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Schlimmer hätte es für die 14 jährige Nettie kaum kommen können: von einem Moment auf den anderen wird ihr ganzes Leben auf den Kopf gestellt. Ihr Vater möchte sich beruflich verändern und ein neues Projekt übernehmen - und zwar in Istanbul. Plötzlich steht Nettie vor der Herausforderung, sich in der Türkei mit einer fremden Sprache und Kultur auseinanderzusetzten und sich einen Platz in einem neuen Umfeld erkämpfen zu müssen. Doch Schwierigkeiten sind dafür da, gemeistert zu werden, und so kommt Nettie nach Überwindung einiger Hindernisse und Turbulenzen mit Unterstützung ihrer Familie und ihrer Freunde schließlich in ihrem neuen Leben an. Eine Geschichte über Familie, Freundschaft und Momente, die die Perspektive verändern.
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Seitenzahl: 348
Veröffentlichungsjahr: 2024
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Für Asena und Mareike
„Um klar zu sehen, genügt oft ein Wechsel der Blickrichtung."
Antoine de Saint-Exupérie
Teil 1
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Teil 2
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Kapitel 35
Kapitel 36
Kapitel 37
Kapitel 38
Kapitel 39
Kapitel 40
Kapitel 41
Kapitel 42
Kapitel 43
Ein paar persönliche Worte und ein großes Dankeschön
Meine Beine waren längst eingeschlafen und meine Fingerknöchel schon ganz weiß, so fest hielt ich meine bis zum Kinn hochgezogenen Knie umklammert. Aber das bemerkte ich kaum, denn die Wut in meinem Bauch überdeckte jedes andere Gefühl.
Aus der Küche unten hörte ich das Geschrei meiner beiden fünfjährigen Schwestern. Langsam ließ ich meine Knie los, streckte meine schmerzenden Beine und drückte meine Hände auf beide Ohren. Warum nur war das Schicksal immer so ungerecht zu mir? Alle meine Freundinnen mussten sich nur mit einem kleinen Bruder oder einer kleinen Schwester herumschlagen, aber mich hatte es wieder einmal doppelt hart getroffen: ein Monster-Doppelpack! Unwillig schüttelte ich meinen Kopf. Anna und Lena waren im Moment wirklich nicht mein Hauptproblem. Und auch, dass ich mit meinen fast 14 Jahren von allen Erwachsenen immer noch wie ein Kind behandelt wurde, erschien mir heute unwichtig. Ich stieß einen tiefen Seufzer aus. Denn diesmal schien das Problem ein Ausmaß zu haben, an dem selbst ich zu scheitern drohte. Angestrengt versuchte ich, den Punkt zu finden, an dem alles aus dem Ruder gelaufen war.
Heute Morgen war doch noch alles perfekt gewesen. In der Schule waren die letzten beiden Stunden ausgefallen, die Klassenarbeit, für die ich gestern leider nicht hatte lernen können, weil ich abends noch so lange mit meiner besten Freundin Lotte gechattet hatte, war damit auch ausgefallen, und ich war bereits um halb eins zu Hause gewesen. Später kam Oma mit meinem Lieblingskuchen vorbei – Erdbeerkuchen mit Sahne! Der Tag hätte wirklich kaum besser laufen können bis, ja, bis Papa nach Hause kam.
Schon als er mit diesem breiten Grinsen in der Küche aufgetaucht war, schwante mir nichts Gutes. Mit fragendem Blick schob ich mir die letzte Gabel Kuchen in den Mund und versuchte, den Grund für Papas provokativ gute Laune zu entschlüsseln. Mama war bereits aufgestanden, um Papa ihren Willkommenskuss auf die Wange zu drücken.
„Na, Liebling, wie ist es gelaufen? Hattest du Erfolg?"
Papa arbeitet als Ingenieur in einem Unternehmen in Hannover und ist mehrmals im Monat einige Tage nicht zu Hause, um bei der Montage von Maschinen in anderen Städten dabei zu sein. Seit einiger Zeit war er aber mit seinem Einsatzbereich und vor allem mit den Außeneinsätzen nicht mehr zufrieden und suchte eine neue Herausforderung, die besser mit der Familie zu vereinbaren war. Heute hatte er deshalb mit seinem Chef sprechen wollen.
Ich fand es eigentlich gar nicht so schlimm, dass wir hin und wieder mit Mama alleine waren. Mama war Korrektorin und Übersetzerin und konnte ihre Arbeit gut von zu Hause aus erledigen. Sie war deshalb meistens da und hatte unser Leben super im Griff. Während ich bei Papa oft lange Erklärungen abgeben musste, verstand mich Mama fast immer auf Anhieb. Selbst mit den kleinen Nervensägen waren wir ein eingespieltes Team, hatten alle unsere Aufgaben, aber vor allem auch unsere Freiheiten. In unserem kleinen Reihenhaus hatte ich im Dachgeschoss ein Zimmer für mich ganz alleine, in das ich mich verkriechen konnte, wenn ich mal keine Lust auf den Rest der Familie hatte. Es hätte also nicht besser sein können. Aber die Situation, die jetzt eingetreten war, erforderte einen ganz neuen Plan.
Papa war nämlich tatsächlich erfolgreich gewesen – und wie!
„Ich habe die Möglichkeit, schon bald ein neues Projekt zu übernehmen, noch dazu ein sehr interessantes und gut bezahltes", erklärte er mit einem etwas unsicheren Lächeln. Doch obwohl dies ja nun wirklich eine sehr gute Nachricht war, schwebte ein großes, unausgesprochenes „ABER" über unseren Köpfen. Mama fasste sich als erste ein Herz und fragte zaghaft:
„Das hört sich ja toll an. Und was ist der Haken an der Sache?"
„Haken?", lachte Papa. „Was denn für ein Haken?" Papas Fröhlichkeit war einfach zu laut, um echt zu sein.
„Komm schon", sagte ich, „jetzt spuck es schon aus!"
„Spuck's aus, spuck's aus!", schrien jetzt auch Anna und Lena und rannten dabei um den Küchentisch.
„Na ja", setzte Papa zögernd an und räusperte sich. „Nun, wie soll ich sagen, meine neue Arbeitsstelle ist nicht gerade um die Ecke." Wieder lachte er, als hätte er den Witz des Jahrhunderts gemacht.
