Argos erwacht - Josef Kaindl - E-Book

Argos erwacht E-Book

Josef Kaindl

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Beschreibung

Sämtliche Diagnosen mit allen intimen Details der ehemaligen Kinder- und Jugendpatienten des verstorbenen Psychiaters Dr. Williams fallen in die Hände des Serienmörders Alex, alias Argos. Die Patienten von damals sind mittlerweile Erwachsene, die scheinbar ein ganz normales Leben führen. Bis zu dem Zeitpunkt, an dem ihre größten Ängste der Kindheit durch Argos wiedererweckt werden. Argos ist der Serienmörder, der alles über seine Opfer weiß - vor allem deren schwerste Kindheitstraumata - bevor er sie langsam und grausam tötet. Sein wahres Ziel ist nicht das Morden an sich, sondern scheinbar den Übergang seiner Opfer vom Leben zum Tod so lange wie möglich hinauszuzögern und intensiv miterleben zu können, wie sich das Sterben anfühlt. Doch der wahre Grund ist ein anderer ...

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Seitenzahl: 263

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Ähnliche


Die Argos Trilogie:

Band 1: „Argos erwacht.“

Band 2: „Argos – Reloaded“

Band 3: „Argos – Imago“

Alle Personen und Handlungen dieses Buches sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder bereits verstorbenen Personen sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Auf geschlechtsspezifische Schreibweise wurde im Rahmen der besseren Lesbarkeit verzichtet (immer m/w/d).

Dieses Buch ist für Leser unter 18 Jahren nicht geeignet.

Danksagung

An alle meine Lehrer, Mentoren und weisen Begleiter, für ihre wohlwollende Unterstützung auf meinem Lebensweg.

Inhalt

Heikle Informationen (Mai 2018).

Histrionische Persönlichkeitsstörung.

Ein interessanter Arztbericht.

Gute Vorbereitung ist alles.

Drei lange Tage.

Hilfe naht – wirklich?

Alex wird zu Argos.

Beginn des Verhörs, oder: Wer bestimmt das Spiel? (Juli 2019).

Tourette-Syndrom.

Orientierungslos und ausgeliefert.

Eingriff ins Gehirn.

Mit der richtigen Ausrüstung ist vieles möglich.

Kein Vertrauen in den Arzt – warum nur?

Kontrolle des Gehirns.

Verhör Teil 2, oder: Erste Gegenüberstellung.

Anorexia Nervosa.

Großväter sind auch nur Männer.

Polnische Putzfrauen sind Gold wert.

Nicht jeder Postbote bringt gute Nachrichten.

Manche Dinge möchte man nicht wirklich hören.

Verhör Teil 3, Alex liefert ein wichtiges Puzzlestück.

Münchhausen-Stellvertretersyndrom (Münchhausen by Proxy Syndrome).

Doppelmord, doppelter Spaß.

Mutter ohne Sohn – nur der halbe Spaß?

Jeder ist auffindbar. Wirklich Jeder.

Erst Tiere, später Menschen. Oder umgekehrt.

Der weibliche Münchhausen.

Seinem Ziel nahe.

Alex wird nun ganz zu Argos.

Argos wütet.

Verhör Teil 4, oder: Unerwartetes kommt oft.

Psychosyndrom nach Schädel-Hirn-Trauma.

Geduld zahlt sich aus.

Clubs können gefährliche Orte sein.

Metall leitet Strom hervorragend.

Verhör Teil 5, oder: Pech gehabt!

Paranoide Schizophrenie.

Minen verletzen oder töten Menschen.

Kriegsheimkehrer gibt es viele.

Auch Politiker sind nur Menschen.

Schlimme Erinnerungen an die Kindheit.

Im unpassendsten Moment.

Ein Blatt Papier unter vielen.

Epilog

Vorwort

„Ich weiß, dass ich nichts weiß“, ist eine berühmte Aussage des griechischen Philosophen Sokrates. Stellen Sie sich für einen Moment ganz bewusst vor, dass es mehr gibt, als wir erfassen können. Um Sie in die Ideen von Argos, der Titelfigur dieses Thrillers, einzuführen möchte ich Ihnen zuerst einige Beispiele geben, die Ihnen zeigen werden, wie schnell Sie an die Grenzen des menschlichen Denkens und damit des Vorstellungsvermögens kommen.

Kennen Sie die „Matrix“-Filme? Ja? Dann kennen Sie jenen Augenblick im Film, an dem klar wird, dass wir nicht zwischen der sogenannten Realität, einer Traumwelt oder einer synthetischen also künstlich erzeugten Welt unterscheiden können. Es ist genau jener Augenblick, in dem man kurz zusammenzuckt und denkt: Bin ich im Kinosessel eigentlich real – ist alles um mich herum real, oder eine Täuschung, eine Illusion? Würde ich die blaue oder die rote Pille nehmen? Ein indischer Glaube besagt, dass wir uns alle im Traum einer Gottheit befinden. Aber nur solange diese schläft. Wenn sie aufwacht, sind wir nichts als Erinnerungen, oder noch viel weniger: Nichts.

