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Micah ist die Prinzessin der Lux, den vereinten Völkern der magischen Geschöpfe. Als Sternenkriegerin verfügt sie über die Gabe der Seelenmagie. Damit kann sie die Seelen von anderen sehen und manipulieren. Vor dreizehn Jahren verlor sie bei einem Angriff der Schattenkrieger ihre Zwillingsschwester Lucca. Vor fünf Jahren begann sie jedoch von Lucca zu träumen. Fest davon überzeugt, dass ihre Schwester noch lebt, begibt sie sich auf die Suche nach ihr. Levi, ein Puk und Micahs bester Freund begleitet sie auf eine Reise zur Erde. Doch sie sind nicht die einzigen, die die verlorene Prinzessin suchen. Die Schattenkrieger sind ihnen dicht auf den Fersen. Wird es Micah gelingen ihre Schwester rechtzeitig zu finden und nach Aquilia zurück zu bringen? Oder werden die beiden Opfer der Schattenkrieger?
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Seitenzahl: 423
Veröffentlichungsjahr: 2022
Aquilias verlorene Tochter
Das Geheimnis der Phoenixmagie Band 1
Lia Stricker
© 2022 Lia Stricker
Buchsatz von tredition, erstellt mit dem tredition Designer
ISBN Softcover: 978-3-347-65818-9
ISBN Hardcover: 978-3-347-65820-2
ISBN E-Book: 978-3-347-65821-9
Druck und Distribution im Auftrag der Autorin:
tredition GmbH, Halenreie 40-44, 22359 Hamburg, Germany
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Prolog
Kennst du diesen einen Moment im Leben, wenn man sicher weiß, dass von jetzt an nie wieder etwas so sein wird wie bisher?
Ich hatte diesen Augenblick, als ich gerade einmal fünf Zyklen alt war. Ich war aus meinem Bett gekrochen, weil ich mal wieder nicht schlafen konnte und schlich mich durch die Flure. Die Ereignisse des vergangenen Tages hallten noch immer in meinem Bewusstsein wieder und ließen meinem Geist keine Ruhe. Meine Schwester Lucca und ich hatten unseren Lehrer erneut zur Weißglut getrieben - darin waren wir wirklich sehr gut.
Aber was konnte man auch erwarten, wenn zwei fünfjährige Mädchen von einem alten, tattrigen Mann unterrichtet wurden? Diesmal konnte sich unser Lehrer jedoch nicht wieder beruhigen, sodass er zu unseren Eltern ging und noch am selben Nachmittag seine Anstellung bei uns aufgab.
Heute frage ich mich, ob die Ereignisse dieser grauenhaften Nacht anders verlaufen wären, wenn unser Lehrer noch bei uns gewesen wäre. Denn auch wenn er nicht richtig mit uns umgehen konnte, so verstand er sich doch auf die Kontrolle seiner Fähigkeiten. Anders als meine Schwester und ich. Wir hatten erst vor einigen Monden zum ersten Mal unsere Fähigkeiten eingesetzt - aus Versehen natürlich - und dabei fast einen ganzen Wald dem Erdboden gleichgemacht.
Vollkommen in Gedanken versunken, bemerkte ich nicht, wohin ich ging, bis meine Füße plötzlich auf feuchtem Gras standen. Ich lief in die Mitte des Innenhofs und ließ meinen Blick zu den Bäumen schweifen, die den Garten umrahmten. Natürlich konnte ich in der Dunkelheit nichts erkennen und so beschloss ich, mich schließlich ins Gras zu legen und zu den Sternen hinaufzublicken.
Mein weißes dünnes Nachthemd zog sich sofort mit Wasser voll und schon nach wenigen Wimpernschlägen war mein Rücken klitschnass, aber das war mir egal, ebenso wie die Tatsache, dass das Gras grüne Flecken hinterlassen würde und meine Mutter dadurch wieder wissen würde, dass ich nachts nicht im Bett war. Ich war zu fasziniert von dem Himmelsspiel über mir, um mir über irgendetwas dergleichen Gedanken zu machen.
Der Nachthimmel war wolkenlos und ich hatte einen perfekten Blick auf die Sternendecke. Der Vollmond schob sich langsam in mein Blickfeld und fasziniert beobachtete ich, wie er seinen Weg über unsere Dächer fortsetzte. Um mich herum zirpten Grillen ein Wiegenlied. Ich fühlte mich vollkommen sicher und spürte wie mich nun doch die Müdigkeit drohte zu übermannen.
Doch ich spürte auch noch etwas anderes.
Etwas, das ich noch nicht genau benennen konnte. Es kam mir bekannt vor und doch kam ich nicht darauf, was genau es war.
Plötzlich zerriss das Knacken eines brechenden Astes unter einem schweren Stiefel den Frieden der Nacht. Ruckartig setzte ich mich auf und ließ meinen Blick erneut zu den umstehenden Bäumen schweifen, konnte jedoch noch immer nichts erkennen. Mühsam rappelte ich mich auf. Meine Glieder waren bereits kurz davor gewesen, einzuschlafen.
Still stand ich mitten im Innenhof und schloss meine Augen. Tief ein- und ausatmend ließ ich meine Sinne schweifen, genau wie ich es gelernt hatte.
Zuerst kam ich nicht viel weiter als bis zu dem Gras unter meinen Füßen, also holte ich noch einmal tief Luft und ließ mich ganz in meine Magie fallen. Langsam breitete sich ein Bild vor meinem inneren Auge aus. Ich sah das Gras, das den Boden bedeckte, ich spürte die Bäume, die um mich herum standen, unbeständig, unbeugsam und alt wie die Zeit selbst.
Die Gewissheit, sie würden noch viel länger als ich hier sein, erfüllte mich. Die kalten, starken Mauern des Palastes ragten dahinter auf. Auch sie würden noch viel länger als ich existieren, wenn sie entsprechend behandelt würden.
Hinter mir kroch eine Spinne in eine der Mauerritzen und suchte sich einen neuen Schlafplatz. Auch sie wurde von dem plötzlichen Geräusch gestört. Die Grillen waren verstummt, doch ich spürte ganz genau, wo sich jede einzelne von ihnen versteckte. In den Ästen der Bäume schliefen Vögel und Käfer hatten es sich hinter losen Rindenstücken gemütlich gemacht. Ich ließ meine Magie über sie alle gleiten und spürte, was sie fühlten. Sie reagierten auf mich und zeigten mir ihre Zuneigung mir gegenüber. Außerdem machten sie mich auf die Präsenz aufmerksam, nach der ich eigentlich gesucht hatte.
Dort war sie.
Zwischen den Bäumen verbarg sie sich im Schatten, doch ich hatte sie trotzdem gefunden. Jetzt, wo ich wusste, wo sie war, öffnete ich meine Augen und sah sie direkt an. Eine Minute verging und dann noch eine, in der sich keiner von uns beiden rührte. Die Anspannung war nahezu greifbar und als ich die Stille nicht mehr aushielt, machte ich den ersten Schritt.
»Es ist unhöflich einer Dame im Schatten aufzulauern.«
Die Gestalt im Schatten ließ ein leises Schnauben hören, bevor sie antwortete: »Das wäre es in der Tat, jedoch nur, wenn Ihr auch wirklich eine Dame seid. Seid Ihr eine wahre Dame?«
Jetzt musste auch ich grinsen.
Sie ging einige Schritte und als der Vollmond Enis Gesicht beleuchtete, konnte ich sein Lächeln auch sehen. Enis ist ein Hexer und einer unserer besten Wächter. Deswegen wurde er auch von meinen Eltern zu Luccas und meinem Leibwächter ernannt. Er trug die dunkelblaue Uniform der Palastwachen. Die silbernen Knöpfe waren ordentlich poliert und reflektierten das Mondlicht.
»Was tust du hier Enis?« Auch wenn ich die Antwort bereits erahnte, wollte ich sie von ihm bestätigt wissen.