„Na und?", fragte ich, „wo ist das Problem? Dann stehst du eben ab jetzt ne Stunde früher auf, dann wirst du schon pünktlich da sein. So weit weg kann es ja nun auch nicht sein." Ich setzte eine entschlossene Miene auf und hatte das gute Gefühl, das Problem damit gelöst zu haben.
„Ein bisschen weiter ist es schon, um ehrlich zu sein. Um genau zu sein, ist mein neuer Arbeitsplatz gut 2000 km Luftlinie entfernt."
In meinem Kopf wurde der Rechner hochgefahren und es ratterte und rumpelte. Bis wohin kam man, wenn man einen 2000 km-Kreis um Hannover zog? Schreckliche Dinge fielen mir ein – die finnisch-russische Grenze, wir und ein paar Elche, oder vielleicht doch eher Ungarn? ... Egal, vielleicht ja auch Mallorca! Oder ist das doch weiter? Cool, morgens vor der Schule noch schnell ins Meer. Huch, wie gut sprechen die auf Mallorca eigentlich Deutsch? Aber noch ehe ich meine Gedanken zu Ende führen konnte, platzte es aus Papa heraus:
„Istanbul."
„Istanbul?" Mamas Gesicht war kurzzeitig ein einziger Ausdruck der Verblüffung.
„Oookay...", sagte sie gedehnt. "Istanbul..." Wieder eine Pause. Dann sah sie uns der Reihe nach an. „Hört sich doch – äh – nicht schlecht an, oder?", sagte sie wenig überzeugend.
„Is – am – buhl, klingt echt cool!"
Meine beiden nervigen Schwestern wollten sich über ihren eigenen Witz kugeln vor Lachen. Das Wort 'cool' hatten sie erst neulich bei einem Telefongespräch zwischen mir und Lotte aufgeschnappt und benutzten es seitdem bei jeder Gelegenheit.
„Dann wirst du wohl nur noch an den Wochenenden zu Hause sein, oder?", fragte ich. „Ich meine, dahin kann man wohl kaum eine Fahrgemeinschaft finden." Ich fühlte mich irgendwie nicht wohl bei der ganzen Geschichte und hoffte, dass Papas neue Arbeit und alle eventuellen Probleme damit mein Leben so wenig wie möglich durcheinander bringen würden. Gleichzeitig ahnte ich, dass das noch nicht alles gewesen ist, dass der dicke Hund noch hinterher kommen würde. Und richtig!
„Na ja", setzte Papa erneut an, „ich dachte eigentlich, dass wir gemeinsam....Ich meine, ich wollte doch jetzt mehr Zeit für euch haben und Mama arbeitet ja sowieso meistens von zu Hause aus." Dann sah er mich an und setzte nach: "Tolle Schulen gibt's doch auch in Istanbul. Außerdem ist mein Projekt ja sowieso befristet." Auf Mamas Stirn bildete sich eine steile Falte, weshalb Papa sofort nachsetzte: „Also, es wäre befristet, wenn ich denn zusagen würde."
Anna und Lena hatten wieder angefangen, um den Küchentisch zu rennen, Oma und Mama wechselten fragende Blicke und ich stieß meinen Stuhl wütend nach hinten und schrie:
„Das glaub ich jetzt echt nicht! Wir sollen hier alles stehen und liegen lassen, damit der Herr Ingenieur sich selbst verwirklichen kann, oder was? Ohne mich, mir reicht's!" Die letzten Worte klangen schon ziemlich erstickt, denn in meinem Hals steckte ein dicker Kloß. Noch bevor jemand sehen konnte, dass die ersten Tränen rollten, rannte ich aus der Küche, die Treppe hinauf und knallte meine Zimmertür hinter mir zu. Ich setzte mich in die hinterste Ecke meines Zimmers auf den Boden, zog die Knie bis unters Kinn und ließ meinen Tränen freien Lauf. Es war so ungerecht! Mich fragte mal wieder keiner! Ich wollte hier nicht weg. Was sollte denn mit Lotte werden? Wir wollten doch immer alles gemeinsam erleben. Und die Schule? Sollte ich jetzt etwa bei Hülya Türkisch-Unterricht nehmen, um in der neuen Schule irgendwas zu verstehen, oder was? Ich würde einfach abhauen, meine Sachen packen und verschwinden. Bei Lotte könnte ich bestimmt wohnen. Das würde toll werden. Tausende Gedanken schossen mir durch den Kopf, während unten in der Küche wild durcheinander geredet wurde, und alle scheinbar total begeistert von Papas Idee waren. Wie konnte Mama dem bloß zustimmen? Was sollte denn aus unserem Haus werden? Nein, ich musste irgendwas unternehmen!
Die nächsten Tage vergingen mit endlosen Diskussionen über die Vor- und Nachteile des Arbeitens und Lebens in Istanbul. Ich war nach wie vor entschlossen, egal, wie die Entscheidung auch ausfallen sollte, nicht von zu Hause wegzugehen. Gleich am nächsten Morgen nach Papas großem Auftritt in unserer Küche erzählte ich auf dem Weg zur Schule alles meiner Freundin Lotte. Auch sie war empört und entsetzt über diese verrückte Idee. Nicht zuletzt auch deshalb, weil ich für sie in der Schule oft der letzte Rettungsanker war, wenn sie mal wieder keine Antwort auf die Fragen der Lehrer wusste oder aber ihre Hausaufgaben nicht hatte machen können, weil bis spät in die Nacht angeblich Tante X und Onkel Y zu Besuch gewesen waren. Sofort sagte sie mir zu, dass ich auf jeden Fall bei ihr wohnen könnte. Ehre Eltern hätten da bestimmt nichts gegen. Nach diesem Gespräch war ich zwar etwas beruhigt, ahnte aber, dass Weglaufen und bei Lotte einziehen wohl nicht die richtige Lösung war.
Ein paar Tage später – ich kam mal wieder unerwartet etwas früher aus der Schule – öffnete ich die Wohnungstür und hörte Mama am Telefon mit jemandem sprechen.
„... nein, es wäre nicht unser gesamter Hausrat. Nein, nein, etwa ein halber Container würde uns locker reichen. Ja, genau, ein paar Kisten und einige Möbel. Nein, wir werden ja nicht so lange bleiben. Ach, ja, das genaue Datum würde ich Ihnen dann noch mitteilen. Gut! Dann verbleiben wir so. Tschüss." Unbemerkt war ich hinter Mama getreten, die sich jetzt erschrocken zu mir umsah.
