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Veronika, die Tochter eines Bahnkochs, lernt im Wiener Prater den Waldarbeiter Edwin Selvas kennen. Sie bekommen zwei Kinder. Nach der Trennung von ihrem Mann kommt dieser auf mysteriöse Weise ums Leben. War es ein Unfall oder war es Mord? Die Menschen im beliebten Ort Tulln, in der Nähe von Wien, fangen an unruhig zu werden. Edwin Selvas Tod hat eine Lawine losgetreten. Major Jochen Bender und seine Ermittler Alex Konradi und Kevin Laval stoßen auf offene Fälle, die dreißig Jahre zurückliegen, jedoch nie aufgeklärt wurden. Längst Vergessenes gerät wieder an die Oberfläche. Mord und Totschlag, Intrigen, Hass und Liebe. Die damals als vermisst gemel-dete Aranka stellt die Ermittler vor schwierige Aufgaben. Eine Kriminalgeschichte, der es an Spannung nicht fehlt. In ihrem zweiten Werk hat Brigitte Bork eine ergreifende und authentische Geschichte geschrieben, die den Leser fesseln wird.
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Seitenzahl: 300
Veröffentlichungsjahr: 2021
Brigitte Bork
ARANKA
GnadenlosKriminalroman
© 2021 Brigitte Bork
Verlag & Druck: tredition GmbH,
Halenreie 40-44, 22359 Hamburg
Lektorat: Dr. Hermann Eisele, Heidelberg
Cover-Reinzeichnung: Uta Struhalla-Kautz, Königstein
ISBN 978-3-347-26974-3
(Paperback)
ISBN 978-3-347-2697-0
(e-Book)
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Über das Buch
Veronika, die Tochter eines Bahnkochs, lernt im Wiener Prater den Waldarbeiter Edwin Selvas kennen. Sie bekommen zwei Kinder. Nach der Trennung von ihrem Mann kommt dieser auf mysteriöse Weise ums Leben. War es ein Unfall oder war es Mord?
Die Menschen im beliebten Ort Tulln, in der Nähe von Wien, fangen an unruhig zu werden.
Edwin Selvas Tod hat eine Lawine losgetreten.
Major Jochen Bender und seine Ermittler Alex Konradi und Kevin Laval stoßen auf offene Fälle, die dreißig Jahre zurückliegen, jedoch nie aufgeklärt wurden.
Längst Vergessenes gerät wieder an die Oberfläche. Mord und Totschlag, Intrigen, Hass und Liebe. Die damals als vermisst gemeldete Aranka stellt die Ermittler vor schwierige Aufgaben.
Eine Kriminalgeschichte, der es an Spannung nicht fehlt.
In ihrem zweiten Werk hat Brigitte Bork eine ergreifende und authentische Geschichte geschrieben, die den Leser fesseln wird.
Über die Autorin
Über Jahrzehnte führte Brigitte Bork Reitsportgeschäfte sowie ein Kosmetikstudio im Taunus. Ungarn ist mit den Jahren fast ihre zweite Heimat geworden. Die Leidenschaft fürs Schreiben entdeckte sie mit der Veröffentlichung einer ungarischen Kurzgeschichte. Als Erstes verfasste sie einen Ratgeber über die Kunst des Reitens. Ihr zweites Buch »Tünder … und dreimal Gulaschsuppe mit Brot« inspirierte sie wegen der schwierigen Lebenssituationen vieler junger Menschen in Ungarn.
Ihr drittes Werk »Aranka« ist eine Kriminalgeschichte, die teils wahre Begebenheiten wiedergibt.
Dieses Buch widme ich meiner Tochter
Tanja Hildmann!
Der kalte Wind blies ihnen um die Ohren. Sie hielten sich an den Händen und rannten so schnell sie konnten, um sich in Sicherheit zu bringen. Im weichen Waldboden gruben sie sich eine Schlafstelle. Mit bloßen Händen kratzten sie die Erde aus dem Boden und häuften Laub darüber. Sie arbeiteten schweigend und emsig Seite an Seite. Als ob sie es so geplant hätten. Ab und zu sahen sie sich verstohlen von der Seite an. Von einem Holzstapel zerrten sie die große Plastikplane herunter und legten sich in ihre Höhle. Die Plane wickelten sie um sich herum. Eng aneinandergekuschelt lagen sie da und blickten in die dunklen Baumkronen.
Der Tag, an dem sie wegliefen, war der schrecklichste in ihrem kurzen Leben. Ohne ein Ziel, und ohne darüber nachzudenken, was passieren könnte, hatte Saskia den Entschluss für sich und ihren Bruder gefasst. Henry war vier Jahre alt, Saskia zwei Jahre älter. Sie hatten die ewigen Streitereien ihrer Eltern satt und deshalb ständig Angst, dass etwas Schlimmes passieren könnte. Der Junge hatte viel zu früh erfahren, wie grausam Erwachsene miteinander umgehen. Saskia stellte die Ohren auf Durchzug, aber die Angst war immer da.
Ihre Mutter war verschwunden, kurz nachdem der Vater sie beinahe erwürgt hatte.
Es war nicht das erste Mal gewesen. Immer wieder kam es zu Streitigkeiten, die ins Uferlose gingen. Oft flüchtete die Mutter zu ihrer Freundin. Das half aber nichts, denn sie musste immer wieder nachhause zu ihren Kindern. Dann war der Tag gekommen, an dem sie es einfach nicht mehr aushielt.
Sie nahm sich ein Apartment in Wien.
Ein Leben ganz ohne ihren Anhang zog sie eher in Betracht als die vielleicht tödlichen Auseinandersetzungen mit Edwin. Die Möbel hatten schon gelitten.
