigen Polizei wahrscheinlich niemals in Zusammenhang mit ihrer Tat gebracht werden würde. Mehdi zog noch einmal an seiner Zigarette, warf den Rest auf den Boden und stieg in den Transporter. Als Mahmut anfuhr, zog er eine Liste aus der Tasche und reichte sie seinem Partner, der die erste Position sorgfältig durchstrich.

„Und jetzt?“, fragte Mehdi. „Nehmen wir die zweite Duisburger Nummer?“ Mahmut schüttelte den Kopf. „Das wäre zu gefährlich. Wir sollten die Bullen nicht unterschätzen. Ab und zu ist da mal ein kluger Kopf dabei, der genial genug ist, die Zusammenhänge zu erkennen. Nein, wir gehen die Liste der Reihe nach durch. Wir entsorgen den Wagen, und dann kümmern wir uns um den zweiten Hund. Wie ich sehen kann, ist es sogar eine Hündin…“

***

„Sein Blutdruck ist stabil, der Puls und die Herzfrequenz regelmäßig, und durch die Trepanation haben wir den Hirndruck gesenkt. Sehen Sie, wie gut das EEG aussieht! Trotzdem wacht der Mann einfach nicht auf. So langsam aber sicher fürchte ich, dass das Koma irreversibel ist.“ Professor Jamal Al-Hatoumi, Chefarzt der Neurologie im Centre Hospitalière Universitaire Ibn Rochd in Casablanca sah frustriert auf seinen Patienten herunter, der reglos vor ihm im Bett lag.

„Ist es vielleicht die Schusswunde im Unterbauch, Herr Professor? Könnte sich da eine Sepsis gebildet haben, die ihn vergiftet und das zerebrale System angegriffen hat?“ Oberarzt El-Motassir sah seinen Chef fragend an, doch der wehrte ab. „Auf keinen Fall! Die Blutwerte waren erstklassig, und die Wunde ist nach Entfernen des Projektils von den Kollegen in Marrakesch sofort versorgt worden, bevor man den Patienten hierher verlegt hat. Nein, daran liegt es nicht. Das Problem dürfte der sturzbedingte Hirnschaden sein.“

Der Mediziner wandte sich bedauernd ab. So ein Jammer, dachte er. Allah ist nicht immer gerecht. Vielleicht müssen wir doch versuchen, ihn mit leichten Elektroimpulsen zu wecken. Bei so einem jungen Mann haben wir vielleicht eine Chance.

Während sich die Tür hinter den beiden Ärzten schloss, bewegte der Mann im Bett keinen Muskel, und nicht einmal seine Lider flatterten. Niemand konnte sehen, dass hinter den geschlossenen Augen die Verzweiflung wuchs wie ein Krebsgeschwür.

Hamit El Tannoui war schon drei Tage nach der Operation an seinem Kopf wieder aufgewacht und hatte sofort nach einer Schwester gerufen, die ihn aber wohl nicht gehört hatte. So dachte er jedenfalls. Erst als ein Pfleger hereinkam und dieser auf den Kontaktversuch wieder nicht reagierte hatte er bemerkt, dass er wie versteinert im Bett lag und nicht in der Lage war, sich der Umwelt mitzuteilen. Warum kann ich mich nicht bewegen, dachte der Polizist wie unzählige Male zuvor, und wieder und wieder versuchte er, zumindest seine Finger mit einem Befehl zu erreichen, doch es tat sich nichts. Fast eine Stunde kämpfte der Polizist ebenso energisch wie vergeblich um die kleinste Bewegung, bevor er erschöpft aufgab. Morgen versuche ich es wieder, dachte er, bevor er in einen tiefen Schlaf fiel. Er sah und hörte daher nicht, wie sich zwei Stunden später die Tür öffnete und zwei Gestalten den Raum betraten. Doch genau in diesem Moment zuckte sein rechter Zeigefinger zweimal auf und ab.