Wie anmaßend und arrogant ist doch der Mensch, wenn er behauptet, dass er die Krönung der Schöpfung ist, wenn er gar denkt, dass er alleine im Weltall ist, hier auf der Erde. Jede Wahrscheinlichkeitsrechnung sagt, dass es bei unendlich vielen Planeten, Sonnen und anderen Himmelskörpern immer eine gewisse Wahrscheinlichkeit für andere belebte Gestirne gibt, die größer als eins (= Erde) sind. Daher könnte man sogar mathematisch weitere Lebensformen im Weltall voraussagen. Auch Biologen und Chemiker gehen von weiteren Lebensformen aus, irgendwo im unendlichen All.

Doch alle diese Ansätze und Vermutungen decken sich nicht ansatzweise mit den Erfahrungen, die Alex machen wird, die Hauptfigur des Thrillers, den Sie gerade in Händen halten. Bei dem, was er Ihnen gleich offenbaren wird, werden Sie vielleicht sagen, dass das nur eine Vermutung sein kann. Oder Sie unterstellen ihm, dass das nur einem – Ihrer Ansicht nach – kranken Gehirn entspringen kann.

Auch Galileo Galilei nahm an, dass die Erde eine Kugel sei. Alle seine Berechnungen, Versuche deuteten darauf hin. Doch die Welt war für diese Erkenntnis noch nicht bereit. So könnte es Ihnen auch mit den nun folgenden Seiten gehen…

HEIKLE INFORMATIONEN (MAI 2018).

Dr. Williams war vor zwei Wochen, am 20.April 2018 verstorben. Er schlief kurz vor seinem sechsundsiebzigsten Geburtstag friedlich ein, so wie sich das wohl jeder Mensch wünscht, wenn es mal so weit ist.

Heute, an diesem sonnigen Tag, hätte er Geburtstag gehabt, und seine einzige Tochter Sarah erfüllte ihm genau an seinem Geburtstag seinen letzten Wunsch, den er ihr aufgetragen hatte: alle seine Bücher und alle Gegenstände, die sie nicht haben wollte, sollten an andere Menschen verteilt werden. Sarahs Sohn Christian war neun, ihre Tochter Charlotte elf Jahre alt. Charlotte hatte die Idee, eine Art Garagen-Flohmarkt im Vorgarten des Hauses ihres verstorbenen Großvaters zu organisieren. Das eingenommene Geld könnte dann für Blumen und schöne Kerzen am Grab genutzt werden, meinte sie.

Sarah war mit Charlottes Vorschlag sofort einverstanden. Ihr geliebter Vater war ja nun schon zwei Wochen tot. Vielleicht war das eine ungewöhnliche, aber ganz bestimmt eine gute Art ihren Vater zu betrauern, ihm damit posthum nochmal Gutes zu tun. Und wer weiß schon, wie die Kinder den Tod ihres geliebten Opas verarbeiten würden? Selbst Sarah hatte noch immer nicht wirklich ganz realisiert, dass ihr Vater nicht mehr unter ihnen weilte. Was sollte man also von Kindern erwarten dürfen?

Am weit geöffneten Eingangstor des Vorgartens hing ein Schild mit der Aufschrift: „Jedes Teil 1 €“. Auf einem Tapeziertisch zwischen dem Haus und dem Gartentor hatten Sarahs Kinder verschiedenste Dinge aus dem Nachlass von Dr. Williams gestapelt; vor allem Bücher. Es waren hauptsächlich medizinische und psychologische Bücher und Abhandlungen darunter. Dr. Williams war Allgemeinarzt und Psychiater gewesen. Sein Spezialgebiet war die Kinder- und Jugendpsychiatrie.

Es waren schon einige Leute vorbeigekommen und hatten sich die Bücher angesehen. Allerdings hatte bisher nur einer der Nachbarn ein Buch auch wirklich gekauft. Weniger aus Interesse am Inhalt, als vielmehr, um den Kindern in ihr Sparschwein einen größeren Betrag stecken zu können. Vielleicht eine etwas hilflose Art sein Beileid zu zeigen, aber immerhin ein Versuch. Die Kinder hätten sich allerdings mehr Einnahmen in kürzerer Zeit gewünscht. Sie langweilten sich mittlerweile, da so selten jemand an ihren Tisch mit den Utensilien ihres Großvaters kam. Und wenn jemand kam, blätterte er mehr oder weniger lustlos in den Büchern, kaufte aber nichts. Wen interessierte schon Kinderpsychiatrie?

Doch dann kam ein den Kindern unbekannter Mann durch das Gartentor und ging mit festem Schritt direkt auf den Angebotstisch zu.

Der Mann war groß und hatte eine Art künstliches Lächeln, oder vielmehr Grinsen im Gesicht. Bei näherem Betrachten schien sein Gesicht starr zu sein und es vermittelte den Eindruck, dass sein auf den ersten Blick freundliches Lächeln eingefroren war. Es fehlte die dazugehörende Emotion. Die Kinder spürten dies intuitiv, konnten jedoch den Widerspruch zwischen seinem Gesichtsausdruck und dem fehlenden, zur Situation passenden Gefühl, nicht einordnen. Der dunkelhaarige Mann trug trotz der warmen Temperaturen an diesem sonnigen Frühlingstag weiße Handschuhe, was beide Kinder seltsam, aber auch lustig fanden. „Hallo ich bin Alex, darf ich mir auch mal die Kisten unter dem Tisch ansehen?“, stellte er sich vor. Er war in den Augen der Kinder ein sehr großer Mann. Und er lächelte permanent, was die Kinder dann schließlich doch als freundlich interpretierten.

