Arkham Horror: Der Kult der Spinnenkönigin - S.A. Sidor - E-Book

Arkham Horror: Der Kult der Spinnenkönigin E-Book

S.A. Sidor

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Beschreibung

Ein uralter Schrecken tief im Dschungel des Amazonas spinnt ein Netz von Albträumen, um die Seelen von Abenteurern und Forschern zu umgarnen.   Als Andy van Nortwick, Reporter des Arkham Advertiser, mit der Post eine mysteriöse Filmrolle erhält, auf der eine einfache Notiz steht: »Maude Brion ist sehr lebendig!«, begibt er sich auf eine Reise, die ihn an den Rand des Wahnsinns führen wird. Brion, die berühmte Schauspielerin und Filmregisseurin, verschwand vor einem Jahr auf einer verunglückten Expedition in den Amazonas-Regenwald, um die Legende der Spinnenkönigin zu erforschen. Aufgestachelt durch die Aussicht auf seinen großen Durchbruch beschafft Nortwick die Mittel, um eine Rettungsmission zu starten. Er stellt ein Team von Forschern und einem begeisterten Völkerkundler zusammen, um Brion zurückzubringen und sich einen Namen zu machen. Doch tief im Dschungel des Amazonas verschwimmen die Grenzen zwischen unerschrockenen Abenteurern, Träumern und wahnsinnigen Fanatikern in einem Netz des Schreckens.

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ARKHAMHORROR

DERKULTDERSPINNENKÖNIGIN

S.A. SIDOR

Ins Deutsche übertragen von

BERND PERPLIES

Die deutsche Ausgabe von ARKHAM HORROR: DER KULT DER SPINNENKÖNIGINwird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg.

Inh. Andreas Mergenthaler; Verlagsleitung: Luciana Bawidamann; Übersetzung: Bernd Perplies; Programmleitung Romane/Sachbücher: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: Daniel Strange; Layout: Sina Keller; Leitung Produktion/Grafik: Elke Epple; Leitung Vertrieb: Peter Sowade; Marketing: Jana Rahders; Druck: Print-Ausgabe gedruckt von CPI book GmbH, Leck. Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

ARKHAM HORROR: CULT OF THE SPIDER QUEEN

First published by Aconyte Books in 2021

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

Copyright © 2021 Fantasy Flight Games. All rights reserved.

Arkham Horror and the FFG logo are trademarks of Asmodee Group or affiliates.

German translation copyright © 2022 Cross Cult.

Print ISBN 978-3-98666-002-4 (Dezember 2022)

E-Book ISBN 978-3-98666-003-1 (Dezember 2022)

WWW.CROSS-CULT.DE

Inhalt

1927

1 Achtung! Für Andy!

2 Etwas mehr als nur Neugierde

3 Eine eigentümliche Entwicklung

4 Der Dschungel

5 Filmpalast

6 Maudes Reise

7 Tinte und Gold

8 Iris

9 Ursula & Jake

10 Sie kriecht

11 Reise voller Zweifel

12 Zwei Leben

13 Manaus

14 Knarren & Bananen

15 Der Magier

16 Der Margay

17 Folge dem Traum

18 Nicht hier, um auf Nummer sicher zu gehen

19 Der Teil des Traums, den sie nicht laut aussprach

20 Die linke Abzweigung

21 Der Preis

22 O Lago

23 Kristallklar

24 Ein wahrer Gläubiger

25 Die weiße Flagge

26 Der neue Galton

27 Der Margay kehrt zurück

28 Eine halbe Stunde

29 Eingesponnen

30 Eine zweite Bäckerin

31 Kronleuchter des Todes

32 Eine Intelligenz

33 Etwas Stärkeres

34 Das Hopkins-Interview

35 Blaue Blitze

36 Die Galeere

37 Der Biss

38 Feinste Rubine

39 Was würde Ursula tun?

40 Blutegel

41 Eine verschlossene Kabine

42 Netze

43 Die Goldmine

44 Aufrechte Würmer

45 Kehrtwendung

46 Ein Toast

47 Unendliches Grün

48 Die Spinnenflut

49 Gesellschaft der Marionetten

50 Der Fall

51 Was wäre, wenn…?

52 Die Landzunge

53 Wirbelnde Lichter

54 Leerer Löffel

55 Ein Schiff

56 Ein Stummfilm

57 Der Teil, den Andy vergessen hat

58 Fürs Protokoll

59 Angriff bei Nacht

60 Opferungsnetz

61 Maudes Filmtrick

62 Der Strang

63 Sie tötet

64 Der Faden einer Spinne

65 Fackelschein

66 Blassgelb

1927

1

Achtung! Für Andy!

Das Paket war nicht für ihn bestimmt. Andy bekam nie Post bei der Zeitung. Er stand nicht hoch genug in der Redaktionshierarchie und das würde wohl auch nie der Fall sein, nicht bei der Art von Geschichten, die ihm in der Regel zugewiesen wurden. An diesem verschlafenen, tristen Montagmorgen nun wanderte er gerade gelangweilt mit einer Tasse heißem Kaffee in der Hand durch die Poststelle und beklagte genau diesen Umstand, als er ein seltsames Paket auf dem Sortiertisch bemerkte. Die Größe selbst war nicht ungewöhnlich. Rund und flach wie eine Pralinenschachtel. Was ihm jedoch auffiel, war das Aussehen der Verpackung. Das Paket wirkte, als hätte es eine weite Reise hinter sich: vergilbtes Packpapier, regenfleckig, an den Rändern angestoßen und mit einer dunklen, schimmeligen Schnur verschnürt. Dazu viele rote Briefmarken und ein bemerkenswerter Poststempel.

Von irgendwo aus Brasilien? Stand das da wirklich?

Andy beugte sich vor und drehte die Schachtel, um besser lesen zu können.

Verdammt, er hatte recht.

Manaus, Amazonas, Brasilien.

In der Absenderadresse wurden weder Name noch Straße genannt. Auch die Adresse des Advertisers war allgemein gehalten, ohne die Anweisung, das Paket an einen bestimmten Redakteur oder Reporter weiterzuleiten.

Nur ein Wort stand da: ACHTUNG!

Und darunter gekritzelt: BITTE SOFORT ÖFFNEN! DRINGEND!

Hm … das war interessant. Wer im Amazonasdschungel würde Post an den Arkham Advertiser im kühlen, alten, düsteren Neuengland schicken? Er hob das Paket am Rand an. Schwer. Ein Pappkarton mit Süßigkeiten war ausgeschlossen. Eher eine Blechkiste mit irgendetwas darin.

Aber was?

Er war versucht, das Paket kräftig zu schütteln. Das hätte ihm vielleicht einen Hinweis gegeben …

»Kann ich Ihnen helfen, junger Mann?« Der Poststellenleiter war ein Herr mittleren Alters mit einem präzise getrimmten Schnurrbart und einer Fliege, die aussah, als hätte sie ein Würger gebunden. Seine Augen quollen hervor.