Tote Gegenstände zu malträtieren war gang und gäbe und da kam es schon mal vor, dass eine Kommode oder ein Stuhl zu Bruch ging. Nur seine Kinder hütete er, am liebsten hatte er den Jungen, was seine Tochter natürlich nicht übersah und so auch keinerlei Zuspruch von ihrem Vater erwartete.
Sie war so nebenbei groß geworden. Ihre Mutter liebte sie natürlich, aber eine so zarte Bande, wie sie es sich gewünscht hätte, gab es nicht.
Die Waldarbeiter im Dorf fragten sich, wo Edwin blieb. Um gemeinsam ihre Arbeit zu verrichten, trafen sie sich im Ort an der Kirche und von da gings ab in den Wald. Heute hatten sie einen besonders großen Auftrag zu bewältigen.
Eine ziemlich dicke Tanne stand vor dem Wildgehege und dem Futterplatz; ein heftiger Sturm und sie würde den Gatterzaun komplett einreißen.
Jeder Mann wurde heute gebraucht. Sie fuhren zu Edwins Haus, das mitten im Wald lag. Alles war still, nur die Hühner im Stall gackerten. Alfred, ein Kerl, dem man die schwere Arbeit ansah, hatte seinen großen Bulldozer direkt vor die Eingangstür gefahren.
Er war der Revierförster, der vor langer Zeit Nachfolger seines Vaters geworden war.
Dieser war bei der Arbeit gestorben, als sich eine Kette der Säge um seinen Oberschenkel gewickelt hatte.
Nur gut, dass Alfred nach dem zweiten Anlauf sein Studium als Förster bestanden hatte.
Sein Kollege Reinhard wäre zu gerne im Revier der Boss gewesen, denn er hatte sein Studium mit Bravour bestanden. Irgendwie beneidete er Alfred mit seinem schönen Jägerhut mit dem Wedel und dem Beutebruch auf der rechten Hutseite, der für Hochachtung des Trägers sorgte.
»Wenn er jetzt nicht reagiert, dann ist er nicht zuhause«, schrie Alfred.
Der Krach, den das Monster machte, ließ Tote erwecken. Reinhard, das Narbengesicht, wunderte sich gar nicht, und Eberhard, der auf dem Trittbrett stand, rief abschätzend: »Der ist wieder mal abgestürzt.«
Alfred verachtete seinen Kollegen Reinhard, weil dieser sich immer nach der Frau seines Freundes umdrehte und anzügliche Bemerkungen machte.
»Wir gehen«, sagte Alfred, dessen Vokabular recht begrenzt war. Die drei Männer hatten hier keinen Erfolg. Sie setzten sich auf ihr Gefährt und fuhren ohne Edwin in den Wald.
Der Harvester, den Eberhard bediente, konnte heute nichts ausrichten.
Aber Edwin mit seiner schweren Kettensäge und seiner langjährigen Baumfällerfahrung hätten sie heute gebraucht.
Alfred war ein echter Freund, denn er gab Edwin die Arbeit im Wald.
Obwohl der zu viel trank. Er hatte ihm versprechen müssen dies nie bei der Arbeit zu tun. Und daran hielt sich Edwin. Immer erst nach der Arbeit gönnte er sich sein Bier.
Die Arbeit war schwer und Edwin wusste genau, was er zu leisten hatte.
Verlassen konnte Alfred sich auch immer auf ihn.
Die Holzfällerei übernahm er aus privaten Gründen von seinem Onkel Josef Gerber, dem Bruder seines Vaters. Lange Zeit trauerte Josef um seinen Bruder.
Er nahm sich Alfred an. Wie ein Vater sorgte er seit dieser Zeit für seinen Neffen.
»Pass auf dich auf Bub!«, hat er seitdem immer gesagt, wenn er in den Wald ging.
Alfred war mit Gudrun verheiratet. Sie kannten sich schon von Kindesbeinen an.
Gudrun konnte keine Kinder bekommen und deshalb freute er sich für Edwin, als dieser die schöne Veronika heiratete und mit ihr zwei Kinder bekam. Er war oft bei Edwin und seiner Frau, um mit den Kindern herumzualbern. Und natürlich scherzte er oft mit der Frau seines Freundes.
Gudrun gefiel das nicht, doch was sollte sie machen? Wenn ihr Mann nachhause kam, hatte er immer viel zu erzählen und war gut gelaunt. Das gefiel ihr natürlich auch.
Wie klug sie seien und wie schnell sie wachsen. Jedes Mal, wenn Alfred außer Haus war, bekam das immer irgendwie Eberhard mit, und wenn Alfred dann nachhause kam, saß dieser an seinem Tisch. »Warum kommst du nicht, wenn ich da bin?« Eberhard setzte nur das Glas an den Mund und schielte nach oben, als wenn er sagen wollte: »Warum wohl?«.
»Der Eberhard hat halt niemanden, Alfred.«
Diese Aussage wiederholte sich im Laufe der Zeit drei- bis viermal und Gudrun wurde es nie langweilig. »Eberhard, Eberhard, such’ dir mal ’ne Frau, dann musst du nicht immer hier bei uns rumhängen.«
Alfreds rotblondes Haar mit dem passenden Bart passte zu Gudrun, die ebenfalls rote Haare hatte, und zu seinem Beruf. Mit dem etwas zerzausten roten Bart gab er dieser Zunft seine persönliche Note. Gudrun war auch so ein Naturkind, von Chic verstand sie nicht viel und Lippenstift war für sie Karneval. Alfred nahm sie, wie sie war, einfach, aber liebenswert, und die Gewohnheit schweißte sie über die Jahre zusammen.
Alfred freute sich, dass sein Freund eine richtige Familie hatte. Manchmal nahm er Gudrun mit, wenn Edwin darauf bestand, damit Veronika hier im Wald Anschluss bekam.
Seine Leiche wurde erst zwei Tage später gefunden.