Alex sagte, er suche nach Hängeregistern für seinen Büroschrank, und genau die habe er schon von außerhalb des Vorgartens unter dem Tisch erspäht. Er gab den Kindern ohne zu zögern einen 20€-Schein für deren Sparschwein und trug dann mehrere Kisten mit Hängeordnern und -registern zu seinem dunklen Transporter, den er am Straßenrand direkt vor dem Gartentor geparkt hatte. Als er alle Kisten mit den darin befindlichen Materialien verstaut hatte, verabschiedete er sich von den Kindern, immer noch mit diesem permanenten, irgendwie aufgesetzt wirkendem Lächeln und fuhr in seinem Wagen davon.

Als Sarah nach den Kindern sah, und sie nach den bisherigen Einnahmen fragte, erfuhr sie, dass gerade eben ein Mann 20€ für „die alten Kartons mit Papier“ bezahlt hatte. „Was war denn drin?“, fragte sie. Christian deutete auf eine Umzugskiste und sagte: „Na, eben ein Haufen Papier. Hier ist noch ein Karton übrig, den wir als Sitzgelegenheit genutzt hatten.“ Sarah zog ein Blatt aus dem übriggebliebenen Karton heraus und erschrak. Es war eine Seite eines Anamnesebogens eines der Kinder, die bei ihrem Vater in Behandlung gewesen waren. Sie zog nach und nach mehrere Blätter heraus, und fand Diagnosen, Beschreibungen von Krankheitsverläufen, Behandlungspläne und etliche Notizen zu den kleinen, ehemaligen Kinder- und Jugendpatienten ihres Vaters. Sie dachte sich, wenn das in falsche Hände gelangen würde, dann bekäme sie Ärger; großen Ärger. Es wurde ihr abwechselnd heiß und kalt. Ein ungutes Gefühl breitete sich von der Magengegend ausgehend, kreisförmig über ihren ganzen Bauch aus. Doch schon wenige Augenblicke später dachte sie sich, dass diese Unterlagen ja schon mindestens zehn Jahre oder älter sein müssten. Sie wusste, dass manche medizinischen Unterlagen zehn Jahre, manchmal zwanzig oder in Ausnahmefällen gar dreißig Jahre aufbewahrt werden müssen. Aber was gilt, wenn der zur Archivierung verpflichtete Arzt verstorben war? Dr. Williams praktizierte schließlich schon länger nicht mehr. Ihr mulmiges Gefühl legte sich wieder, und sie atmete mit einem langen Seufzer aus. „Mama, was ist denn?“, fragte Christian. „Ich dachte gerade, dass wir vielleicht vorher alles durchsehen hätten sollen, was wir in unserem Flohmarkt anbieten. Ich mache das jetzt mal, nur um sicher zu gehen, dass wir keinen Unfug verkaufen“, bemerkte Sarah wohl mehr zu sich selbst, als zu ihren Kindern.

Den übrig gebliebenen Karton mit den Registerkarten und Krankenunterlagen stellte sie sofort in den Flur des Hauses und wollte das Papier als Anzündhilfe für den Kachelofen nutzen. Während Sie alle weiteren Gegenstände einem prüfenden Blick unterzog, fragte sie ihre Kinder, ob sie den Mann beschreiben, oder sich an Details des Autos erinnern könnten. Außer dem Namen Alex, dass der Mann ein großes dunkles Auto gefahren habe und bei Sonnenschein Handschuhe trug, konnte sie bei ihren Kindern nichts Weiteres in Erfahrung bringen. Sie beruhigte sich selbst, in dem sie sich innerlich sagte, dass mit diesen alten Unterlagen sowieso niemand etwas Sinnvolles anfangen könne. Hier sollte sie sich irren. Gewaltig irren...

HISTRIONISCHE PERSÖNLICHKEITSSTÖRUNG.

Patientenkarte Nummer 298: Elisabeth Ehmann, geboren am 17. Mai 1980. Diagnose: F44.6 (F60.4?) Dissoziative Sensiblitäts- und Bewegungsstörungen, temporäre Ataxie bis zur Abasie, Verdacht auf sich entwickelnde histrionische Persönlichkeitsstörung (Verdachts- bzw. vorübergehende Diagnose!).

Alex betrachtete die Kartons mit den vielen Blättern, die voll waren mit handschriftlichen Notizen, als ob er einen Schatz gefunden hätte.

Doch bevor er in Dr. Williams Welt eintauchen wollte, loggte er sich an seinem Laptop ein und wollte sich „Appetit holen“, wie er es ausdrückte. Dazu ließ er eine Playlist mit dem vielsagenden Namen „Bumsmusik“ abspielen und startete dann seinen Internet-Browser.

Aus dem Lautsprecher seines Laptops ertönte „Slave To The Rhythm“ von Grace Jones.

Er öffnete seine Favoriten, die er strukturiert als Bookmarks gespeichert hatte und klickte auf den Link soylent-network-slaughter.

Er sah sich genüsslich die auf dieser Web-Site angebotenen Bilder vom Schlachten von Tieren an. Mittlerweile ertönte „Amoureux Solitaire“ von Lio, wobei er rhythmische Stoßbewegungen mit seinem Unterleib im Takt der Musik machte. So angetörnt, wechselte er auf eine Pornoseite und entlud seine aufgestaute Erregung zu einem Pornofilm und der Musik von Kylie Minogues „Can’t Get You Out Of My Head“. Jetzt war er bereit für Dr. Williams Welt, wie Alex es nannte.

