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Emily ist ein normales Mädchen, das am Ende der Welt lebt. Sie hat keine Mutter und keinen Vater mehr, deswegen wurde sie bei einer Pflegemutter aufgezogen. Ihre beste Freundin Fenja ist aufgedreht und pfiffig. Doch dann beginnen ihre Albträume wahr zu werden...
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Veröffentlichungsjahr: 2014
Emily hatte den Kopf in den Nacken gelegt, atmete tief ein dabei und seufzend wieder aus, als sie ihren Blick langsam über die Bücherreihen wandern ließ. Sie las jeden Titel, ohne ihn dabei groß abzuspeichern. Bücher, die sie kannte und schon einmal gekauft hatte, neue Bücher, langweilige Bücher, seltsame Bücher. Und alle über Irland. Ihr Magen zog sich kurz zusammen, als sie sich selbst fragte, was sie eigentlich hier suchte. Sie war in der kleinen Buchhandlung eine Straße weiter von ihrer Wohnung aus. Sie hatten Herbst und die Eigentümerin hatte ein Herz für Dekorationen. Fast wöchentlich änderten sie sich. Momentan war alles kunstvoll mit Laub, Kerzen, Kürbissen, Maiskolben, Äpfeln und Quitten dekoriert, in denselben Farben, wie sich die Ahornbäume draußen präsentierten, die die Straße säumten. Von hellem Gelb bis zu tiefem Rot. Der Wind ging ein wenig und Emily hörte die Klingel, als jemand anderes die Tür des Ladens öffnete. Der Straßenlärm wurde kurz lauter und ebbte wieder zu seinem unterschwelligen, nie vergehenden Dröhnen ab. Eines der Dinge, die für Emily neu waren. Bevor sie ihre Reise gemacht hatte, hatte sie der Straßenlärm nie...gestört. Zumindest nicht so. Inzwischen fand sie ihn immer laut. Hörte ihn immer. Egal wo in der Stadt sie war. Überhaupt war ihr die Stadt zu...groß. Voll. Laut. Dreckig. Schmutzig. Stinkend. Hektisch. Abgehoben. Weltfremd. Oberflächlich. Sie konnte ewig so weitermachen. Ihr war ein wenig, als würde sie neben sich stehen, sich den ganzen Tag beobachten und über sich selbst den Kopf schütteln, weil sie sich so verändert hatte. Sicher, auch früher war sie schon immer lieber auf dem Land gewesen, sie war da immerhin aufgewachsen und wollte auch später dort wieder hin – früher hatte sie auch geplant, dort ihre Familie zu gründen und ihre Kinder großzuziehen. Aber der Gedanke löste Kopfschmerzen aus und sie verdrängte ihn immer gleich schnell und erfolgreich. Doch der Rest ließ sich nicht verdrängen.Sie mochte ihre Stadt nicht mehr.
Also hielt sie sich oft in einem Buchladen auf, in einer Bibliothek oder in ihrer Wohnung. Auch in den Park wollte sie nicht – zu viele Menschen auf zu engem Raum. Wenn man sie so denken hörte, könnte man schon fast meinen, sie sei eine Elfe... Emily schüttelte den Kopf und seufzte wieder. Übermorgen würde sie nach Hause zu ihrer Familie fahren, nach Hause aufs Land. Wo es hoffentlich besser wurde.
Sie wandte sich von der Bücherreihe ab, doch sah noch einmal zurück. Viele Buchrücken waren voll von Mustern, Schnörkeln, Tribles, stilisierten Tieren, irischen Begriffen und teilweise Bildern von der irischen Landschaft. Wieder fragte sie sich, was sie eigentlich hier tat. Ob es gut für sie und ihr geistiges Wohl war, wenn sie sich immer wieder an Irland erinnerte. Selbst. Immerhin war es über drei Monate her, dass sie so plötzlich wieder in diesem einen Wald aufgetaucht war, wo sie sich – für sie Jahre zuvor – verirrt hatte. Es war dunkel gewesen, der Nebel dick, doch er hatte sich schnell in Schwaden verzogen. Dann hatte Emily, verwirrt, halb tot vor Erschöpfung und Blutverlust, Lichter gesehen, Rufe gehört, ihren Namen gehört. Sprachlos war sie erst nur dagestanden und hatte in der Nacht im Wald die Lichter einfach nur voll Wunder angeschaut. Sie war tatsächlich an denselben Ort zur selben Zeit zurückgekehrt. Wo sie sich verlaufen hatte. Und sie war einer Suchmannschaft direkt in die Arme gesprungen.
Die irische Polizei war von einem Gewaltverbrechen ausgegangen. Dann von...Pech. Emily wusste nicht wirklich, was sich alle gedacht hatten. Oder wie sich alle erklärt hatten, dass sie erstens voller Blut war, zweitens nicht verletzt war, es aber trotzdem ihr eigenes Blut gewesen war, und drittens Kleidung angehabt hatte, die sie wiederum erstens an dem Tag nicht angezogen hatte, und die zweitens absolut nicht ihrer Zeit entsprach. Zuviel Leder, selbst gewebtes Leinen, ein Dolch – handgeschmiedet – nicht geleimte Stiefel, sondern handgenähte... Viele Rätsel, auf die ihnen Emily keine Antwort gegeben hatte. Sie hatte einen totalen Gedächtnisverlust vorgetäuscht. Das war ihrer Meinung besser für alle Beteiligten. Auch besser für sie, ersparte ihr die Geschlossene.
Wer würde ihr auch schon ernsthaft glauben, dass sie über zwei Jahre fort gewesen war, in der Vergangenheit, in der Elfen tatsächlich gelebt hatten, die sie selbst, weil sie eine Weltenwanderin war und zaubern konnte sozusagen, in die Anderswelt gebracht hatte, eine mythische, jenseitige Welt, in der sie sogar ihre tote Oma gesehen hatte? Richtig. Die Wenigsten. Also war und blieb das ihr kleines Geheimnis. Vor allem, da sie jetzt nicht mehr zaubern konnte.
Sie war ehrlich, die ersten beiden Monate hatte sie nicht nur nicht darüber gesprochen, sondern auch sehr oft versucht, einfach nicht daran zu denken. Es nicht unbedingt zu vergessen oder zu verdrängen, doch sie wollte einfach nicht dran denken. Sie wollte sich erholen, wieder ankommen in der Zeit, in die sie gehörte, wieder in der Welt leben, die ihre Heimat war. Und die ersten zwei Monate ungefähr war das auch gar nicht so schwer gewesen. Die Erinnerungen waren da gewesen, aber das war auch schon alles gewesen. Sie war zurückgeflogen, zu ihrer Familie, hatte sich krank gemeldet – Posttraumatische Belastungsstörung – und war ein paar Mal bei einem Gesprächstherapeuten gewesen, der auch gleichzeitig Heilpraktiker war. Aber eher nur, um ihre Eltern zu beruhigen. Auch ihm hatte sie nur gesagt, dass sie sich an nichts erinnerte. Seitdem war das akzeptiert worden (auch wenn Emily ahnte, dass jeder um sie herum nur darauf wartete, dass schlimme, verdrängte Erinnerungen plötzlich in ihrem Kopf auftauchen würden, und sie deswegen alle auf Zehenspitzen um sie herumwanderten und besonders vorsichtig und rücksichtsvoll zu ihr waren), sie nahm ein paar Schüßler-Salze, da sie auch keine anderen Zeichen für große Depressionen oder sonstige Störungen zeigte, die da vielleicht normal waren, und sie gewöhnte sich wieder an ihren Alltag.