Andy erschrak und verschüttete fast seinen Kaffee. Der junge Reporter hatte so sehr auf das Paket gestarrt, dass ihm nicht aufgefallen war, wie sich der andere Mann genähert hatte. An dem überfüllten Tisch standen sie sich gegenüber. Der Mann blickte ihn frostig an.

»Hallo, ich bin Andy Van Nortwick. Ich arbeite oben.«

Keine Antwort.

Seit fast einem Jahr war er bei der Zeitung angestellt. Viel länger, wenn man seine Zeit als Zeitungsjunge mitrechnete, während der er frühmorgens die Straßen von Arkham rauf und runter geradelt war. Damals hatte sich gerade Hauszustellung durchgesetzt. Er hatte seine Papierbündel auf Veranden und Treppen geworfen und dabei seinen Shortstop-Arm trainiert.

»Ich wette, Sie haben mich schon mal gesehen, oder?«, versuchte es Andy erneut.

»Nein.«

Enttäuscht blickte Andy zu Boden. »Ich versuche, mich unauffällig zu verhalten, damit ich andere beobachten kann. So macht das ein richtiger Reporter. Niemals der großen Story in die Quere kommen. Darin muss ich wohl gut sein.«

»Sie könnten besser sein«, erwiderte der Poststellenleiter. Seine Augen verengten sich zu Schlitzen.

Andy wollte sich gerade entschuldigen, als ihm eine verrückte Idee durch den Kopf schoss.

»Sagen Sie mal, ich habe mich gefragt: Wo ich schon mal hier unten bin, haben Sie vielleicht etwas, das ich nach oben bringen kann? Das erspart Ihnen später einen Weg.« Andy lächelte. Sein Daumen zupfte an der Paketschnur. Er hoffte, dass es nicht zu auffällig war. Aber er verspürte ein plötzliches Verlangen danach, zu erfahren, was in der Schachtel war.

Er musste es wissen.

»Ich bin noch nicht fertig mit dem Sortieren.« Die Miene des Mannes wurde ein wenig milder. »Montags ist es schlimm. Die Samstagsbesetzung ist eine absolute Katastrophe. Was auf dem Tisch steht, sind ihre Reste. Wer weiß, was die treiben, außer sich redlich Mühe zu geben, die Liste meiner Aufgaben zu verlängern? Die Post von heute ist noch nicht mal eingetroffen.«

Die Klingel über der Tür läutete. Ein uniformierter Mann, der einen Postsack geschultert hatte, trat ein.

»Wenn man vom Teufel spricht. Bin gleich bei dir, Ed.« Der Poststellenleiter mit der Fliege wandte sich dem Schalter zu, der dem öffentlichen Eingang des Advertiser-Gebäudes in der Armitage Street zugewandt war. »›Weder Schnee noch Regen noch das Dunkel der Nacht‹, wie man sagt. Wussten Sie, dass dieses Zitat von Herodot stammt?«

»Der alte Grieche muss das Herz eines Briefträgers gehabt haben«, sagte Ed. Von seiner Mütze tropfte Regen und seine Wolluniform roch muffig. Eine Böe Novemberwind ließ das Papier in der Poststelle rascheln.

Andy fröstelte. Junge, er war nicht bereit für einen weiteren langen, kalten Winter, in dem man im Haus festsaß.

Er hatte eine Vorahnung, was das brasilianische Paket betraf. Sein Bauchgefühl sagte ihm, dass es eine heiße Geschichte enthielt. Diese Chance wollte er auf keinen Fall ungenutzt verstreichen lassen. Noch weniger wollte er dabei zusehen, wie sie an einen der Schreiberlinge von oben weitergereicht wurde, die heimlich am Whiskey aus ihren Schreibtischschubladen nippten, auf ekligen Zigarren herumkauten und ihn wie einen Niemand behandelten.

Als die beiden anderen Männer sich auf die andere Seite der Poststelle begaben, griff Andy nach dem Bleistift hinter seinem Ohr. Ohne einen Moment zu zögern – denn hätte er länger darüber nachgedacht, hätte er vermutlich die Nerven verloren –, beugte er sich über das Paket und notierte schnell eine Ergänzung zur Adresse.

Jetzt stand dort: ACHTUNG! ANDY VAN NORTWICK, JOURNALIST!

So ist es schon besser, dachte er.

Ein kleines Problem blieb allerdings.

Seine Ergänzung stimmte nicht mit dem Rest der Adresse überein, die mit Tinte geschrieben war. Aber die Schrift war verblasst, als hätte das Paket auf einem tropischen Dock in der Sonne gelegen, bevor man es in den undichten Frachtraum eines nach Norden schippernden Frachters geworfen hatte, wo wochenlang Ratten drüber hinweggetrippelt waren. Andy tauchte seinen Finger in den Rest seines Kaffees und verschmierte einen Tropfen auf seinen Namen. Alles andere als perfekt. Aber die Buchstaben verdunkelten sich. Auffällig genug, um noch bemerkt zu werden, aber nicht so sehr, dass es Verdacht erregt hätte. Er schob das Paket zwischen zwei Stapel mit Umschlägen.

Dann ging er nach oben, um auf seine große Chance zu warten.

2

Etwas mehr als nur Neugierde

Andy teilte sich einen Schreibtisch mit dem bekanntesten Sportjournalisten des Advertisers. Sean »Red« Phelan hatte noch einen zweiten Schreibtisch unter seinen sportbegeisterten Kumpanen, wo sie über Baseball, Pferderennen und Boxer plauderten. Der Schreibtisch, den Red mit Andy gemeinsam nutzte, war der Ort, an den er sich zurückzog, um von den Jungs wegzukommen. Das bedeutete, dass Andy einen anderen Platz finden musste, an den er sich verziehen konnte, wann immer Red einen Abgabetermin einhalten oder nach einer durchzechten Nacht schlafen musste. Ihr Schreibtisch war praktisch hinter einer Säule versteckt.

Im Moment hatte ihn Andy für sich allein.

Er lehnte sich auf seinem Stuhl zurück und träumte vor sich hin.

Der Amazonas …

Wenn irgendein Ort auf der Erde nach Abenteuern klang, dann wohl dieser. Andy liebte den Dschungel. Die Herausforderung, an einem wirklich wilden Ort zu überleben, ein Balanceakt zwischen Leben und Tod. Umgeben von Meilen aus undurchdringlichem Grün, das an die urtümliche Welt der Dinosaurier gemahnte. Ein Mensch bewegte sich darin entsprechend seiner Fähigkeiten. Was er wusste, zählte mehr, als wer er war. Die Ehrfurcht gebietende Gleichgültigkeit der Natur gab die einzigen Regeln vor. Man war nicht abhängig von menschlichen Launen oder guten Beziehungen. Er würde dieses stickige Büro mit seinem rauchblauen Dunst und seiner Hinterzimmerpolitik jederzeit gegen den Dschungel eintauschen. Hier gab es keinen Vogelgesang, nur klappernde Schreibmaschinen. Und der einzige Fluss hier bestand aus Worten und noch mehr Worten.