Alex nahm das blaue Buch in die Hand, das sich unter den vielen Karteikarten in einem der Kartons befand, die er auf dem Hausflohmarkt von den Kindern ergattert hatte. Dass er dessen Inhalt manchmal nicht richtig verstand, war auf sein fehlendes medizinisches Wissen im Bereich der Psychologie zurückzuführen. Es war eine alte Ausgabe der Internationalen Klassifikation psychischer Störungen, kurz „ICD-10“ genannt. Dieses Buch, das Geisteskrankheiten, oder wohl medizinisch korrekter: „diagnostische Leitlinien für psychische Erkrankungen“ beschreibt, ist ein medizinisches Standardwerk. Oft musste er die in diesem elementaren Fachbuch beschriebenen Absätze mehrfach lesen. Und noch öfters im Internet recherchieren, um die ganze Tragweite einer von Dr. Williams diagnostizierten Erkrankung zu verstehen.

Dass dieses Buch mit dem Titel „ICD-10“ der Schlüssel zum tieferen Verständnis der Patientenkartei nötig ist, war Alex von Beginn an klar. Denn er hatte längst herausgefunden, dass Dr. Williams immer ergänzend zu seinen Diagnosen auf die Patientenkarten auch alphanumerische Zeichen geschrieben hatte. Die meisten begannen mit dem Buchstaben F, gefolgt von einer oder mehreren Ziffern. Die Karte, die gerade vor ihm lag war mit dem Kürzel „F44.6“ versehen. Aus den Laptop-Lautsprechern ertönte derweil Vanessa Paradise mit ihrem „Joe Le Taxi“.

Alex las den zugehörigen Absatz im ICD-10, der sich für ihn völlig unglaubwürdig anhörte: „Die häufigste Form der dissoziativen Bewegungsstörung ist der vollständige Verlust der Bewegungsfähigkeit eines oder mehrerer Körperglieder, vor allem der Beine mit der Unfähigkeit zu gehen oder zu stehen. Es bestehen keinerlei körperlich diagnostizierbare Befunde. Auffallend ist das Aufmerksamkeit suchende Verhalten, abhängig von den anwesenden Personen und dem emotionalen Zustand des Patienten“. Alex schüttelte ungläubig den Kopf, setzte sich an seinen Laptop, schaltete die Musik auf stumm und recherchierte in Wikipedia. „Das nannte man früher Hysterie“, murmelte er vor sich hin. Hysterische Weiber, den Begriff kannte er. „So etwas steht in einem medizinischen Standardwerk?“, fragte er sich.

Bedeutete Dr. Williams zweite Diagnose auch dasselbe: Hysterie? Was hatte es mit dem Hinweis in Klammern „Verdachts- bzw. vorübergehende Diagnose!“ auf sich? Und warum das Ausrufezeichen am Ende? Alle bisherigen Diagnosen auf den Patientenkarten des Kinderpsychiaters, von vorhergehenden potentiellen Opfern von Alex, waren eindeutig und meist ohne jegliche Einschränkungen oder Hinweise. War sich der Arzt damals nicht sicher? Oder war es gar eine Diagnose, die für Kinder nicht in Frage kam? Alex suchte im Inhaltsverzeichnis des ICD-10 nach Persönlichkeitsstörungen, und fand unter F60.4 die im Befund genannte „histrionische“. Dort stand auch der Begriff hysterische Persönlichkeit.

Na also, dachte er sich, das ist doch dasselbe wie Hysterie. Warum war der Psychiater aber mit dieser Diagnose so unsicher oder war er einfach nur vorsichtig? Vielleicht, um dem Kind keinen Stempel aufzudrücken? War vielleicht eine Diagnose Persönlichkeitsstörung schlimmer, als die in der Patientenkarte zuerst genannte dissoziative Störung? Alex wollte bei jedem seiner potentiellen Opfer so viel als möglich in Erfahrung bringen. Je mehr er über das Krankheitsbild in Erfahrung bringen konnte, desto perfider konnten seine Methoden ausgefeilt werden, umso mehr konnte er die Qual seiner Opfer maximieren. Das war es, was ihn umtrieb, bevor er sein nächstes Opfer ausfindig machte. Denn er wusste, dass er dank Internet jeden aus dieser Generation der Internet-affinen finden würde.

Je mehr er im Internet auf den einschlägigen Seiten über diese spezielle Art der Persönlichkeitsstörung las, desto mehr interessierte sie ihn. Es erregte ihn, wenn er las, dass sich vor allem Frauen mit diesem Krankheitsbild sehr aufreizend anzogen, sexy wirken wollten.

Diese Frauen wollen im Mittelpunkt stehen, sind auffallend sexy gekleidet, gut geschminkt, erotisch wirkend. Er fand, dass das doch keine Krankheit sein konnte, sondern das diese Art von Frauen der Traum jeden Mannes sein müsste. Alex sprach dieser Art von Frauen jeglichen Krankheitswert ab. So eine „Krankheit“ kann es doch gar nicht geben, meinte er.

Obwohl er Dr. Williams in seiner Funktion als Psychiater nie intensiv kennengelernt hatte, hatte er doch eine sehr hohe Meinung von ihm.