„Wo kommst du denn schon her?", fragte sie und wollte mir einen Kuss auf die Wange drücken. Ich machte schnell einen Schritt zurück und schob sie mit ausgestreckten Armen von mir weg.
„Ach, so ist das! Hinter unserem Rücken ist das also alles schon beschlossene Sache. Toll, wie die Demokratie in dieser Familie funktioniert!" Noch bevor Mama etwas sagen konnte, war ich in meinem Zimmer verschwunden. Wütend und enttäuscht schmiss ich mich auf mein Bett. Bloß nicht schon wieder heulen, dachte ich. Langsam wurden meine roten Augen zum Dauerzustand, der nicht wirklich zu meinem besseren Aussehen beitrug. Da klopfte es leise an der Tür.
„Nettie, kann ich reinkommen?", fragte Mama hinter der geschlossenen Tür.
„Du fragst mich doch sonst auch nicht danach, was mir recht ist und was nicht", rief ich in mein Kissen und drehte mich zur Wand in der sicheren Erwartung, dass Mama jeden Augenblick in meinem Zimmer stehen würde. Und tatsächlich öffnete sich ganz vorsichtig die Tür und Mama lugte durch den entstandenen Türschlitz.
„Nettie, komm schon, lass uns reden! Die beiden Kurzen sind noch nicht da, lass uns die Zeit für ein Gespräch unter Großen nutzen." Hah! Die Tour kannte ich. Das machte sie immer, wenn sie etwas von mir wollte. Ganz plötzlich wurde ich „die Große". Wie ich das hasste! Nie war ich die Große, wenn es darum ging, abends mal bis 10 statt nur bis 9 wegbleiben zu dürfen.
„Ich hab keine Lust", sagte ich deshalb nur und blieb einfach liegen. Mama setzte sich jetzt vorsichtig auf meine Bettkante und streichelte mir über das Haar.
„Oh, nein! Jetzt bloß nicht weich werden!", rief ich mir zu. Obwohl ich schon fast 14 war, liebte ich es, mit Mama zu kuscheln, auf ihrem Schoß zu liegen und von ihr genau so getröstet zu werden, wie sie es jetzt gerade machte. Es war zum Verrücktwerden! Ich riss mich zusammen und drehte mich so würdevoll, wie es mir möglich war, langsam zu Mama um.
„Also? Was liegt an?", fragte ich möglichst cool.
„Nettie, ich habe mit Papa nächtelang alles hin und her gewendet. Es ist im Moment wirklich das Beste für uns, glaub mir. Wenn wir alle hierbleiben, kann Papa beruflich nicht weiterkommen und wäre bestimmt sehr unzufrieden. Zumal er dann noch häufiger von Zuhause weg wäre, weil er noch mehr Montagen übernehmen müsste. Würde Papa alleine nach Istanbul gehen, könnte er wahrscheinlich höchstens einmal im Monat nach Hause kommen. Unser Leben würde so oder so durcheinander geraten. Papa hat sogar darüber nachgedacht, sich in die Zweigstelle seiner Firma nach Stuttgart versetzen zu lassen. Da könnte er die Leitung einer Abteilung übernehmen und müsste nicht mehr auf Montage. Wir würden also so oder so weg von hier in eine andere Stadt ziehen. Und da ist es doch grad egal, ob wir nach Stuttgart oder Istanbul oder sonst wohin ziehen, oder?" Ich zog die Augenbrauen hoch.
„Das ist doch jetzt nicht dein Ernst", sagte ich ganz ruhig. „Egal, ob Stuttgart oder Istanbul? Hey, dazwischen liegen Welten. In Stuttgart spricht man ja wohl noch so was Ähnliches wie Deutsch, oder? Und wenn man will, kann man da sogar ohne Kopftuch rumlaufen, falls dir das was sagt!", rief ich jetzt zornig. Mama musste ein bisschen lachen.
„Auch in Istanbul dürfen wir ohne Kopftuch rumlaufen, mein Schatz. Und eine neue Sprache zu lernen, ist doch immer toll, oder etwa nicht?"
„Klar", gab ich ironisch zurück. „Türkisch ist ja eh ne Weltsprache, die braucht man immer mal. Hallo? Geht's noch? Wir reden hier von der Türkei und nicht von Amerika!", schrie ich Mama an. Ich saß hoch aufgerichtet im Bett, die Hände zu Fäusten geballt. Doch sie blieb ganz ruhig und lächelte mich an.
„Ich finde, wir sollten es einfach mal versuchen. Es ist ja ohnehin auf höchstens 2 Jahre begrenzt. In dieser Zeit können wir eine andere Sprache und Kultur kennenlernen. Wer weiß, wofür es gut ist und was sich in der Zwischenzeit so alles ergibt. In zwei Jahren gibt es für Papa dann vielleicht auch eine neue Perspektive in Hannover. Papa und ich haben uns jedenfalls entschieden: wir werden in 7 Wochen umziehen." Mit diesen Worten streichelte mir Mama nochmals über den Kopf, stand auf und ging leise aus dem Zimmer.
Ich blieb zurück mit meiner Wut im Bauch, meinem Kopf voller rasender Gedanken und mit einer fast unerträglichen Hilflosigkeit. Ich wusste in diesem Moment, dass es keinen Ausweg für mich gab. Ich war auf Gedeih und Verderb diesen beiden Menschen ausgeliefert, die immer behauptet hatten, mich zu lieben und immer nur mein Bestes zu wollen. Wenn es nicht so traurig gewesen wäre, hätte ich am liebsten laut gelacht. Mit voller Wucht warf ich mein Kopfkissen gegen die Tür, so dass diese mit einem leisen Flopp ins Schloss fiel. Unbefriedigt über dieses Ergebnis stand ich auf, öffnete die Tür und schmiss sie mit aller Kraft zu. Der Knall entlockte mir ein befriedigtes Nicken und ich sank erschöpft mit dem Rücken an der Tür hinab und blieb davor sitzen.