Als Schüler hatte Andy in Abenteuergeschichten Zuflucht gesucht. Schularbeiten hatten ihn gelangweilt, aber er hatte immer gern gelesen. Haggard, Doyle, Kipling und Burroughs. In ihre Fantasien war er eingetaucht. Letztendlich waren sie ihm aber nicht genug gewesen. Er vermutete, dass es daran lag, dass sie Fiktion schrieben. Nichts davon war real. Lobgesänge auf das Empire, so viel war offensichtlich. Die Autoren verherrlichten Beispiele kolonialer Gewalt und hässlicher kultureller Ungerechtigkeiten unter dem Banner des westlichen Fortschritts. Elitäre weiße Männer, die ihre Vorherrschaft auf dem Globus anpriesen. Zu welchem Preis?

Andy war kein radikaler John Reed. Als Präsident Coolidge beschlossen hatte, nicht zur Wiederwahl anzutreten, hatte er nicht gewusst, wen er im nächsten Jahr wählen würde. Viele Leute in Arkham, vor allem die Reichen, hofften, dass die Boomjahre ewig andauern würden. Der junge Andy sehnte sich nach einer echten Lebenserfahrung, nach einer Reise, die ihn weit weg von Arkham brachte, wo er bis jetzt sein ganzes langweiliges Leben verbracht hatte. Einfach mal wegkommen. Das war der Schlüssel. Er wollte seinen Horizont erweitern. Andy beugte sich vor und spähte um die Säule herum.

Kein Postwagen.

Sein mysteriöses Paket aus Manaus hing irgendwo fest.

Er konnte sich kaum zurückhalten, draußen auf den Gängen danach zu suchen. Aber er musste ruhig bleiben. Sich nicht verdächtig benehmen. Was er getan hatte, war bestenfalls ethisch fragwürdig.

Schlimmstenfalls …

Er erlaubte sich nicht, darüber nachzudenken. Andy wollte sich einen Namen machen. Der Herausgeber des Advertisers, Doyle Jeffries, war streng und duldete keine Regelverstöße. Nicht von seiner Nachrichtenredaktion. Er war ein Enthüllungsjournalist durch und durch, ein Verfechter harter Beweise und hoher Standards. Aber es war nicht leicht, in seinen engsten Kreis aufzusteigen. Ausgabe für Ausgabe bekamen die gleichen Leute ihre Schlagzeilen auf der Titelseite. Andy gab offen zu, dass er neidisch war. Klar war er das! Er wollte dabei sein. Lange Zeit war er überzeugt gewesen, dass Jeffries nicht einmal seinen Namen kannte. Er ging sogar so weit, dass er mit seiner Reporterkollegin Minnie Klein um ein Stück Kirschkuchen bei Velma’s wettete, dass Jeffries ihn nach einem Treffen nicht identifizieren könnte. Minnie musste den Kuchen bezahlen.

Und als er einmal Jeffries’ ungeteilte Aufmerksamkeit erlangt hatte, hatte die Sache in einem totalen Desaster geendet. Andy konnte von Glück reden, dass er noch einen Job hatte. Eigentlich sollte er den Teufel tun, seinen Lebensunterhalt für ein Paket zu riskieren, dessen Inhalt er nicht einmal erraten konnte. Wenn jemand herausfand, dass er die Adresse gefälscht hatte …

Jeffries würde ihn nicht mehr zurücknehmen. Nicht wie er es bei erfahrenen Mitarbeitern wie Rex Murphy tat, der, obwohl er ein paarmal echt Mist gebaut hatte, den Respekt des Herausgebers genoss. Andy musste sich seinen Weg nach oben noch erarbeiten, um das Niveau von Minnie oder Rex zu erreichen.

Aber wie sollte er das mit den Brotkrumen bewerkstelligen, die sie ihm hinwarfen?

Eigentlich verkauften Nachrichten nicht wirklich Zeitungen. Schneidige Sportjournalisten wie Red Phelan taten es. Und Andy hatte nicht vor, tatenlos auf sein Glück zu warten. Er spürte, wie ihm jede Woche weitere Chancen entglitten. Wenn er nicht bald etwas in die Finger bekam …

Man musste seine Zukunft selbst in die Hand nehmen.

Das hatte er gelernt.

Er hatte vor, das Paket zu öffnen. Vorsichtig. Er würde es gründlich inspizieren. Sehen, ob es irgendetwas enthielt, das einen Artikel wert war. Vielleicht eine internationale Intrige, die bis zu den Ufern des Miskatonic Wellen schlug. Andy hatte das Gefühl, dass in dem Paket etwas Wichtiges steckte. Er wusste, wie klischeehaft das klang. Das Bauchgefühl eines Reporters. Aber es ging über den journalistischen Instinkt hinaus. Er spürte eine fast unheimliche Verbindung. Diese Schachtel enthielt sein Schicksal. Er wusste es einfach.

Sollte er sich letztlich dazu entschließen, zu passen, würde er es einfach zurücklegen. Er würde sagen, dass er es aus Versehen bekommen habe.

Er legte die Füße hoch und blätterte in seinem Auftragsheft.

Hach.

Diese Woche wollten sie, dass er Tinte an den überarbeiteten Busfahrplan nach Innsmouth verschwendete. Dann eine Ausstellung im Museum. Ein Kuchenverkauf der Kirche. Ein geplatztes Rohr, das ein Lagerhaus in der River Street überflutet hatte.

Andy warf das Heft beiseite.

Busfahrpläne und Kuchenverkauf … undichte Rohre …

Wie sollte er dadurch aufsteigen?

Aber dieses Paket. Dieses kleine braune Paket …

Kopfschmerzen hämmerten in seinen Schläfen. In der Dunkelheit hinter seinen Augen sah er, wie sich das Paket bewegte. Er stellte sich vor, wie es zu ihm kam. Wie es heranschwebte.

Warum war ihm etwas Unbekanntes plötzlich so wichtig?

Fing so Besessenheit an? Ein beständiges Tropfen, das langsam das Gehirn ausfüllte, bis kein Platz mehr für etwas anderes war? Der Druck in seinem Schädel wuchs.

Das Paket.

Die Person, die es aus Manaus verschickt hatte, kannte ihn offensichtlich nicht. Für sie existierte Andy gar nicht. Für ihn hatte sie bis heute Morgen in der Poststelle auch nicht existiert, als etwas mehr als nur Neugierde ihm gesagt hatte, was er tun sollte. Schreib deinen Namen drauf, Andy. Mach es zu deinem. Stiehl es, wenn du musst.

Jetzt konnte er sie sich auf eine nebelhafte Weise vorstellen.

Die feuchte Luft. Den Geruch von Wasser und Schlamm. Zwei gebräunte Hände, die die Schnur banden. Geschäftiges Treiben im Hafen. Geräusche des Lebens. Stimmen. Sie sprachen in einer oder mehreren Sprachen, die er nicht verstand.

Das Klappern von Münzen und ein Stapel zerknitterter Scheine, die über den Tresen geschoben wurden.