»Es ist meine Pflicht, auf Euch aufzupassen, Prinzessin«, antwortete er und deutete dabei eine leichte Verbeugung an.
Ich zuckte zusammen. Es war mir unangenehm, von ihm oder sonst irgendwem mit meinem Titel angesprochen zu werden. Lucca ist die Ältere von uns beiden und würde einmal Königin werden. Ich werde immer nur die zweite sein und damit habe ich mich bereits abgefunden. Um so unangebrachter finde ich es immer von allen, mit Prinzessin angesprochen zu werden. Schließlich habe ich einen Namen.
»Du weißt ganz genau, dass ich es nicht mag, wenn du mich so ansprichst«, stieß ich aus. Empört verschränkte ich die Arme vor der Brust.
»Ich weiß, dennoch tue ich es gerne, Prinzessin.« Diesmal betonte er meinen Titel, damit ich ihn auch sicher nicht überhöre.
Als wenn ich das jemals könnte. Meine Sinne sind geschärfter als die der meisten anderen und so hörte ich selbst das Schnarchen meines Vaters aus seinen Gemächern, wenn ich mich konzentrierte.
»Was macht Ihr überhaupt hier draußen zu so später Stunde?«, schlug Enis ein unverfänglicheres Thema an.
»Das gleiche habe ich dich auch schon gefragt.«
»Und ich habe Euch geantwortet. Jetzt seid Ihr dran.« Wenn er sich da mal nicht täuscht.
»Ich bin dir keinerlei Erklärung schuldig, geschweige denn eine Rechtfertigung«, gab ich trotzig zurück.
Normalerweise bin ich nicht so vorlaut, sondern eher wortkarg. Lucca ist die Schlagfertige von uns beiden. Dabei fällt mir etwas ein.
»Woher bist du dir sicher mit wem du redest?«
Normalerweise waren Lucca und ich nicht auseinanderzuhalten und wenn wir uns bemühten, konnten wir den meisten vorspielen, die jeweils andere zu sein. Es gibt kaum einen, der uns auseinanderhalten könnte. Darum packte mich jetzt die Neugier. Vergessen war seine Frage und dass er mich heimlich beobachtet hatte. Ich brannte darauf, zu erfahren, wie er mich auf Anhieb erkennen konnte. Lange ließ er mich zum Glück nicht auf eine Antwort warten.
»Es war die Art, wie Ihr in die Sterne saht«, erklärte er mir. Das verstand ich nicht und legte den Kopf schräg.
»Eure Schwester scheint mir nicht eine so starke Verbindung zu den Sternen zu haben wie Ihr. Ich sah Euch bereits häufiger die Sterne beobachten. Ihr wirkt dabei viel ruhiger und selbstbewusster als sonst. Reicht Euch das als Erklärung?«
Jetzt war er es, der den Kopf schräg legte.
Ich musste mir eingestehen, dass er absolut recht hatte. Meine Verbindung zu unseren Wurzeln war schon immer ausgeprägter als Luccas. Sie verstand nie, warum ich nachts stundenlang einfach nur zu den Sternen hinauf blicken konnte. Lucca war ein echter Wildfang. Sie brauchte immer Action und Bewegung.
Oft wird uns gesagt, wir seien wie zwei Seiten des gleichen Amuletts. Lucca ist die ungestüme, wilde, unaufhaltsame Seite und ich die ruhige, berechnende, kontrollierte Seite. Bisher versuchten wir immer, das abzustreiten und je häufiger wir es hörten, desto mehr versuchten wir dagegen anzukommen. Doch je mehr wir versuchten aus diesem Käfig auszubrechen, desto mehr wurden wir zu dem, was sie in uns sahen. Es scheint ein endloser Kreislauf zu sein, aus dem wir nicht mehr herauskamen und niemals herauskommen würden.
Ich war vollkommen in Gedanken versunken, als plötzlich der Boden unter meinen Füßen zu vibrieren begann.
Eine Explosion sorgte dafür, dass alle Tiere des Innenhofes mit einem Schlag wach waren und flüchteten.
Der Geruch von Rauch wurde vom Wind an uns heran geweht. Irgendwo musste etwas brennen, doch ich konnte nicht sagen, wo es war. Ich schloss meine Augen und wollte erneut meine Magie nutzen, um die Ursache für diese Unruhe zu finden.
Noch bevor ich mich richtig konzentrieren konnte, packte mich Enis grob am Handgelenk und zog mich zu den Bäumen. Darauf war ich nicht vorbereitet, weswegen ich anfing zu stolpern. Enis zog mich kontinuierlich weiter mit sich und so fing ich mich schnell wieder.
Kaum hatten wir den Wald erreicht, erschütterte eine weitere Explosion den Garten. Ich stolperte über eine Wurzel und fiel der Länge nach in ein weiteres Wurzelgeflecht. Ein stechendes Pochen breitete sich von meinen Handballen und meinen Knien in meinem Körper aus.
Enis ließ mir keine Zeit, über meine Verletzungen nachzudenken. Er griff erneut nach meinem Arm, zog mich auf die Beine und gemeinsam rannten wir durch die Bäume auf einen Ausgang aus dem Garten zu.
Besser gesagt, Enis eilte voraus und zog mich hinter sich her. Mir blieb nichts anderes übrig, als ihm zu folgen. Er hielt meinen Arm so fest, dass ich mir sicher war, es würden blaue Flecken zurückbleiben. Aber ich war mir auch sicher, dass ich froh sein könnte, wenn ich diese Nacht überhaupt überlebte.
Eine erneute Explosion erschütterte die Nacht und der Boden unter mir begann zu beben.
Von der Mauer vor uns fielen einzelne Kieselsteine herunter. Vielleicht hatte ich mich getäuscht. Vielleicht würde die Mauer doch nicht länger als ich existieren.
Wir erreichten eine Tür, die uns zurück ins Innere des Palastes führte. Drinnen mussten sich meine Augen nicht erst an andere Lichtverhältnisse gewöhnen.
Die Lichter, die normalerweise die Nacht über in den Fluren des Palastes brannten, waren erloschen.
Enis fluchte neben mir. Ich konnte ihn verstehen. Diese Lichter
waren magisch. Sie sollten eigentlich nicht einfach so ausgehen.
»Hör mir jetzt ganz genau zu, Micah.« Enis kniete sich vor mich hin, sodass wir nun auf Augenhöhe miteinander waren.
Er konnte sich meiner ungeteilten Aufmerksamkeit sicher sein. Ich war mir bewusst, wie ernst die Situation war, sonst hätte er mich nicht bei meinem Namen angesprochen.
»Micah es ist meine Pflicht dich und deine Schwester zu beschützen. Momentan sind wir zu weit von Lucca entfernt, als dass ich euch beide gleichzeitig beschützen könnte. Darum werde ich jetzt zuerst dich in Sicherheit bringen und danach zu deiner Schwester gehen und sie zu dir bringen. Hast du das verstanden?«
Ich nickte. Ein Kloß bildete sich in meinem Hals und die kalte Hand der Panik schloss ihre Klauen um mein Herz. Meine Schwester war ganz alleine in unserem Zimmer am anderen Ende des Schlosses. Ich hätte auch da sein sollen. Wäre ich nur nicht aufgestanden und in den Garten gegangen, dann wären wir jetzt zusammen und Enis hätte uns beide beschützen können. So war er mir gefolgt und musste meine Schwester ganz allein lassen. Tränen stiegen mir in die Augen und verschleierten meine Sicht.
»Micah, sieh mich an«, sanft hob Enis mein Kinn an, sodass ich ihn in die Augen sehen musste.
Er hatte Mühe, seine Kräfte zu bändigen. Ich sah, wie in seinen Augen ein Sturm aus Blitzen tobte. Er würde alles dafür tun, dass mir nichts passierte. Ich versuchte, den Kloß herunterzuschlucken und blinzelte die Tränen weg.