Als Papa am Abend nach Hause kam, war ich immer noch nicht wieder aus meinem Zimmer aufgetaucht. Ich hatte gehört, wie die Zwillinge nach Hause gekommen waren und lautstark von ihren Abenteuern im Kindergarten erzählt hatten. Später war Oma kurz da gewesen und hatte leise an meine Tür geklopft. Ich hatte nicht geantwortet. Auch als Mama mich später zum Essen gerufen hatte, hatte ich keine Antwort gegeben. Und jetzt saß ich immer noch am Boden hinter der Tür, meinen Kopf auf die Knie gestützt und sah zu, wie der Tag langsam zu Ende ging und sich Dunkelheit in meinem Zimmer ausbreitete. Unten hörte ich gedämpfte Stimmen aus der Küche. Mama schien Papa von unserer Auseinandersetzung zu erzählen. Dann öffnete sich die Küchentür und ich hörte, wie er sagte: „... einfach in Ruhe lassen. Sie braucht nur etwas Zeit."
„Pah! Zeit! Von wegen – ich werd mich niemals mit diesem Gedanken anfreunden. Da könnt ihr lange warten", murmelte ich vor mich hin. In diesem Moment erinnerte mich ein anderes, viel lauteres Murmeln aus meiner Magengegend daran, dass ich seit dem Frühstück nichts mehr gegessen hatte. Hungrig wartete ich noch ein paar Stunden ab. Niemand hatte noch mal nach mir gesehen, nur Papa hatte mir beim Zubettgehen ein „Gute Nacht, Große" durch die Tür zugeraunt.
Als endlich alles still war, schlich ich mich im Dunkeln nach unten in die Küche. Ich machte kein Licht an, denn ich wollte unbemerkt bleiben. Das Licht des geöffneten Kühlschranks reichte mir aus, um einen Teller, Besteck und ein Glas zu finden. Ich nahm mir Brot, Käse und Wurst aus dem Kühlschrank, zudem noch eine Flasche Apfelsaft, und setzte mich im Dunkeln an den Küchentisch. Ein fahles Licht fiel durch das Fenster auf den Tisch. Ich wollte gerade anfangen zu essen, als ich mir gegenüber auf dem Stuhl jemanden wahrnahm. Mit einem Satz sprang ich auf, stieß den Stuhl zurück und rannte zum Lichtschalter. Mein Herz klopfte bis zum Hals. Geblendet vom Licht verdeckte ich meine Augen mit der Hand und öffnete nur ganz langsam meine Finger, um durch sie hindurch einen Blick in die Küche zu werfen. Tatsächlich! Da saß jemand. Erleichtert stellte ich fest, dass es sich um Oma handelte.
„Oma", sagte ich, „du hast mich zu Tode erschreckt!"
„Na, na, na, nu übertreib mal nicht", lächelte sie, „ich dachte mir schon, dass du irgendwann Hunger bekommst und deshalb hab ich dir ein Stückchen Kuchen von heute Nachmittag aufbewahrt." Sie schob mir einen Teller hin. Ich ließ mich wieder auf meinen Stuhl plumpsen und fing an zu essen.
„Bwarm bsst de eichenlisch hör?", fragte ich mit vollem Mund über meinen Tellerrand hinweg. Oma schaute mich kopfschüttelnd an.
„Was hast du gesagt? Wann gewöhnst du dir endlich ab, mit vollem Mund zu sprechen? Das ziemt sich nicht für eine junge Dame." Ich verdrehte die Augen, kaute aus und fragte nochmals:
„Warum du eigentlich hier bist. Ich mein, alle sind doch schon im Bett, und es ist auch schon spät."
„Tja, ich wollte mit dir reden." Oh, nein, jetzt sollte ich schon wieder über diesen verfluchten Umzug reden. Warum konnten die mich nicht alle einfach in Ruhe lassen?
Oma setzte erneut an: „Weißt du, ich denke, dass ich euch alle schrecklich vermissen werde, wenn ihr wegzieht." Mir traten Tränen in die Augen. Richtig, daran hatte ich noch gar nicht gedacht. Wenn wir wegzögen, dann könnte ich auch Oma nicht mehr sehen. Sie wohnt gleich um die Ecke, nur 2 Minuten von uns entfernt, und ist eigentlich immer da. Manchmal, wenn wir Kinder uns mit Mama und Papa in der Wolle haben, laufen wir alle drei zu Oma rüber, erzählen ihr von unserem Ärger und dürfen dann auch oft bei ihr übernachten. Manchmal, wenn es zu Hause mal wieder zu chaotisch ist, gehe ich zu Oma, um bei ihr zu lernen oder Hausaufgaben zu machen. Später kuscheln wir uns gemeinsam unter die Oma-Decke und schauen uns etwas im Fernsehen an. Bei Oma gibt es immer was Leckeres zu essen, und sie macht den besten Erdbeerkuchen der Welt.
Nun begannen die Tränen zu rollen. Wieder stieß ich meinen Stuhl zurück, rannte um den Tisch zu Oma und umarmte sie, so fest ich konnte. Oma zog mich auf ihren Schoß und drückte mich an sich.
„Na, nu wein ma nich, min Lütten. De Türkens wern wa schon opp den Pott setten", lächelte Oma. Wenn sie gefühlsduselig wird, fängt sie meistens an, Plattdeutsch zu reden. Als sie mein fragendes Gesicht sah, winkte sie lachend ab.
„Ich wollte doch auch eigentlich nur sagen, dass ich mich entschlossen habe, mit euch nach Istanbul zu kommen. Was sollte ich denn sonst auch ohne euch den ganzen Tag hier machen? Und Istanbul...", sie zuckte mit den Achseln, „wollte ich schon immer mal sehen. Ein Märchen aus Tausend und einer Nacht." Verträumt sah sie an die Zimmerdecke. „Das hätte auch deinem Opa gefallen. Gott hab ihn selig."
Opa war vor 5 Jahren gestorben, weil er einfach schon viel zu alt war. So dachte ich zumindest damals, als ich noch klein war. Inzwischen wusste ich, dass er nach einer Grippe eine Lungenentzündung bekommen hatte und daran gestorben war.
Abrupt lehnte ich mich auf Omas Schoß zurück, zog geräuschvoll die Nase hoch und wischte mir mit dem Handrücken die Tränen aus dem Gesicht.
„Echt jetzt?"
Oma nickte. „Ja, echt jetzt." Beeindruckt sah ich sie an. Doch dann versteifte ich mich und zuckte betont gelangweilt die Schultern.