Major Jochen Bender war als Erster am Unfallort. Er informierte die Spurensicherung und der Gerichtsmediziner hatte sich auch auf den Weg gemacht. Mit lautem Husten kam Dr. Graulich am Unfallort an.
»Ich dürfte gar nicht hier sein. Wenn mich diese Grippe hier nicht umbringt, bin ich resistent gegen alle äußeren Einflüsse«, warf er Bender entgegen, der nur mit den Schultern zuckte. »War das ein Unfall oder was können Sie sagen?«
Bender fragte sich in dem Moment, wo seine Ermittler bleiben. Das Wetter zog keinen an so einen Ort. Es war kalt und es regnete.
In diesem Moment fuhr Alex auf den Hof. Kurze Zeit später sah man Kevin, wie er durchnässt mit dem Motorrad ankam.
»Hast du deinen AB nicht abgehört?«, keifte er Alex an. »Gehts noch?«, entgegnete dieser. »Als die Mitteilung kam, dass hier vielleicht ein Mord passiert ist, da hab’ ich auf keinen AB geachtet. Ich war mit Bob Gassi, hab ihn meiner Mutter in die Hand gedrückt und bin los. Was wolltest du denn?«
»Maja hat heute Morgen den Wagen genommen und ich musste mit dem Motorrad fahren«, berichtete Kevin, »ich bin klatschnass. Wäre gut gewesen, wenn du mich abgeholt hättest. Was ist hier passiert?«
»Besoffen, was weiß ich. Bender sieht einen Mord«, sagte Alex. »Glaubt er das? Das muss Graulich rauskriegen«, rief Kevin und legte seinen Motorradhelm auf die Sitzbank.
Alex Konradi, erster Ermittler, der mit einem dicken Trenchcoat gekleidet war, hielt direkt vor dem Haus. Er war 32 Jahre alt und hatte eine stattliche Figur.
Mit seinen 190 cm überschaute er die Lage. Seine braunen Haare, die sonst perfekt geschnitten waren, trug er etwas länger. Wäre er beim Bund, hätte er ein Haarnetz tragen müssen.
Ein schöner Mann mit grünen Augen, der es sich trotzdem noch zuhause bei seiner Mutter gemütlich machte.
Er nahm im leichten Schritt die drei Marmorstufen und registrierte den Toten am gefliesten Vorplatzboden, ausgestreckt und beide Arme oberhalb vom Kopf liegend.
Er sah Bender an:
»Das sieht doch jeder Blinde, dass der hier stockbesoffen die steile Treppe runtergesegelt ist.« »Jetzt sei mal nicht so voreilig!«, entgegnete Bender.
»Und lass den Graulich in Ruhe, der ist heute nicht gut drauf, ich bin froh, dass er überhaupt gekommen ist.«
»Was hat er denn?«
»Die Grippe.«
»Sieh dir die klobigen Schuhe an, die er nicht mal geschnürt hat. Das war ein Unfall.«
Major Bender sagte nichts mehr, denn wozu braucht man auch einen Gerichtsmediziner?
»Hustend und in seinen Mantel vermummt meinte Dr. Graulich, »den muss ich erst auf dem Tisch haben. Die Obduktion wird Gewissheit bringen.
Ich sehe hier erst mal keinen Mord, warten wir’s ab. Tot ist er schon zwei Tage, circa 48 Stunden, sag ich mal, am 14.03. zwischen 6 und 10 Uhr circa, die Leichenstarre hat sich schon gelöst.« »Geht das auch etwas genauer?« Kevin sah den Mann an und erwartete natürlich eine Antwort. »Ich muss den untersuchen Kevin, ich sag Bescheid, wenn es so weit ist. Okay?« »Na dann warten wir halt. Danke Dr. Graulich.«
Die Bestatter brachten den Toten in die Gerichtsmedizin. Nachdem die Spurensicherung ihre Arbeiten abgeschlossen hatte, sahen sich die Ermittler weiter im Haus um.
Ein wüstes Durcheinander bot das gesamte Untergeschoss. In der ersten Etage sah es nicht anders aus, dort lagen zwei nicht fertig gepackte Koffer auf dem Ehebett, herumliegende Kleidung von Kindern gaben einen ersten Eindruck. Alles sah nach einem fluchtartigen Verlassen aus.
Die Wiener Mordkommission, Major Jochen Bender und seine Ermittler Chefinspektor Alex Konradi und Chefinspektor Kevin Laval, hatten jetzt die Aufgabe nach den Angehörigen des Toten zu suchen. Es gab eine Ehefrau und Kinder.
Das hatten sie von den neugierigen Nachbarn mitbekommen. Auch die herumliegenden Sachen deuteten darauf hin, dass Kinder existierten.
Sie schlussfolgerten, dass die Frau mit den Kindern auf und davon war. Der Mann daraufhin grenzenlos in seinem Leid versank. Der Alkohol tat dann den Rest.
»Das war gar nicht so einfach, um das gleich zu erkennen«, gab er ohne einen Gruß abzugeben den Ermittlern bekannt. Dr. Graulich hatte mittlerweile die Obduktion abgeschlossen und die Männer ins Gerichtsmedizinische Institut gebeten.
Beiläufig begrüßte er sie mit einem flüchtigen Hallo. »Ihr habt gedacht, das war ein Unfall?«
»Das haben wir, in der Tat«, antwortete Alex. »Servus Dr. Graulich«, begrüßten die Männer den Mann, der sichtlich krank war und doch alles tat, um zum Abschluss zu kommen.
»Was haben sie rausgefunden?«, fragte Kevin. »Die Kniekehlen, meine Herren, da sind ein paar kräftige Schläge gelandet, sodass der Mann die Treppe runtersegeln musste.
