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Ariel, Sohn eines englischen Adligen mit beträchtlichem Vermögen, wird in jungen Jahren zum Waisenkind. Um unbegrenzt über das geerbte Vermögen verfügen zu können, schicken seine Vormünder ihn auf eine Spezialschule in Indien, die brutale Methoden der Entmenschlichung anwendet, in der Hoffnung, dass der Junge bis zu seiner Volljährigkeit den Verstand verliert und somit nicht geschäftsmündig wird. Ariel widersteht jedoch allen Versuchen, denen er ausgesetzt war, und im Alter von 17 Jahren wurde bei ihm die Fähigkeit zu fliegen erzeugt. Dank dieser Eigenschaft konnte er aus der Schule fliehen und wird nach unzähligen Abenteuern in Indien und Amerika von seiner älteren Schwester in das Elternhaus in England gebracht. Als sie volljährig wurde, hat seine Schwester die Verwaltung ihres Teils des Vermögens, der übrigens viel kleiner als der des Jungen war, an einen Anwalt übertragen, der mit den bisherigen Vormündern konkurrierte. Dieser sah die Möglichkeit, dass durch den Tod von Ariel das gesamte Vermögen an seine Schwester fällt und somit seiner Verfügung unterliegt. Es folgt eine Reihe von Versuchen, den Jungen zu beseitigen, der sich nicht an die Lebensweise der britischen Aristokratie anpassen konnte und nach Indien aufbrach, um das Mädchen zu suchen, in das er sich als 14-jähriger verliebt hatte, und um seine Leidensgenossen aus der Schule, aus der er geflohen war, zu befreien. Ariel überlebt alle Mordversuche vor allem dank seiner ungewöhnlichen Fähigkeit. Schließlich erreicht er alle seine Ziele und ein Jahr später gelingt es ihm, seinen rechtmäßigen Erbteil zu erhalten. Im Laufe der Ereignisse entstehen enge Freundschaften mit alten und neuen Bekannten.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Ariel
Bemerkungen:
I. Freiheit in der Gegenwart, Gefangenschaft in der Vergangenheit, was bringt aber die Zukunft ...?
II. Erinnerungen aus der Hölle (verbotene Gefühle)
III. Jedes Opfer ist es wert!
IV. Das Meditieren
V. Knockout
VI. Und doch ist er mein Bruder!
VII. Die erste Überraschung
VIII. Zwei Schicksalsschläge
IX. Der Gegenschlag
X. Alles, was ich tue, tue ich für sie!
XI. Die zweite Überraschung
XII. Die Flucht
XIII. In Freiheit
XIV. Der Abschied
XV. Das Leben ist sehr kompliziert!
XVI. Mit welchem Recht?
XVII. Das Telegramm
XVIII. Vorbereitungen
XIX. Der Sturm und die himmlische Gunst
XX. Geduld
XXI. Das Stadion
XXII. Der jüngere Bruder
XXIII. Die Beratung
XXIV. Die Nacht
XXV. Tal der Tempel
XXVI. Kommunismus im Kleinen
XXVII. Das Frühstück
XXVIII. Rom „die ewige Stadt”
XXIX. Fata Morgana
XXX. Die Reise nach Norden
XXXI. Das britische Konsulat
XXXII. Träume
XXXIII. Der Vorschlag
XXXIV. Die Entscheidung
XXXV. Mal sehen, was sich machen lässt!
XXXVI. Es ist nur meine Schuld!
XXXVII. Der Schatz
XXXVIII. Das schwarze Kreuz
XXXIX. Die Stadt des Modernisme
XL. Das Schiff mit Überraschung
XLI. Die Metamorphose
XLII. Die Lösung des Problems
XLIII. Verschiedene Schlussfolgerungen
XLIV. Die Rückkehr nach Hause
XLV. Probleme ohne Ende
XLVI. Der Onkel
XLVII. Lord Callaghan
XLVIII. Zukunftspläne
XLIX. Das Angebot
L. Die Wiedersehensfreude
LI. Der Alarm
LII. Willkommen zurück!
LIII. Die Paarung in der Luft
LIV. Die Durchsuchung
LV. Der Sündenpfuhl
LVI. Neue Anläufe
LVII. Verschiedene Opfer
LVIII. Wichtige Entscheidungen
LIX. Suche in der Vergangenheit und Vorbereitungen für die Zukunft
LX. Eine neue Entführung
LXI. Organisatorische Aktivitäten
LXII. Widersprüchliche Interessen
LXIII. Das Blatt hat sich gewendet!
LXIV. Zwei glückliche Ereignisse
LXV. Zwei weniger glückliche Ereignisse
LXVI. Die Weihnachtsferien
LXVII. Die Landung
LXVIII. Vorwürfe in der Familie
LXIX. Pläne und Verwirklichungen
LXX. Das schmerzhafte Wiedererleben der Vergangenheit
LXXI. Der Streit um die Beute
LXXII. Der Verlust der Beute
LXXIII. Die Warnung
LXXIV. Ein neues Blümchen
LXXV. Die letzte Spielkarte
LXXVI. Ein unerwarteter Besuch
LXXVII. Ein professioneller Versuch
LXXVIII. Entscheidungen und Aufklärungen
LXXIX. Zwei originelle Typen
LXXX. Liebe auf den ersten Blick
LXXXI. Der Gnadenstoß
LXXXII. Anfänge
LXXXIII. Ein altes Versprechen
LXXXIV. Die Übernahme des Vermögens
LXXXV. Änderungen in Aussicht
LXXXVI. Reise mit Überraschungen
LXXXVII. Entwicklungen
Band 1
1941 -1942
Alle Charaktere in diesem Roman sind fiktiv, auch wenn gelegentlich Namen von realen Personen auftauchen. Diese haben mit der Romanhandlung überhaupt nichts zu tun.
Wegen der wenigen erotischen Szenen ist das Buch nur den Lesern über 18 Jahre alt zu empfehlen.
»Freiheit!« flüsterte Ariel. Seine zitternde Stimme verriet eine starke Erregung und sein aufgewühltes Gesicht strahlte eine innere Ekstase aus. Auf dem Oberdeck des riesigen Ozeandampfers „Queen Victoria“, der die Route London-Bombay-Colombo-Madras bediente, bewunderte Ariel, in Gedanken versunken, einen atemberaubenden Sonnenuntergang. Die endlose Weite des Atlantiks breitete sich vor seinen Augen aus.Wohin man auch blickte, sah man nur die unermessliche Wasserfläche, die ein starkes Gefühl der Nostalgie in ihm weckte. Die Oberfläche des Ozeans, ruhig in dieser Dämmerung, wurde nur von den kleinen Wellen durchbrochen, die rhythmisch gegen den Rumpf des Schiffes schlugen und mit ihrem beständigen Plätschern eine monotone Atmosphäre erzeugten, die vom gedämpften Brummen der Schiffsmotoren verstärkt wurde. Von seinem Standpunkt aus glich die glitzernde Wasseroberfläche einem riesigen Spiegel, der im letzten Licht der untergehenden Sonne in den prächtigsten Rottönen schimmerte. Am Horizont, wie eine glühende Kugel zwischen Himmel und Wasser aufgehängt, senkte sich die heiße Sonne langsam in die Tiefen des Ozeans. Um sie herum hatte der Himmel einen purpurnen Ton angenommen, der sich fächerförmig über das Himmelsgewölbe ausbreitete, im scharfen Kontrast zum samtigen Blau dazwischen.
Diese beeindruckende Farbkombination wurde von weißen Wolken ergänzt, die wie eine märchenhafte Prozession am Himmel entlangzogen, ihre Konturen veränderten und die fantastischsten Formen annahmen. Vom Licht der Sonne beleuchtet, erhielten sie goldene Ränder, die ihnen einen Hauch von Erhabenheit verliehen. Auf der Wasseroberfläche, zwischen der Sonne und dem Schiff, zog sich ein Feuerstreifen wie eine schimmernde Brücke, die sich mit dem Schiff bewegte und sanft über die Wellen glitt. Der anmutige Flug einiger Möwen, die einzigen Lebensformen in dieser göttlichen Landschaft, war ein Zeichen dafür, dass das Land nicht allzu weit entfernt sein konnte. Hin und wieder kühlte ein Windhauch Ariels erhitzte Schläfen und zerzauste sein volles Haar. Die blutroten Reflexe des Wassers, die sich auf seinem Gesicht widerspiegelten, unterstrichen seinen Gemütszustand.Bis auf ihn war das Deck menschenleer. Die Passagiere hatten keine Zeit, die Pracht der Natur zu bewundern. Theater- und Filmvorführungen hatten begonnen, Tanzlokale öffneten ihre Türen, und die Restaurants und Bars waren überfüllt. Das mondäne Leben entfaltete sich in all seiner äußeren Glanz. In diesem Moment flüsterten vielleicht Dutzende Männer jeden Alters leidenschaftlich: „I love you”, „je t'aime” oder „ti amo”, je nach Herkunft, manche mit der Hand aufs Herz gelegt, andere mit den Händen um dem Hals oder auf den Busen ihrer Geliebten. Ebenso viele Frauen, die dasselbe bunte Mosaik an Altersstufen bildeten, wurden entweder rot und blickten schüchtern zu Boden oder warfen sich begierig an den Hals des Mannes in einer endlosen Umarmung, begleitet von einem filmreifen Kuss, oder antworteten mit einer endlosen amourösen Tirade voller Belanglosigkeiten, in der Schlaf-, Appetit-losigkeit, Migräne und viele andere Folgen der „ewigen“ Liebe vorkamen. Es wäre peinlich, sich zu fragen, wie viele von ihnen tatsächlich an ihre Worte glaubten oder wie „ewig“ ihre erklärte Liebe wohl sein würde.