Als meine Sicht wieder klarer wurde, nahm ich all meinen Mut zusammen und nickte. Das reichte Enis und er richtete sich wieder auf. Aufmerksam beobachtete er die Gänge zu unserer rechten und linken.
Wenn wir nach rechts gehen würden, kämen wir zum Ballsaal, von da aus würde uns eine Treppe direkt in die Küche führen und dort gab es einen Gang zu einem Schutzraum. Doch dieser Weg war lang und gefährlich. Da wir nicht genau wussten, wo sich die Angreifer befanden, konnten wir es unmöglich riskieren, durch die große offene Fläche des Ballsaals zu laufen. Andererseits sah die Alternative auch nicht viel besser aus.
Nach links führte uns der Flur direkt zum Eingangsbereich und vermutlich zum Hauptangriffsziel der Eindringlinge.
Ich konnte es in Enis Gesicht ablesen, er rang mit sich. Eines war sicher: Hier bleiben konnten wir definitiv nicht.
Wir standen wie auf dem Präsentierteller und es wäre nur eine Frage der Zeit, bis sie uns finden würden. Ich spürte die Gefahr, die uns umgab. Sowohl vom Ballsaal als auch aus der Eingangshalle strömte sie uns in heißen starken Wellen entgegen.
Aber ich spürte auch eine kühlen Luftzug und der kam nicht von draußen. Es gab einen Weg, der für uns sicherer war als die Alternativen und es war kein Weg, den Enis kannte.
Lucca und ich hatten ihn erst vor zwei Wochen bei einem unserer Streifzüge durch den Palast entdeckt. Ich ging auf die gegenüberliegende Wand zu und missachtete dabei den Protest von Enis hinter mir. Mit etwas Kraft drückte ich gegen einen losen Stein in der Wand. Kurz darauf schwang eine kleine Tür unter mir auf. Sie war gerade groß genug, dass Enis hindurch kriechen konnte. Auch ich musste mich bücken, um hindurch zu passen.
Ich sah die Überraschung in Enis Gesicht. Auf meinem breitete sich ein leichtes Grinsen aus.
Lucca und ich kannten Geheimnisse unseres zu Hauses, von denen niemand sonst wusste.
Aus der Eingangshalle drangen Stimmen und schnelle Schritte kamen auf uns zu. Wir krochen in den Geheimgang und hörten noch, wie die Alarmglocke anfing zu läuten, bevor die Tür hinter uns wieder ins Schloss fiel.
Der Gang lag in vollkommener Dunkelheit vor uns und Stille
umhüllte uns. Wir lauschten gespannt auf die Geräusche, die durch die Wand drangen. Doch die Mauer war einfach zu dick und wenn wir nicht die Tür öffneten, würden wir nicht hören, was da draußen vor sich ging. Doch das wiederum würde den Angreifern verraten, wo wir waren und das war nicht geplant.
Diesmal griff ich nach Enis Hand und zog ihn hinter mir her. Ich brauchte kein Licht, um mich im Tunnel zurechtzufinden. Meine Füße führten mich zielsicher hindurch, ohne dass ich einmal ins Stolpern geriet. Anders als Enis. Hier war er es, der nicht aufhören konnte, mit seinen eigenen Füßen hängen zu bleiben.
Wieder konnte ich es mir nicht verkneifen, zu grinsen. Ich sollte eigentlich starr vor Angst sein. Doch in diesem Geheimgang innerhalb der Mauern, die meine Vorfahren erbaut hatten, fühlte ich mich sicher. Ich spürte, wie sie bei uns waren und mich leiteten. Lucca zog mich immer damit auf, dass ich glaubte, unsere Ahnen zu spüren.
Lucca.
Ich begann zu stocken und wurde langsamer, bis ich schließlich stehen blieb. Meine Schwester war ganz allein. Ich konnte ihr nicht helfen.
Was, wenn wir nie wieder gemeinsam durch die Geheimgänge schleichen werden?
Wenn wir nie wieder gemeinsam unsere Eltern ärgern würden? Wenn sie mich nie wieder aufziehen könnte?
Ich musste zu ihr. Jetzt.
Enis lief fast in mich hinein, als ich anhielt. Scheinbar konnte er sich denken, was ich vor hatte. Er packte mich grob an meinen Schultern und drehte mich zu sich um. Die Blitze loderten immer noch in seinen Augen, aber da war noch etwas anderes, was ich nicht benennen konnte.
»Ich weiß, was du vorhast, Micah. Du musst mir vertrauen. Ich
werde deine Schwester beschützen, sobald ich weiß, dass du in Sicherheit bist.«
Ich schüttelte den Kopf. Er konnte sie nicht beschützen.
»Sie ist meine Schwester. Es ist meine Aufgabe auf sie aufzupassen.«
Er begann mich zu schütteln. »Komm zur Vernunft Micah. Du kannst sie nicht beschützen. Überlass das mir. Das ist meine Aufgabe.«
Ich riss mich von ihm los und rannte weiter durch den Gang. Ohne meine Führung hatte Enis Schwierigkeiten mir zu folgen. Vor mir lag der Ausgang. Durch diese Tür gelangte ich wieder auf einen Flur. Hier lagen Trümmer der Tür auf dem Boden verstreut.
Wir waren jetzt auf der anderen Seite der Eingangshalle. Vorsichtig schlich ich an die Wand gedrückt in ihre Richtung.
Ich hörte Stimmen, konnte jedoch nicht herausfinden, woher sie kamen.
Plötzlich legte sich eine verschwitzte Hand auf meinen Mund und jemand drückte mich an sich. Ein raues Lachen erklang, erbebte den Körper, der mich hielt, als ich versuchte zu schreien und um mich zu schlagen. Er hob mich hoch und trug mich mühelos ins Foyer.
»Seht mal, wen ich hier gefunden habe. Dachtest wohl, du könntest uns ganz allein überwältigen, was? Tja, falsch gedacht, kleine Prinzessin.«
Der Mann begann laut zu lachen und seine Freunde stimmten mit ein. Erst jetzt konnte ich erkennen, wie viele es waren. Vier kamen von beiden Treppen aus dem ersten Stock heruntergelaufen, fünf kamen aus dem Gang zum Ballsaal und drei kamen hinter uns aus dem Gang. Zwei weitere standen zwischen den Resten der großen Eingangstür. Das würde zumindest eine der Explosionen erklären. Sie hatten die Flügeltür irgendwie aufgesprengt.
»Sie ist nicht allein.«
Enis stand mitten im Flur, ein Schwert in der Hand. Blitze zuckten über seinen Körper. Er war kurz davor, seine Kraft zu entfesseln und wie ein Wirbelwind alle zu töten, die ihm im Weg standen. Das hatte ich bei ihm schon oft beobachtet. Die anderen Wächter hatten auf dem Übungsplatz keine Chance gegen ihn, wenn er erstmals richtig wütend wurde. Und jetzt, daran gab es keine Zweifel, war er richtig wütend. Und er würde sich nicht zurückhalten, wie gegen seine Freunde. Er würde sie alle töten.
Doch noch bevor er auch nur einen Schritt in unsere Richtung machen konnte, ragte eine Schwertspitze aus seinem Brustkorb. Seine Augen weiteten sich und unsere Angreifer begannen zu lachen. Mit einem Ruck wurde das Schwert wieder aus ihm herausgezogen. Enis befühlte mit der freien Hand die Wunde und starrte ungläubig auf das Blut auf seinen Fingerspitzen. Sein Schwert fiel ihm scheppernd aus der Hand und er fiel auf die Knie. Den Blick stur auf mich gerichtet, sagten mir seine Augen alles, wofür ihm bereits die Kraft fehlte.