Dann wurden die Briefmarken abgeleckt und auf das Papier gepresst.

Er sah es.

Andy wusste, dass sich das noch absurder anhörte.

Aber nach diesem letzten Sommer und dem, was er im Silver Gate Hotel erlebt hatte, schloss er nichts mehr aus. Schon gar nicht die Möglichkeit von etwas … Übernatürlichem.

Andy hatte das Hotel besucht, um einen berühmten Künstler zu interviewen. Einen surrealistischen Maler namens Alden Oakes. Das Hotel war ein Jahr zuvor abgebrannt und Oakes war ein Überlebender des schrecklichen, tödlichen Brandes gewesen. Er war zur großen Wiedereröffnung des Silver Gate in die Stadt gereist. Die Geschichte, die er Andy in den nächsten Stunden erzählt hatte, war … eigentümlich gewesen. Fesselnd, aber sehr seltsam. Andy war sich nicht sicher gewesen, wie viel er davon glauben sollte. Doch unerwartet hatte er eine, wie er fand, wirklich gute Geschichte bekommen. Eine heiße Story – damals hatte er sich gefragt, ob er das Wortspiel riskieren sollte, wenn er sie Jeffries vorlegte. Wenn der Chefredakteur ihm grünes Licht gegeben hätte, wäre das der größte Artikel gewesen, den er für den Advertiser je geschrieben hätte. Dann hätten sie ihn nicht mehr ignorieren können.

Doch leider war das nicht das Ende der Geschichte gewesen.

Andy war der letzte Mensch, der Alden Oakes gesehen hatte. Jemals.

Nach dem Gespräch war der Mann verschwunden. Hatte sich in Luft aufgelöst. Andy hatte an diesem Tag etwas im Ballsaal des Hotels gesehen, als er und der Maler allein gewesen waren. Zumindest hatte Andy gedacht, sie wären allein gewesen. Was er beobachtet hatte, hatte mehr Fragen aufgeworfen, als es beantwortet hatte. Es war fast so, als wäre Andy in den Traum eines anderen Mannes getreten. Oder in den Albtraum. Je nachdem, wie man die Dinge interpretierte. Und Andy war sich nicht sicher. Er hatte seine Haltung zu dem Erlebten in den letzten Monaten tausendmal geändert. Je weiter es in der Vergangenheit lag, desto unsicherer wurde er. Nicht in Bezug auf die Fakten, sondern auf seine eigene Wahrnehmung. Er wünschte sich, es gäbe eine weitere Person, um die Dinge zu überprüfen, einen zweiten Augenzeugen. Jemanden, der seine Erinnerungen bestätigte. Er wusste, was er gesehen hatte. Seither war sein Geist offen für … andere Möglichkeiten. So viel zumindest war klar für ihn: Übernatürliche Phänomene existierten. Für unerklärliche Ereignisse gab es Erklärungen. Manche Leute waren nur nicht bereit, sie zu hören.

Einer dieser Menschen war Andys Chef.

Doyle Jeffries.

Andy war an diesem Tag zum Büro des Advertisers gerannt, nachdem er das Hotelzimmer des Malers kurz durchsucht hatte. Er hatte verlangt, Jeffries zu sehen. Der Redakteur hatte dagesessen und ihn angegafft, während Andy seine Geschichte erzählt und nichts ausgelassen hatte. Nachdem er geendet hatte, war er außer Atem gewesen, sein Kragen gelockert und schweißnass.

Jeffries hatte die Finger vor seinen Lippen aneinandergelegt.

»Wer hat Sie dazu angestiftet?«, hatte der Redakteur gefragt.

Andy hatte ihn nicht verstanden. Doch er hatte wieder eines dieser Bauchgefühle gehabt. Diesmal hatte es sich angefühlt wie ein Brocken Eis, der sich in seiner Magengrube ausbreitete. Der größer und größer wurde. Ihm war schlecht geworden. Ihm waren nur noch Sekunden geblieben, um seine Karriere zu retten, um sich selbst vor dem Verlust seines Traums von Schlagzeilen und Ruhm zu bewahren.

»Red Phelan«, hatte er erwidert. Sein Schreibtischkollege. Es war der einzige Name gewesen, der ihm in diesem Moment eingefallen war.

»Red?«, hatte Jeffries gefragt und eine Augenbraue hochgezogen.

»Ja, Sir.«

Andys Gesicht hatte geglüht.

Dann hatte Jeffries etwas völlig Unerwartetes getan. Er hatte angefangen zu lachen. Und nicht aufgehört, bis er Tränen in den Augen hatte. »Ich falle nicht auf irgendwelchen Humbug rein. Das sollten Sie doch wissen, Anthony.«

Andy Van Nortwick hatte seinen Chef nicht korrigiert. Stattdessen hatte er sich zu einem Lächeln gezwungen und genickt.

»Weiß ich«, hatte er bestätigt.

Jeffries hatte mit der Handfläche auf seinen riesigen Schreibtisch geschlagen. Alles hatte einen kleinen Hüpfer gemacht. Auch Andy.

»Wie ein großer Motor kann eine Zeitung Hitze entwickeln. Dann kommt es zur Explosion. Verlassen Sie sich darauf. Darum ist es wichtig, dass wir ab und zu ein bisschen Dampf ablassen. Ich bin kein humorloser Mensch.« Er hatte seine Brille abgenommen und die Gläser poliert. »Ist Red hier? Steht er vor der Tür und lauscht?« Er hatte die Stimme gehoben. »Fast hätten Sie mich reingelegt, Sie rothaariger, tintenverschmierter Schuft! Aber nicht ganz. Wenn Sie da sind, können Sie jetzt genauso gut reinkommen.«

Andy hatte sich umgedreht und auf die offene Tür gestarrt, in der Hoffnung, dass Red irgendwo anders auf der Welt war. Er hatte gebetet, dass Red ein Baseballspiel besuchte. Dass er sich sonst wo aufhielt, nur nicht in der Redaktion.

Seine Gebete waren erhört worden.

Später hatte sich Andy Reds zukünftiges Schweigen zu diesem Thema mit einer Kiste kanadischen Whiskeys erkauft. Red hatte den dubiosen Deal, den sie gemacht hatten, nie vergessen.

»Ich hätte nicht gedacht, dass das in dir steckt, Junge. Wie wär’s, wenn du mir ein Schinkensandwich besorgst?«

Andy durchlebte gerade erneut den Moment der Beinahe-Selbstzerstörung seiner Karriere, als in der Nähe ein Husten ertönte. Es war Red. Der Sportjournalist ragte über ihm auf. Er wirkte zerzaust und blinzelte.

»Junge, der Stuhl«, sagte Red.

Aus seinen Gedanken aufgeschreckt, stand Andy vom Schreibtisch auf und zog sich auf die Fensterbank zurück.

Red ließ sich fallen. Der Stumpen in seinem Mundwinkel war erloschen. Er kippte den Stuhl zurück, legte die Füße auf die Tischplatte und schob sich den Filzhut ins Gesicht, um sich auf den Weg ins Traumland zu machen. Doch in diesem Augenblick passierte das Schlimmste, was nur passieren konnte.