Er hat sich dann bei diesem Sturz das Genick gebrochen. Das war Mord.«
»Nicht zu fassen«, reagierte Alex.
»Wie ich bereits gesagt habe, traf der Tod zwischen 6 und 10 Uhr ein.
Der hatte außerdem noch Restalkohol im Blut.« »Geht das etwas genauer?«, wollte Alex noch wissen. »Vielleicht zwischen 6 und 9, aber noch genauer wäre Spekulation.«
»Abwehrspuren waren auch keine da?« »Das hätte ich Ihnen schon gesagt, wenn es so gewesen wäre.« »Na dann erst mal vielen Dank Dr. Graulich und gute Besserung.«
»Danke, auf Wiedersehen!« Die beiden Ermittler verabschiedeten sich und stoben die langen Gänge Richtung Ausgang.
Mit der Flucht aus ihrem gemeinsamen Zuhause hatte sie sich ein sorgenfreies Leben erhofft. In Tihany am Nordufer des Balaton zog sie bei Sándor ein.
Das ganze Haus war mit Weinreben überzogen und die Stallung mit Hühnern und zwei Schafen besetzt. Keine große Landwirtschaft, dachte Veronika, Gott sei Dank. Den Dreck, den ihr Mann immer nachhause gebracht hatte, konnte sie jedenfalls nicht mehr ertragen. Sie hatte sich in den Ungarn Sándor Caspari verliebt.
Beim Auspacken des Koffers quetschte sie sich den Finger, als der Deckel vorschnell zuklappte. Der Schmerz rief sofort Gedanken an ihre Kinder wach. Sie hatte sie zurückgelassen. Sie hatte es tun müssen. Sie wusste nicht, wie sie sonst hätte fliehen können. Es tat weh, an die beiden Kleinen zu denken. Veronika wusste, Edwin hatte sie nie angerührt. Seine Kinder liebte er auf eine besondere Weise. Dem Jungen schenkte er immer mehr Aufmerksamkeit. »Der soll mal ein richtiger Kerl werden«, hatte er immer gesagt. Der Finger blutete, sie suchte im Bad nach einem Pflaster. Alle Schubladen zog sie aus der wackeligen Kommode.
Kein Verbandsmaterial. Schnell riss sie etwas Klopapier ab und wickelte es um ihren Finger.
Veronika war die Tochter eines Bahnkochs, der in ganz Deutschland, Österreich und darüber hinaus tätig war. Sie bekam ihn fast nie zu Gesicht. Ihre Mutter starb früh an Krebs, da war sie gerade mal achtzehn Jahre alt und auf sich gestellt.
Damals lernte sie Edwin im Wiener Prater kennen.
Der junge Mann sah kernig aus und hatte ein Auto. Er stellte sie seiner Mutter vor, denn es war für Edwin von äußerster Wichtigkeit, dass sie die Frau zuerst kennenlernen sollte, bevor er weitere Kontakte mit ihr pflegte. Er bekam ihr Einverständnis und Edwin verfolgte diese Liebschaft. Sie zog bei ihm ein.
Mit seiner Mutter lebte er über Jahre zusammen in dem Haus mitten im Wald von Tulln.
Sie war halb Österreicherin, halb Ungarin. Edwin vermisste eigentlich nichts.
Jedenfalls nicht bewusst. Seine Waldarbeiterfreunde schleppten ihn jedes Mal mit, wenn es irgendwo was zu feiern gab. Sie schleppten ihn dann auch wieder nachhause, im wahrsten Sinne des Wortes, denn Edwin trank immer und überall zu viel.
Er war eigentlich ein schöner Mann. Mit den Bizeps eines Boxers machte er auch eine gute Figur. Wenn er den Mund hielt, wirkte er sogar intelligent. Und so war es auch, als er diesmal im Wiener Prater mit seinen Kumpels unterwegs war.
Still schaute er eine Frau an, die ein Lächeln hatte, dass er seine Freunde vergaß. Fünf Schritte waren es, die er von ihr entfernt stand. Er nahm all seinen Mut zusammen und ging drei Schritte auf sie zu. Beinahe gleichzeitig sagten sie sich Hallo, als ob sie bereits wüssten, dass sie zusammengehörten. Zu dieser Frau hatte er einen ganz besonderen Draht.
Sie schien wie er, in ihrer ganzen Art, und sie redete wie er.
Circa 180 groß war Edwin, ein wenig zu dick. Doch das machte der Frau nichts aus, sie sah einen Mann, der ihr gut gefiel.
Das Essen schmeckte ihm, wenn seine Mutter kochte. Mit dem Rauchen hatte er aufgehört.
Dieser ständig stinkende Geruch machte sie krank. Ganz von selbst, von einem auf den anderen Tag, rührte er keine Zigarette mehr an. Das Waldhaus hatte er dann mit seinen Kumpels neu angestrichen, auch innen, damit der Geruch verblasste.
Die daneben liegende Stallung hatten sie mit neuen Brettern versehen, es zog immer so, wenn das Wetter stürmisch wurde. Die Stallung nutzte er für sein Feuerholz und ein paar Hühner.
Das Waldhaus war sehr gemütlich eingerichtet und es roch immer nach Kuchen.
Sie erinnerte sich an diese Frau, als wäre es gestern gewesen. Warmherzig, fürsorglich und jederzeit für ihren Sohn da. Auch sie wurde herzlich in die Familie aufgenommen. So manchen Nachmittag saßen sie zusammen und unterhielten sich, oft über Edwins Kindheit und über ihren verstorbenen Mann. Er war Ungar und sie sei sehr verliebt in ihn gewesen.
Als sie nach drei Jahren starb, war Veronika im sechsten Monat schwanger.