„Dann kannst du ja an meiner Stelle mitfahren. Ich habe nicht vor wegzuziehen", sagte ich trotzig und setzte mich wieder auf meinen Stuhl, zog meinen Teller heran und begann zu essen. Ich fühlte Omas Blick auf mir ruhen, starrte aber, ohne aufzuschauen, meinen Erdbeerkuchen an.
„Nettie?", versuchte es Oma nach einer Weile.
„Nein, Nein und nochmal Nein, Oma. Versuch es erst gar nicht. ICH WILL HIER NICHT WEG!" Ich hielt meinen Blick gesenkt und hatte meine Hände zu Fäusten geballt. Warum konnte dieses leidige Thema nicht endlich abgehakt sein?
„Du weißt schon, dass du nicht alleine hier bleiben kannst, oder?", fragte sie in ruhigem Ton.
„Dann bleib du doch mit mir hier." Begeistert von meiner Eingebung hob ich den Kopf und schaute Oma an.
"Und den Rest der Familie siehst du dann nur noch zweimal im Jahr? Meinst du, das würde dich glücklich machen?" Ich zuckte mit den Achseln.
„War ja nicht meine Idee, nach Istanbul zu ziehen. Da müssen wir dann halt alle durch. Ich will auf jeden Fall hier bleiben. Und das ist doch eine tolle Idee! Wir beide können es uns doch hier gemütlich machen...Bitte Oma, denk doch wenigstens darüber nach." Ich sah sie mit bettelndem Blick an.
„Nein, Nettie", sagte Oma kopfschüttelnd. „So eine große Verantwortung kann ich nicht übernehmen. Du gehörst zu deinen Eltern und Geschwistern."
Ich ließ meinen Kopf hängen und fing wieder an zu weinen. „Oma, du bist meine letzte Rettung. Biiitteeee, lass uns zusammen hier bleiben. Was soll denn aus der Schule, aus meinen Freunden, aus Lotte werden? Ihr könnt mich doch nicht so einfach aus meinem Leben reißen!" Die letzten Worte hatte ich geschrien. Dann legte ich erschöpft meinen Kopf auf die Tischplatte und schluchzte hemmungslos.
„Was ist denn hier los?" Hinter mir hörte ich Papas Stimme. Dann fühlte ich seine Hand auf meinem Kopf.
„Ach, Nettie. Mach es uns doch nicht so schwer. Es ist doch nur für zwei Jahre..." Er streichelte mir über den Kopf und zog dann nach einem Moment die Hand wieder weg, als ich nicht reagierte. Abgesehen von meinem Schniefen herrschte Stille in der Küche.
Nach einer Weile hob ich den Kopf und sah, dass Oma und Papa die Küche verlassen hatten. Ich fühlte mich alleingelassen, ungerecht behandelt und hilflos. Und niemand schien sich die Mühe machen zu wollen, sich bei mir zu entschuldigen, mich zu trösten oder mir wenigstens zu erklären, warum ich mein ganzes Leben auf den Kopf stellen sollte. Aus dem Wohnzimmer sah ich Licht. Anscheinend hatten sich Oma und Papa dorthin zurückgezogen. Aber so einfach wollte ich sie nicht davonkommen lassen. Und was sollte das überhaupt heißen, dass ich ihnen das Leben schwer machen würde. Wenn überhaupt, dann machten doch sie mein Leben schwer. Zwei Jahre! Das mochte ja für Papa wenig sein, für mich war es wie ein halbes Leben. Ich wollte eine Erklärung und so stapfte ich von der Küche ins Wohnzimmer, blieb in der Tür stehen und starrte Oma und Papa wütend an.
„Komm her." Oma klopfte freundlich lächelnd auf den Platz neben sich. Ich rührte mich nicht.
„Warum?", fragte ich nur und starrte die beiden weiter an.
„Was? Warum?" Papa sah mich irritiert an.
„Warum zerstörst du mein Leben?" Ich setzte mich neben der Tür auf den Boden und zog die Knie heran.
Mit ehrlicher Betroffenheit sah Papa mich nun an.
„Ich ... ich will doch nicht dein Leben zerstören! Nettie!" Er streckte die Arme nach mir aus, aber ich bewegte mich nicht.
„Okay, Nettie, dann müssen wir ernsthaft noch einmal darüber reden und die Sache eventuell abblasen. Ich habe wirklich nicht geahnt, wie schlimm dieser Umzug für dich ist." Unglücklich schüttelte er den Kopf. In mir zog sich etwas zusammen, als ich Papa dort so sitzen sah, und plötzlich tat er mir leid. Langsam stand ich auf und setzte mich zu den beiden aufs Sofa. Es war ein gutes Gefühl, endlich ernst genommen zu werden. Gleichzeitig fühlte ich eine schwere Last auf meinen Schultern. Das erste Mal hatte ich das Gefühl, Verantwortung für eine wirklich große Sache übernehmen zu müssen.
„Na ja", begann ich zögerlich. „Zerstören war jetzt vielleicht auch ein bisschen übertrieben. Aber es stimmt schon auch ein bisschen. Irgendwie habe ich mir ja einen Platz in meinem Leben erkämpft, den ich jetzt aufgeben muss. Ohne dass ich die Möglichkeit hätte, daran irgendetwas zu ändern. Das fühlt sich schon ziemlich ungerecht an." Ich musste ein wenig in mich hineingrinsen in Anbetracht dieser Worte, die so erwachsen klangen und so gar nicht zu mir zu passen schienen. Auch Papa sah mich verwundert an, als wäre ihm gerade zum ersten Mal aufgefallen, dass ich nicht mehr 10 Jahre alt bin. Er nickte.
„Du hast Recht. Das Ganze ist schon ziemlich egoistisch von mir, aber ich dachte wirklich, dass es auch eine besondere Zeit für uns alle werden könnte. Dass das eine Erfahrung sein würde, von der wir alle profitieren könnten." Er zuckte mit den Schultern. „Aber anscheinend habe ich dabei vergessen, dass du inzwischen kein kleines Kind mehr bist, über dessen Leben in erster Linie wir zu entscheiden haben." Bei diesem Eingeständnis merkte ich zu meiner Verblüffung, wie mein innerer Widerstand in sich zusammenfiel und ich der Idee von diesem Umzug zum ersten Mal eine echte Chance gab.