Der Postwagen kam quietschend um die Säule herum.

Der Poststellenleiter rümpfte die Nase in Richtung des müffelnden, dösenden Red und sagte zu Andy: »Junger Mann, Sie haben ein Poststück.«

Er hielt ihm das mit Kordel verschnürte Paket aus Brasilien hin.

Im nächsten Moment war Red wieder hellwach. Seine sommersprossige Hand schoss vor und fing die Lieferung ab.

3

Eine eigentümliche Entwicklung

»Wen kennst du in Brasilien?«

»Niemanden«, sagte Andy und versuchte, dabei lässig zu klingen.

»Hm, hm, hm …« Red prüfte das Gewicht der Schachtel. »Schwer.«

»Es ist wahrscheinlich nichts. Brasilianische Zeitungen. Ich werde sie nicht mal lesen können.«

Andy erhob sich und rückte näher.

»Niemand hat sich jedenfalls große Mühe gemacht, um dir nichts zu schicken. Und billig war das auch nicht.« Red drückte mit seinen dicken Daumen auf das Paket. »Warum sollte ein Fremder in einem fremden Land so was tun? Ich schätze, ich würde kaum jemanden in Arkham finden, der dich kennt.«

»Ich weiß nicht, ob das so stimmt.« Andys Ohren wurden heiß. Er versucht, dich zu ärgern, dachte er. Lass nicht zu, dass ihm das gelingt.

Andy nahm einen Bleistift in die Hand.

»Aber sicher doch.« Red umklammerte die Schachtel. Seine Fingerknöchel traten weiß hervor. Er lächelte dieses Lächeln, das man bei einem Alligator in der Sandgrube eines Zoos sah, und fuhr mit der Fingerspitze über Andys Namen. Er starrte auf die Buchstaben. Tipp, tipp, tipp. Es hieß, dass Red ein paar Jahre in Harvard verbracht hatte, bevor er der Uni verwiesen worden war. In seinen blutunterlaufenen Augen glänzte Intelligenz. Sein raues Auftreten war nur gespielt. Aber nicht das Trinken. Andy roch den Badewannen-Gin, der aus seinen Poren sickerte.

»Was hast du vor, Andy-Boy?«, fragte Red grinsend.

»Ich? Ich habe nichts vor.«

Red riss ein Streichholz an und zündete seinen Stumpen wieder an.

»Es macht dir doch nichts aus, dass ich das öffne, oder?«

Bevor Andy widersprechen konnte, klappte Red sein Taschenmesser auf und schnitt die Schnur durch. Zwei schnelle Schnitte schlitzten ein X in die Papierhülle. Red zog sie beiseite und enthüllte eine Pappschachtel. Er schob den Deckel weg. Red hielt seine Beute hoch.

»Es ist eine Filmdose«, stellte er fest.

Andy war zu fasziniert, um zu widersprechen. »Was ist das für ein Film? Auf dem Etikett steht nichts.«

»So ist es.« Red berührte das Stück Klebeband, das am äußeren Rand der Dose entlanglief.

»Los, wir machen ihn auf«, drängte Andy.

»Das machen wir lieber nicht.«

»Warum nicht?«

»Weil du dann wirklich eine Dose mit nichts von niemandem hast, mein Junge. Der Film in dieser Dose wurde belichtet, aber nicht entwickelt. Wenn Licht drankommt, kannst du ihn vergessen.« Er klopfte seine Asche auf den Boden.

Red war schlauer, als er sich gab. Andys Blick folgte der fallenden Asche und er entdeckte einen weißen Zettel in der Schachtel. »Sehen Sie, da ist ein Zettel«, sagte er.

Red hielt den Zettel hoch. »Da steht: ›Maude Brion ist quicklebendig!‹«

Maude Brion. Der Name kam Andy bekannt vor, als hätte er ihn irgendwo schon mal gehört oder gelesen.

»Du weißt nicht mal, wer sie ist. Stimmt’s, Andy Van Nortwick?« Red legte den Kopf schief.

Andy hielt inne und versuchte, dem Namen einen Sinn abzuringen. Maude Brion.

»Sie ist eine Schauspielerin«, sagte Andy.

»Korrekt, mein Junge. Und was noch?«

»Oh, das ist diese Schauspielerin, die letztes Jahr bei Dreharbeiten im Amazonasgebiet verschwunden ist!«

»Hundert Punkte!« Red überreichte Andy den Zettel. Der las ihn noch einmal durch. Nur ein Satz.

Maude Brion ist quicklebendig! Teufel noch mal, das war eine Story.

»Sie ist die Schauspielerin, die auf dem Fluss verschwunden ist«, sagte Red. »Aber sie hat nicht geschauspielert. Sie führte Regie bei einem Film. Ein Dokumentarfilm. Auf der Suche nach einem lange verschollenen Gott des Regenwalds. Vielleicht sollte ich eine Pause von den Ballspielen einlegen und Nachforschungen anstellen. Da könnte ein Buch draus werden. Wenn ich Doyle frage, gibt der mir bestimmt Urlaub. Runter in den Süden. Vielleicht ein bisschen Fliegenfischen, wenn ich schon mal da bin. Mir einen Buntbarsch fangen, ein paar Pacu oder den legendären Arapaima.«

Andy schwitzte. Seine Gedanken rasten angstvoll. Enttäuschung drohte ihn niederzuschmettern. Bis er sah, dass Red es nicht ernst meinte. Nicht wirklich. Er hatte nur Spaß gemacht und sich dabei köstlich amüsiert. Red war nicht daran interessiert, Arkham oder die Büros des Advertisers zu verlassen. Warum sollte er auch? Dies war sein Dschungel und er eine schläfrige alte Raubkatze. Red legte die Füße wieder hoch. Er rückte seinen Hut zurecht, sodass sein Gesicht im Schatten verschwand.

Ohne aufzusehen, warf er Andy die Dose zu.

»Mach dich rar. Ich spür einen Traum nahen und die Tänzerin darin sagt, dass sie dich nicht dabeihaben will. Also zisch ab.« Red wedelte mit der Hand.

Andy klemmte sich die Dose unter den Arm.

»Glauben Sie, dass es eine Chance gibt, Maude Brion zu finden?«, fragte er.

»Junge, wenn du überhaupt was findest, dann Knochen.«

»Wo kann ich den entwickeln lassen?«, hakte Andy nach.

»Sprich mit Darrell Simmons. Und jetzt Abmarsch.«

»Bin schon weg«, sagte Andy und lächelte vor sich hin.

»Süße Träume, Kleiner. Ich hab das Gefühl, du wirst sie brauchen.«

Red schnarchte bereits wie eine rostige Säge, als Andy die Nachrichtenredaktion verließ.