Der junge Mann auf dem Deck, mit blonden Haaren und regelmäßigen, angelsächsischen Gesichtszügen sowie hellgrauen Augen, war erst am Vortag 18 geworden, auch wenn er jünger wirkte. Sein Name war Aureliu Galton oder genauer gesagt „Sir Aureliu Galton“, denn sein Vater war der Baronet Sir Thomas Galton gewesen, wie er erst kürzlich erfahren hatte. Dieser war gestorben, als seine beiden Kinder, Aureliu und seine Schwester Jane, noch minderjährig waren:Aureliu war 8 und Jane 9 Jahre alt. Da ihre Mutter schon lange tot war, wurden die Kinder bis zur Volljährigkeit unter die Vormundschaft der Anwälte Boden und Haselon aus London gestellt.Per Testament ging der Großteil des riesigen Nachlasses an Aureliu. Natürlich sorgten die Anwälte dafür, sich daran zu bereichern, aber ein beträchtlicher Teil blieb beim Erreichen der Volljährigkeit übrig. In ihrem eigenen Interesse schickten sie Aureliu nach Indien an die Dandarat-Schule für Okkultismus und Theosophie, nahe Madras.Das Ziel dieser „Schule“, die etwa 30 bis 40 Schüler im Alter von 8 bis 18 Jahren aus aller Welt aufnahm, war es, die Kinder vollständig zu isolieren und zu entmenschlichen, ihre Persönlichkeit zu zerstören und sie zu unterwürfigen Marionetten zu machen, die später von theosophischen Gesellschaften und religiösen Sekten genutzt werden konnten. Daher lernten sie die Geschichte der Religionen und, neben Englisch und Hindi, die Sprachen der Länder, in die sie später geschickt werden könnten. Die Erziehungsmethoden waren radikal: es gab keine Vergangenheit, keine Gefühle, nur blinden Gehorsam. Dies geschah durch Suggestion, Hypnose, Schocks und grausame körperliche Züchtigung.Viele Kinder mit schwächeren Nerven verloren den Verstand. Boden und Haselon verließen sich darauf, dass Aureliu ebenfalls dem Wahnsinn verfallen würde, um ihn bei der Volljährigkeit vor dem Vormundschaftsgericht als geistig verwirrt darzustellen und so sein Vermögen, bis zu seinem Lebensende, verwalten zu dürfen. Das Wichtigste war, dass er nicht starb. Jane hingegen hatte bei ihrer Volljährigkeit, fast ein Jahr vor Aurelius, die Verwaltung ihres Anteils dem Anwalt George Dottaler übertragen, einem Rivalen von Boden und Haselon, der Aureliu tot sehen wollte, damit das gesamte Vermögen an Jane und damit in seine Hände fiel. Doch der Junge, der in Dandarat Ariel genannt wurde, war zäh und lernte, seine wahren Gefühle zu verbergen.Man stufte ihn als „schwer erziehbar“ ein, was es aus Sicht der Schule schwierig machte, ihn später einzusetzen.
Als Lösung für dieses Dilemma wurde kurz vor Ariels Volljährigkeit die Erfindung des von der wissenschaftlichen Gemeinschaft verachteten Wissenschaftlers Charles Height gefunden. Ihm war es gelungen, durch die Einführung einer radioaktiven Substanz mit unbekannter Halbwertszeit in den Körper die chaotische Molekularbewegung in eine geordnete umzu-wandeln, die vom Nervensystem kontrolliert wird. So konnte die Person fliegen und sogar Lasten bis zum eigenen Gewicht mit sich tragen. So wurde Ariel der erste fliegende Mensch.
Sehr zum Leidwesen der Initiatoren dieser Verwandlung, die ihn unter bestimmten Umständen als „Wunder“ präsentieren wollten, war Ariels erste Handlung, in der nächsten Nacht den kleinen Scharad, einen 10-jährigen Jungen, der seiner Obhut und Führung anvertraut worden war und für den er trotz der strengen Regeln von Dandarat Mitleid und Freundschaft empfand, auf den Rücken zu nehmen und mit ihm wegzufliegen.
Es folgte eine verzweifelte Flucht durch die Luft. Erschöpft landeten sie in einer Ruine neben einem Maisfeld, hinter dem sich eine Lehmhütte befand. Darin lebte der alte Paria Nizmat und seine Enkelin Lolita, ein hübsches Mädchen von fast 15 Jahren und bereits seit drei Jahren verwitwet. Als sie Ariel fliegen sahen, betrachteten sie ihn als Gott und verehrten die beiden mit gebührender Gastfreundschaft. Ariel empfand jedoch menschliche Gefühle für die schöne Lolita.Leider war die Antwort des Mädchens, obwohl sie sich auch von ihm angezogen fühlte, immer die gleiche: „darf der Staub der Straße von der Sonne träumen?“
Ariel rettete das Leben eines Kindes, das in einen Brunnen gefallen war, und geriet in Gefangenschaft am Hof von Raja Radjcumara, der ihn zu seinem fliegenden Lieblings-spielzeug machte. Infolge einiger Hofintrigen und der Eifersucht des Rajas fiel Ariel in Ungnade, wurde in einem Sack mit schweren Steinen gebunden und in einen tiefen Brunnen geworfen. Mit übermenschlicher Anstrengung gelang ihm die Rettung und er flüchtete in den Dschungel. Hier verbrachte er einige Zeit in den Ruinen eines verlassenen Tempels inmitten der Dschungeltiere.Irgendwann beschloss er, sein Schicksal selbst in die Hand zu nehmen.
Er kehrte in die zivilisierte Welt zurück und konvertierte zum Christentum. Zur Freude von Pastor Edwin Kingsley vollbrachte er regelmäßig in der Kirche „das Wunder, dank dem Glauben sich in die Luft zu heben“. Sein Ruhm verbreitete sich in der gesamten Region und erreichte die Ohren der Direktoren eines amerikanischen Zirkus, der auf Tournee in Indien war und exotische Artisten suchte. Ariel nahm einen Einjahresvertrag in Amerika an, aber bevor er abreiste, verabschiedete er sich von Nizmat, Lolita und Scharad, der als „göttliches Geschenk“ bei ihnen geblieben war, und versprach, zurückzukehren. Er ging in Begleitung der beiden Zirkusdirektoren nach Dandarat und zwang Bharava-Pearce, den Schulleiter, seine Herkunft zu offenbaren.
Aus Amerika schrieb er an seine Schwester Jane, die dorthin kam und ihn überredete, ihr nach England zu folgen. Zuvor wurde er geschickt von einer Gangsterbande getäuscht, die seine Flugfähigkeit nutzen wollte, um einen Dreijährigen aus dem 93. Stock eines Wolkenkratzers zu entführen. Ariel entdeckte im letzten Moment die Wahrheit und musste Amerika unverzüglich verlassen, um der Rache der Gangster zu entkommen. In England also „zu Hause“ angekommen, begann Jane damit, „Ariel“, den Wilden aus dem Dschungel, in „Sir Aureliu“, ein „ehrenwertes“ Mitglied der englischen Aristokratie, zu verwandeln. Dies erwies sich als eine sehr mühsame Aufgabe, denn Ariel hatte mehr Sympathie für das einfache Volk, mit all seinen Fehlern, als für die selbstgerechten und scheinheiligen Aristokraten des britischen Adels. Es kam zu Spannungen zwischen den Geschwistern, die zu einem Eklat bei Ariels 18. Geburtstag führten. Als Lord Forbes von Hindus als „Viecher, die die Kuh anbeten“ sprach, konnte sich Ariel nicht mehr zurückhalten und gab ihm eine scharfe Antwort, die einen Skandal auslöste. Nachdem die Gäste gegangen waren, machte Jane eine heftige Szene, drohte ihm ihn zu enterben und ihn auf die Straße zu werfen. Ariel wehrte sich nicht, aber als er allein blieb, packte einige nützliche Sachen in einem kleinen Koffer, verließ das Haus und bestieg das Linienschiff, das in dieser Nacht nach Indien fuhr.
Und hier denkt er zum ersten Mal über die Zukunft nach, die ihn erwartet. Während der zehn Jahre, die er in Dandarat in völliger Isolation verbrachte, hatte er neben der Kunst der Verstellung und der perfekten Beherrschung von Mimik und Blick auch mehrere Sprachen, vor allem Hindi und Englisch, und die Geschichte der Religionen gelernt. Von den praktischen Aspekten des Lebens hatte er keine Ahnung. Nach seiner Flucht und vor allem nach der Übersiedlung nach Amerika, lernte er nach und nach die Realität kennen. Um die großen Lücken zu füllen, die er hatte, begann er alles zu lesen, was ihm unter die Fingern kam, und so wurde er zum Autodidakten. Sein beträchtliches Vermögen, von dem er kürzlich erfuhr, war nur illusorisch, da es offiziell noch unter der Vormundschaft von Boden und Haselon stand, die es nicht ohne Weiteres aufgeben wollten. Kurzum, seine Zukunft war so schemenhaft wie der Londoner Nebel, den er gestern Nacht hinter sich gelassen hatte!
Ariel starrte auf die glühenden Sonnenkugel, die sich dem Horizont immer mehr näherte. Im ersten Moment zuckte er unwillkürlich zusammen und ein dunkler Schatten zog wie eine Wolke über sein Gesicht. Ein wohl bekanntes Gefühl erinnerte ihn an einen der schrecklichsten Versuche, denen die Schüler in Dandarat ausgesetzt wurden. Wie jeder andere auch, hatte er es durchgemacht... Und es war mit vielen anderen unvergesslichen Erlebnissen verbunden. Die Erinnerungen begannen sich schnell zu entfalten; er sah sie vor seinen Augen so lebendig und eindrucksvoll, wie sie in Wirklichkeit gewesen waren.
Es war kurz vor seinem 14. Geburtstag, der einen wichtigen Wendepunkt im Leben der Dandarat-Kinder markierte. Bis dahin stand jeder von ihnen unter der direkten Führung und Kontrolle eines älteren Schülers, genannt „Guru“. Sie lebten mit ihm in einer Zelle, sollten ihm Gehorsam leisten und er hatte absolute Rechte über sie, wie die Lehrer und die Pädagogen. Von diesem Zeitpunkt an wurden sie unabhängig, lebten allein in einer Zelle und waren nur noch ihren Erziehern Gehorsam schuldig.
Ariels „Guru“ war ein Junge, etwa vier Jahre älter als er, ebenfalls ein Europäer namens Janosch. Dandarats Erziehung hatte bei ihm bewundernswerte Ergebnisse hervorgebracht, jede Spur von Sensibilität zerstört und zu einer vollständigen Entmenschlichung geführt. Darüber hinaus war Janosch mit einer angeborenen sadistischen Grausamkeit ausgestattet, welcher er freie Hand ließ, und er verhielt sich mit Ariel wie ein wahrer Tyrann. Er ließ keine Gelegenheit aus, seine animalischen Instinkte auf jemanden loszulassen, der nicht mal das Recht hatte, sich zu verteidigen. Eines Tages, als er etwa 13 Jahre alt war, begann Janosch, ihn grundlos brutal zu schlagen. Ariel konnte sich nicht beherrschen und zischte hasserfüllt durch die Zähne:
»Bestie!«
Im ersten Moment war Janosch völlig verwirrt, da so etwas unglaublich war. Er befahl dem Jungen, sich auszuziehen und auf den Boden zu legen, woraufhin er ihn mit einer Peitsche, die er sehr oft benutzte, heftig schlug, bis er müde wurde. Und während Ariel sich vor Schmerzen auf dem Boden wälzte, um den erbarmungslosen Schlägen zu entkommen, die seinen Körper mit blutunterlaufenen Striemen kennzeichneten, leuchtete auf Janoschs Gesicht ein Lächeln, das die vollste Zufriedenheit ausdrückte. Nach diesem Geschehnis, das sogar die Lehrer alarmiert hatte, wurde Ariel in eine andere Zelle verlegt, unter der Führung eines Mädchens von etwa 16 Jahren. Ihr Name war Ingrid und infolge Dandarats Erziehung kannte auch sie keine Gnade und zeigte die gleiche Grausamkeit wie Janosch, sogar in einer raffinierteren Form. Fast täglich sorgte sie dafür, dass der Körper des Jungen mit sichtbaren und schmerzhaften Spuren übersät wurde, und das auf eine noch demütigendere Art und Weise.