Was, wenn so jemand nun wirklich eine hysterische Frau diagnostizierte? Oder eben als Kinderpsychiater sich nicht scheut eine hysterische Jugendliche als krank zu bezeichnen? Und nur die eine Einschränkung „Verdachts- oder vorübergehende Diagnose“ notiert.

Welchen Krankheitswert hatte so etwas? Alex hatte nie eine extrem hysterische Frau in seinem Leben kennengelernt. Obwohl…da war eine Klassenkameradin in der siebten Klasse, die immer in Ohnmacht fiel, wenn der Mathematiklehrer den Raum betrat. Nun, immer war wohl übertrieben, aber in Alex’ Erinnerung stellte sich das so dar. Bei diesem Mädchen wäre damals keiner auf die Idee gekommen, eine Hysterie, oder auf Neu-Deutsch: dissoziative Bewegungsstörung zu vermuten. Oder vielleicht doch – wer weiß? Kein Krankheitsbild auf den von Dr. Williams beschriebenen Patientenkarten hatte Alex bisher so ungläubig staunen lassen, wie dieses. Das kann doch nicht wahr sein – das ist doch keine Krankheit, dachte er immer wieder. Doch er wurde eines Besseren belehrt, als er die detaillierten Aufzeichnungen von Dr. Williams zu dem Fall las.

Ein interessanter Arztbericht.

„Das heute 14-jährige Mädchen hat laut Schilderung ihrer Mutter immer wieder Schwierigkeiten von Empfindungsstörungen beim Gehen, bis hin zur völligen Lähmung ihrer Beine. Ihr 16-jähriger Freund muss sie dann in Anwesenheit der Mutter stützen, bzw. tragen.

Laut Aussage der Mutter passiere das nur in ihrer und der gleichzeitigen Anwesenheit des 16-jährigen Freundes der Tochter. In der Schule oder bei Freunden passiere das nie. In der Einzelbefragung der Patientin Elisabeth Ehmann gibt diese an, dass sie sich vor der Mutter für ihr Versagen der Beine schäme. Bei weiteren Sitzungen vertraute Elisabeth mir an, dass sie schon mit ihrem Freund geschlafen habe, trotz des mehrfach ausgesprochenen strengen Verbotes durch die Mutter. Bei genauerem Nachfragen sagte Elisabeth, dass sich bei den Anfällen (wie sie den Zustand bezeichnet) sogar ihre Vagina wie betäubt anfühle. Äußerlich ist das Mädchen sehr aufreizend gekleidet.

Übermäßig grell geschminkt, knallroter Lippenstift. Sie versucht, auch wenn sie in Begleitung ihrer Mutter ist, möglichst oft im Mittelpunkt zu stehen. Elisabeth gibt sich in den Einzelsitzungen sehr lasziv und machte Versuche mich zu verführen, obwohl der Altersunterschied enorm ist“

„Sie sagte sogar einmal, dass sie, extra für die Sitzung mit mir, keine Unterhose angezogen habe. Vermutete Ursache a priori ist der Konflikt mit der Mutter bezüglich Sexualität, der sich im Versagen der Beine ausdrückt, denn zwischen den Beinen befindet sich schließlich das äußerlich sichtbare Geschlechtsorgan der Frau. Anmerkung: Die Reaktion des Wegknickens der Beine erinnert fatal an Sigmund Freuds Patientin im Jahre 1892, der „Elisabeth von R“. Nachdem die Mutter während der entwicklungsgeschichtlichen Anamnese des Kindes Elisabeth immer wieder auf ungewöhnlich zeigefreudiges vorsexuelles Verhalten in der jüngeren Kindheit ab etwa sieben Jahren hinwies, ist die weitere psychische Entwicklung auf Hinweise einer sich entwickelnden histrionischen Persönlichkeitsstörung zu beobachten“, stand in Dr. Williams Aufzeichnungen.

„Wow, wow, wow – welch ein kleines Luder! Das wird ein Fest für mich. Endlich mal eine „Störung“, die richtig antörnt“, murmelte Alex zuerst leise. Dann sprach er lauter weiter: „Wenn ich Glück habe, hat sich die kleine Schlampe zu einer ausgewachsenen „Bitch“ entwickelt.

Vielleicht zu einer „ausgewachsenen“ Persönlichkeitsstörung – wie geil. Sie kann gar nicht anders, als permanent im Mittelpunkt zu stehen. Und das total aufreizend – das ist super und macht beste Laune!“. Durch seine wilden Phantasien und etliche Geschichten aus dem Internet, über hysterische und dauergeile Frauen, war Alex in euphorischer Stimmung. Er hatte mehr Lust als je zuvor, Elisabeth Ehmann ausfindig zu machen. Mit seiner bewährten Vorgehensweise, über Google und Google-Bilder zu suchen, war er sehr schnell erfolgreich. Über seinen Gold-Account bei der Plattform „Stayfriends“ konnte er sowohl Elisabeths Adresse als auch deren Telefonnummer finden.