4

Der Dschungel

Als der tote Mann sie besuchte, war sein Gesicht purpurrot wie eine Pflaume. Mit einem aus Cocobolo-Rosenholz geschnitzten Wanderstab bahnte er sich seinen Weg durch den dichten Busch. Ihre Sinne waren klar, sogar geschärft, aber sie konnte sich nicht bewegen. Trotz der Dschungelhitze fröstelte sie bei seinem Anblick. Denn sie kannte diesen Mann. Den Stab, den er trug, hatte sie für ihn gekauft, ein Geschenk vor ihrer langen gemeinsamen Reise. Sie erkannte die kräftige, dunkel gestreifte Maserung und die gewundene Form. Die Hand des Mannes war – wie auch seine Kleidung – vollkommen verdreckt.

Er blickte sie an, sprach aber nicht. Seine Augen waren trüb. Ein milchiger Film verdeckte ihr Blau.

»Kannst du mich sehen?«, fragte sie.

Er muss sehen können, dachte sie. Er ist durch den Dschungel zu mir gekommen. Wenn er blind wäre …

Er antwortete nicht.

»Kannst du mich hören?«, fragte sie.

Der Mann nickte.

»Gut, gut. Weißt du, wer ich bin?«

Ihr Herz pochte, als sie auf eine Antwort wartete. Ein Nein hätte ihren Schmerz noch vergrößert.

Er nickte. Ja.

»Ich bin so froh, dass ich dich gefunden habe.« Freude erfüllte sie, aber sie ermahnte sich, ihre Reaktion zu zügeln. Sie brauchte Informationen von ihm. Es war ungewiss, wie viel Zeit sie haben würden. »Ich habe so lange nach dir gesucht. Ich habe alles ausprobiert, was ich mir vorstellen konnte. Séancen. Mediationen. Wo bist du gewesen?«

Der Mann blieb stumm. Er drehte sich um und deutete mit seinem Stab. Hinter sich, auf die Bäume.

Den Dschungel.

Smaragdgrüne Blätter, von gelben Sonnenflecken gesprenkelt. Er war im Urwald gewesen. Das wusste sie bereits.

»Warum sprichst du nicht? Habe ich etwas getan, das dich verärgert hat?«

Er schüttelte den Kopf, legte ihn in den Nacken und zeigte ihr seinen bärtigen Hals. Widerlich geschwollen und blasig. Die Haut war gespannt und dunkelviolett verfärbt. Er umklammerte seinen Hals mit den Fingern und schnitt eine Grimasse.

Ein unbekannter Biss. Das Gift hatte sich schnell ausgebreitet. Von Übelkeit geplagt hatte er in seiner Hängematte gelegen, schweißgebadet, die Muskeln zuckend. Wie gelähmt. Er hatte bei jedem flachen Atemzug, den er getan hatte, gekeucht.

Sie erinnerte sich.

Nie würde sie diesen Anblick vergessen: er, dem Tode nahe, und sie, unfähig zu helfen.

»Es tut mir so leid, dass dir das passiert ist«, sagte sie. Es war nicht ihre Schuld gewesen, aber sie fühlte sich trotzdem schuldig. Ohne sie wären sie nie hierhergekommen. Die Flussfahrt hatte sie beide gereizt, aber dieser Ort, an dem sie mit den Booten angelegt und ihr Lager aufgeschlagen hatten, war ihr Vorschlag gewesen. Sie hatte ihn ausgesucht. »Hier ist ein guter Platz auf trockenem, ebenem Grund«, hatte sie zufrieden festgestellt. Dann hatte sich die Tragödie ereignet.

Er hatte furchtbar gelitten.

Wie wird das alles enden?, fragte sie sich. Ist sein Schicksal auch das meine?

Wieder ein Anflug von Schuldgefühlen, weil sie an sich selbst dachte. Aber sie versuchte, allen negativen Gefühlen zu widerstehen, wie man sie angewiesen hatte. Sie hatten eine schlechte Wirkung. Die erzeugte Energie konnte sogar gefährlich werden.

Schuldgefühle nützen uns jetzt nichts, sagte sie sich. Ich habe ihn gefunden, das ist schon ein kleiner Sieg.

In der Ferne hallte das Geräusch eines knackenden Astes aus den grünen Hügeln herab.

Beide sahen auf. Sie waren zu weit weg, um etwas zu erkennen, das sich am Boden bewegte. Durch eine Lücke war eine einzelne Ranke zu sehen, die sanft hin- und herschwang. Es mochte nur ein Affe sein. Oder ein Vogel.

Was auch immer es war, es näherte sich. Es kam von den Hügeln herunter.

Sie hatte das Gefühl, beobachtet zu werden. Beute zu sein.

Vielleicht war es nichts, sagte sie sich. Nur ihre eigene Nervosität. Paranoia. Aber sie konnte es nicht abschütteln. Ihre Nackenhärchen sträubten sich. Sie musste sich beeilen, wenn sie etwas herausfinden wollte.

»Wo hast du …?«, begann sie ihn zu fragen.

Doch sie war allein. Die Bäume, die Büsche um sie herum wurden still. Das Licht verblasste.

»Nein! Nicht!«, schrie sie in den Dschungel. Nicht schon wieder. »Hör zu! Bitte, komm zurück!«

Doch es war zu spät.

Der Mann war fort.

5

Filmpalast

»Sie können Red sagen, dass er sich geirrt hat«, verkündete Darrell Simmons. »Das ist kein Negativ. Es ist ein 35-mm-Film. Alles, was man zum Betrachten braucht, ist der richtige Projektor.«

Er schaltete das rote Licht in der Dunkelkammer aus und reichte Andy die Filmrolle zurück. Der Raum roch nach Essig. Andy verließ die Dunkelheit und blinzelte, als er Simmons in dessen Küche folgte.

Simmons war ein Fotograf, der für den Advertiser arbeitete. Andy hatte sich seine Adresse aus dem Sekretariat der Zeitung besorgt, nachdem Red Phelan ihn erwähnt hatte. Er hatte einen Bus in Simmons’ Viertel genommen, an die Haustür geklopft und ihn tatsächlich zu Hause erwischt, wo er gerade ein paar Fotos fertiggestellt hatte, die allem Anschein nach heruntergekommene alte Häuser zeigten. Andy hatte den Kopf gereckt und versucht, einen besseren Blick auf die noch feuchten Fotos zu erhaschen, aber Simmons hatte sie hinter seinem Rücken verborgen. Mit etwas Geschick war es Andy gelungen, sich Einlass zu verschaffen, wobei die mysteriöse Filmdose und Simmons’ offensichtliche Neugierde den Großteil der Arbeit erledigt hatten.

»Großartig. Also, wo finde ich einen Projektor?«, fragte er nun.

»Sie haben Glück. Ich habe zufällig einen im Keller. Möchten Sie einen Film sehen?«

Andy lächelte. »Liebend gern.«

»Hier entlang.« Simmons öffnete eine Tür und führte ihn eine grob gezimmerte Treppe hinunter. »Tun Sie mir einen Gefallen und hängen Sie das Laken an die Wäscheleine. Den Rest kann ich machen. Oh, und ich brauche den Film.«

Andy baute die provisorische Leinwand auf. Simmons rollte den Projektor auf einem Wagen heran.