„Vielleicht hast ja auch du Recht, Papa. Vielleicht könnten wir wirklich alle davon profitieren." Wir sahen uns mit ernster Miene an. Nach einigen Sekunden der Stille schaltete sich nun auch Oma wieder ein.
„Was haltet ihr davon, wenn wir diese Entscheidung auf morgen vertagen? Ich bin jetzt wirklich müde, und es wäre sicher gut für dich, Nettie, wenn du nochmal eine Nacht darüber schlafen könntest." Papa nickte ernst, aber ich schüttelte nun vehement den Kopf. Ich wusste selbst nicht warum, aber plötzlich hatte ich das Gefühl, dass ich meine Ablehnung gegenüber dem Umzug nun aufgeben konnte. Ich fühlte mich so unglaublich erleichtert, endlich nicht mehr allein gegen alle kämpfen zu müssen. Und die schwere Last, für so eine weitreichende Entscheidung verantwortlich zu sein, wollte ich nun auch so schnell wie möglich abschütteln.
„Nein, ich glaube, das brauche ich nicht." Ich machte eine kurze Pause. „Dann lasst uns halt alle nach Istanbul ziehen", sagte ich feierlich und konnte die Erleichterung und Freude in den Gesichtern von Oma und Papa sehen. „Aber nur für zwei Jahre ....und ... falls es überhaupt nicht klappen sollte mit dem Leben im Orient, dann können wir doch immer die Reißleine ziehen, oder?", schob ich sicherheitshalber hinterher. Beide nickten und lächelten.
Am nächsten Tag hätte ich fast verschlafen, und auch die anderen krochen erst spät aus ihren Betten. Nach einem schnellen Frühstück machte ich mich auf den Weg in die Schule und überlegte, wie ich Lotte erzählen sollte, dass ich nun doch mit nach Istanbul gehen würde. Während ich noch in Gedanken versunken Richtung Schule trottete, sprang mir plötzlich jemand von hinten auf die Schultern und riss mich an meinem Rucksack fast zu Boden.
„Spinnst du?", schrie ich und drehte mich schnell um. Lotte grinste mich von einem Ohr zum anderen an.
„Moin!", sagte sie, „hast wohl schlecht geschlafen." Ich fühlte mich irgendwie ertappt und gar nicht wohl in meiner Haut.
„Nee", sagte ich, „hab zu wenig geschlafen." Lotte sah mich fragend an, und mir blieb nichts anderes übrig, als ihr alles ganz genau zu erzählen. Lottes Gesichtsausdruck wandelte sich von Empörung über Zustimmung zu Missbilligung.
„Was?", schrie sie schließlich, „du Verräterin! Und ich hatte dir schon eine Ecke in meinem Zimmer freigeräumt. Ey, ich hatte mal ne Freundin. Dann hau doch ab!". Mit diesen Worten ließ sie mich stehen und bahnte sich wütend einen Weg durch die Menge zu unserer Klasse. Wir waren inzwischen bei der Schule angekommen, und die Schüler, die sich vor dem Schultor noch unterhielten, drehten sich alle neugierig zu mir um. Ich hob ratlos meine Arme hoch und folgte Lotte in unseren Klassenraum. Sie hatte sich inzwischen in die freie, hinterste Reihe gesetzt und unterhielt sich demonstrativ mit Hannes. Ausgerechnet mit dem blöden Hannes, den wir noch nie hatten leiden konnten. Bedrückt ging ich zu unserem Sitzplatz in der dritten Reihe und guckte traurig auf den leeren Platz neben mir. Ich drehte mich noch einmal zu Lotte um, aber die schmiss ihren Kopf zurück und drehte ihn provokativ zur anderen Seite. Ich wollte gerade aufstehen, um mit ihr zu reden, da klingelte es und unsere Mathelehrerin Frau Kuschebück rauschte auf den Lehrerpult zu. Wir standen zur Begrüßung auf und als wir uns wieder gesetzt hatten, bemerkte Frau Kuschebück mit hochgezogenen Augenbrauen den leeren Platz neben mir.
„Krank?", fragte sie mich. Ich schüttelte den Kopf und wies nach hinten in die letzte Reihe. „Ach, so. Zickenkrieg", sagte sie jetzt nur und begann mit dem Unterricht.
Obwohl Mathe mein Lieblingsfach ist, konnte ich mich heute nicht auf den Unterricht konzentrieren. Die ganze Zeit musste ich an Lotte denken. Wie sollte ich das bloß je wieder hinkriegen? Hatte ich jetzt meine beste Freundin verloren? Ein verstohlener Blick nach hinten verriet mir, dass auch Lotte nicht bei der Sache war. Aber das war eigentlich nicht so sehr verwunderlich, denn Mathe war für Lotte etwa so wie Chinesisch. Sie verstand kein Wort. Deshalb war es immer so gut, wenn sie neben mir saß. Wir hatten uns inzwischen gute Techniken ausgedacht, mit denen ich Lotte vorsagen konnte, ohne dass es jemand bemerkte. Sie half mir dafür in Geschichte, denn damit hatte ich nun so überhaupt nichts am Hut. Kurz gesagt: wir waren ein unschlagbares Team. Sollte das denn jetzt einfach so vorbei sein?
Ich war so sehr in Gedanken versunken, dass ich das herannahende Unheil erst bemerkte, als es bereits auf meinen Schultisch niedersauste. Frau Kuschebück hatte nämlich nicht nur einen komischen Namen, sondern auch sehr merkwürdige Angewohnheiten, wenn es darum ging, sich Aufmerksamkeit zu verschaffen. Leise und zur Freude sämtlicher Mitschüler schlich sie sich an ihr Opfer heran und ließ dann ihr Lineal mit voller Wucht auf den Schultisch desselben niedersausen, um sich dann an seinem Erschrecken zu weiden. So auch bei mir. Ich erschreckte mich so dermaßen, dass ich mit meinem Stuhl nach hinten umkippte und mir dabei meinen Kopf am Tisch hinter mir heftig anstieß. Mit einer Hand griff ich mir an die schmerzende Stelle, mit der anderen versuchte ich, mich wieder hochzuziehen. Während rings um mich herum ein ohrenbetäubendes Gelächter losbrandete, beugte sich Frau Kuschebück zunächst leicht besorgt über mich und sagte dann mit spöttischem Tonfall:
„Na, du scheinst wohl letzte Nacht keinen Schlaf bekommen zu haben. Vielleicht solltest du gleich liegenbleiben." Damit wandte sie sich ab und ging zurück zum Lehrerpult. Wieder lachte die ganze Klasse, und ich schloss die Augen und hoffte, die Erde würde sich auftun. Aber stattdessen zog mich ein kräftiger Arm nach oben, und als ich die Augen wieder öffnete, guckte ich in das zerknirschte Gesicht meiner besten Freundin.