Ich sah die Trauer, dass er sein Versprechen nicht halten konnte, dass er mich nicht beschützen konnte, dass er meine Schwester nicht retten konnte und die Resignation, dass er nun hier sein Ende finden würde. Aber da war noch etwas anderes in seinen Augen, es war Hoffnung.
Hoffnung, dass trotz allem alles wieder gut werden würde. Hoffnung für unser Königreich. Hoffnung für unsere Zukunft. Und dann zog sich der Schleier des Todes über seine Augen und seine Blitze verstummten.
Ich hörte weder den Aufprall seines Körpers, noch das Lachen seines Mörders. Ein dumpfer Schmerz breitete sich in mir aus und umschloss mein Herz, verbarrikadierte es hinter einer dicken Mauer, verschloss meine Gefühle. Eine Kraft baute sich in mir auf, an der ich bisher nur an der Oberfläche gekratzt hatte. Sie übernahm die Kontrolle über meinen Körper, füllte auch den letzten Winkel aus und schwoll immer weiter an.
Ich begann zu schreien und meine Magie bahnte sich einen Weg nach draußen. Sie schoss durch alles und jeden in meiner Umgebung.
Ich spürte die Siegessicherheit, die Angst, die Verletztheit, die Trauer, die Hoffnung, die Zuversicht und noch vieles mehr eines jeden. Und ich spürte ihre Lebensenergie. Ich wusste, wie viel Zeit einem jeden noch bleiben würde.
Doch diese Zeit war nun um.
Dafür sorgte ich.
Niemand der Angreifer in der Halle würde überleben. Meine Magie verzehrte sie alle und ich konnte sie nicht aufhalten, selbst wenn ich es gewollt hätte.
Dies war der Moment, in dem ich wusste, dass von nun an nichts mehr so sein wird wie bisher.
Die Welt um mich herum begann sich zu drehen und als meine Magie auch den Letzten von ihnen aufgezehrt hatte, breitete sich eine undurchdringliche Schwärze von den Rändern meines Sichtfeldes aus und verschlang mich, führte mich in ein Reich ohne Träume.
Kapitel 1
Die Erzählungen über diese grausame Nacht verursachen noch heute Angst und Schrecken, bei jedem, der sie hört oder erzählt. In dieser Nacht sind nicht nur zwanzig Angreifer gestorben, sondern auch viele gute Wächter, Zofen und Diener.
Ein Schleier der Trauer verbreitete sich im ganzen Land. Was jedoch alle Lux am meisten schockierte, war der Tod meiner Schwester. Ich selbst erinnere mich an die Geschehnisse nach meinem Zusammenbruch nur noch schemenhaft.
Ich weiß, dass mich andere Palastwächter in der Eingangshalle zwischen all den Toten fanden. Sie versuchten von mir zu erfahren, was passiert war, aber ich konnte nur weinen und bekam kein Wort über meine Lippen. Erst Wochen später schaffte ich es, mit meinen Eltern über das Vergangene zu reden. Noch am selben Tag erfuhr ich, dass meine Schwester verschwunden sei.
Unser Zimmer war vollkommen niedergebrannt und die Wächter vermuteten, dass es die Magie meiner Schwester war, die das verursacht hatte. Auch meine Eltern waren davon überzeugt. In dem Zimmer fand man zudem die verkohlten Überreste zweier Männer, das ist zumindest die Annahme. Eine Identifikation war ausgeschlossen. Dafür war das Feuer zu stark gewesen.
Es bestand die Möglichkeit, dass meine Schwester überlebt hatte und sich irgendwo versteckte. Mein Vater sandte Soldaten ins gesamte Königreich aus und ließ alle nach der verschollenen Prinzessin suchen.
Erst nach einem Mondzyklus und einem Tag der endlosen Suche war klar, dass sie nicht mehr bei uns war. An diesem Tag trug ich ein schwarzes, langes Kleid und ein schwarzes Tuch über meinem Gesicht. Meine Mutter trug ein ähnliches Outfit und mein Vater einen schwarzen Anzug. Alle im Land trugen schwarz und die Trauer, als mein Vater offiziell den Tod meiner Schwester verkündete, war überwältigend.
Ich hatte in diesem einen Zyklus gelernt, meine Magie auszusenden und nach ihrer Energie zu suchen. Eine tiefe und unbeschreibliche Verbindung hatte sich zwischen mir und unserem Land aufgebaut. Ich konnte spüren, wie es mir helfen wollte, meine Schwester zu finden und wie es um sie trauerte, als wir die Suche beendeten.
Unserem Volk saß der Schrecken tief in den Knochen und der Verlust baute sich ein Nest tief im Herzen eines jeden und verweilte dort. Unheilvoll drohte es jeden zu zerreißen, der es wagte, an diesen Tag zu denken. Und doch verlangte mein Vater, dass diese Nacht und ihre Opfer niemals vergessen werden.
Er rief den Tag der Erinnerung aus. Ein Tag, an dem sich alle an die Verlorenen erinnern sollten und ihre Opfer gewürdigt werden. In jedem Mondzyklus wird im gesamten Land dieser Tag zelebriert und in jedem Zyklus um Punkt Mitternacht stehe ich vor dem Palast und lasse meine Magie durch das Land streifen, in der Hoffnung vielleicht doch eines Tages ein Zeichen oder einen Hinweis von meiner Schwester zu finden. Und jedes Mal wurde ich enttäuscht. Ich fand nichts dergleichen und spürte nur die Trauer unseres Volkes und den Kummer des Landes.
Sieben Mondzyklen nach dem Todestag meiner Schwester begann ich von ihr zu träumen. In meinen Träumen wuchs sie heran wie ich, wurde älter und schöner. Sie lebte in einer Welt weit entfernt von mir, wo ich sie niemals würde erreichen können. Sie lachte und weinte, war wütend und aufgeregt. Sie liebte und wurde geliebt.
Anfangs waren diese Träume nichts weiter als das, Träume von einer verlorenen Schwester. Doch mit jedem Zyklus, der verging, in dem meine Kräfte wuchsen und ich lernte sie besser zu kontrollieren, wurden die Träume klarer.
Manchmal sehe ich, wie sie an einem Tisch sitzt und etwas in ein Heft schreibt, wie sie mit anderen Mädchen in unserem Alter lacht und wie sie einem Jungen hinterher sieht, wenn sie glaubt, er würde es nicht bemerken.
Meinem Vater erzählte ich nie etwas über meine Träume. Er verstand meine Kräfte nicht so wie meine Mutter. Ihr schilderte ich alles, was ich sah, bis ins kleinste Detail.
Zumindest tat ich das früher. Jedes Mal, als ich ihr von dem Leben meiner Schwester erzählte, sagte sie mir, dass das einfach nur Träume waren und ich sah Tränen in ihren Augen aufsteigen. Sie versuchte immer für mich und meinen Vater stark zu bleiben und keine Schwäche zu zeigen, doch ich sehe, wie schwer es ihr fällt, an Lucca zu denken oder ihren Namen zu sagen.
Am Tag der Erinnerungen werden jedes Mal die Namen all derer genannt, die ihr Leben bei der Verteidigung unseres Palastes verloren hatten. Auch der Name meiner Schwester fällt und meine Mutter zuckt bei ihrer Nennung immer zusammen. Es ist schwer daran zu glauben, dass es ihr gut ginge, wie sie es versuchte allen zu zeigen, wenn man sie hinter verschlossenen Türen weinen hört oder den Schmerz in ihrer Seele spürt.
Vor zwei Zyklen erlaubten mir meine Eltern, die Phoenixakademie zu besuchen. Für alle Lux galt eine Schulpflicht vom siebzehnten bis zum neunzehnten Lebenszyklus. Auch wenn nur drei Mondzyklen verpflichtend waren, wurden die meisten bereits vorher auf Schulen in ihren Heimatstädten unterrichtet.
Die Phoenixakademie wird von der königlichen Familie finanziert und allen Lux ist es erlaubt, sie zu besuchen. Hier sollen die Kinder aller Völker lernen, miteinander umzugehen und die Traditionen und Kräfte der anderen kennenzulernen.