An diesem Morgen wachte Ariel auf, bevor der Gong ertönte, der die Zeit zum Aufstehen ankündigte. Er setzte sich auf einen Ellbogen auf und schaute zu Ingrid, zu deren Füßen er schlief. Das Mädchen war noch nicht wach. Wie alle Schüler in Dandarat war sie nur notdürftig angezogen. Ihre Kleidung bestand aus einer rauen und groben Tunika mit kurzen Ärmeln und einer kurzen, enganliegenden weißen Hose aus demselben Material. Sie lag auf dem Rücken und ihr goldenes Haar, das nach Dandarats Regeln bis zu den Schultern reichte und offen getragen wurde, umrahmte ihren Kopf wie ein Heiligenschein, der in den ersten Sonnenstrahlen, die kaum durch das schmale Fenster drängten, leuchtete. All dies hob ihre Schönheit noch mehr hervor. Ihre Brust hob sich rhythmisch. Eine Hand hielt sie unter ihrem Kopf und die andere war ausgestreckt. Ariels Blick glitt über ihren nackten Arm, doch als er das Ende erreichte, erschauderte der Junge. Zwischen ihren Fingern lagen die beiden Lederriemen, die in der Mitte gehalten, eine improvisierte vierschwänzige Peitsche bildeten, mit der Ingrid ihre Autorität über Ariel zum Ausdruck brachte und von der sie sich nicht einmal im Schlaf trennte.
„ Wie kann so viel Bosheit in einem so schönen Wesen stecken?“ fragte sich Ariel. „Könnte Schönheit ein Zeichen von Bosheit sein?“
Der Klang des Gongs erschreckte ihn und unterbrach seinen Gedankengang. Ingrid öffnete ihre Augen. Sobald sie ihn sah, rief sie ihm zu:
»Zum Waschen, marsch, Stinker!« und mit einer heftigen Bewegung trat sie ihn mit ihrem nackten Fuß. Ariel sprang auf und rannte zum Waschraum.
Bis zum Frühstück passierte nichts Besonderes. Am Tisch neben Ariel saß Raul, ein Junge etwa im gleichen Alter, mit einem hageren Gesicht und großen Augen, sehr dünn und zerbrechlich. Als das dicke, schwere Holztablett mit kleinen Fladen, gerösteten Haselnüssen und Tonkannen voller Wasser ihn erreichte, nahm Raul seine Portion und schob das Tablett weiter. In diesem Moment machte er jedoch eine ungeschickte Bewegung und mit einem ohrenbetäubenden Lärm fiel das schwere Tablett auf den Boden. Auf dem Zement des Raumes entstand eine Pfütze, auf der Fladen und Haselnüsse zwischen den Scherben von Tongefäßen schwammen. Mit einem Sprung war der diensthabende Pädagoge, ein hagerer Hindu mit auffälliger Glatze, am Ort des Unglücks. Mit einer vor Wut vibrierenden Stimme, die offensichtlich nichts Gutes verhieß, rief er:
»Wer hat das getan?«
Alle Kinder erstarrten. Niemand wagte es, die geringste Geste zu machen. Raul war so gelb wie Wachs geworden. Er schaute nach rechts und links. Er hatte einen Blick, der einem zum Tode Verurteilten zu gehören schien, die schrecklichste Verzweiflung ausdrückte und gleichzeitig herzzerreißend um Hilfe von seinen Mitschülern ersuchte. Ariel, die seinen Blick erhascht hatte, konnte nicht widerstehen. Er entschied sich und stand augenblicklich auf. Doch zu seiner Überraschung sah er, dass noch jemand mit ihm aufgestanden war: es war das Mädchen, das auf der anderen Seite von Raul saß. Ariel sah sie aufmerksam an. Sie war etwa gleich alt, ein wenig kleiner, schlank, mit glänzendem schwarzem Haar, das bis zu den Schultern reichte, Augen von derselben Farbe, aber von beeindruckender Klarheit und Tiefe, und einer Haut, die, obwohl dunkler in der Farbe, bewies, dass sie Europäerin war.
Der Pädagoge war zunächst verwirrt, erholte sich aber bald.
»Beide?« donnerte seine tiefe und kräftige Stimme.
»Ja...«, stammelte Ariel. Er erkannte, dass das Leugnen dem Mädchen mehr Schaden zufügen würde.
»Wie das?«
Ariel war verwirrt; er wusste nicht, was er antworten sollte. In diesem Moment fiel ihm absolut nichts ein. Er sah das Mädchen ängstlich an. Sie sah den Pädagogen direkt in die Augen und sagte mit ruhiger und entschlossener Stimme:
»Er zog das Tablett zu sich und ich zu mir.«
Es gab einen Moment der Stille, unterbrochen durch die Stimme des Lehrers, der das Urteil verkündete:
»Beide in den Bestrafungsraum! Marsch!«
Das Mädchen umging die Pfütze auf dem Boden und trat vor. Ariel folgte ihr. Während dieser ganzen Zeit hatte niemand einen Laut von sich gegeben. Es herrschte eine bedrückende Stille, die nur durch das Geräusch der nackten Füße der beiden Kinder auf dem Zement des Bodens gestört wurde. Raul war fassungslos. So etwas hatte er noch nie in seinem Leben gesehen!
Hinter der Esszimmertür angekommen, war die Stimme des Pädagogen zu hören:
»Wartet dort, bis ich euch sage.«
Nach ein paar Minuten des angespannten Wartens ertönte der Befehl:
»Jetzt weiter gehen!«
*
Der Bestrafungsraum, der in Wirklichkeit eine veritable Folterkammer war, flößte den Kindern von Dandarat den größten Schrecken ein. Es war ein großer Raum, der alle notwendigen Werkzeuge enthielt, um das Ziel der Schulleitung zu erreichen: den blinden Gehorsam der Schüler und die vollständige Zerstörung ihres Willens. Überall an den Wänden waren Nägel, an denen alle möglichen Seile, Gürtel, Ruten und Peitschen in den unterschiedlichsten Formen und Größen befestigt waren. In der Mitte des Raumes standen ein paar einfache Bänke, die mit bis zum Boden reichenden Matten bedeckt waren, auf denen die Schüler mit dem Gesicht nach unten liegen mussten, um geschlagen zu werden. Als die beiden Kinder hereinkamen, war der Raum leer. Das Mädchen zog sich sofort aus und setzte sich auf eine der Bänke.
»Ich warte nicht darauf, eingeladen zu werden«, sagte sie und lächelte. Nach diesem bitteren Scherz wurde es wieder still.
Ariel zog sich ebenfalls vollständig aus und setzte sich auf die nächste Bank. Dandarat kultivierte kein Gefühl der Verlegenheit oder Scham, da die Kinder sehr oft gezwungen wurden, sich in Gegenwart anderer komplett zu entkleiden. Mit der Zeit wurde es zur Gewohnheit. Diesmal schaute sich Ariel das Mädchen genauer an. Er bemerkte die abgerundeten Brüste und die feine Schambehaarung des Venushügels. Er hatte so etwas noch nie wahrgenommen. An diesem Tag ertappte er sich zweimal dabei, wie er weibliche Körper betrachtete: am Morgen, als er aufwachte, und in diesem Moment. Als sein Blick über seinen eigenen Körper glitt, entdeckte er die Haare, die in seinem Genitalbereich sprossen. „Was soll das sein?“, wunderte er sich.
»Wie heißt du?« fragte das Mädchen und brach zum zweiten Mal die Stille.
»Ariel. Und du?«
»Mirella«, und dann fügte sie leise hinzu: »Ich komme aus Italien.«
„ Italien“ dachte Ariel; er glaubte, diesen Namen in der Religionsgeschichte gehört zu haben. Ja! Es war ein Land irgendwo weit weg.
»Aber woher weißt du das?« fragte er erstaunt.
»Pst!« sagte das Mädchen und legte den Finger an die Lippen. »Jemand kann uns hören ...«
Sie stand von ihrer Bank auf und setzte sich neben Ariel. Dann flüsterte sie ihm ins Ohr:
»Ich erinnere mich noch. Als sie mich hierherbrachten, war ich bereits 10 Jahre alt und bei all ihren Qualen habe ich das bis heute nicht vergessen.«
»Und hast du keine Angst, es mir zu sagen? Was ist, wenn ich dich verrate?«
Als Antwort legte sie ihre Hand auf die des Jungen und sah ihm direkt in die Augen.
»Nein! Ich weiß, dass du das niemals tun wirst!«
In der Tat war Ariel von der Wahrheit dieser Aussage überzeugt, aber er konnte sich nicht erklären, woher Mirella das wusste. In Wirklichkeit hätte das Mädchen diese Frage auch nicht beantworten können, denn es nicht „wusste“, es „fühlte“ es.
In diesem Moment wurde die Tür heftig gegen die Wand geschlagen und der diensthabende Pädagoge betrat den Raum. Die Kinder sprangen erschrocken auf.
»Aha! Ich sehe, ihr versteht euch gut!« sagte er ironisch. Dann änderte er plötzlich den Ton:
»Legt euch auf den Bänken hin!«
Während die Kinder taten, was er befahl, nahm der Lehrer einen breiten Gürtel in die Hand und näherte sich der Bank, auf der Ariel lag. Es folgte die „klassische Bestrafung“, die bei kleineren Disziplinarverstößen angewendet wurde. Sie bestand aus einem Dutzend Schlägen auf dem nackten Gesäß. Der Pädagoge musste, je nach Schwere des Vergehens, zwischen dem Gürtel, dem Stock und der Peitsche wählen, wobei die Wahl in seinem Ermessen lag. Jammern war strengstens verboten, höchstens ein unfreiwilliges Stöhnen. Ansonsten wurde die Anzahl der Schläge verdoppelt. Während der Strafe biss Ariel die Zähne zusammen.