Für ihren Ehemann war das ein Desaster. Zuerst einmal, dass sie die Geburt seines Kindes nicht mehr erleben durfte. Dazu kam noch die behütete Seite ihrer Fürsorge und das gute Essen, das er vermisste.
Seine Mutter, die alles im Lot gehalten hatte, war nicht mehr da und seine junge Frau hatte keine Ahnung von Hauswirtschaft, geschweige denn vom Kochen.
So kam es, dass er nach der Waldarbeit immer öfter im Wirtshaus verschwand. Seine Kollegen waren mit von der Partie. Vom Wirtshaus schleppte er sie mit ihren verdreckten Schnittschutzhosen zu seiner schwangeren Frau nachhause, um Karten zu spielen.
Für Veronika war das jedes Mal eine Zumutung, sie zog sich dann immer in ihr Schlafzimmer zurück.
Die Zeit verging wie im Flug. Veronika brachte ein Mädchen zur Welt und ihr Mann war Feuer und Flamme. Er riss sich am Riemen und sorgte von da an für seine kleine Familie.
Er war wie ausgewechselt. Trank viel weniger und auch sonst half er, wo er konnte.
Zeigte seiner Frau, wie man ein Gulasch zubereitete, und sonst noch einiges, was sie nie gelernt hatte. Gewundert hatte er sich schon, dass sie so gar nichts richtig auf die Reihe bekam.
»Bahnkoch ist dein Vater? Was hast du von ihm gelernt?«, waren seine Worte, die sie heute noch hörte. Das Blatt wendete sich jedoch wieder, als er immer öfter bis zum Rand abgefüllt nachhause kam.
Mit all seiner Kraft nahm er seine Frau, wie er wollte, sie hatte keine Chance und nach zwei Jahren war sie wieder schwanger. Edwin wurde immer extremer. Mal war er total fürsorglich, dann wieder unberechenbar. Veronika konnte das nicht mehr ertragen.
Der kleine Junge glich seinem Vater wie aus dem Gesicht geschnitten.
Als er drei Jahre alt war, nahm Edwin ihn mit in den Wald, sein Kind sollte sehen, wie schwer er für sein Geld arbeiten musste. Zu seiner Tochter fand er keinen Draht, sie war ihm nicht so nah wie sein Sohn.
Das war zu viel für Veronika, immer öfter dachte sie darüber nach, mit den Kindern zu verschwinden. Das Geld war knapp und wenn sie einkaufen gehen wollte, z.B. Schuhe für die Kleinen, gab es Krach ohne Ende. Kaufsüchtig wäre sie, die Gummistiefel würden es doch wohl noch tun.
Nach den ewigen Sorgen ums Geld beschloss sie dann doch nochmal einzulenken, indem sie in der Kneipe zu kellnern begann, in der ihr Mann täglich versank.
Doch das war auch nicht das Richtige, sie wusste gar nicht, dass Edwin eifersüchtig sein konnte. Auf dem gemeinsamen Nachhauseweg schrie er einmal seine Frau an:
»Ich will jetzt wissen, was auf dem Zettel gestanden hat, den der Typ dir gegeben hat.«
Jedes Mal gab es Theater und sie musste ihre freundliche Art in der Kneipe bremsen, sonst gab es Probleme mit Edwin.
Die Kinder hatten gewartet, bis sich der Tumult um ihr Haus gelegt hatte.
Beide kauerten hinter einer dicken Wurzel. Völlig durchgefroren und müde hielten sie sich an den Händen. Zwei Tage hatten sie sich im Wald versteckt, aus dem Bach tranken sie Wasser und haben Beeren gegessen, die sie fanden.
Henry klagte über Bauchschmerzen. Es war Zeit nachhause zu gehen. Saskia schlich mit ihrem Bruder, so nah sie konnte, an das Haus, in dem sie wohnten, heran.
Das Chaos dort ließ sie jedoch noch warten.
Die Menschen verließen nach und nach das Grundstück. Es erschien ihr wie eine Ewigkeit. Sie fragte sich, was da los war. Warum waren da so viele Leute?
Als alle gegangen waren, lief sie mit ihrem Bruder runter von der Anhöhe zu ihrem Haus.
Sie ging die drei Sandsteinstufen hinauf und war erschrocken. Die Tür war abgeschlossen. Ein blaues Schild klebte unter der Klinke.
Das Mädchen erinnerte sich an diesen Schacht im Stall. Da gab es einen Kellerzugang mit einer schweren Eisenplatte darüber. Die Kohlen wurden dort in Säcken für den Winter runtergebracht. Sie setzte Henry auf einen Heuballen und suchte nach etwas, womit man diese schwere Platte wegschieben konnte.
Eine Spitzhacke stand in einer Ecke, das Mädchen ergriff sie und mit all ihrer Kraft konnte sie die Platte ein wenig zur Seite schieben, sodass ihre kleinen Körper hindurchpassten. Sie zog Henry von dem Heuballen und zwängte ihn durch die schmale Öffnung.
Dieser Geruch hier unten war ihr so vertraut.
Sie nahm ihren Bruder an die Hand und zusammen stiegen sie die Treppe zum Wohnbereich hinauf.
Der Steinboden im Vorplatz zeigte die Kreidezeichnung eines Menschen. Jetzt wusste Saskia, dass etwas Schlimmes passiert sein musste.
Das Foto von ihrem Opa Leo lag auf dem Küchentisch mit zerbrochener Scheibe.
Was hatte das alles zu bedeuten? Der Ruf nach ihrem Vater blieb unbeantwortet.
Es war wie eine Erlösung zu wissen, dass er nicht zuhause war. Ihre Erinnerung an ihn und dass er vielleicht jeden Moment reinkommen konnte, machten ihr Angst.
Sie dachte an die laute Stimme und sie wusste, dass er wieder einmal Krach mit ihrer Mutter hatte. Dann brachte sie ihren Bruder immer in die oberste Etage.