***

„Hast du das gesehen, Tom? Hast du es auch bemerkt?“ Der Angesprochene schüttelte den Kopf. „Nee, Hanna. Ich habe nix gesehen, und wenn eine Bewegung da war und dich das Licht hier im Raum nicht getäuscht hat, war das sowieso nur ein ungesteuerter Reflex. Immerhin wachsen die Haare wieder. Ist aber nur ein schwacher Trost.“ Tom Hermanns deutete auf den Kopf des katatonischen Patienten und seufzte tief.

„Ich hätte nicht gedacht, dass wir unsere erste gemeinsame Urlaubsreise dazu benutzen, schwer verletzte Kollegen zu besuchen. Eigentlich wollten wir an den Strand, Basare besuchen und auf Kamelen durch die Wüste reiten.“

Hanna Karl sah ihn an und verzog missbilligend ihr Gesicht. „Wenn wir schon mal da sind… Du hast doch schon von der Theorie gehört, dass im Koma liegende eine ganze Menge von dem mitbekommen, was um sie herum passiert.“ – „Ja, und ich glaube auch an Telepathie“, ulke Hermanns, was ihm einen erneuten Rippenstoß einbrachte. Tatsächlich hatten sich die beiden Duisburger Polizisten während ihres Urlaubs in Marokko spontan zu einem Tagesausflug nach Casablanca entschlossen, der mit einer Stippvisite in der Moschee Hassan II. begonnen hatte und sich unvermeidlich mit einem Besuch in Rick’s Café (ja, das gibt es wirklich) fortsetzte. Natürlich hatte Tom Hanna tief in die Augen geblickt und frei nach Humphrey Bogart „Ich hau dir auf die Augen, Kleines“ gemurmelt, was sie dazu brachte, verzweifelt mit den angesprochenen Sinnesorganen zu rollen. Später kamen sie auf die Idee, bei Hamit El-Tannoui vorbeizuschauen, dessen schwere Verletzung alle Duisburger Kollegen schockiert hatte. Aufgrund des Hirnschadens, die sich ihr Kollege beim Aufprall an den Beckenrand des Swimmingpools zugezogen hatte, war an einen Rücktransport nach Deutschland noch nicht zu denken gewesen.

„Und ich habe doch gesehen, dass er sich bewegt hat“, zischte Hanna verdrossen und wandte sich ab. Tom seufzte und schlag seine Arme um seine Freundin. „Streite ich ja nicht ab. Ich denke nur…“ Hermanns erstarrte, und seine Reaktion ließ auch Hanna noch einmal hinsehen.

Es war mehr ein Zittern, und von einer Absicht konnte bei der schwachen Bewegung der rechten Hand El-Tanouis bestimmt nicht gesprochen werden. Dennoch entfuhr Hanna ein schwacher Schrei.

„Da! Ich hatte doch recht! Er…“ – „Jetzt mach dir keine übertriebenen Hoffnungen, Hanna“, dämpfte Tom die Freude seiner Liebsten. „Das alles können schwache Reflexe des Unterbewusstseins sein…. Hee, lass das!“ Er versuchte Hanna festzuhalten, die aus seinen Armen an Hamits Bett geeilt war und ihren Kollegen heftig in den Arm kniff. Dessen einzige Reaktion war ein heftiges Schnauben durch die Nase, was Hanna enttäuschte.

„Schluss jetzt, Hanna“, mahnte Tom streng. „Du hast doch nicht geglaubt, einen Komapatienten durch Kneifen aufwecken zu können. Wenn du das schaffst, ist dir der Medizin-Nobelpreis sicher. Komm jetzt, wir fahren wieder. Wenn du willst, können wir vor unserer Abreise ja noch mal herkommen.“