Auch wenn Aurora vor tausend Mondzyklen die Völker vereint hat und sie heute in den Städten gemischt leben, gibt es noch immer Ausschreitungen zwischen ihnen. Meine Eltern setzen sich stark dafür ein, dass Frieden herrscht und gehen mit gutem Beispiel voran.
Sie haben nicht innerhalb ihrer Rasse geheiratet, wie viele es
immer noch tun. Während mein Vater einer der legendären Sternenkrieger ist, gehört meine Mutter zum Volk der Walküren. Meine Schwester und ich sind wie unser Vater als Sternenkrieger auf die Welt gekommen.
Aber lange bevor wir geboren wurden, vermuteten viele, dass es keine Kinder aus der Verbindung des Königs und der Königin geben würde. Dass unser Volk eines Tages ohne Thronerben sich erneut gegenseitig auf dem Schlachtfeld nieder streckte.
Dann wurden sie überrascht von der Ankündigung der Geburt von Zwillingen. Seitdem sind sie der königlichen Familie wieder wohlgesonnener und als wir diesen schrecklichen Angriff der Schattenkrieger, wie sie sich selbst nennen, überlebten, war ihr Vertrauen gestärkter als je zuvor.
Umso erstaunlicher war es für mich, wie die anderen Schülerinnen und Schüler mich in meiner ersten Woche an der Phoenixakademie behandelten. Sie zeigten mir keinerlei Respekt und beschimpften mich aufs Ungeheuerlichste. Damit hatte ich nicht gerechnet. Nicht einmal die Lehrenden standen mir zur Seite. Ich wollte damals meine Schulzeit vorläufig beenden.
Doch kurz bevor ich alles aufgab und schon vor dem Büro der Direktorin stand, regte sich wieder meine Magie. Ich spürte den Geist meiner Ahnen. Sie waren enttäuscht von mir, weil ich es nicht schaffte, mir den Respekt meiner Mitschüler zu verdienen. In diesem Augenblick wurde mir klar, dass die anderen lediglich darauf warteten, dass ich versagte und diesen Gefallen wollte ich ihnen nicht tun. Ich machte auf den Absatz kehrt und erkämpfte mir die Achtung all jener, die mich testeten.
Ich wurde zur besten Schülerin, lernte Kontrolle über meine Magie und meine Gefühle und wurde sogar noch im selben
Mondzyklus zur Schülersprecherin gewählt. Auch fand ich drei sehr gute Freunde, die mir helfen, wo sie können und dafür sorgen, dass niemand mehr vergisst, wer ich war.
Aktuell stehe ich kurz vor dem Abschluss meines zweiten Mondzyklus auf der Akademie. Am Ende einer jeden Schulphase müssen die Schülerinnen und Schüler einige Prüfungen bestehen. Diese bestehen aus einem praktischen und einem theoretischen Teil.
In der Theorie müssen wir einen Fragebogen ausfüllen. Es wird unser gesammeltes Wissen der gesamten Schulphase abgefragt. Dabei geht es neben der Geschichte Aquilias und der Lux auch um allgemeines Wissen in den Bereichen der Mathematik, der Natur und ihrer Gesetze und Sprachen. Für mich und einige andere ging es auch um Diplomatie und Kommunikation, aber das ist abhängig von unseren jeweiligen Wahlfächern.
Im Praxisteil der Abschlussprüfung müssen wir dieses Mal gegeneinander antreten und unsere Fortschritte in einem magischen Duell unter Beweis stellen. Das Ganze ist immer eine große, aufsehenerregende Veranstaltung, bei der Freunde und Familie zusehen dürfen. An den ersten beiden Tagen kämpfen die Erstklässler gegeneinander, am dritten und vierten Tag dann die Zweitklässler und den Höhepunkt bildet das Turnier der Drittklässler, für die das gleichzeitig auch ihre Abschlussnote beeinflusst.
Als Schülersprecherin muss ich zudem den Überblick über alles behalten. Es gibt zwar Organisationsteams, die die detaillierte Planung übernehmen, doch ich wache über alles.
Normalerweise verlaufen die Abschlusstests ohne großes Aufsehen, aber seitdem ich auf der Schule bin, besucht auch ein Großteil des königlichen Hofstaats die Feierlichkeiten, angeführt von meinen Eltern, dem König und der Königin der Lux.
Ich bin gerade dabei, einen letzten Rundgang über das Kampffeld zu wagen, als ich meinen Namen höre.
»Micah warte. Micah«, brüllt Levi lauthals über den Platz.
Ich bleibe stehen und drehe mich zu ihm um. Gerade noch rechtzeitig, um zu sehen, wie er auf dem losen Sand ausrutscht und der Länge nach im Dreck landet. Ein Lachen kann ich mir nicht verkneifen und ich sehe, wie auch sein Körper von Lachen geschüttelt wird.
Levi ist mein bester Freund und ein Puk. Er ist dafür bekannt, dass er nur Unsinn im Kopf hat, aber er schafft es immer, mich zum Lachen zu bringen und wenn ich mal wieder verzweifle, holt er mich wieder zurück aus meiner schlechten Laune. Ich bin ihm sehr dankbar dafür.
Vor allem, da er mit seinen Kräften nicht nur mich wohlgesonnen stimmen konnte, sondern auch jeden anderen. Er ist ein Meister der Streitschlichterei, obwohl er und seine Artgenossen meistens die Auslöser für Streitereien sind.
Er stützt seine Ellbogen in den Sand und legt sein Kinn auf seine zusammengefalteten Hände. Mit seinen Beinen pendelte er auf und ab. So liegt er häufig auf dem Boden und sieht dabei so unschuldig und verletzlich aus, dass ich mich sofort dazu ermutigt fühle, mich neben ihn zu legen. Oft liege ich auf dem Rücken im Gras und erzähle ihm von meinen Träumen, während er so neben mir liegt und mich aufmerksam mustert.
Manchmal frage ich mich, wie viel er mir wohl glaubt oder ob er sich insgeheim der Meinung meiner Eltern angeschlossen hat.
Abrupt höre ich auf zu lachen und mustere ihn aufmerksam. Irgendwas ist diesmal anders.
Er wirkt…ernst und das passt einfach nicht zu seiner sorglosen und frohen Persönlichkeit.
Ich habe Levi noch nie so gesehen und ich kenne ihn schon seit fast zehn Mondzyklen. Sein Vater besucht als Gesandter der Puks oft unseren Palast und nimmt gerne seinen Sohn mit, seitdem er gemerkt hatte wie gut Levi und ich uns verstehen.
»Was ist los Levi?«
»Nichts ist los. Was soll denn los sein?«, fragt er mit unschuldiger Miene.
Ich sehe ihn misstrauisch an. »Du kommst doch nicht ohne Grund den weiten Weg vom Schulgebäude hierher, nur um ein bisschen im Sand zu liegen.«
»Also, erst mal liege ich nicht im Sand, sondern im Dreck. Du solltest aufhören immer so gehoben zu reden. Das macht es uns normalen Lux schwierig dir zu folgen.«
Ich verdrehe die Augen. Er kann mir sehr gut folgen.
»Und zweitens: Darf ich nicht den weiten Weg vom Schulgebäude hierher«, zitiert er mich theatralisch, »auf mich nehmen, um meiner besten Freundin Gesellschaft zu leisten?«
»Doch natürlich darfst du mir Gesellschaft leisten. Ich freue mich sogar sehr über deine Anwesenheit.« Ich lächele auf ihn hinab.
Aufmerksam hebt er eine Augenbraue, ein neugieriges Funkeln erscheint in seinen Augen und seine Muskeln spannen sich leicht an. Jetzt kommt die Frage, die er mir am liebsten stellt.