Seine Augen verrieten, wie viel Angst er hatte. Die kleinen Füßchen wollten manchmal keinen Meter weiter gehen. Einmal blieb er auf der mittleren Stufe der Treppe stehen, sie sah, wie die Tränen aus seinen Augen rannen. Die Hose, die er trug, war durchnässt und Saskia nahm ihn dann auf den Arm und trug ihn nach oben. Keine Träne vergoss sie. Eine saubere Hose zog sie ihm an und dann setzten sie sich wartend auf das Bett, bis ihr Vater sich wieder beruhigt hatte.
Veronika vermisste ihre Kinder, trotzdem wollte sie nach vorne schauen und so kam es, dass sie des Öfteren ausging, um einmal etwas anderes zu sehen. Sie hatte in einem Onlineportal einen Mann kennengelernt, einen Ungarn. Sie verabredeten sich auf einen Kaffee. Die Sympathie war auf beiden Seiten. Dem Mann gefiel Veronika, die ihre schwarzen Haare offen über die Schultern fallen ließ. Mit ihrem schönen Lächeln hatte sie den Ungar verzaubert. Sie trafen sich noch einige Male und der Mann wünschte sich, dass sie mit ihm nach Tihany käme. Es waren erst vierzehn Tage vergangen und Veronika hatte ein gutes Gefühl. Sie hatte sich in Sándor Caspari verliebt.
Mit fast nichts zog sie bei ihm ein. Kein Wort über ihre Kinder. Das musste warten.
Viel zu frisch war alles und sie dachte, vielleicht gehe sie ja bald wieder.
Die Turmuhr schlug zwölf und zur gleichen Zeit schellte es in der Schule. Heute war um 12 Uhr Schluss, denn im Ort war der jährliche Jahrmarkt. Die Leute in Tulln feierten diesen zweimal im Jahr. Die Fahrgeschäfte waren alle aufgebaut und Gudrun rannte mit Edwin um die Wette.
Gudrun war vierzehn Jahre alt und Edwin ein halbes Jahr älter. Sein Freund Alfred hüpfte wie ein Languräffchen neben ihnen her. Das Mädchen zog es zu Edwin. Dieser hatte seinen Rucksack schon am Morgen mit Proviant für den Tag gepackt. Jetzt war er froh, dass er Gudrun beeindrucken konnte. Er wusste nicht, was das für Gefühle waren, die er da für das Mädchen empfand. Sie verbrachten dann den Tag zu dritt.
Die roten Haare flogen ihr auf dem Kettenkarussell nur so um die Ohren und Alfred pfiff durch die Zähne. Edwin betrachtete sie mit ganz anderen Augen.
Auf jeden Fall verließen beide Hand in Hand den Jahrmarkt und Alfred sah, dass Gudrun lieber mit Edwin zusammen war.
Die Tage vergingen, Edwins Vater hatte von einigen seiner »Freunde« die Nachricht erhalten, dass sein Sohn sich mit der Schachter Tochter rumtrieb.
Zuerst ignorierte er diesen Anflug von Häme, er wusste, dass, wenn er diesem Gerücht nachginge, kein Stein mehr auf dem anderen bliebe. Beweise hatte er keine, aber eine Ahnung, denn ein Gerücht hielt sich über Jahre im Ort – nämlich dass der damalige Ortsvorsteher Schachter seinen Wald denjenigen Jagdpächtern verpachtete, die ihm gute Preise für das Wildbret machten, und dies nicht nur zu den Jagdzeiten, bzw. die es mit dem Jagdgesetz nicht so genau nahmen.
Diese Machenschaften waren Edwins Vater von jeher ein Dorn im Auge. Edwins Großvater war jedoch derjenige, der immer und überall die Schweinereien des Ortsvorstehers Schachter verfolgte. Letztendlich wurde ihm das auf mysteriöse Weise zum Verhängnis, da er in die Schussbahn der Jäger geriet. Er wusste, Schachter hatte ihn umgebracht.
Die damaligen Ermittlungen hatten einen Jagdunfall ergeben. Das Geschwätz im Ort, wie gut er doch dabeiweggekommen wäre, ließ ihn bis heute nicht zur Ruhe kommen.
Und jetzt soll sein Sohn mit der Tochter eines Mörders rumlaufen?
Auf keinen Fall. Aber das war nicht das einzige Opfer von Schachter, denn der gab damals selbst eine Vermisstenanzeige auf, wonach eine Urlauberin unauffindbar sei.
Eine Ungarin soll es gewesen sein. Im Gasthaus »Zum Hirsch« hatte sie gewohnt und Schachter zog ihre Aufmerksamkeit auf sich. Der war zwar verheiratet, doch das interessierte ihn nur peripher. Diese Liebschaft ließ ihn geschwätzig werden und sicherlich musste er handeln.
Ihre Leiche wurde nie gefunden.
Veronika fühlte sich geliebt von Sándor und deshalb tat sie alles, um ihm ein gemütliches Zuhause zu schaffen, die Kochkünste hatte sie von Edwin gelernt und die kleinen Nebensächlichkeiten bekam sie auch hin.
Ihre Kinder, immer dachte sie an ihre Kinder und an den Tag, an dem sie ihren Vater aufs Dringendste brauchte. Leo Reichhardt war in einem Alter, in dem er jetzt weniger auf den Zügen kochte, und deshalb hatte sie ihn damals gebeten die Kinder doch für ein paar Tage zu sich zu nehmen. Sie wollte mit Edwin übers Wochenende verreisen. Ganz egal wohin, Hauptsache, sie hatten einmal eine gemeinsame Zeit für sich.