Die Bilder, die er im Internet von Elisabeth fand, sprachen Bände über ihre bereits von Dr. Williams vermutete Entwicklung. Lasziv, sexy, extrovertiert. Kein Zweifel, das war die Elisabeth Ehmann, die Alex suchte. Nun musste er sich nur noch überlegen, was vermutlich das Schlimmste für eine solche Person sein könnte. Jemand, der unbedingt gesehen werden will, der den Zwang hat im Mittelpunkt zu stehen, für den müsste es eigentlich unerträglich sein, wenn er isoliert werden würde. Und speziell bei einer Frau: das Gesicht ist wichtig - was wäre sie ohne Gesicht? Ja, das wird blutig werden, sehr blutig…

Alex Bauernhof verfügte über einen alten überdachten Brunnen, der schon lange nicht mehr in Betrieb war. Er war gemauert und etwa zehn Meter tief. Jetzt war er trocken, denn es war Sommer und das Grundwasser stand nicht hoch genug, um den Brunnen zu füllen. Nur der feuchte, lehmige Boden deutete auf das nahe Grundwasser hin. Im Laufe der Zeit waren allerlei Gegenstände in den Brunnen gefallen.

Ein Wassereimer, mehrere Holzstücke, kleine Steine, diverse Zeitungen und Illustrierte, die Alex im Laufe der Zeit dort entsorgt hatte. Und noch etwas war in diesem Brunnen. Eine Digitalkamera hing etwa drei Meter über dem Brunnenboden, an einem Stacheldraht befestigt. Von der Kamera lief ein dünnes Kabel zur Fernsteuerung am Stacheldraht nach oben bis über den Brunnenrand. Dort war der Stacheldraht am Pfosten der Brunnenüberdachung festgebunden und das dünne Kabel endete ebenfalls auf gleicher Höhe. Am Ende des Kabels befand sich ein USB-Stecker.

Gute Vorbereitung ist alles.

Elisabeth Ehmann hatte er genauso professionell entführt und narkotisiert, wie alle seine Opfer zuvor. Normalerweise spionierte er sein potentielles zukünftiges Opfer zuerst detailliert aus, bevor er es entführte. Wo wohnt es? Wann ging es zur Arbeit? Wann kam es nach Hause? Wie ist das häusliche Umfeld? Lebt es alleine? Er nutzte dafür eine Checkliste die er aus dem Internet hatte. Akribisch notierte er alles, was er an Details herausfand, passte den für ihn gefahrlosesten Moment ab und betäubte sein Opfer mit Chloroform. Er hatte auch einmal die Variante ausprobiert, in einer Diskothek ein Betäubungsmittel in das Getränk seines vorher gezielt ausgewählten Opfers zu geben.

Dies funktionierte zwar, jedoch war die Menge des Betäubungsmittels sehr schwer zu dosieren. Hinzu kam, dass er nur Zugriff auf tiermedizinische Medikamente hatte, deren Wirkung beim Menschen nicht hervorsehbar waren. Bei seinem damaligen Versuch schaffte er es gerade noch, sein schläfrig gemachtes Opfer aus der Diskothek ins Freie zu bringen. Dann sackte es kurz vor seinem Wagen zusammen.

Er hatte damals Glück gehabt, dass niemand sah, wie er sein mittlerweile bewusstloses Opfer in seinen Lieferwagen zog. Das Risiko dieser Art der Opferbeschaffung erschien Alex zu hoch. Er wollte sich nicht auf den Faktor Glück bei seinen Verbrechen verlassen. Daher beließ er es bei diesem einen Versuch der Betäubung mittels eines Getränks und nutzte fortan seine analysierende und weitestgehend Zufälle ausschließende Methode. Chloroform wirkte immer hervorragend und risikolos.

Elisabeth Ehmann war nicht das erste und ganz sicher auch nicht das letzte Opfer seiner blutigen Mordserie, die bereits über Jahre ging.

Bisher suchte Alex sich seine Opfer wahllos aus. Doch nun hatte er den Goldschatz gefunden: Dr. Williams intime Aufzeichnungen. Nun konnte Alex gezielt die tiefsten Ängste dieser Menschen auslösen – das war für ihn wie ein Lottogewinn. Alex hatte Elisabeth Ehmann in betäubtem Zustand aus seinem Lieferwagen geschleppt und ihr ein Seil um die Hüften gebunden. Er knüpfte das Seil an der Eimerrolle des Brunnens fest und wuchtete Elisabeths Körper über den Brunnenrand. Langsam seilte er den leblos wirkenden Körper bis zum Brunnenboden hinab, ohne Rücksicht, welche Verletzungen er der narkotisierten Frau durch die raue Brunneninnenwand zufügte. Dann schmiss er das Seil achtlos hinterher. Er beabsichtigte nicht, sie je wieder herauszuholen…

Elisabeth wachte langsam auf und fühlte sich benebelt, wie in Watte gepackt. Der Geruch von Chloroform war vermischt mit modernder und feuchter Luft. Was war passiert? Sie konnte sich an nichts mehr erinnern. Wo war sie jetzt? Es war so dunkel. Und dieser modrige Geruch. Woher kam der? Sie schmeckte Blut. Jetzt kam die Erinnerung wie ein Schlag. Wie der Schlag auf den Hinterkopf mit dem Baseballschläger, der sie bewusstlos gemacht hatte. Das auf den brutalen Schlag folgende Betäuben mit Chloroform bekam sie folglich gar nicht mehr mit. Panik stieg in ihr hoch.