»Hast du wieder von Lucca geträumt und mir noch nichts davon erzählt?«
»Nein, keine neuen Träume«, resigniert lasse ich den Kopf hängen.
Auch wenn mich diese Träume manchmal die Nacht hindurch wach halten, kann ich nicht genug von ihnen bekommen. Auch nach fünf Mondzyklen glaube ich noch immer daran, dass mir diese Träume das Leben meiner Schwester zeigen, dass sie nicht, wie alle glauben, beim Angriff vor dreizehn Mondzyklen verstarb.
Levi zuckt mit den Schultern, dreht sich um und setzt sich mit dem Rücken zu mir in den Sand. Dass er auch die Arme vor der
Brust verschränkt, sehe ich an der Spannung seines dunkelblauen T-Shirts über seinem Rücken.
Ich seufze leise.
»Und was stimmt jetzt nicht?«, frage ich ihn und vielleicht kann er in meinem Tonfall hören, dass ich eigentlich keine Lust auf seine Spielereien habe.
»Nichts«, gibt er spöttisch von sich.
Wieder verdrehe ich die Augen. Wenn ich mich mit Levi unterhalte, kommt diese Bewegung sehr oft vor.
Ich gehe auf ihn zu und umquere ihn in sicherem Abstand. Wer weiß schon was er in seinem verrückten Gehirn gerade ausbrütet. Sobald ich in seinem Blickfeld erscheine, dreht er sich wieder von mir weg.
Erneut versuche ich mich vor ihn zu stellen, aber immer wenn ich fast am Ziel bin, dreht er sich einfach weiter im Kreis, sodass ich wieder seinem Rücken gegenüber stehe.
Wir wiederholen diese kleine Albernheit, jedoch komme ich mit jeder Runde ein Stückchen näher an ihn heran. Mit jeder Umdrehung gehe ich etwas schneller und er dreht sich schneller von mir weg.
Auf einmal verliere ich den Boden unter den Füßen und stürze geradewegs auf ihn drauf. Zusammen landen wir im Sand, wobei er unter mir liegt.
Schnell stütze ich mich auf meinen Armen ab, um etwas Abstand zwischen uns zu bringen.
Ich spüre, wie sich seine Brust unter mir schnell hebt und senkt. Sein Atem streicht warm über meine Wange. Ich rieche sein Shampoo zusammen mit seinem natürlichen Minzgeruch.
Seine blauen Augen nehmen die Meinen gefangen und ich verliere mich in ihnen, stürze hinein in eine andere Welt.
Er hat mir schon oft erlaubt, in seine Seele zu blicken, aber diesmal ist es anders als sonst. Was sich dort vor mir ausbreitet, ist anders als alles, was ich bisher sah.
Ich lasse mich tief fallen und nehme alles auf, was er bereit ist mir zu zeigen. Sein gesamtes Wesen breitet sich vor mir aus. Dort sehe ich seine natürliche Gelassenheit, seine Coolness, seinen Scharm, seine Gefühle, die er unter der Maske des Scherzes zu verstecken versucht, die ich aber dennoch sehen kann.
Aber dort ist auch eine Verletzlichkeit, die so groß ist, dass sie droht, alles andere zu verschlingen. Mir ist nicht bewusst gewesen, wie viel er trotz unserer so lange bestehenden Freundschaft noch immer vor mir versteckte. Und dann sehe ich das Herz seiner Seele. Es strahlt aus seinem tiefsten Inneren heraus, mit einer solchen Vielfalt.
Ich ertappe mich dabei, wie ich es beobachte, wie ich mich vollkommen in seinem Anblick verliere.
Noch nie habe ich mich so tief in die Seele eines anderen vorgewagt. Nachdem ich beim Angriff der Schattenkrieger die Kontrolle verloren hatte, schwor ich mir nie wieder so tief in eine fremde Seele einzutauchen.
Und hier bin ich nun.
Ich liege auf dem Kampffeld der Akademie kurz vor der Abschlussprüfung auf meinem besten Freund und bewundere das Herz seiner Seele, den Funken seiner Magie, die Ader seiner Existenz.
Langsam ziehe ich mich zurück. Wenn ich ihn jetzt ruckartig und unbedacht verlasse, könnte ich ihm unbeschreibliche Schmerzen zufügen. Die Farben seiner Emotionen überdecken sein Seelenherz und ein intensives Blau verschließt alles vor meinem Blick.
Seine Augen sehen mich noch immer aufmerksam an.
Erst jetzt wird mir bewusst, dass ich immer noch auf ihm liege.
Schnell stehe ich auf - ich springe beinahe von ihm runter und gehe einige Schritte zurück. Er liegt noch immer auf dem Rücken und starrt an die Stelle, wo soeben noch meine Augen waren.
Ich räuspere mich und er erwacht aus seiner Starre. Während ich mir den Sand vom Kleid klopfe, setzt er sich auf. Noch immer lässt er mich nicht aus den Augen.
»Was hast du gesehen?«, will er schließlich wissen.
Ich sehe auf. Eine nachdenkliche Miene breitet sich auf seinem Gesicht aus, aber da ist auch Angst.
Hat er Angst vor dem, was ich vielleicht über ihn erfahren haben könnte?
»Wie viel willst du, dass ich gesehen habe?«, frage ich ihn schließlich.
Er zuckt mit den Schultern und sein misstrauisches Gesicht weicht seinem typischen Grinsen.
»Ist mir eigentlich egal. Ich vertraue dir.«
Es ist ihm nicht egal und das wissen wir beide. Ich reiche ihm meine Hand und ziehe ihn auf die Beine, als er danach greift.
»Du hast überall Sand in deinen Haaren…und an deinen Klamotten.«
Er sieht an sich herunter. »Und wessen Schuld ist das wohl? Meine jedenfalls nicht.«
Mit den Händen fährt er durch seine Haare und Sandkörner rieseln zu Boden. Die an seiner Hose und seinem T-Shirt beachtet er nicht.
»Wir sollten zurück zur Akademie gehen. Es sollte bald Essen geben.« Als ob Levis Magen lediglich auf sein Stichwort gewartet hätte, knurrt er lautstark.
Wir brechen beide in schallendes Lachen aus. Nur schwer können wir uns wieder beruhigen.
»Wann immer Ihr soweit seid, My Lady.« Grinsend hält er mir seinen Arm hin, damit ich mich einhaken kann.
Ich lasse einen abschließenden Blick über das Feld und die Tribüne schweifen. Mit einem Nicken befinde ich es bereit für die morgigen Festivitäten. Ich greife nach seinem Arm und gemeinsam gehen wir zurück zum Schulgebäude.
Das Gelände der Phoenixakademie ist riesig und scheint für ein
ungeübtes Auge nahezu endlos. Die älteren Schülerinnen und Schüler wissen, dass das Gegenteil der Fall ist. Zwar ist das Grundstück wahrhaftig sehr groß, jedoch nicht unendlich.
Bei verschiedenen Trainingseinheiten sind wir schon oft auf die Grenzmauern gestoßen, die die Schüler der Akademie drinnen und Fremde draußen halten sollten. Die meisten von uns wissen jedoch, wie sie diese Sicherheitsmaßnahmen der Schulleitung umgehen können und sich einen erholsamen Nachmittag oder Abend außerhalb dieser Mauern machen können. Aber auch innerhalb der Mauern kann man viel Spaß haben.
Es gibt Ställe mit Pferden zum Ausreiten, eine Schwimmhalle und einen großen Teich zum Schwimmen, Sportfelder zum Austoben, eine riesige Sporthalle zum Abreagieren, einen wilden Wald zum Erkunden, ein Heckenlabyrinth zum Verlaufen und weite mit Gras bewachsene Flächen zum Entspannen.
Unsere Stundenpläne können wir weitestgehend selbst zusammenbauen. Natürlich gibt es ein paar Pflichtfächer wie Geschichte, Naturwissen und Magie, aber auch viele Wahlfächer wie Tanzen, Musik, Kampfkunst, Reiten, Schwimmen, Klettern und vielem mehr.