Opa Leo war des Öfteren zu Besuch gekommen, fremd war er ihnen also nicht. Sie unternahmen viel miteinander, besuchten den Zoo, machten kleine Gesellschaftsspiele, die auch Henry schon leidenschaftlich verfolgte. Opa Leo kochte in seinem Haus in Wien die leckeren Gerichte, die Kinder mögen. Spaghetti oder Fischstäbchen.
Doch eines Tages kam er in Bedrängnis. Ein Sondereinsatz für eine Auslandstour der Deutschen Bundesbahn zwang ihn die Kinder am Bahnhof abzusetzen. Vergebens versuchte er seine Tochter zu erreichen. Er sagte ihnen, dass sie auf den Bus nach Tulln warten sollten.
Henry fing an zu weinen und Saskia beruhigte ihn. Wir schaffen das schon, nachhause zu kommen, sagte sie in einem ruhigen Ton. Der Opa fackelte nicht lange, gab Saskia einen Zwanziger, gab beiden einen Kuss und verschwand. Als sie in Tulln ausstiegen, wusste das Mädchen nicht weiter und sie fragte im Hotel Römerhof nach ihrer eigenen Adresse.
Die Belegschaft informierte die Polizei.
Von dort wurden die Kinder erst einmal in Obhut des Jugendamtes genommen.
Die Tage vergingen und am dritten Tag erreichte Leo seine Tochter, die vor Zorn den Hörer aufknallte. Das war damals, bevor sie sich entschloss zu gehen.
Was für eine Mutter bin ich? Die Angst und die Erinnerung an damals übermannten sie.
Ich werde sie holen, sobald ich kann. Das waren jetzt ihre einzigen Sorgen. Sie hatte Sándor verschwiegen, dass sie Kinder hat und sie zurückließ. Was wird er von mir denken? Was wird aus ihrer Beziehung? Es war ihr egal, selbst wenn er sie deshalb verurteilte. Eine Entschuldigung gibt es da nicht, würde er sagen. Recht hätte er, wenn es so kommen sollte.
Die Kollegen, die die Kriminalpolizei wegen des vermissten Edwin in Wien riefen, wurden jetzt von den Ermittlern Chefinspektor Alex Konradi und seinem Kollege Kevin Laval ins Verhör genommen. Diese Waldarbeiter hatten so viel zu erzählen, dass sie nicht auf den Punkt kamen.
Natalie Knie hatte auch diesmal, wie immer, alles mit angehört und machte sich Notizen. Sie hatte als Helfer in diesem Dezernat Hendrik van der Vard zu unterstützen.
Mit dem kurzen Haar und dem Flair einer maskulinen Polizistin hatte sie schon so manches in Erfahrung gebracht und bei den Ermittlungen geholfen. Recherchen am Telefon waren ihre Hauptaufgaben. Sie orientierte sich gerne an Hendrik, der ihr schon viel über die Polizeiarbeit vermittelt hatte.
Jetzt hörten sie sich alle möglichen Storys an, die sie in Bezug auf die Familie Selvas zu berichten hatten. Und so kam auch ans Tageslicht, das die Wilderer seinen Großvater angeblich erschossen hätten. Auch dass er seine Frau schon krankenhausreif schlug, sie aber nicht wüssten, wo sie sei. Auch dass Reinhard hinter jedem Rock her war.
»Ich kann mir gut vorstellen, dass die mit ihren Kindern abgehauen ist.«
Der Mann, der das so nebenbei rief, war kein anderer als das Narbengesicht Reinhard.
»Im Haus hat aber gestern Licht gebrannt«, sagte Alfred, der nicht auf die Idee kam, die Polizei darüber zu informieren. »Da hat Licht gebrannt?«, rief Alex.
»Ja, ich hab’ mir nichts dabei gedacht, denn die Veronika war öfter mal ein bis zwei Tage weg.« »Da sind Sie nicht auf die Idee gekommen, uns zu informieren?«
Alex schüttelte den Kopf. »Komm Kevin, wir müssen dahin.«
Es war März und am Balaton fing schon vieles an zu blühen. Veronika saß gedankenverloren am Ufer des Sees und genoss die Märzensonne, sie beobachtete die Autofähre, die rüber zum anderen Ufer nach Szántód gelangt. An diesem Tag war sie einfach mitgefahren, um die andere Seite am Südufer kennenzulernen. Zehn Minuten dauerte eine Überfahrt. Von Szántód nahm sie dann den Bus, um nach Siófok zu gelangen.
Der Jachthafen, dort, wo Sándor in dem Hotel direkt am See arbeitete, bot einen unglaublich romantischen und zugleich betuchten Eindruck. Wer hier eine Jacht hatte, der war reich, der hatte hier in Ungarn ein gutes Leben.
Sie ging durch die Stadt und sah sich die schönen Anlagen an. Fast alle Restaurants waren mit schönen Blumen geschmückt. Der Turm, der mitten in der Stadt stand, so hatte sie sich erkundigt, war der Wasserturm. Ganz aus Holz war er, das Sinnbild der Stadt.
Einige kleine Besorgungen machte sie noch, bevor sie sich entschloss den Heimweg anzutreten.
Als sie zurück war, hatte Sándor einen furchtbaren Laut von sich gegeben. Sie wunderte sich, dass er schon da war. Dass er an diesem Tag früher zuhause war, hatte er ihr nicht gesagt. Der Fernseher zeigte einen Tatort in Tulln und die Frau, die hier gesucht wurde, war keine andere als seine Veronika, die sich doch bitte bei der Kriminalpolizei in Wien melden solle.