Sie schrie: „Wo bin ich? Hilfe! HILFE!!!! Ich will hier raus! Polizei, Hilfe!!! Ich will hier raus! Hört mich jemand? Ist da jemand? Hilfe!!! HILFE!!!!“. Auch wenn der eine oder andere Ton in zehn Meter Höhe zu vernehmen gewesen wäre, so hätte sie nur Alex gehört. Doch eine Röhre von zehn Metern Länge, an deren oberen Ende ein Dach angebracht ist, dämpft jeglichen Laut so stark, dass auf der Höhe des Brunnenrands maximal noch ein Flüstern ankommen würde. Elisabeth tastete in ihrer Panik um sich und erfühlte aufgeweichtes Papier, morsche Holzstücke, den verrosteten scharfkantigen alten Eimer und die kreisrunde Mauer, den Brunnenschacht.

Als Elisabeth aus der Dunkelheit ihren Blick nach oben richtete, erkannte sie in scheinbar ewiger Entfernung die kreisrunde Öffnung des Brunnens, durch den etwas Licht in den Brunnen eindrang. Nun schrie sie umso verzweifelter um Hilfe, bis ihre Stimme immer leiser und heiserer klang. Es ekelte sie so sehr vor all den feuchten Wänden und dem Unrat, der um sie herum war. Und je mehr sich ihre Phantasie meldete, desto verzweifelter und panischer wurde sie.

Gab es hier unten Ratten? Hier gibt es sicher Spinnen! Und Asseln! Und ekelige Würmer! Es durchfuhr sie abwechselnd heiß und kalt. Es war so verdammt dunkel hier unten. Wenn sie irgendwo hinfasste, spürte sie kalte, schleimige Gegenstände, die sie erschaudern ließen. Sie empfand nur noch Ekel und Angst. In ihrer mittlerweile panischen Angst schlug sie um sich und registrierte nicht, dass sie sich die Knöchel und Finger ihrer Hände an der rauen Brunnenwand blutig schlug.

Wenn sie ihre Aufmerksamkeit ihren nackten Füßen zuwandte, dann spürte sie den glitschigen, schleimigen und kalten Lehmboden. Diese Empfindungen widerten sie so an, dass sie in ihrer Panik versuchte die Brunnenmauer mit ihren blutig geschlagenen Händen hochzuklettern, nur um mit den Füßen keinen Kontakt mehr mit diesem ekelhaften Brunnenboden und den dort liegenden Gegenständen zu haben. Doch es gab keinen Halt an der Brunneninnenwand. Vielmehr rutschte sie bei jedem Fluchtversuch immer wieder zurück auf den verhassten Brunnenboden. Nach schier unendlich erscheinenden Versuchen, an der Wand hochzuklettern und permanenten Hilfeschreien mit total heiserer Stimme, sank sie erschöpft zusammen.

Erst jetzt registrierte sie, dass sie nackt war. Splitterfasernackt. Ihr war kalt, eiskalt. Sie war über und über voll mit dem modrigen Schlamm des Brunnenbodens. Sie kauerte sich schaudernd, zitternd und in ihrer ganzen Verzweiflung in die Embryonalstellung zusammen. Ihr Herz raste, ihr Atem war so schnell, dass sie hyperventilierte und am ganzen Körper krampfte. Und endlich umgab sie eine gnädige, tiefe Ohnmacht.

Seit Alex die junge Frau im Brunnen versenkt hatte, waren mehrere Stunden vergangen. Er hatte sich das Schreien nur die ersten paar Sekunden lang angehört, um sicher zu sein, dass sie lebte. Danach ging er vom Brunnen weg und in das Haupthaus des Bauernhofes, um sich in aller Ruhe sein Abendessen zuzubereiten. Nach dem Essen ging er in seine Werkstatt und bereitete eine gefährliche Mixtur vor.

Er wollte Elisabeth noch drei Tage im Brunnen lassen, damit sich ihr Ekel maximierte. Gefangen in einer Röhre mit etwa zwei Meter Durchmesser, ausgehungert und dürstend, inmitten der eigenen Exkremente. Die Frage „Stehe ich im Mittelpunkt, bin ich schön, sexy,…“, sollte sie sich dann nicht mehr stellen.

Drei lange Tage.

Nach den drei Tagen holte er die vorbereitete Glasflasche mit der Aufschrift „HCL“ aus seiner Scheune. Er wusste nur zu gut, welche Wirkung Salzsäure auf nackte Haut hatte. Er hatte die Salzsäure so verdünnt, dass sie zwar schwere Verätzungen an Haut und Augen hervorrufen würde, aber vermutlich nicht tödlich wäre. Er fand bereits vor längerer Zeit im Internet eine Seite, die ursprünglich für angehende Mediziner gedacht war. Die Internet-Seite „anatomieonline24“ zeigte Bilder aus der Pathologie, um in der Medizinerausbildung weniger Leichensezierungen durchführen zu müssen. Schussverletzungen, Missgeburten und eben auch Säureverletzungen wurden auf dieser Web-Seite abgebildet. Alex hatte bereits vor der Entführung Elisabeths all diese für jedermann frei zugänglichen Bilder und die dazugehörigen Beschreibungen mit großem Interesse betrachtet und gelesen. Nun war es an der Zeit, einer hysterischen Frau das maximale Maß an Schock, Schmerzen und Panik zukommen zu lassen, das nach Alex’ Meinung für einen Mensch mit histrionischer Persönlichkeitsstörung möglich war.

Nachdem der einzige Hoffnungsschimmer aus Sicht des Opfers das Ende der Brunnenröhre, also die Oberfläche ist, wird Elisabeth sofort nach oben schauen, wenn sie von oben eine Stimme hören sollte; in der Hoffnung, dass Rettung kommen würde. Doch das Gegenteil sollte sie gleich erwarten.