Auf meinem Stundenplan stehen zudem noch Völkerrecht und Diplomatie, als Vorbereitung auf meine zukünftigen Pflichten als Königin der Lux.
Der Campus ist so aktiv wie seit langem nicht mehr. Die Luft ist gefüllt mit Anspannung und Aufregung.
Auf unserem Weg zurück zum Hauptgebäude begegnen Levi und ich einigen Erstklässlern, die aufgeregt miteinander über die Gründung der Lux diskutieren. Als wir an ihnen vorbei gehen, werden sie auf uns aufmerksam und erkennen, wer wir sind. Sofort stehen sie auf und stellen sich uns in den Weg.
Abrupt bleibe ich stehen und zwinge Levi ebenfalls anzuhalten.
»Micah, Micah, bitte kannst du uns helfen? Wir wissen nicht weiter«, bettelt eines der drei Mädchen.
Die anderen sowie die zwei Jungen, die zur Gruppe gehören, nicken eifrig.
Ich lächele.
»Was wisst ihr denn nicht?«, frage ich das Mädchen, das den Mut hatte, mich anzusprechen.
Viele Erstklässler zögern oder versuchen es gar nicht erst. Aber sie sprach ohne Scheu mit mir, sogar ohne meinen Titel zu verwenden.
»Ich denke, das dürfte vieles sein«, raunt Levi mir ins Ohr.
Als Antwort entziehe ich ihm meinen Arm und knuffe ihn in die Seite. Er beugt sich weg, ist aber nicht schnell genug.
»Es geht um die Vereinigung der Völker, also die Gründung der Lux. Haben zuerst die Dschinns, die Walküren oder die Gestaltwandler unterzeichnet?«, wissbegierig wartet das Mädchen meine Antwort ab.
Beim genaueren Hinsehen erkenne ich, dass sie eine Walküre ist. Die anderen vier sind Dschinns und Gestaltwandler. Es überrascht mich nicht, dass sie mich ausgerechnet zu den drei Völkern befragen, denen sie selbst angehören.
»Ich glaube nicht, dass ihr jetzt schon wissen müsst, in welcher Reihenfolge der Friedensvertrag unterzeichnet wurde. Außerdem musstet ihr eure Theorieprüfungen nicht letzte Woche schon schreiben?«
Das Mädchen lässt den Kopf hängen.
»Ja, mussten wir, so wie alle anderen auch. Wir hatten uns einfach nur darüber unterhalten und konnten in unseren Büchern dazu nichts finden«, gibt sie zu.
»Deswegen haben wir dich gefragt. Wir hatten gedacht, dass du das vielleicht wüsstest«, ergänzt einer der Dschinns.
Natürlich kenne ich die Reihenfolge, in der die siebenundzwanzig
Völker das Friedensabkommen unterzeichneten und damit das vereinte Volk der magischen Geschöpfe, die Lux, gründeten. Aber mir ist auch klar, worauf diese jungen Schülerinnen und Schüler hinauswollen.
»Ist es denn wirklich so wichtig, welches eurer Völker den großen Vertrag zuerst unterzeichnete? Von Bedeutung ist doch nur, dass sie alle unterzeichneten und wir seitdem in Frieden miteinander zusammen leben.«
Diese Antwort hört man in der Akademie immer, wenn man diese Frage stellt. Damit wollen die Lehrenden erreichen, dass wir uns nicht gegenseitig damit aufziehen, wann unser Volk den Vertrag unterzeichnete.
Lediglich die königliche Familie kennt noch die exakte Reihenfolge, aber auch nur, weil der Vertrag bei uns im Schloss aufbewahrt wird und wir ihn von Kindesbeinen an auswendig lernen, einschließlich der Unterschriftenreihenfolge.
Betrübt lassen sie den Kopf hängen. Sie hatten sich wohl mehr von mir erhofft.
»Müsst ihr euch nicht auf eure Duelle morgen vorbereiten?«, versucht Levi das Thema zu wechseln.
Eine meisterhaft gelungene Leistung. Sofort ist die schlechte Laune vergessen und sie diskutieren wieder aufgeregt miteinander, wer von ihnen wohl gegen wen antreten wird.
Levi nimmt meinen Arm und zieht mich sanft von ihnen weg, weiter in Richtung Hauptgebäude.
»Eine sehr diplomatische Antwort, die du da gegeben hast, Micah. Vielleicht solltest du aber das nächste Mal deine Worte den Zuhörern entsprechend wählen«, weist Levi mich auf mein Versagen hin.
Müde lächele ich ihn an. Ich weiß auch ohne seinen Hinweis, dass ich die Kinder enttäuscht habe.
Die Sonne steht schon sehr tief und verschwindet fast hinter dem
Schloss ähnlichen Hauptgebäude der Akademie, welches dadurch unheimliche lange Schatten auf die Fläche davor wirft.
Wir sind nicht die Einzigen, die sich auf dem Weg zum Essen befinden und so schließen wir uns unseren Mitschülern an und gehen gemeinsam mit ihnen durch das große hölzerne Eingangsportal.
Kapitel 2
Die Mensa ist bereits brechend voll. Fast alle Stühle sind belegt. Ich sehe mich nach freien Plätzen um, als mich Levi auf unsere
Freunde aufmerksam macht.
An unserem Stammtisch im hinteren Teil der Mensa sitzen Alivia und Jaxon und halten nach uns Ausschau. Wie sie uns noch nicht bemerkt haben, ist mir ein Rätsel. Schließlich sind weder Levi noch ich besonders unauffällig.
Levi sticht mit seinen einzigartigen feuerroten Haaren sogar unter den meisten Puks hervor und die haben fast alle rote Haare. Und ich werde nahezu überall angestarrt.
Die Schülerinnen und Schüler, die uns am nächsten sind, haben ihre Gespräche unterbrochen und beobachten uns oder besser gesagt mich aufmerksam. Sie warten gespannt darauf, dass ich etwas mache, worüber sie später tratschen können.
Das Gerücht, ich wäre mit Levi zusammen, macht schon seit einigen Wochen die Runde und jetzt erwarten sie eine Bestätigung unsererseits. Aber sie würden keine Bestätigung bekommen, denn es läuft nichts zwischen Levi und mir.
Ich habe keine Zeit für einen festen Freund. Und selbst wenn ich die Zeit aufbringen könnte, würde ich nicht riskieren, meinen besten Freund zu verlieren.
Gemeinsam steuern wir den Tisch mit unseren Freunden an. Eine Gasse des Schweigens begleitet uns.
»Hey Livi, Jaxon«, begrüße ich die Sirene und den Dschinn.
»Micah, da bist du ja endlich.« Alivia steht strahlend auf und umarmt mich, danach zieht sie mich neben mich auf einen freien Stuhl.
»Und ich bin mal wieder unsichtbar«, murrt Levi hinter uns.
»Nein, bist du nicht, Kumpel. Du weißt doch wie die Mädels sind.« Jaxon klopft neben sich auf den Stuhl und Levi lässt sich schwerfällig fallen.
»Haben wir was verpasst?«, fragt Levi mit bereits vollem Mund.
Er schaufelt sich einen Löffel Kartoffelbrei nach dem anderen in den Mund, als hätte er seit Tagen nichts zu Essen bekommen.
Alivia schüttelt den Kopf. »Aber wir scheinbar.« Sie zieht mir einige Sandkörner aus den Haaren.
Ich werde rot und Levi fängt an zu lachen, mit vollem Mund, wohl bemerkt, sodass er aussieht wie ein erstickendes Eichhörnchen mit vollen Backen.
Als er sich dann auch noch verschluckt, fangen auch Alivia und Jaxon an zu lachen. Ich beobacht lächelnd, wie sich meine Freunde über Levi lustig machen und ihn aufziehen, wie er das nicht auf sich sitzen lassen kann und mit frechen Bemerkungen kontert.