Hanna nickte und folgte ihrem Freund aus dem Zimmer. Sie drehte sich nicht um, wodurch ihr etwas Interessantes entging. Hamit war tatsächlich durch den Schmerz in seinem Arm aufgewacht, und er hatte das Schnauben seines Körpers, der ihn wie ein Gefängnis umschloss, bewusst wahrgenommen. Jetzt reproduzierte er diese Impulse, und er stieß Luft durch die Nase aus. Der Lufthauch war schwach und kaum von einem normalen Atemzug zu unterscheiden, und dennoch füllte sich Hamits Geist mit wildem Triumph. Er verdrängte die Müdigkeit und konzentrierte sich auf seine Atmung, bis er gezielt deutlich vernehmbare Luftstöße abgeben konnte. Geistig lachte er in wilder Freude auf. Nun kann ich ihnen zeigen, dass mein Geist noch lebt, dachte er. Ich werde mich verständlich machen können und ihnen berichten was ich weiß. Mit diesem Gedanken schlief er zufrieden ein, und vielleicht war wirklich die Spur eines Lächelns auf seinem Gesicht zu sehen.

Zwei

28. Mai, Nachmittag

„Nö, die Wohnung sieht keinesfalls aus wie ein Schlachtfeld“, berichtete Ede Vollstraß den Mitgliedern der einberufenen Mordkommission, die seinen Worten gebannt lauschten. „Die Täter sind dort eher mit chirurgischer Präzision vorgegangen.“

Klaus Heppner sah sich um und nickte den Kollegen, die rund um den großen Besprechungstisch herumsaßen, nacheinander zu. Da Detlef Schall, der Leiter des KK 11 morgen in den Urlaub gehen sollte und die Stellvertreterposition derzeit vakant war, hatte Volkhard van Dyke, der Leiter der Kriminalinspektion 1 ihn zum Leiter der Mordkommission ernannt. „Sie verstehen doch von allen hier am meisten davon“, hatte er Heppner zugeflüstert, „und außerdem können Sie sich so im Rennen um den mit A 12 dotierten Stellvertreterposten positionieren.“ Die Botschaft hör ich wohl, allein fehlt mir der Glaube, hatte Heppner frei nach Goethe gedacht, aber sich in sein Schicksal gefügt. Aktiv an den Ermittlungen teilzunehmen hätte ihm besser gefallen.

„Ich habe schon eine Menge Türen gesehen, die mit sanfter Gewalt geöffnet worden sind, aber hier waren die Spuren echt nur mit der Lupe zu entdecken. Echt professionell, ich könnte es nicht besser. Kein Wunder, dass Vorholt nichtsahnend zur Tür reingekommen ist und die Täter keine Mühe hatten, ihn zu überwältigen.“

„Die Täter, Ede? Bist du sicher, dass es mehrere waren?“, fragte Steffi Cornelius, die seit einem halben Jahr Dienst beim KK 15 versah, sich dort um Pkw-Diebe kümmerte und die Abwechslung in einer Mordkommission spürbar genoss. Ede zog einen Flunsch und sah Heppner an.

„Du hast den Toten ja gesehen, Klaus. Er war zwar nur 170 cm groß, wog aber fast 120 kg. So sieht mal halt aus, wenn man seine gesamte Freizeit nur als Gamer vor dem Rechner verbringt und keine Bewegung hat – es sei denn, man stiefelt in die Küche, um sich Pizza, Döner und Burger heiß zu machen. Das war nämlich der Inhalt seines Kühlschranks – zusammen mit Bier und Cola. Typisch für die Playstation-Generation.“ Ede schnaubte angewidert, bevor er weiter berichtete.

„Also ich kenne keinen, der einen solchen Koloss allein ohne fremde Hilfe über das 1,30 m hohe Geländer bugsiert. Das traut sich nicht mal Ulli Teichert zu, mit dem ich den Tatort aufgenommen habe, und der muss es wissen“. Die Kollegen nickten beeindruckt. Ihr Kollege Ulli Teichert war immerhin deutscher Rekordhalter im Bankdrücken. Ede grunzte nur und fuhr mit seinem Bericht fort.

„Selbst zu zweit hat man dabei Schwierigkeiten. Dürfte auch der Grund gewesen sein, dass wir Spuren an Mauer und Geländer gefunden haben, die den Schrammen an seinen Schuhspitzen entsprechen. Ein kleiner Stein im Rauputz hat eine waagerechte Kerbe in seine linke Schuhspitze gezogen; also wurde er liegend über das Geländer gewuchtet.“