Die Zeit war reif für den ultimativen Kick. Fast drei Tage waren vergangen, drei lange Tage ohne Wasser oder Nahrung für Elisabeth.

Alex war freudig aufgeregt, als er das Haus gegen ein Uhr nachts verließ. In einer Hand hielt er die Säuremischung, in der anderen seinen Laptop. Das Hoflicht, das Tag und Nacht brannte, erleuchtete den Vorplatz des Bauernhofes nur diffus. Je näher er dem Brunnen kam, desto ruhiger und konzentrierter wurde er. Es war immer der gleiche Effekt, kurz vor jenem Augenblick, für den Alex dies alles tat.

Er war nur auf den Erfolg fokussiert. Erfolg hieß für ihn, dass er nach all den Mühen der Vorbereitung, den Übergang zwischen Leben und Tod seines Opfers intensiv miterleben konnte.

Am Brunnen angekommen lauschte er erst eine Weile, konnte jedoch nichts aus dem Brunneninneren hören. Er vermied, dass er von unten gesehen werden konnte. Alex klappte seinen Laptop auf, fuhr ihn hoch, deaktivierte den Lautsprecher, loggte sich ein, steckte das aus dem tiefen Brunnen heraufführende Kabel am USB-Anschluss seines Laptops an und startete die Software zur Steuerung der Kamera. Hätte es das Opfer irgendwie geschafft, an die Kamera oder das nach oben führende Kabel zu kommen, hätte der Stacheldraht um den das Kabel gewickelt war, ein Hochklettern effektiv verhindert. Und das USB-Kabel wäre selbst für eine zierliche Frau wie Elisabeth Ehmann zu dünn gewesen, um sie auch nur ansatzweise zu tragen oder gar ein Hochziehen zu ermöglichen. Alex hatte alles bedacht; fast alles.

Er schaltete über die Software die Kamera im Nachtsichtmodus ein und sogleich sah er ein Bild auf dem Display seines Laptops. Er war begeistert wie detailreich die Darstellung der Kamera, trotz fast vollkommener Dunkelheit in drei Metern über dem Brunnenboden, war. Er sah Elisabeth zusammengekauert am Boden liegen. Um sie herum der ganze Unrat, Kot und nasses, vermoderndes Holz und Papier. Er schaltete die Kamera nun in den Videoaufnahmemodus um, damit er alles nun Folgende aufzeichnen konnte.

„Hallo, ist da jemand?“ rief er nun über den Brunnenrand gebeugt nach unten. Elisabeth zuckte zusammen, schreckte auf und schrie:

„Hilfe, helfen Sie mir. Ich bin hier unten im Brunnenschacht gefangen. Hilfe, Hilfe!“. „Bleiben Sie ruhig wir haben Sie gefunden, alles wird gut. Ich bin von der Polizei. Wir holen Sie hier raus, wir helfen Ihnen!“, sagte Alex.

Elisabeth zitterte am ganzen Körper, verschiedenste Gefühle übermannten sie. Ihre Gebete waren erhört worden, ihre letzte Hoffnung wurde endlich wahr. Sie würde diesem Loch entkommen können. Sie weinte so sehr, dass es sie schüttelte. Ihr Schluchzen und das gleichzeitige Erzittern führten dazu, dass ihre Beine versagten und sie zwar aufstehen wollte, es jedoch nicht konnte. Es war wie ein Déjà-vu-Erlebnis aus ihrer Kindheit. Ihre Beine versagten ihr den Dienst. Schuld und Scham überkamen sie plötzlich in ihrer Nacktheit, wie damals in ihrer Kindheit. Sie war von der Hüfte ab wie gelähmt.

„Oh Gott, nicht jetzt“, dachte sie. In ihrer Verzweiflung rief sie noch nach oben: „Ich kann mich nicht bewegen!“. Alex sah den Effekt, den er in Dr. Williams Aufzeichnungen gelesen hatte, über den Monitor seines Laptops. „Das funktioniert ja großartig; besser noch als gedacht. Die hysterische Reaktion, wie in der Krankenakte von Dr.

Williams beschrieben“, sagte sich Alex. „Sie haben sich bestimmt beim Sturz verletzt“, rief Alex scheinheilig in die Tiefe, und fuhr dann fort: „Ich hole Sie gleich heraus. Vorher lasse ich etwas zum Trinken für Sie herab. Bleiben Sie ganz ruhig, alles wird gut. Meine Kollegen und ich haben alles im Griff. Das verspreche ich Ihnen“.

Nachdem sie den vermeintlichen Polizisten am oberen Rand des Brunnens schemenhaft ausmachen konnte, war Ihr Überlebenswille nun stärker denn je. Auch wenn der Schock über die gefühllosen Beine, dieses taube Gefühl sehr tief saß und Erinnerungen an die Zeit als Teenager wachrief, weinte Elisabeth abwechselnd vor Freude über die bevorstehende Rettung und die Verzweiflung, dass sie ihre Beine nicht bewegen konnte. Aber sie würde gerettet werden; und das war das Wichtigste.

Schemenhaft, so wie sie den vermeintlichen Retter wahrnehmen konnte, erkannte sie einen Gegenstand der zu ihr herabgelassen wurde.