Nachdem der Pädagoge mit Ariel fertig war, begann er Mirella auf dieselbe Weise zu bearbeiten. Als die Zählung der Schläge zehn erreichte, öffnete sich die Tür erneut und der Pädagoge Satia kam herein, dicht gefolgt von einem Jungen mit zögerndem Gang und gesenktem Kopf. Es war Raul.
Satia wandte sich an den diensthabenden Pädagogen:
»Dieser Junge behauptet, dass er das Tablett hat fallen lassen und die anderen beiden nichts damit zu tun haben. Stimmt das?« fragte er und wandte sich an Raul.
»Ja ...«, stammelte Raul ohne zu wagen, den Kopf zu heben.
»Übrigens haben die anderen Schüler dies bestätigt. Wir haben es daher mit dem äußerst schwerwiegenden Fehlverhalten zu tun, Pädagogen zu belügen, um den Fehler eines anderen Schülers aus verbotenem Mitleid zu vertuschen. Nur der Schulleiter, Bharava-babu, kann über einen so schwerwiegenden Akt des Ungehorsams entscheiden. »Wartet hier!« sagte Satia und verließ den Raum gefolgt vom diensthabenden Pädagogen.
Nachdem sich die Tür hinter den Pädagogen geschlossen hatte, sahen sich die Kinder schweigend an. Mirella zog sich an, in der Hoffnung, dass ihr die letzten beiden Schläge erspart bleiben. Ariels Augen funkelten vor Wut, die durch den scharfen und anhaltenden Schmerz in seinem Hinterteil noch verstärkt wurde. „Es war alles umsonst. Raul wird seiner Strafe nicht entgehen und wir werden das Mehrfache bekommen“, kam ihm in den Sinn. Er blieb vor Raul stehen, der es immer noch nicht wagte, den Kopf zu heben.
»Warum hast du das getan?« fragte Ariel mit einer Stimme, in der unbändige Wut lag.
»Ich konnte nicht zulassen, dass ihr wegen mir geschlagen werdet«, flüsterte Raul.
»Du Narr! Du hättest deinen Mund halten sollen! So wirst du uns viel mehr leiden lassen!« Ariel sah Schwarz vor den Augen und hob die Hand.
»Ariel! Nein!« rief Mirella, die seine Absicht bemerkte und versuchte seine Hand zu ergreifen.
Aber es war zu spät. Zwei kräftige Ohrfeigen erröteten plötzlich Rauls blasse Wangen und unterbrachen die Stille im Bestrafungsraum. Es folgte ein starker Stoß, der den Jungen zurückwarf und ihn heftig gegen eine der Strafbänke prallen ließ, die laut umkippte.
Alle erstarrten vor Überraschung. Unter der umgestürzten Bank lag auf dem Rücken Janosch, der von den langen Matten, die bis zum Boden reichten, verdeckt worden war. Er war der erste, der sich erholte. Er stand auf und warf Raul, dessen „Guru“ er war, einen mörderischen Blick zu und zischte durch die Zähne:
»Wir rechnen heute Abend in der Zelle ab!« Dann verließ er den Raum.
Die anderen waren fassungslos. Also hatten sie immer einen Spitzel dabei, der alles hörte, was sie sagten, und weitermeldete. Wann konnte er da unbemerkt hineinschlüpfen? Wahrscheinlich, als sie auf Anweisung des Pädagogen vor der Tür des Speisesaals warteten. Da der Raum Ausgänge an beiden Enden hatte, konnte er sich einschleichen, ohne von den beiden Kindern gesehen zu werden. Das bedeutete jedoch, dass alles von Pädagogen organisiert wurde, denen es verdächtig schien, dass sie beide gleichzeitig aufgestanden waren. Mirella hoffte, dass wenigstens das, was sie Ariel im Ohr geflüstert hat, nicht gehört werden konnte. Ariels Wut verblasste und wich der Reue. Der arme Raul hatte es gut gemeint und er hat ihn so hart geschlagen. Er bedauerte bitterlich, was er getan hatte. „Warum habe ich das getan?“ fragte er sich immer wieder.
Raul hatte sich in der Zwischenzeit ausgezogen und legte sich mit dem Gesicht nach unten auf die wieder aufgestellte Bank, denn er wusste, dass er der Strafe nicht entgehen würde. Ariel näherte sich ihm und streichelte sanft sein glänzendes Haar.
»Verzeih mir, Raul! Ich war wütend.«
»Es ist in Ordnung, Ariel! Es war mein Fehler. Es tut mir sehr leid!«
Ariel hatte keine Zeit, ihm zu antworten. Die Tür öffnete sich plötzlich und Bharava-babu erschien, gefolgt von den beiden anderen Pädagogen. Ohne jede Einleitung kam er zur Sache:
»Der Fall ist sehr ernst und sollte entsprechend bestraft werden. Raul bekommt gleich die doppelte „klassische Bestrafung“, weil er nicht sofort aufgestanden ist, um seinen Fehler zuzugeben, und die beiden schamlosen Lügner werden bei der ersten Gelegenheit die „kollektive Bestrafung“ erdulden müssen!«
Die Kinder erschauderten. In Dandarat wurden nur die geringen Strafen sofort vollgestreckt. Die größeren Vergehen wurden dem Bharava-babu gemeldet, der sie gewissenhaft in einem Notizbuch niederschrieb. Einmal in der Woche versammelte sich die ganze Schule im Bestrafungsraum zur „Sündenbuße“.Bharava-babu holte sein Notizbuch heraus und die meisten Schüler legten sich abwechselnd auf die Strafbänke. Am meisten gefürchtet war jedoch die „kollektive Bestrafung“, die am Ende durchgeführt wurde. Sie hatte auch einen ausgeprägten erzieherischen Charakter für alle Schüler und verfolgte ein dreifaches Ziel: die vorbildliche Bestrafung großer Vergehen, die Entwurzelung der Mitleidgefühlen und die Förderung der tierischen Instinkte, die in jedem Menschen verborgen sind. Jeder Schüler sollte dem Bestraften drei Schläge mit einer Peitsche, einem Gürtel oder einer Rute, nach eigener Wahl, verabreichen, insgesamt über hundert Schläge. Dies musste „mit Überzeugung“ unter den wachsamen Augen der Pädagogen geschehen. Wenn einer von ihnen die Hand hob, bedeutete dass er Anzeichen von Mitleid bemerkte, die unbedingt bestraft werden mussten. Das betreffende Kind legte sich auf eine andere Bank und erhielt nach Beendigung des aktuellen Strafrituals von jedem Schüler zwei Schläge auf die gleiche Weise. Dies geschah selten, da sich jeder mehr um seine eigene Haut kümmerte als um die des anderen. Um nicht in den Verdacht zu geraten, Mitleid zu empfinden, wählten die Kinder meist die Peitsche, weil sie die schmerzhaftesten Schläge verursachte.
Umso größer war das Erstaunen, als bei der nächsten Bestrafungssitzung, während Mirella stoisch und zähneknirschend die Tortur ertrug, etwas Unerhörtes geschah. Als ein blonder Junge, ungefähr zwei Jahre jünger, an der Reihe war, nahm er die Peitsche in die Hand, statt jedoch zu schlagen, warf er sie weg, beugte sich über das Mädchen, legte seine Hand um ihren Hals und drückte zärtlich seine Wange an ihre. Mit einem heftigen Ruck wurde er weggezogen und musste dann die gleiche Strafe wie Mirella und Ariel über sich ergehen lassen. Während der Junge verprügelt wurde, flüsterte Ariel Mirella zu, die so wie er auf der benachbarten Strafbank lag:
»Wer ist er?«
»Marco, mein Bruder!« antwortete das Mädchen flüsternd und Tränen tropften aus ihren Augen.
*
Ein paar Wochen vergingen. Es war genau der Tag, an dem die Pädagogen Ariel verkündeten, dass er 14 Jahre alt geworden war und nun selbstständig wird, was ihn von Ingrids quälender Herrschaft befreite. Es war der glücklichste von allen seinen Tagen in Dandarat, wenn man einen solchen Tag so nennen kann.
Am Abend, nach dem üblichen kargen Abendessen, eilte Ariel zu der Zelle, in der er allein leben würde. Als er die Schwelle erreichte, blieb er stehen. Er konnte es einfach nicht glauben. Er hatte das Gefühl zu träumen. Wird diese Zelle nur seine sein?
Er trat ein paar Schritte vor und setzte sich auf den Boden. Wird er nicht mehr die kurzen Befehle hören, die in einem rauen und strengen Ton gesprochen werden: „Zieh dich aus!“, „Leg dich hin!“, „Steh auf!“, „Knie nieder!“, „Setz dich hin!“, Befehle, die oft von schmerzhaften Schlägen begleitet wurden?
In solchen Gedanken vertieft, hörte er die sich nähernden Schritte nicht. Die Matte, die die Tür ersetzte, wurde beiseitegeschoben und der Pädagoge Satia erschien auf der Schwelle. Als Ariel ihn sah, zuckte er zusammen und sprang auf.
»Folge mir!« befahl Satia ihm und ging raus. Ariel folgte ihm fügsam.
Seit einigen Tagen hatte er vermutet, dass er bald an der Reihe sein würde, sich einem dieser „praktischen Versuche“ zu unterziehen, die die Kinder von Dandarat mit Angst erfüllten. Daher war dieser unerwartete Besuch für ihn keine Überraschung. Was ihn jedoch wunderte, war, dass er nicht wie üblich von einem Diener gerufen wurde, sondern der Pädagoge Satia persönlich in seiner Zelle erschien und ihn aufforderte, ihm zu folgen. Was bedeutete das? In jedem Fall nichts Gutes.
Charles Height, ein Biophysiker und Dandarats wissenschaftlicher Mitarbeiter, der von der internationalen Wissenschaftsgemeinschaft ausgeschlossen wurde, ausgehend von der Theorie, dass „die Funktion das Organ schafft“, stellte die Hypothese auf, dass eine Beanspruchung der Sinne bis an die Grenze der Erträglichkeit zu derer Schärfung über das normale Maß hinausführen würde, was für die spätere Verwendung der Schüler sehr nützlich wäre. Die Folge waren viele Versuche mit starken Erregern wie Licht, Ton, Geruch, Geschmack und taktilen Reizen. Obwohl viele von ihnen diametral entgegengesetzte Ergebnisse lieferten, wurden sie mit großem Eifer fortgesetzt.