„Tut mir leid", quetschte sie zwischen den Zähnen hervor, während sie mit einem gekonnten Wurf ihre Schultasche an mir vorbei auf ihren Platz warf. „War meine Schuld, hätte nicht so blöd reagieren dürfen", flüsterte sie leise, als plötzlich etwas vor uns aufspritzte. Vor uns auf dem Tisch war ein pitschnasser Schwamm gelandet. Überrascht schauten wir auf und in das bedrohliche Gesicht unserer Lehrerin.
„Mit eurem freundlichen Einverständnis würde ich jetzt gerne mit dem Unterricht fortfahren." Ihr freundlicher Ton stand in krassem Widerspruch zu ihrem Gesichtsausdruck und wir hielten es für besser, den Rest der Stunde unauffällig auf unseren Plätzen auszuharren.
So verging dieser Schultag ohne weitere Vorkommnisse. Auf dem Heimweg liefen Lotte und ich wie gewohnt untergehakt gemeinsam nach Hause. Wir hatten bereits in der ersten großen Pause unser Kriegsbeil begraben und stattdessen beschlossen, unsere Freundschaft gegen alle Widrigkeiten des Lebens aufrecht zu erhalten. Sogar den ersten Besuchstermin von Lotte hatten wir schon festgelegt: die Herbstferien. Ich freute mich jetzt schon drauf, obwohl vor uns doch erst mal die Sommerferien lagen. Und zum ersten Mal musste ich mir dieses Jahr keine Gedanken über unseren Urlaub machen, denn in diesem Sommer würden wir umziehen. In ein Land, wo andere Urlaub machten. Und zu meiner Überraschung merkte ich im Bauch ein kleines aufgeregtes Kribbeln, wenn ich an den bevorstehenden Umzug dachte.
Als ich zu Hause ankam, stellte ich fest, dass hier die Vorbereitungen schon in vollem Gange waren. Mama hatte am Vormittag bei verschiedenen Supermärkten Kartons und Kisten besorgt, die den gesamten Flur entlang an der Wand gestapelt standen. Als ich ins Wohnzimmer schaute, stand Mama mit roten Wangen und zerwuscheltem Haar vor unserem Wohnzimmerschrank und war damit beschäftigt, unser gutes Geschirr in Zeitungspapier einzuschlagen. Auf dem Tisch stapelten sich schon mehrere kleine Zeitungspakete.
„Wow", sagte ich, „du bist ja schon richtig fleißig."
„Ja", sagte Mama, „man kann ja auch nicht früh genug anfangen. Und dieses Geschirr benutzen wir ja eh fast nie. Das wollte ich schon lange mal in Kisten verpacken, damit ich ein bisschen Platz im Schrank kriege. Wenn du willst, kannst du mir ja ein bisschen helfen." Ich hatte es plötzlich sehr eilig, brummelte etwas von Hunger und Hausaufgaben und verschwand in der Küche. Auf dem Herd stand ein Topf. Ich lüftete den Deckel und schaute hinein. Linseneintopf mit Würstchen.
„Lecker", dachte ich und schaltete die Herdplatte an, um das Essen aufzuwärmen. Schwer ließ ich mich auf einen Küchenstuhl plumpsen und schaute mich ein wenig wehmütig um. Unsere Küche – was hatte sie nicht schon alles mit uns mitgemacht! Wie das wohl in Istanbul werden wird? Wieder kribbelte es, aber diesmal fühlte es sich weniger nach Vorfreude als nach ängstlicher Aufregung an.
Noch 10 Tage bis zu den Sommerferien. Wir saßen alle fünf im Auto und waren auf dem Weg zum Flughafen. Als erster sollte Papa heute losfliegen, um unsere Wohnung in Augenschein und unsere vor drei Wochen auf den Weg geschickten Möbel und Kisten in Empfang zu nehmen. Wir hatten schon von Bekannten gehört, dass es am Zoll manchmal ziemlich lange dauern könnte, bis man seine Sachen endlich bekommen würde.
Wir sollten eine Wohnung in einem schönen Altbau in der Istanbuler Altstadt beziehen, die mit 140 m2 sogar größer war als unser kleines Reihenhaus. Aber schließlich brauchten wir ja auch viel Platz für uns und Oma.
Obwohl die Zwillinge während der Fahrt ununterbrochen plapperten, war ich ganz in Gedanken versunken und bemerkte kaum, dass wir schon fast am Flughafen waren.
„Papa, bitte lass uns mitkommen", nörgelte Lena gerade, als ich wieder im Hier und Jetzt auftauchte. Papa lachte, drehte sich ein Stück zu ihr um und struwwelte ihr durch die Haare. „Und wer soll dann Mama helfen?", fragte er.
„Das kann doch Nettie machen", sagte jetzt Anna, „die ist ja schon groß." Ich stieß Anna mit dem Ellenbogen in die Seite und sagte grinsend: „Genau, und deshalb darf ich auch heute mit Papa mit und ihr müsst hier bleiben."
„Das ist gemein!", fingen Lena und Anna gleichzeitig an zu schreien. Mama warf mir einen missbilligenden Blick zu und beschwichtigte die Zwillinge.
„Keiner von euch darf heute mit. Wir fliegen ja sowieso in zwei Wochen hinterher. So, und jetzt will ich nichts mehr von euch hören. Papa muss sich konzentrieren." Sie drehte sich nach vorne und zeigte Papa einen freien Parkplatz.