In solchen Momenten kann ich meine anderen Probleme vergessen, meine Sorgen, meine Träume, meine Eltern.
In solchen Moment kann ich einfach nur ich sein, Micah, eine Schülerin der Phoenixakademie.
Ein Schrei zerreißt die fröhliche Stimmung. Plötzlich ist es ganz still in der Mensa.
Irgendwo fällt ein Teller zu Boden und zerspringt. Jemand beginnt zu weinen.
Ich stehe auf und suche nach der Ursache der Unruhe.
Am Büfett sehe ich ein erstarrtes Mädchen und einen weinenden Jungen, der vor ihr zusammengekauert auf dem Boden hin und her wippt.
Schnell gehe ich zu ihnen. Vom Mensa Eingang kommen bereits einige Lehrer, doch ich erreiche die Beiden vor ihnen.
Ich berühre das Mädchen an der Schulter, dabei fällt mir ihr Geburtsmal am linken Oberarm auf, eine silberfarbene Trinität.
Sie ist eine Laima, eine Personifikation des Schicksals. Durch bloße Berührung können sie die Zukunft eines anderen sehen und wenn sie ihre Kräfte noch nicht richtig unter Kontrolle haben, zeigen sie diese Zukunft auch denjenigen, den sie berühren.
Der Junge zu ihren Füßen ist ein Elf. Er hat schreckliche Angst. Was auch immer sie ihm gezeigt hat, es muss fürchterlich gewesen sein.
Das Mädchen ist immer noch in Schockstarre, also knie ich mich erst mal neben den Jungen.
»Sieh mich an«, fordere ich ihn sanft auf.
Es fällt mir leichter, die Seele eines anderen zu berühren, wenn dieser mir in die Augen sieht. Er schafft es nicht, die Augen zu öffnen, sondern kneift sie nur noch weiter zusammen.
Dann eben auf die harte Tour. Ich schließe meine Augen und spüre tief in mich hinein. Meine Magie lodert wie ein Feuer in meinem Inneren, droht damit, alles zu zerstören, wenn ich sie nur einen Moment nicht zurückhalte.
Ich ziehe an einem kleinen Teil und bilde daraus einen silbernen Faden. Er ist hauchzart und kaum zu sehen, doch das reicht mir.
Langsam führe ich diesen Faden zu dem Elf vor mir. Er hat keinerlei Schutz um sich herum aufgebaut und so ist es mir ein Leichtes, seine Seele mit meinem Magiefaden zu berühren.
Ich durchstreife sanft und vorsichtig seine Seele auf der Suche nach dem Grund seiner Angst.
Dort ist sie, stark wie ein Wasserfall droht sie alles mit sich zu reißen. Das zu bändigen wird nicht leicht sein. Doch beim Näherkommen sehe ich den Ursprung der Angst.
Es flimmert und flackert, aber das ist eindeutig eine Zukunftsvision und sie zeigt, wie er von Flammen eingekesselt sterben wird, langsam und sehr qualvoll. In dieser Vision ist er nicht viel älter als jetzt. Wenn mir so etwas gezeigt werden würde, wäre ich auch vor Angst gelähmt.
Ich lenke meine Magie über den Wasserfall direkt auf diese Vision zu. Dort angekommen, spanne ich ein Netz und verschließe so seinen Zugang zu dieser Zukunft.
Auch wenn Laimas die Personifikation des Schicksals sind, heißt das noch lange nicht, dass ihre Zukunftsvisionen immer wahr werden müssen.
Der Wasserfall aus Angst wird wieder zu einem ruhigen Fluss und ich ziehe mich aus der Seele des jungen Elf zurück.
Als ich meine Augen wieder öffne, sehe ich direkt in seine braunen Augen. Noch immer ist da ein Nachhall der Angst, doch damit wird er selbst fertig werden.
Ich nicke ihm zu und helfe ihm beim Aufstehen. Die Lehrer haben uns mittlerweile erreicht und die Laima ist aus ihrer Starre erwacht.
Sie stammelt, dass es ihr leid tue, dass es keine Absicht war, dass sie das nicht gewollt hatte.
Uns braucht sie das nicht zu erzählen.
Wir wissen nur zu gut, dass es nicht leicht ist, seine Kräfte zu kontrollieren, wenn sie so mächtig sind wie ihre.
Die Lehrer versuchen sie zu beruhigen, doch erst als sie sieht, wie der Elf aufsteht, beginnt sie zuzuhören.
»Wir sollten die beiden ins Krankenzimmer bringen. Dort werden sie sich schon wieder erholen«, schlägt einer der Lehrer vor.
Die anderen nicken zustimmend und so stützen sie die Laima und den Elf beim Weg aus der Mensa und zur Krankenstation.
Unsere Krankenzimmer sind oft gut besucht, da sich beim Kampftraining oder den Magiestunden oder während der Freizeit viele verletzen.
Ich beschließe sie später zu besuchen. Vielleicht kann ich ihnen beim Heilungsprozess helfen. Außerdem muss ich gucken, dass meine provisorische Blockade bei dem Elf hält.
Erst jetzt bemerke ich, dass mich alle anstarren.
Sie wissen zwar über meine einzigartige Magie Bescheid, doch wie ich sie einsetze, haben die meisten noch nie gesehen.
Dabei sieht man als Außenstehender lediglich eine Sternenkriegerin, die mit geschlossenen Augen einem anderen gegenübersteht oder wie sie ihrem Gegenüber tief in die Augen sieht. Und trotzdem scheint es eine große Attraktion zu sein.
Alivia, Jaxon und Levi kommen mit unseren Tabletts auf mich zu. Wir hatten alle noch nicht aufgegessen, aber mir ist der Appetit vergangen und meine Freunde haben wohl beschlossen, dass es besser wäre, von hier zu verschwinden.
Dankbar gehe ich mit ihnen aus der Mensa, nachdem wir das dreckige Geschirr weggestellt haben.
Die Blicke unserer Mitschüler folgen uns, bis wir um eine Ecke im Flur gehen und damit aus ihrem Blickfeld verschwinden.
Erst jetzt merke ich, dass sie nicht die einzigen waren, die mich nicht aus den Augen lassen. Auch meine Freunde beobachten mich aufmerksam.
»Was ist? Hab ich was im Gesicht?« Schuldbewusst wenden sie ihre Blicke ab.
»Wollt ihr mir verraten, warum ihr mich beobachtet oder tun wir jetzt einfach so als wäre es nie passiert?«
»Wir wollen nur sichergehen, dass mit dir alles in Ordnung ist. Du siehst etwas verstört aus«, traut sich Jaxon die Gedanken aller in Worte zu fassen.
Ob mit mir alles in Ordnung ist?
Ich habe gesehen, wie ein junger Elf vermutlich bald qualvoll verbrennen wird, wie seine Angst ihn zum Weinen gebracht hat und wie eine Laima aufgrund ihrer Vision erstarrte.
»Ja, es geht mir gut«, lüge ich sie an.
Sie nicken und scheinen mir zu glauben.
Außer Levi, er behält mich weiterhin im Auge. Das wird auf ein weiteres langes Gespräch im Mondschein hinauslaufen.
Wir folgen dem Flur bis zu seinem Ende, wo uns eine gläserne
Tür wieder nach draußen bringt.
»Also, der Abend ist noch jung. Was machen wir jetzt?«, fragt Alivia voller Tatendrang.
Die letzten Sonnenstrahlen kämpfen sich einen Weg auf das Schulgelände, aber in ein paar Stunden wird es stockfinster sein.
»Wie wär‘s mit schlafen?«, schlägt Jaxon vor.
Während Levi nahezu immer etwas essen könnte, schafft es Jaxon überall einzuschlafen, auch zu den denkbar ungünstigsten Augenblicken.