Sie gingen durch einen schmalen, dunklen Korridor, dessen Wände vor Feuchtigkeit schwelten, und betraten einen großen, fensterlosen Raum, der nur schwach von der flackernden Flamme einer Öllampe beleuchtet wurde. In einer Ecke, auf dem kalten und nassen Zement, saßen mehrere Schüler unterschiedlichen Alters im Schneidersitz: alle Schüler von Dandarat waren verpflichtet, diese „praktischen Sitzungen“ im Wechsel zu besuchen. Als Ariel sie sah, spürte er ein Stich im Herz: er hat Mirella und Raul unter den Anwesenden erkannt. An jenem Morgen, als sie nach dem Frühstück den Speisesaal verließen, führten die drei Freunde in einem Seitengang, wo sie den spähenden Blicken der Pädagogen entkamen, ein stilles Gespräch, tauschten liebevolle Blicke, zärtliches Lächeln und warme Handberührungen aus. Es war das, was ihnen die Kraft gab, die Grausamkeiten des Tages zu ertragen.
»Zieh dich aus!« donnerte Satias autoritäre Stimme neben Ariel. Der Junge gehorchte stillschweigend. Für die Kinder von Dandarat war das Entkleiden kein Problem. Mit zwei Bewegungen zog Ariel seine Tunika aus und ließ seine kurze Hose an den Beinen hinuntergleiten, wodurch der Teil seines Körpers freigelegt wurde, der normalerweise den Schlägen ausgesetzt war.
»Leg dich hin!« ertönte der folgende Befehl. Ariel legte sich wie immer mit dem Gesicht nach unten auf einen niedrigen Tisch in der Mitte des Raumes. Auf ein Zeichen von Satia hin führte ein Diener die am Tisch gebundenen Riemen über seinen Hals, Mitte, Knie und Knöchel, zog sie brutal fest und befestigte sie mit den vorhandenen Schnallen. Dadurch war der Kopf und der Körper des Jungen auf der mit einer rauen Matte bedeckten Tischoberfläche fixiert. Vor seinem Kopf befand sich ein Schlitz im Tisch, durch den er einen Teil des Zementbodens sehen konnte, auf dem alle möglichen Insekten krabbelten. Im nächsten Moment wurde ihm ein weiterer Riemen über den Kopf gezogen, der ihn total bewegungsunfähig machte.
Ariels Gesicht zeigte nicht die geringste Angst, nur einen grenzenlosen Gehorsam, aber seine Seele zitterte vor Schrecken: es war ein neuer „Versuch“ für ihn und er wusste nicht, was ihn erwartete. Die Stiche der Matte, auf der er lag, wurden unerträglich.
»Halte deine Augen offen!« befahl Satia.
Ein rundes Objekt erschien vor Ariels Gesicht, der einen Moment später ein blendendes Licht ausstrahlte. In einer Entfernung von etwa einem halben Meter wurde ein starker Scheinwerfer eingeschaltet. An ihm war ein Spiegel angebracht, der es den Umstehenden ermöglichte, die Bewegungen seiner Augenlider zu verfolgen.
Instinktiv, geblendet von dem unerwarteten Strahlen, schloss Ariel die Augen. Im selben Moment schlug Satias Peitsche mit einem langen Zischen heftig auf ihn ein und hinterließ dunkel rote und schmerzhafte Striemen auf seinem nackten Körper. Der unerträgliche Schmerz veranlasste ihn, seine Augen zu öffnen. Das Licht blendete ihn, aber der eindringliche Schmerz des Schlages war eine ständige Erinnerung: „Ich muss die Augen offenhalten, ich muss es!“ Es vergingen ein paar Sekunden, die ihm wie eine Ewigkeit vorkamen; er begann scharfe Schmerzen in den Augen zu spüren. „Ich kann es nicht mehr ertragen!“ schoss es ihm durch den Kopf und er schloss die Augen. Ein weiterer Schlag, noch stärker als der erste, zwang ihn, seine Augenlider zu heben. Das Stechen in seinen Augen verstärkte sich, ihm wurde schwindelig und... seine Augenlider fielen herunter. Der fast unerträgliche Schmerz des dritten Schlages ließ ihn beschließen, seine Augen nicht mehr zu schließen, „egal was passiert“. Nach ein paar Augenblicken spürte er, wie sich alles zu drehen begann und bald wusste er nicht mehr, was mit ihm geschah ...
Ein scharfes Zischen kündigte den vierten Schlag an, der ihm ein leises Stöhnen entriss. Es war noch schmerzhafter als die anderen drei, weil er vielleicht auf den bereits wunden Stellen angesetzt wurde. Ariel riss die Augen auf, die sich kurz zuvor gegen seinen Willen geschlossen hatten.Er spürte, dass sein Kopf wie in einem Schraubstock zusammengepresst war und auf seinem Gehirn ein schmerzhafter Nebel lastete. Er hatte nicht mehr die Kraft, die Augen offen zu halten ...
Er hörte das Zischen der Peitsche und das Geräusch eines heftigen Schlages, spürte aber nichts. Das Geräusch der Schläge war weiter zu hören, aber er fühlte keinen Schmerz. Als die Schläge aufhörten, öffnete er die Augen. Das Scheinwerferlicht war erloschen, aber Ariel konnte nichts sehen: auf seiner Netzhaut hat sich das blendende Abbild des Scheinwerfers stark eingeprägt. Sein Kopf drehte sich weiter. Er spürte, wie er losgebunden, hochgehoben, hochgetragen und schließlich hastig auf ein Bett geworfen wurde, wahrscheinlich in seiner Zelle.
Als die Schritte derer, die ihn hereingebracht hatten, verklangen, versuchte Ariel einzuschlafen, was ihm aber erst viel später gelang. Das schmerzhafte Bild des leuchtenden Scheinwerfers verweilte in seinen Augen. Der Schwindel dauerte an und er litt unter heftigen Kopfschmerzen, die sich von den Augen ausgehend auf das ganze Gehirn ausbreiteten. Die durch die Schläge verursachten Wunden schmerzten gewaltig. Außerdem quälte ihn eine Frage: Was war die Erklärung für die letzten Schläge, die er gehört hatte, ohne sie zu spüren? Er war überzeugt, dass sie ihm nicht zugefügt worden waren, denn er hatte überhaupt nichts gefühlt, während er die vorherigen Schläge voll gespürt hatte. Wen hatte es dann erwischt? Und wofür? Er konnte sich nicht daran erinnern, dass während einer praktischen Sitzung irgendjemand anders als die Versuchsperson geschlagen worden war. Und aus welchem Grund könnte ein anderer während seiner Probe geschlagen werden?
Schließlich fiel er in ein Delirium, das fast 36 Stunden andauerte. Während dieser Zeit wurde er allein gelassen, ohne Nahrung und Wasser. Er träumte, dass er sich einer hellen Sonne gegenübersah, die ihn blendete. Er wollte weglaufen, sich verstecken, aber schmerzhafte Fesseln, die seine Beine umschlangen, hinderten ihn daran, sich zu bewegen. Plötzlich stürzte jemand herbei, um sie zu brechen, aber wie aus dem Nichts kam eine riesige Peitsche auf ihn herab und ... Ariel wachte auf.
Es war Licht um ihn herum. Zuerst sah er alles wie durch Nebel, aber allmählich erholte er sich und bald begann er normal zu sehen. Das erste, was er tat, war, die Striemen an seinem Körper zu begutachten. Es waren nicht viele, aber sie waren groß und schmerzhaft. Als er durch das schmale Fenster hinausschaute und die Sonne sah, die bereits über dem Dach des gegenüberliegenden Gebäudetraktes aufgegangen war, wurde ihm klar, dass er später als sonst aufgewacht war. Er sprang auf, bereute es aber sofort, denn ohne die Wand, an die er sich anlehnen konnte, wäre er zusammengebrochen: alles schwankte um ihn herum. Er ging langsam an der Wand entlang hinaus auf den Korridor. Seine Schritte wurden immer sicherer und schließlich rannte er. Es war sehr spät und wenn er es nicht rechtzeitig in den Speisesaal schaffte, würde er wieder Satias Peitsche spüren, der nun sein direkter Betreuer geworden war.
Als er in den Waschraum kam, gingen die anderen heraus. Als er sich näherte, ging Raul an ihm vorbei. Zuerst war er versucht, ihn anzulächeln, aber er verzichtete darauf, da ihm klar war, dass diese unzulässige Geste angesichts der anderen Schüler in der Nähe bald die Ohren der Pädagogen erreichen könnte. Obwohl es im Korridor halb dunkel war, hatte Ariel den Eindruck, dass er auf Rauls Beinen frische Schlagspuren erkennen konnte. Diesmal konnte sich Ariel nicht zurückhalten und schenkte dem Mädchen auf alle Gefahr hin ein warmes, offenes Lächeln, das nur aus dem reinen, zarten Herzen eines Kindes entspringen konnte. Doch dieses Lächeln währte nicht lange, denn Ariel bemerkte diesmal mit Sicherheit, dass auch Mirellas Beine mit frischen, großen Striemen übersät waren. Der Junge war fassungslos: zwei Tage zuvor hatte keiner von ihnen irgendwelche frischen Spuren gehabt.
Er betrat den Waschraum in Eile. Dort war nur ein etwas jüngerer Knabe, der sich gerade anschickte zu gehen. Keiner von Dandarats Personal war da. Ariel näherte sich dem Jungen, den er zwei Nächte zuvor im Halbdunkel der Folterkammer gesehen hatte, und flüsterte ihm zu:
»Weißt du, was mit Mirella und Raul passiert ist? Wann haben sie sie geschlagen?«
»Doch!« antwortete der andere. »Während deines Versuchs, als du gerade den vierten Schlag erhalten hast, gab Janosch, der ebenfalls anwesend war, ein seltsames Geräusch von sich, eine Art von „hmm, hmm ...“. Satia drehte sich sofort zur Ecke in der wir saßen und leuchtete mit einer starken Taschenlampe in unsere Gesichter. Rauls Gesicht war voller Mitleid und Mirellas Augen glitzerten vor Tränen ...«
Hier wurde die Erzählung durch das Geräusch von sich nähernden Schritten unterbrochen. Aber der Rest war nicht schwer zu erraten: einen Kollegen zu bemitleiden war eine schwere Sünde und der Ausdruck von Gefühlen war streng verboten, deswegen wurden die Schuldigen auf der Stelle bestraft. Der Hagel von Schlägen, den Ariel gehört, aber nicht gespürt hatte, fiel also auf die nackten Beine der beiden Kinder, die nicht das geringste Stöhnen ausstießen.
Ariel begann sich schnell zu waschen. Er verspürte den unwiderstehlichen Drang, die beiden zu treffen. Er wollte ihnen durch einen Handschlag für ihr Opfer danken, das nicht vergeblich war, weil es seine Qualen verkürzte und ihm gezeigt hatte, dass er nicht allein auf der Welt war, dass es noch jemanden gab, der für sein Pein litt und bereit war, es mit ihm zu teilen. Es war eine völlig neue Erfahrung für Ariel.