»Wie sind Sie an so ein Gerät gekommen?«, staunte Andy.

»Ich schreibe Briefe. Sie wären überrascht, was ich alles finde. Ich bin bereit, Ausrangiertes und Unerwünschtes zu übernehmen. Ich liebe es, an alten und neuen Geräten herumzubasteln. Diesen Pathé-Freres habe ich nach einem Brand in New York aufgesammelt. Nitratfilm ist eine heikle Sache. Wie eine Zelluloid-Brandbombe. Es hat eine Weile gedauert, aber ich habe ihn zum Laufen gebracht. Da steht ein alter Sessel in der Ecke. Ziehen Sie ihn herüber. Dann können Sie sich setzen.«

Im Schatten kitzelte etwas Hauchdünnes, Unsichtbares Andys Gesicht. Er wischte es beiseite. Spinnweben hingen von den Deckenbalken über ihren Köpfen. Zweifellos stammten sie von gruseligen Kellerkrabbeltieren.

Simmons fädelte den Film ein und schraubte die Lampe in den Projektor. Er schaltete das Licht aus. Das Laken wurde strahlend weiß. »Ich muss dieses französische Modell von Hand kurbeln. Also bleibe ich bei Ihnen. Gemütlich?«

»Besser als im Grauman’s Egyptian Theatre«, sagte Andy und tätschelte das staubige Kissen. Er war eher aufgeregt als nervös, aber er spürte schon, dass es ihm das Herz brechen würde, sollte sich herausstellen, dass der Film nichts zu bieten hatte.

»Willkommen in meinem Filmpalast. Fertig? Und … Action!«

Simmons drehte die Kurbel. Auf dem weißen Laken wurden die bewegten Bilder lebendig.

6

Maudes Reise

Die flackernden Bilder verschmelzen und beginnen, eine Geschichte zu erzählen.

Die Kamera ist wackelig, denn sie steht zusammen mit ihrem unsichtbaren Kameramann am Bug eines Dampfschiffs. Die Strömung in der Mitte des Flusses sorgt für eine ständige Bewegung der Dinge. Wellen klatschen gegen den Rumpf. Die Besatzung, zumeist Ureinwohner, verlädt Ausrüstung in Kanus, die im Wasser neben dem viel größeren Boot liegen, und steigt selbst hinein. Die Kamera schwenkt, um das Heck zu zeigen. Sie ziehen die schmalen Boote an einer Leine hinter dem Schiff her. Alle Kanus sind voll bis auf eines. Eine Strickleiter hängt seitlich am Schiffsrumpf herab.

Der Fluss ist so breit, dass die Uferlinie erstaunlich weit weg erscheint. Üppige Vegetation bedeckt die Hügel. Ein tortenförmiger Abschnitt des Flussufers ist weniger dicht überwuchert. Dort wachsen keine hohen Bäume. Möglicherweise handelt es sich um eine Anlegestelle. Dahinter könnte ein Weg durch den Dschungel anfangen.

SCHNITT.

Ein Blick aus dem leeren Einbaum. Die Kamera ruckelt. Der Kameramann sitzt in der Mitte des handgearbeiteten Kanus. Eine Frau klettert auf den ersten Sitz. Der Blick auf ihren Hinterkopf zeigt einen krausen, lockigen Bob. Ein Tuch hält ihr das Haar aus dem Nacken. Sie blickt voraus. Als sie das flache Ufergewässer erreichen, ist sie als Erste draußen. Rein ins Wasser. Platschend. Sie zieht das vordere Ende des Bootes aufs trockene Land. Wobei es nicht so trocken ist. Überall Schlamm. Sind das Fußabdrücke? Sie trägt Sandalen. Ihre Hosenbeine sind hochgekrempelt. Die geschnürten Stiefel hat sie sich über die Schulter geworfen. Sie hat so etwas schon einmal gemacht.

Das Bild wackelt, als der Kameramann an Land geht. Die Kameralinse ist auf den Boden gerichtet.

Ja, es gibt Fußspuren im Schlamm am Flussufer. Sie führen in den Dschungel.

Die Frau stürmt mit ein paar Einheimischen voraus, die bereits ihre Macheten schwingen. Sie hat auch eine Machete. Sie schließt sich ihnen an und hackt das Gestrüpp beiseite.

Die Frau sieht etwas und zeigt darauf. Die drei arbeiten sich in diese Richtung vorwärts.

Ein länglicher weißer Stein steht innerhalb der Baumgrenze. Teilweise versteckt, aber rasch freigelegt. Die Frau durchtrennt die letzte Barriere aus Ranken und Dschungelgewächsen. Sie streicht über die Oberfläche des hellen Steins und winkt die Kamera heran, um ihn näher zu betrachten. Ein eingemeißeltes Symbol.

Sie dreht sich um und grinst direkt in die Linse.

Es ist Maude Brion. Der Star mehrerer Stummfilme. Drehbuchautorin von einigen weiteren. Regisseurin. Jetzt Dokumentarfilmerin. Wir sehen Ausschnitte aus ihrem Reisebericht. Ein Reiseabenteuer entlang des Amazonas. Das Variety-Magazin hat ihren Abschied aus Hollywood erwähnt. Photoplay hat ausführlich darüber berichtet, mit Fotos von ihr in Expeditionskleidung aus dem Requisitenfundus.

Jagd auf die Spinnenkönigin. So lautete der Titel der Dreharbeiten zu ihrem Film. Die Reaktionen der Medien reichten damals von Skepsis über augenzwinkernde Begeisterung bis hin zu Bewunderung für die grenzüberschreitende Filmabenteurerin. Die meisten wussten nicht so recht, was sie denken sollten. Waren diese Dschungelgötter real oder nur der Stoff aus Schundheftchen? Maude schien ebenso unbeeindruckt davon wie entschlossen zu sein. Zum Teufel mit den Kritikern!

»Eine Legende jagt eine andere«, titelte Photoplay. Ein bisschen übertrieben: Maude Brion war noch keine Legende, aber sie hatte einen guten Start hingelegt. Keiner wusste genau, woher sie ursprünglich gekommen war. Sie war einfach eines Tages in L.A. aufgetaucht. Sie stamme aus Texas, wurde in Tinseltown gemunkelt. Ihr Vater mache in Öl, sei ein Prospektor, der reich geworden sei. Aber sie redete nicht wie eine Texanerin, obwohl sie reiten konnte wie ein waschechter Cowboy. Sie hatte Stil. Sie machte die Leute nervös. Ein Gerücht besagte, dass sie sich mit dem Okkulten beschäftige. Es wurde sogar angedeutet, dass sie einer Gruppe von Teufelsanbetern angehöre. Sie habe eine Séance gefilmt, bei der sich ein Mann die Kehle aufgeschlitzt habe, hieß es. Sie würde einem den Film nur zeigen, wenn man ihr Freund sei oder einen Preis dafür zahle. Aber solche Geschichten waren üblich in Hollywood.

Maude lächelt in die Kamera.