»Hast du gesehen, was da passiert ist?« »Nein, was passiert ist, haben die nicht gezeigt oder ich habe zu spät eingeschaltet. Ich habe nur noch mitgekommen, dass sie nach dir suchen, und die Nummer notiert.«
Veronika nahm den Telefonhörer und wählte die Nummer, die Sándor notiert hatte. Instinktiv hatte sie ihre Kinder vor Augen und die Panik machte sich breit, erst jetzt begriff sie richtig, was sie getan hatte, das würde sich Edwin nicht gefallen lassen. Warum war sie nur so egoistisch gewesen? Ich bin schuld, wenn etwas Schlimmes passiert ist. Sie zitterte, als sie den Hörer hielt.
»Van der Vard, Kriminalpolizei Wien.« Veronika schluckte, »hier ist Veronika Selvas, was ist passiert?«, fragte sie besorgt. »Moment«, sagte Hendrik. Er legte den Hörer beiseite und lief zum Büro von Bender.
»Die Frau ist am Apparat.«
»Welche Frau, Hendrik?«
»Die von dem Toten in Tulln.«
Bender rannte fast in das Büro von Hendrik, nahm den Hörer und sprach: »Wie gut, dass Sie sich melden, können Sie nach Wien ins Polizeipräsidium kommen, Frau Selvas? Morgen früh, es ist wichtig.«
Der Major holte keine Luft, er ließ nicht mal zu, dass sie Hallo sagen konnte. Veronika hatte absolut keine Ahnung, was passiert war.
»Bitte Herr Kommissar, was ist denn passiert, ist was mit meinen Kindern?«
Sie sagte das so leise wie möglich und ging deshalb aus dem Raum, in dem ihr Freund auf dem Sofa die Nachrichten verfolgte. »Frau Selvas, soll Sie jemand abholen? Wir haben hier einiges zu klären, das ich Ihnen am Telefon nicht sagen will.
Bitte kommen Sie morgen ins Präsidium nach Wien.«
»Das klingt alles ein bisschen beunruhigend, ich komme, aber ich bin am Balaton, das dauert einige Stunden. Ich beeile mich. Ich werde morgen früh losfahren.«
Sie legte auf und vergeudete keine Minute. Zu Sándor sagte sie, »Fährst du mich bitte morgen früh nach Wien? Es ist irgendwas passiert. Bitte Sándor, frag mich jetzt nicht, was, denn ich weiß es selber nicht, der Kommissar wollte mir am Telefon nichts sagen.
Kannst du das machen, bitte?«
Sándor legte sich in seinen Sessel zurück, nahm das Handy aus der Tasche und rief im Hotel an, das er leitete. Er verlangte nach seinem Kompagnon Kovács.
»Szia Bence, ich bin morgen nicht da«, sagte er, als Kovács sich meldete, er bat ihn seinen Stellvertreter zu informieren. Das konnte er so machen, denn sie waren beide gleichberechtigte Geschäftspartner. Der Mann am anderen Ende nahm sein Anliegen entgegen und tat was notwendig war, um Sándors Bitte nachzukommen.
»Du bist ein Schatz, dafür liebe ich dich.«
Sie küsste ihn, legte die Arme um ihn und vergrub ihr Gesicht an seinem Hals.
Um 6:30 Uhr morgens fuhren sie los. Auf den unbefestigten Landstraßen kamen sie nur langsam voran. Jede Ortschaft zeigte, dass man nur 30 km/h fahren sollte.
Sie mussten über den Hegyeshalom/Nickelsdorf-Grenzübergang. Straße der Sonne nannte man diese Autobahn. Die 140 Kilometer Landstraße hatten an ihren Nerven gezerrt.
Es dauerte doppelt so lange, bis sie da sein würden.
Fast zwei Stunden redeten sie nichts, erst als Veronika bat, an der nächsten Raststätte haltzumachen, riskierte der Mann eine Frage.
»Vielleicht hat es etwas mit deinem Mann zu tun.«
»Ja, vielleicht, aber ich weiß es nicht.«
Mit zwei Kaffee und zwei Brötchen kam sie zum Wagen zurück. »Wir essen erst mal was, ruh dich etwas aus, du bist ziemlich schnell gefahren. Danke, dass du das für mich machst.«
Jetzt dachte sie an Gudrun, sie hatten ein Geheimnis, Schuldgefühle nisteten sich ein.
Es gab nicht viel, wovor Veronika Angst hatte. Nur vor Gudrun, der sie sich damals anvertraut hatte, es war etwas, das sie in Schwierigkeiten bringen konnte.
Sie hatte es nie so richtig ausgesprochen, aber angedeutet, und Veronika hatte nur gesagt, »du hältst den Mund!«. Da wusste Gudrun, was Sache ist.
Diese Geschichte von damals beschäftigte sie jetzt. Was anderes hätte sie sich nicht erklären können. Was konnte es sonst sein? Oh mein Gott, wenn sie Alfred etwas angetan hat. Aber warum sollte man dann sie benachrichtigen. Wieder dachte sie an Edwin und die Kinder. Diese Ungewissheit zerrte an ihren Nerven.
Jetzt musste sie aufhören zu denken, denn sie merkte, wie ihre Psyche sie im Stich ließ. Leise summte sie ein Lied. Sándor sah sie an und machte sich Sorgen.
»Veronika, beruhige dich, es klärt sich gleich alles auf.« Er war ebenfalls besorgt und gespannt, was dort vorgefallen sein konnte. Er hatte sich nur gewundert, dass der Mann von Veronika keine Anstalten machte nach ihr zu suchen.
Mit einem leichten Lächeln sah er sie an.
Was für ein Glück hatte sie doch, solch einen Mann kennengelernt zu haben.
Er war ganz auf ihrer Seite. Nur wie lange noch, wenn er die Wahrheit erfuhr.
Sie hatten die Autobahn verlassen und fuhren in Richtung Josefstadt Alservorstadt.
Am Schottenring 7-9 bogen sie auf das Gelände der Landespolizeidirektion Wien ein.
Alex und Kevin fuhren auf das Anwesen von Edwin Selvas zu.