Kaum war der andere Junge herausgekommen, erschien die schlanke Gestalt eines Pädagogen in der Tür. Als er Ariel sah, runzelte er die Stirn:
»Was ist los mit dir?«
»Ich bin etwas spät dran«, antwortete der Junge verwirrt.
»Wie heißt du?«
»Ariel«
»In welcher Gruppe bist du?« fragte der Pädagoge streng.
»In der Gruppe von Guru Satia«
»Ich werde es ihm melden« fügte er hinzu und ging.
Ariel wusste, dass er wieder geschlagen werden würde, aber es war ihm egal. Das Gefühl, dass er nicht allein auf der Welt war, dass jemand sein Leid teilte, gab ihm Kraft und Mut. Wo er vor nicht allzu langer Zeit noch Momente echter Verzweiflung gehabt hatte, fühlte er sich jetzt in der Lage, alles mit Gelassenheit zu ertragen.
Aber warum haben sie das für ihn getan? Woher kommt diese aufopferungsvolle Verbundenheit? Wie konnte sich eine so starke gegenseitige Bindung aufbauen, die nicht mit dem Ende der tragischen Ereignisse, die einige Wochen zuvor stattgefunden hatten, aufgehört hat?
Da er zu dieser Zeit keine Lebenserfahrungen hatte, konnte Ariel keine Antworten auf die Fragen finden, die ihn beschäftigten. Sonst hätte er erkannt, dass eines der Grundgesetze des Lebens gilt: Menschen mit ähnlichen Charakteren und Temperamenten werden unbewusst voneinander angezogen. Und diese Kinder, die unter ganz besonderen Bedingungen aufgewachsen waren, sich aber die geistigen Eigenschaften bewahrt hatten, mit denen die Natur sie ausgestattet hatte: Sensibilität und Opfergeist, fühlten sich zueinander hingezogen. Das Ereignis, durch das sie sich kennengelernt hatten, war nur der Beginn einer seelenvollen Verbundenheit gewesen, die sich nur in ausdrucksstarken Blicken und einfachen Gesten ausdrückte und die Grundlage für eine dauerhafte Freundschaft bildete. Dieses jüngste Ereignis bestätigte die Stärke dieser Verbindung.
Für Ariel, der die Wärme der elterlichen Liebe nie gekannt hatte, war es eine erstaunliche Entdeckung, dass im Meer der Grausamkeit und Unmenschlichkeit, in das er eingetaucht war, Lichter wie Glühwürmchen in der Dunkelheit erschienen. Sie waren Seelen, die mit seinen eigenen mitschwangen, sie waren alles, was ihm lieb war, und sie zu treffen war gleichbedeutend mit einer mütterlichen Liebkosung. Für dieses Wunder war er bereit, alles zu ertragen, um es so schnell wie möglich wahr zu machen.
Bang! Ariel erschauderte. Es war der Gong, der die Schüler zum Frühstück rief. Er rannte nass in seine Zelle, denn er hatte vor lauter Schwindel vergessen, sein Handtuch mitzunehmen. Er trocknete sich schnell ab und lief in Eile zum Speisesaal.
Als er durch den Korridor eilte, der hinführte, bemerkte er, dass dieser menschenleer war, was bewies, dass er zu spät ankam, denn alle anderen Schüler waren bereits da. Ein nervöser Schauer durchlief seinen Körper: er musste eine weitere Bestrafung hinnehmen. Schlimmer war die Tatsache, dass dadurch das Treffen mit Mirella und Raul unerreichbar wurde, was ihn am meisten schmerzte.
Vor der Esszimmertür blieb Ariel stehen. Er hatte zwei Möglichkeiten: versteckt warten, bis alle anderen den Speisesaal verlassen hatten, und dann versuchen, sich ins Klassenzimmer zu schleichen oder den Speisesaal betreten und hoffen, dass seine Verspätung unbemerkt bleiben würde. Im ersten Fall war dieses lang ersehnte Treffen sicher verpasst, im zweiten Fall hatte es eine Chance. Er drückte die Klinke und die Tür öffnete sich lautlos.
Der gemeinsame Speisesaal war ein langer Raum mit einer Tür an jedem Ende. Die Mitte wurde von einem langen Bambustisch eingenommen, und auf beiden Seiten vervollständigten zwei ebenso lange Bänke die „Einrichtung“. Die Bänke wurden von den Schülern in der Reihenfolge ihrer Ankunft besetzt, in der sie auch ihre Mahlzeiten erhielten.
Als Ariel die Tür öffnete, waren die Schüler am gegenüberliegenden Ende bereits am Essen. Die Pädagogen waren mit der üblichen Suggestion beschäftigt, so dass sie sein spätes Erscheinen nicht bemerkten. Ariel ging auf Zehenspitzen zum Tisch hinüber und stellte erfreut fest, dass auf jeder Bank noch ein Platz frei war. Diejenigen, neben denen er sitzen konnte, waren Janosch auf der einen Seite und Ingrid auf der anderen. Von den beiden Übeln wählte er das weniger schlimme und setzte sich neben Ingrid. Sie lehnte sich zu ihm und flüsterte ironisch:
» Ein bisschen spät, Stinker!« Das war ihre Lieblingsanrede und ihr Gesicht zeigte Zufriedenheit gemischt mit Bosheit. Ein gehässigstes Lächeln aufsetzend fuhr sie fort:
»Wenn du willst, dass ich dich nicht verpetze, dann lecke den Staub von meinen Füssen!«
Ariel erschauderte. Dieser Satz fiel wie ein Donnerschlag auf ihn. Ingrid verlangte von ihm ein demütigendes Ritual, das er schon dutzende Male durchgeführt hatte, von dem er aber dachte, dass er es jetzt für immer los sei. Das Mädchen verlangte von ihm nichts Geringeres, als ihre Füße zu küssen! Sie wollte ihm beweisen, dass sie, obwohl sie offiziell keine Macht über ihn hatte und sie theoretisch gleichberechtigt waren, dennoch sie Mittel fand, ihn zu demütigen. Unter anderen Umständen hätte Ariel einen solchen Deal nicht akzeptiert. Trotz Dandarats Erziehung war sein Stolz nicht zerstört worden, was einmal mehr das Überwiegen der Vererbung über die der Erziehung bestätigte. Er würde lieber jede Strafe ertragen, als sich freiwillig vor Ingrid zu erniedrigen. Nun war dies eine besondere Situation: wenn er verpetzt würde, würde er aus dem Speisesaal in den „Bestrafungsraum“ gebracht werden, so dass das Treffen, auf das er so sehnsüchtig wartete, nicht stattfinden konnte. Da sie in verschiedenen Gruppen waren, hatten sie nicht die Möglichkeit, sich tagsüber wieder zu treffen. Wenn er aber nicht verpetzt würde, hatte er die Chance, sie zu treffen, denn beim Frühstück versammelten sich alle Schüler. Er hatte die Wahl zwischen dem Erhalt seiner Würde und der Linderung seines seelischen Leidens. Wie so oft im Leben, siegte das Herz über die Vernunft.
Mit einem Ausdruck der Resignation im Gesicht rutschte Ariel langsam unter den Tisch. Hier eröffnete sich ein bizarrer Anblick vor ihm. Dutzende von nackten Beinen von unterschiedlichsten Größen, in verschiedensten Positionen, waren auf beiden Seiten des Tisches zu sehen. Sie alle hatten ein gemeinsames Merkmal: sie trugen Anzeichen von älteren oder neueren Schlägen. Da diese Körperteile permanent unbedeckt waren, eigneten sie sich ideal für eine sofortige Bestrafung. Ariel näherte sein Gesicht an Ingrids Fuß. Ah! Wie gerne hätte er ihn gebissen, anstatt ihn zu küssen! Aber das hätte bedeutet, das Treffen mit Mirella und Raul zu verpassen, das ihm so wichtig war. Er überwand seinen Abscheu und drückte seine Lippen auf die raue Haut ihres Fußes. Er wiederholte fünfmal den Vorgang für jeden Fuß, denn er kannte die Ansprüche des Mädchens. Er stand behutsam auf und setzte sich auf seinen Platz. Ingrid schien zufrieden.
Ariel schaute über den Tisch. Er wollte sicher sein, dass niemand etwas von dem, was geschehen war, gesehen hatte.Ja, er konnte beruhigt sein: einige aßen und andere starrten apathisch ins Leere. Er erblickte Raul und dann Mirella, die auf der anderen Seite des Tisches saß, nahe dem gegenüberliegenden Ende. Irgendwann trafen sich kurz ihre Blicke und Ariel spürte, wie ein Schauer durch seinen ganzen Körper lief. Ihre schwarzen Augen sahen ihn mit einer solchen Wärme an, die er noch nie in seinem Leben gespürt hatte. All die Demütigung, die er gerade erlebt hatte, wurde voll belohnt! Plötzlich runzelte er die Stirn; Mirella war mit dem Essen fertig und sollte den Speisesaal verlassen, während er noch nicht einmal begonnen hatte. Es sah so aus, als ob das Treffen nicht stattfinden würde. Wie schade!
»Esst Bananen!« ertönte hinter ihm die Stimme eines Pädagogen, die ihn aus seinen Gedanken weckte. Ein Diener reichte ihm eine Handvoll geröstete Haselnüsse und eine Tasse Wasser. Ariel trank das Wasser gierig, denn seine Lippen waren vor Durst ausgedörrt. Dann begann er, die Haselnüsse in Eile zu essen.
Als er fertig war, ging Raul gerade zur Tür hinaus, aber Mirella war schon längst weg. Er beschleunigte das Tempo und holte Raul ein, begnügte sich aber damit, nur zwei Schritte hinter ihm zu gehen. Sie befanden sich nun im Hauptkorridor, von dem aus es links dunkle Nebenkorridore gab.
»Raul! Ariel!« flüsterte es aus der Dunkelheit eines solchen Ganges. Die beiden sahen sich um. Vor ihnen gingen zwei Mädchen, die kurz den Kopf drehten und dann in einem Klassenzimmer verschwanden. Keiner kam von hinten, sie waren allein! Sie zogen sich in den Seitenkorridor zurück, wo Mirella auf sie gewartet hatte, trotz der Risiken, die eine solche unerlaubte Handlung mit sich brachte. Jeder ergriff eine Hand der beiden anderen und bildeten so ein Dreieck der Stille. Die Wärme ihrer Seelen floss durch ihre Hände in dieses Dreieck, das alle drei Kinder vereinte.Ariels Augen füllten sich mit Tränen der Dankbarkeit, die man in der Dunkelheit nicht sehen konnte.