Nachdem wir Papas Gepäck abgegeben hatten und die Zwillinge ungefähr 20 Mal hin und her durch das Flughafengebäude gerannt waren, nutzten wir die verbleibende Zeit, um noch ein Eis zu essen. Obwohl ringsherum ein reges Treiben herrschte, stellte sich bei uns plötzlich eine merkwürdige Stille ein. Jetzt wurde es also wirklich ernst, der erste Schritt in unser neues Leben begann. Papa versuchte, uns aufzuheitern, indem er von dem schönen Wetter schwärmte, das uns in Istanbul erwarten würde. Denn obwohl unser Kalender eigentlich auf Hochsommer stand, regnete es draußen mal wieder. Aber trotz aller Bemühungen wollte einfach keine Stimmung aufkommen. Endlich musste Papa los, und ich war fast froh, dass wir uns nun verabschieden und erst mal wieder nach Hause fahren konnten.
Aber zu Hause angekommen, empfing uns auch hier nichts als Chaos. Ein Teil unserer Sachen befand sich bereits auf dem Weg nach Istanbul, und die Dinge, die wir nicht mit nach Istanbul nehmen wollten, standen in Kisten verpackt ungeordnet in den Zimmern herum. Die Schränke hatten wir leer geräumt, weil wir das Haus in der Zwischenzeit vielleicht vermieten wollten.
Während sich die Zwillinge, Mama und Oma an mir vorbei drückten, war ich wie angewurzelt im Flur stehen geblieben. In meinem Hals bildete sich ein dicker Kloß und ich merkte, dass ich die Tränen nicht würde unterdrücken können. Mama, die meine bedrückte Stimmung bemerkt hatte, rauschte mit übertriebenem Elan an mir vorbei in die Küche. „Nettie, komm doch mal, ich mach uns erst mal eine schöne Tasse Kakao!"
„Au ja!", schrien die Zwillinge und unterbrachen ihr Wettrennen durch die fast leere Wohnung, um einen Endspurt in die Küche einzulegen, bei dem sie mich fast umgerannt hätten.
„Und dann machen wir unsere Wohnung wieder ein bisschen gemütlich", rief Mama aus der Küche. Ich aber stand immer noch an der gleichen Stelle und wollte plötzlich nur noch weg.
„Ich muss noch mal schnell zu Lotte", sagte ich deshalb nur, drehte mich um und war auch schon draußen, bevor Mama überhaupt etwas sagen konnte. Als ich unten vorm Haus stand, atmete ich tief durch. Regen tropfte in den Kragen meiner Jeansjacke und lief mir über die Haare ins Gesicht. Während sich auf meinem Gesicht der Regen mit den Tränen mischte, rannte ich den Bürgersteig entlang, vorbei an so vielen bekannten und liebgewordenen Orten, an denen ich bisher immer so achtlos vorbei gegangen war. Nie war mir mein Zuhause schöner vorgekommen als heute, und mir wurde schmerzlich bewusst, dass ich all dies nun lange Zeit nicht mehr sehen würde. Aber – hatte ich es hier nicht immer grau und trostlos gefunden und mir immer gewünscht, endlich von hier wegzukommen und mal im Süden leben zu können?
„Ja, schon", gab ich mir selber Recht, „aber doch nicht schon so bald." Nicht an einem Tag, an dem Papa in unser neues Leben aufgebrochen war, und wir hier mit unserem alten noch nicht ganz fertig waren! Bevor mich die Schwermut noch ganz übermannen konnte, erreichte ich endlich Lottes Haus. Hier hatte ich es immer schön gefunden, denn Lotte und ihre Eltern wohnten in einem kleinen Einfamilienhaus mit einem weißen Zaun rundherum. Vor der Haustür gab es einen kleinen, etwas ungepflegten Blumengarten unterbrochen von verschiedenen Büschen, von deren Blättern nun der Regen auf die Blumen tropfte. Immer noch aus der Puste ging ich den Gartenweg entlang, nahm die drei Treppenstufen wie immer mit einem Schritt, schüttelte mir den Regen aus den Haaren und klingelte. Nichts! Es passierte nichts.
„Nein!", schrie ich innerlich, das durfte nicht wahr sein. Wenn man seine Freundin mal brauchte, da war sie nicht da. Aber da öffnete sich plötzlich die Haustür und Lotte steckte ihren Kopf heraus.
„Ach, du bist es", sagte sie und drehte sich schon wieder um. „Komm rein! Is' dein Vater schon weg?", wollte sie wissen.
„Ja, schon vor 'ner Stunde. Zu Hause hab ich's nicht mehr ausgehalten... na ja." Ich lachte etwas verlegen. Lotte ging an mir vorbei in die Küche. Tagsüber ist sie immer allein zu Hause, weil ihre Eltern arbeiten und sie keine Geschwister hat.
„Willste was trinken? Oder vielleicht lieber erst mal was Trockenes anziehen?". Sie grinste und zeigte auf meine Füße, die in einer Pfütze standen.
Nachdem sie mir eine Jogginghose und ein T-Shirt gegeben hatte, saß ich nun mit einem Handtuch um den Kopf auf dem Sofa. Lotte war bereits wieder in der Küche verschwunden und füllte zwei Gläser mit Apfelsaft-Schorle. Dann holte sie eine Tüte Chips aus dem Schrank, stellte alles auf ein Tablett und kam zu mir ins Wohnzimmer. Auf dem Tisch stand Lottes Laptop, auf dem sie über die großen Boxen ihrer Eltern laut Musik laufen ließ. Lotte warf sich neben mich auf das Sofa, machte die Musik leiser und stellte das Tablett zwischen uns.
„Noch gut 'ne Woche", sagte sie und sah mich dabei an, „dann biste weg." Ich nickte nur und wusste nicht, was ich sagen sollte. Vielleicht war es doch keine gute Idee gewesen, hierher zu kommen.
„Was machst du denn in den Ferien?", fragte ich deshalb ein wenig hilflos. Lotte verdrehte die Augen.
„Euch beim Umzug helfen...? Meine Eltern kriegen erst in den letzten beiden Ferienwochen Urlaub. Bis dahin... Langeweile wahrscheinlich." Ich verzog meinen Mund und nickte wieder. Eine Weile sagte niemand etwas, wir aßen schweigend ein paar Chips, als mir plötzlich eine Idee kam.
„Hey, na klar!", rief ich, „das ist es!" Lotte tippte sich mit ihrem rechten Zeigefinger an die Stirn, während sie mit der linken Hand versuchte, das schwankende Tablett festzuhalten, das ich beim Aufspringen beinahe umgeworfen hätte. Sie zog die Augenbrauen hoch und sah mich etwas mitleidig an.
„Alles klar bei dir oder soll ich vielleicht einen Arzt holen?"