Ihre stille Unterhaltung wurde durch das leise Geräusch von Schritten unterbrochen.
»Bharava!« flüsterte Ariel, da er den verstohlenen Gang des Schulleiters erkannte.
Die Kinder erstarrten vor Entsetzen. Ariel ging auf Zehenspitzen den Seitengang entlang und zog die anderen mit, um möglichst weit vom Hauptgang zu gelangen. Als sie das Ende erreicht hatten, blieben sie stehen. „Komm bloß nicht hierher!“ beteten die Kinder in Gedanken. Die Schritte kamen näher und näher. „Welchen Weg wird er einschlagen? Geht es den Hauptkorridor weiter oder kommt es hier entlang?“ Diese Frage beschäftigte die verängstigten Gehirne aller drei Kinder.
Bald tauchte am Ende des Korridors die Silhouette von Bharava auf. Die Kinder schnappten nach Luft. Mirella umklammerte Ariels Arm, Raul lehnte sich gegen die Wand und Ariel biss die Zähne zusammen. Bharava hielt einen Moment inne und ging dann den Hauptgang entlang. Die Kinder atmeten erleichtert auf. Doch ihre Freude war von kurzer Dauer, denn im nächsten Moment erschien Bharava wieder am Ende des Korridors und ging auf sie zu. Er muss etwas Verdächtiges gespürt haben.
Die Situation war verzweifelt. Weiter durch die Tür zum Innenhof zu rennen, hätte Lärm verursacht, der ihre Anwesenheit verraten hätte.
»Lauft! Ich gebe euch Deckung!« flüsterte Ariel und während die beiden anderen durch die Tür verschwanden, ging er zügig auf Bharava zu.
In drei Sprüngen stand Bharava neben ihm und packte ihn an der Schulter. Er zerrte ihn in den besser beleuchteten Hauptkorridor und rief aus:
»Ariel!?Was hast du dort gemacht?«
»!?!«Ariel konnte nichts antworten.
»Mit wem hast du gesprochen?«fragte Bharava streng.
»Allein!« antwortete Ariel. Aber die Peitsche, die Bharava immer am Gürtel trug, zeigte, wie wenig überzeugend seine Antwort war.
»Ich werde es von dir herausbekommen!«sagte der Schulleiter mit Überzeugung.
Aber er hat es nie herausgefunden. Bei all den wiederholten Schlägen und Hypnosesitzungen hatte Ariel es nicht verraten, was ihm das Etikett „schwer erziehbar“ einbrachte!Jetzt war er an der Reihe, für seine Freunde zu leiden, was ihm viel körperliche Qual, aber auch eine große seelische Befriedigung bereitete. Die zerbrechliche Blume ihrer Freundschaft war zu einer kräftigen Pflanze geworden, die mit größter Sorgfalt unter der Maske kalter Gleichgültigkeit verborgen wurde.
Die Tortur des Lichts wurde immer wiederholt, wie auch andere, die die anderen Sinne „schärfen“ sollten. Viele der Schüler, die solchen Versuchen unterzogen wurden, wurden bewusstlos aus dem Raum geholt, einige hatten vorübergehende schwere Störungen und andere erlitten schlimme Nervenschocks. Ariel hatte all diese Versuche gut überstanden und es sogar geschafft, sich an sie zu gewöhnen, so dass die glühende Scheibe der Sonne, die bereits begonnen hatte, im Ozean zu versinken, und die er ohne zu blinzeln vom Deck des Linienschiffs betrachtete, ihn nicht im Geringsten störte. Die düsteren, aber zärtlichen Erinnerungen, die dieses Bild in ihm ausgelöst hatte, waren in den Tiefen seines Gedächtnisses verschwunden und sein Gesicht erhielt wieder den Ausdruck der Ekstase, den es zuvor gehabt hatte.
Inmitten der Natur fühlte sich Ariel wohl. Zum zweiten Mal in seinem Leben genoss er nach mehreren Monaten der Einschränkungen die volle Freiheit. Ein Schauer lief durch seinen Körper. Er erinnerte sich mit Nostalgie an die wundervollen Tage im Dschungel, mitten in der Wildnis, wo er in den Ruinen eines verlassenen Tempels schlief, sich von den Früchten ernährte, die ihm die Bäume großzügig zur Verfügung stellten, und von morgens bis abends durch den blauen Himmel, gestreichelt von den sanften Sonnenstrahlen, flog. Diese Tage der absoluten Freiheit waren das Gegenteil der langen Jahre der Quälerei und Gefangenschaft in Dandarat.
Nun hatte er seine Schwester und ihre gesamte Gesellschaft, die er nicht verstehen und nicht ertragen konnte, verlassen und sich auf den Weg nach Indien gemacht, wo er hoffte, trotz der rigorosen Trennung in Kasten und Gesellschaftsschichten freier als im erdrückenden Kreis des konservativen englischen Adels leben zu können. Und da waren auch seine lieben Freunde, die auf ihn warteten: Lolita, Nizmat und Scharad.
Seltsam! Er war gerade am Vortag 18 Jahre alt geworden, ein Alter, in dem andere fast nichts vom Leben wissen, und obwohl er die meiste Zeit dieser Jahre in völliger Isolation gelebt hatte, war es ihm innerhalb weniger Monate gelungen, das Leben in seinen verschiedensten Aspekten, in den unterschiedlichsten Gesellschaftsschichten und in den verschiedensten Teilen der Welt kennenzulernen. Dies führte zu einer raschen Reifung seines Denkens, die auch sein Gesicht prägte. Die kindliche Aufrichtigkeit war aus seinen Augen verschwunden und durch eine melancholische Ernsthaftigkeit ersetzt worden und die frühen Falten auf seiner Stirn wurden betont. Sein ganzes Gesicht wurde von einem Hauch von Freundlichkeit und Sanftmut beherrscht, ein Beweis dafür, dass es ihm gelungen war, seine moralischen Qualitäten intakt zu bewahren, obwohl das Leben ihn harten Prüfungen unterworfen hatte.
Alle Stationen seines Lebens gingen Ariel durch den Kopf: zunächst seine frühe Kindheit, die ihm eine vage Erinnerung an ein kaltes, patriarchalisches Heim hinterlassen hatte, über dem wie ein böser Geist der Mann im schwarzen Anzug schwebte, den er später mit seinem Vormund, dem renommierten Londoner Anwalt Boden, identifizierte; dann folgten die endlosen Jahre in Dandarat, Jahre des Grauens und des Leidens, Jahre endloser Tage von wahnsinniger Monotonie. Die einzige Sorge um die Zukunft war die Frage: welche neuen Qualen wird der morgige Tag im Vergleich zum Vortag bringen? All diese Jahre war sein Leben von einem einzigen Strahl erhellt worden, der seine Seele erwärmte und ihm die Kraft gab, allen Prüfungen, denen er ausgesetzt war, zu überstehen, ein Strahl, der nichts anderes war als das geheime Band zwischen drei jungen Herzen. Als nächstes kam der Eingriff, der ihm die ungewöhnliche Fähigkeit zu fliegen verlieh und ihm die Flucht aus Dandarat mit dem kleinen Scharad ermöglichte. Er erinnerte sich an die Tage in der Hütte des alten Parias Nizmat, mit Lolita, seiner Enkelin, in die er sich verliebte, und an die Gefangenschaft in den Marmor- und Goldpalästen des Rajas Radjcumara, der ihn schließlich töten wollte. Er war nur knapp dem Tod entkommen und hatte sich in den Dschungel geflüchtet, wo er die größte Freiheit genoss. Es folgen nacheinander die Bekehrung zum Christentum, das „Wunder des Glaubens“, die Übersiedlung nach Amerika, die Begegnung mit seiner Schwester Jane, die Falle, die ihm von Gangstern gestellt wurde, die überstürzte Abreise nach England und das neue Leben inmitten der englischen Aristokratie.
Jetzt verließ er diese Welt, nicht ohne Bedauern, denn etwas in seinem Herzen flüsterte ihm zu, dass seine Schwester Jane ihn doch liebhatte, dass aber die Vorurteile und Vorstellungen der Gesellschaft, in der sie lebte, momentan stärker als die Liebe zu ihrem Bruder waren. Wird Jane das erkennen? Wird sie sich jemals ändern? Kann das soziale Umfeld und die Erziehung, die sie erhalten hat, ewig die Impulse des Herzens überwiegen? Ariel war überzeugt, dass das Leben selbst diese Fragen beantworten würde, ebenso wie viele andere, die ihm gerade durch den Kopf gingen.
Mit seiner noch begrenzten Lebenserfahrung konnte Ariel nicht verstehen, dass angesichts der psychologischen Struktur der Menschen ein Zusammenleben nur auf der Grundlage strenger Regeln möglich ist, die mehr oder weniger logisch sind, aber den Einzelnen seinem Charakter entsprechend oft zu Heuchelei und Lüge verleiten. Bisher war er zu oft mit diesen letzteren Aspekten zusammengestoßen, die er hasste und auf die gesamte „zivilisierte“ Gesellschaft projizierte.
»Freiheit!« murmelte Ariel wieder mit einem Zittern in der Stimme, nicht ahnend, wie relativ dieser Begriff ist und wie schwierig es ist, diesen Wunsch selbst für einen fliegenden Menschen zu verwirklichen!
Es war stockfinster. Der Londoner Nebel war undurchdringlich und man konnte kaum ein Schritt weit sehen. Die Straßenlaternen schimmerten wie kleine gelbe Sterne. Der Rauch, der aus den Schornsteinen der Gebäude aufstieg, vermischte sich mit dem Nebel und verbreitete überall einen starken Geruch nach verbrannter Kohle. Obwohl der Verkehr auf Londons Straßen zu dieser späten Stunde gering war, um Unfälle zu vermeiden, fuhren die wenigen Autos langsam, mit eingeschalteten Nebelscheinwerfern und hupten in kurzen Abständen. Ein großer schwarzer Wagen hielt vor einem imposanten dreistöckigen Gebäude an einer der Hauptverkehrsadern der britischen Hauptstadt. Der Fahrer sprang von seinem Sitz auf und öffnete mit einer respektvollen Geste die hintere Tür des Wagens, durch die ein dicker Herr von mittlerer Statur, dessen elegante Kleidung ihm ein vornehmes Aussehen verlieh, mit großen Schwierigkeiten ausstieg. Er trug einen schwarzen Mantel, unter dem sich ein Frack verbarg, und einen glänzenden Zylinder auf dem Kopf. Nach seinem mühsamen Aussteigen schaute er sich das Gebäude aufmerksam an. Die Fassade war dunkel, nur ein Fenster im Erdgeschoss war hell beleuchtet. Er holte einen Schlüssel aus seiner Tasche, schloss die Tür auf und flüsterte dem Fahrer, als er in der Dunkelheit des Flurs verschwand, zu: „Warte um die Ecke auf mich“. Wenige Augenblicke später öffnete sich die Tür zum beleuchteten Raum und der dicke Herr kam herein. Der Raum war ein luxuriös eingerichtetes Arbeitszimmer mit einem massiven Mahagonischreibtisch in der Mitte, an dem ein glatzköpfiger, etwas älterer Mann saß, der sehr tief in seine Gedanken versunken war. Ohne die geringste Überraschung zu zeigen, rief er in einem vorwurfsvollen Ton aus:
»Oh, Mister Forbes! Endlich sind Sie da!«
»Es tut mir leid, dass ich so spät dran bin, Mister Dottaler, aber ich wollte mich mit eigenen Augen davon überzeugen, dass Aureliu tatsächlich das Haus verlassen hat. Ich wartete in meinem Auto, das direkt vor dem Gebäude geparkt war. Nachdem alle Gäste gegangen waren, konnte man Janes ungewöhnlich laute und autoritäre Stimme durch die offenen Fenster hören. Dann herrschte Stille im Haus und die Lichter wurden bis auf wenige Ausnahmen ausgeschaltet. Ich wollte gerade wegfahren, als sich die Eingangstür langsam öffnete und Aureliu mit einem kleinen Koffer in der Hand in der Tür erschien. Ich habe meinem Fahrer befohlen, sofort loszufahren, um nicht erkannt zu werden.«
»Es wäre gar nicht nötig gewesen, zu spionieren, Mister Forbes. Sie vergessen, dass Janes Butler unser Mann ist und mich ständig auf dem Laufenden hält. Aureliu fuhr mit einem Taxi weg, und seiner Logik nach wahrscheinlich zum Hafen. Ich rief dort an und erfuhr, dass in etwa vier Stunden das Linienschiff „Queen Victoria“ nach Indien abfahren würde. Das ist ein enormer Glücksfall für uns, denn wir haben bereits einen Mann des Vertrauens und der Tat an Bord.«
»Sie sind kolossal, Mister Dottaler, kolossal!« unterbrach ihn Forbes. »Wie hätten Sie voraussehen können, dass solch harmlose Worte über diese Hindu-Rinder eine so unerwartete und heftige Wirkung auf Aureliu haben würden?«
»Aureliu gehört zu jenen lächerlichen Menschen, die behaupten, dass ich oder Sie, zum Beispiel, der ein Schloss auf dem Lande, eine elegante Residenz in London, zwei Luxusautos, fünf Unternehmen in England, Investitionen im Ausland, ein Girokonto bei der Bank of England, einen Sitz im britischen Oberhaus und vieles mehr haben, wären gleich, was weiß ich, sagen wir mal mit einem Straßenkehrer, der Analphabet ist und kaum über die Runden kommt. Es ist absurd, nicht wahr?«
» Ungeheuerlich! Katastrophal!« rief Forbes empört aus. »Und was ist mit meinem edlen Blut?«
»Lassen wir das Blut aus dem Spiel, Mister Forbes!« sagte Dottaler genervt und machte eine heftige Geste mit der Hand. Er hatte kein adeliges Blut, er stammte aus dem Bürgertum, er hatte sein ganzes Vermögen selbst angehäuft und die Großtuerei des arroganten Adels ging ihm auf die Nerven. Aber er beherrschte sich und fuhr fort:
»Ich habe Aurelius Überzeugungen schon lange bemerkt, an der vertrauten Art, wie er mit seinen Dienern sprach, an dem Mitgefühl, das man in seinem Gesicht lesen konnte, als wir gemeinsam die Ziegelei besuchten und eine alte Frau in den Schlamm fiel. Er eilte, um sie aufzuheben und machte sich dabei ganz schmutzig. Dafür wurde er, nebenbei gesagt, von Jane, die ein vernünftiges Mädchen ist, sofort in meiner Gegenwart getadelt. Später habe ich selbst diese Überzeugungen gefördert.«
»Sie?!« rief Forbes erstaunt aus und ließ den Zylinder fallen, den er in seiner Hand hielt.
»Ja! Ich habe es getan! Ich bezahlte die Diener, damit sie so lange wie möglich mit ihm sprechen und ihm ihre echten und erfundenen Sorgen erzählten, um ihn zu beeindrucken. Und ich habe in aller Ruhe auf den richtigen Moment gewartet, um die Früchte zu ernten. Und siehe da, der lang ersehnte Moment kam. Nach der Abreise der Gäste machte Jane einen riesigen Wirbel, den man, wie Sie sagten, von der Straße aus zu hören war. Danach entweder warf sie ihn raus oder sein ungezügeltes Temperament hatte genug von ihrer Nörgelei, die auch von mir angestachelt wurde, und er machte sich davon!«
»Und wohin wird er gehen?« fragte Forbes, der mit dem offenen Mund erstarrte.
»Wohin?« wiederholte Dottaler die Frage. »Wohin kann er gehen? Nach Amerika auf keinen Fall. Dort würden die Gangster ihn fangen und um sich zu rächen, würden sie ihn töten. Das wäre ideal für uns, aber das weiß er auch und er ist nicht so dumm, das zu riskieren.«
»Gangster ... !?« murmelte Forbes verblüfft.
»Ja! Ich selber habe sie auf ihn gehetzt. Aber es ist eine lange und komplizierte Geschichte, die wir auf ein anderes Mal verschieben wollen.« Nachdem er ein paar Mal gehustet hatte, nahm er seine Ausführungen wieder auf. »Wen hat er noch auf der Welt außer diesem zerlumpten kleinen Bettlermädchen in Indien, mit dem ich nicht weiß, was zum Teufel ihn mit ihr verbindet?«
»Wird er also nach Indien abreisen?«
»Fast sicher. Und wie ich Ihnen bereits sagte, wird in etwa dreieinhalb Stunden« fuhr Dottaler fort, nachdem er auf das große Pendel an der Wand schaute, »das Linienschiff „Queen Victoria“ den Anker lichten und auf der Route Bombay-Colombo-Madras auslaufen.«
Das schrille Klingeln des Telefons auf seinem Schreibtisch unterbrach plötzlich seine Rede. Dotteler nahm den Hörer ab. Es folgte ein kurzes Gespräch, während dessen er nur wenige Ausrufe der Zustimmung von sich gab. Am Ende sagte er: „Dann bleibt es so, wie wir es vereinbart haben“.
»In der Tat« sagte er zu Forbes, nachdem er aufgelegt hatte. »Aureliu hat sich nach Madras eingeschifft.«
Forbesʼ Erstaunen kannte keine Grenzen. „Kolossal, was für eine Gabe der Voraussicht Dottaler hat!“ dachte er. Und wie um seine Gedanken zu bestätigen, fuhr Dottaler fort:
» Bis jetzt ist alles nach meinem Plan verlaufen. Schauen wir mal weiter ...«
»Und was kommt nun? Sollen wir ihn diesem Pearce mit seiner Schule des Okkultismus und der Theosophie überlassen?«
»Nein! Auf keinen Fall! Pearce ist ein gefährlicher Kerl und kann ein doppeltes Spiel treiben.« Nach einer Denkpause fuhr er fort: »Jetzt kommt das „finale maiestoso”!« (Da Mister Dottaler auch ein Musikliebhaber war, ist die Verwendung von Musikterminologie in Geschäftsgesprächen erklärbar.) »Als Nächstes folgt der Tod von Sir Aurelius Galton und der Übergang seines Vermögens auf seine Schwester Jane, oder, um es ganz offen zu sagen, in unsere Taschen.«
Zum zweiten Mal ließ Forbes den Zylinder fallen.
»Also ein Mord!«
»Nein!« widersprach ihm Dottaler. »Leider können wir dieses einfache Mittel, das jedem zur Verfügung steht, nicht nutzen. Vergessen Sie nicht, dass wir gefährliche Rivalen haben, Boden und Haselon. Aureliu ist von ihren Agenten umzingelt und sie würden nicht aufgeben, bis sie unsere Schuld bewiesen haben. Nein! Diesmal müssen wir zu einem raffinierteren Mittel greifen. Wir müssen nicht nur Aureliu liquidieren, sondern auch alle möglichen Zeugen, sowohl Agenten der anderen Seite als auch die Leute, die wir einsetzen.«
»Wie?«
»In dieser Jahreszeit werden die Gewässer des Indischen Ozeans von schrecklichen Stürmen heimgesucht. Während eines solchen Sturms wird das Linienschiff „Queen Victoria“ mit seiner gesamten Besatzung und allen Passagieren in den Wellen verschwinden.«
»Na gut, aber Aureliu kann fliegen!« gab Forbes zu bedenken.
»Daran habe ich auch gedacht. Aus diesem Grund wird das Schiff nicht einem gewöhnlichen Schiffbruch zum Opfer fallen, sondern wegen einer gewaltigen Explosion schnell sinken. So werden sie alle sterben und es wird keine Spur mehr geben!«
»Würden aber unsere Männer bereit sein, geopfert zu werden?«
»Ah! Wie naiv Sie sind, Mister Forbes! Wie können Sie eine solche Frage stellen? Wir werden die Illusion schaffen, dass sie entkommen können, und die Gefahr werden sie nicht sehen, denn Geld macht blind!«
»Das ist allerdings furchtbar! Es befinden sich mehrere tausend Seelen auf dem Schiff ...« Forbes erschauderte vor Entsetzen. Und er konnte sogar diese Unglücklichen sehen, deren Körper von der schrecklichen Explosion zerschmettert wurden und deren Blut das schäumende Wasser des Ozeans rötete. Einige von ihnen, in deren Körpern noch ein Hauch von Leben steckte, schrien in ihrer Verzweiflung und Hoffnungslosigkeit um Hilfe, um dann für immer in den aufgewühlten Wellen zu versinken. Ihre Schreie und Rufe vermischten sich auf unheimliche Weise mit dem Zischen des unerbittlichen Hurrikans und dem Tosen der aufgewühlten See und erweckten den Eindruck, dass die Natur mit ihnen litt ... Dottalers raue Stimme holte ihn in die Realität zurück und riss ihn aus den Fängen dieses schrecklichen Albtraums.
»Ihre Seelen werden in das Himmelreich aufsteigen und ihre Körper in das Reich der Haie herabsinken. Das ist nichts Neues, man denke nur an die Titanic!« Und Dottaler lächelte zynisch.
Forbes erhob sich entschlossen von seinem Sessel.
»Nein, Mister Dottaler! Ich will nicht Ihr Komplize bei diesem monströsen Mord sein!«