Jeder Mensch kann sehen, dass sie das gewisse Etwas hat. Etwas Magisches. Die Kamera liebt sie. Sie ist von einer seltsamen Energie umgeben und überträgt sie auf den Filmzuschauer. Man will diese Frau kennen, wissen, was sie tut, wohin sie geht.

Maude wehrt die Aufmerksamkeit der Kamera ab. Es ist der weiße Stein, den sie festgehalten haben möchte.

Die Kamera schiebt sich heran. Nimmt ihn in den Fokus.

Die Beleuchtung ist nicht perfekt. Zu viele Schatten. Aber da ist eine Figur in den Felsen gemeißelt: eine runde Form mit mehreren Armen. Oder sind es Beine? Sechs, sieben, acht. Acht Beine wie ein Oktopus.

Oder … wie eine Spinne. Ist das eine Markierung? Eine Art Wegweiser? Die Linien sind tief. Sind sie alt oder neu? Das ist schwer zu sagen. Aber es könnte ein Hinweis darauf sein, wo sich die Spinnenkönigin aufhält. Maude ist keine Archäologin, keine Wissenschaftlerin und auch keine Expertin für Mythen und Legenden.

Sie ist eine Filmemacherin. Und sie geht mit ihrer Kamera dorthin, wo noch nie zuvor jemand gefilmt hat.

Während Maude und der Kameramann den Stein untersuchen, entdecken die anderen Männer Anzeichen für einen Dschungelpfad. Ihr gesamtes Team ist jetzt da, ein halbes Dutzend hagerer Männer, die Unterholz weghacken. Maude lässt von dem Stein ab und stürzt sich stattdessen auf den Weg, der sich mit jedem Hieb ihrer Klingen mehr offenbart. Sie klettern einen steilen, rutschigen Abhang hinauf und halten sich an tief hängenden Ästen fest, um nicht zu stürzen. Schließlich flacht das Gelände ab. Hinter ihnen liegt der Fluss wie eine schläfrige Anakonda. Durch die Bäume vor ihnen zeichnen sich die Umrisse von Menschenhand geschaffener Strukturen ab. Gebäude.

Ist das ein Dorf?

Nein. Es ist eine moderne Arbeitsstätte. Eine Plantage. Die Kautschukfirmen haben Stationen im Regenwald errichtet. Aber der Kautschukboom in Brasilien ist vorbei. Es gibt billigeren Kautschuk von der malaiischen Halbinsel. Die Kosten für die Gewinnung von Kautschuk aus dem Amazonas-Regenwald sind zu hoch. Nachdem die hiesigen Vorkommen enorm gewinnbringend ausgebeutet wurden, haben die ausländischen Unternehmen ihre Zelte abgebrochen und den Dschungel verlassen.

Das hier ist eine Geisterplantage. Ranken schlängeln sich durch die Fenster. Die Dächer haben dunkle Löcher. Affen und Vögel dringen durch die Öffnungen. In den Innenräumen herrscht Chaos. Umgestürzte Möbel. Wasserfleckige Landkarten an den Wänden. Tierkot verschmutzt die Dielen. Die Kamera fängt eine nicht gerade kleine Schlange ein, die vor den Eindringlingen flieht. Sie bewegt sich wie eine Bullenpeitsche, als sie die Treppe hinunter und über den Boden gleitet. Der Film ist stumm, aber man kann sich den Lärm vorstellen, den die Neuankömmlinge verursachen müssen.

Doch es gibt noch mehr zu entdecken.

Nicht weit von den Gebäuden entfernt liegen, halb vergraben unter Laub und Tümpeln aus stehendem Wasser, ein paar Eisenbahnschienen im Schlamm. Sie führen tiefer ins Unterholz. Maudes Gruppe folgt ihnen.

Bis die Spuren enden.

Einfach so.

Wie ein Gespräch, das mitten im Satz abgebrochen wird. Die beiden stählernen Enden ragen aus der schlammigen Erde heraus.

Und auch in Maudes Gruppe spricht niemand. Alle Gesichter sind in ehrfürchtigem Staunen erstarrt. Vor ihnen erhebt sich ein zweiter aufrechter, länglicher Stein, der mit Spinnensymbolen bedeckt ist. Aber weder die Männer noch die Kamera verschwenden viel Zeit auf den mysteriösen Stein. Denn nicht weit entfernt, inmitten einer schattigen, grünen Kathedrale aus riesigen Bäumen, erheben sich die Kalksteinruinen eines Schreins.

Das natürliche Licht hier ist schlecht zum Filmen geeignet.

Dennoch ist der Anblick so beeindruckend und gespenstisch wie ein altes Schloss aus einem Schauerroman.

Silhouetten und Schatten beherrschen die Szenerie. Kautschukbäume bewachen die einzelnen Teile des Schreins, die Stämme vernarbt vom jahrelangen Anzapfen. Insekten tanzen aufgeregt in den einfallenden Sonnenstrahlen. Auf dem Waldboden liegen zerbrochene Felsplatten. Diesen Ort haben die Plantagenarbeiter sicher nicht gebaut. Dass sie ihn gefunden haben, könnte zu ihrem Entschluss beigetragen haben, von hier zu verschwinden. Denn trotz der rauen, verschlungenen Schönheit der Bögen und Säulen umgibt diesen Ort eine unheilvolle Atmosphäre. Etwas Übles ist hier vor langer Zeit passiert. Und es könnte wieder passieren. Man kann diese Ruinen nicht betrachten, ohne es zu spüren. Doch wie viel von dieser Reaktion entspringt einem Mangel an Wissen über die Menschen, die diesen Ort zu ihrem Heiligtum gemacht haben? Denn es liegt Ehrfurcht in der Anordnung der alten Steinplatten, die einen perfekten Ring bilden und ihre Flechten wie Abzeichen und Umhänge aus Moos tragen – zeremonielle Altäre, die in der erdrückenden Hitze und Feuchtigkeit der immergrünen, äquatorialen Dämmerung errichtet wurden.

Das Licht verblasst.

Aber nicht, bevor Maude weitere Spinnendarstellungen gefilmt hat – auf Stufen, Altären und Säulen.

Sie sind überall.

SCHNITT.

Nacht.

Maudes Gruppe hat eine Laterne entzündet. Aus einem unbekannten Grund hat sie beschlossen, selbst nach Einbruch der Dunkelheit am Schrein zu bleiben, anstatt mit den Kanus zum Dampfschiff zurückzukehren. Warum haben sie dort ihr Lager aufgeschlagen? Vielleicht war der Weg zurück in der Nacht zu schwierig zu finden. Angesichts der kurzen Entfernung und der einheimischen Führer, die mit Märschen durch den Urwald vertraut sind, scheint dieses Szenario jedoch unwahrscheinlich.

Vielleicht wollten sie bleiben.

Sie haben sich auf einer der Schreinplattformen versammelt, in einem tempelähnlichen Gebäude ohne Dach. Gab es einst ein Dach aus Pflanzenmaterial, das verrottet ist? War es immer offen?

Hier und da schimmert das Mondlicht durch die Bäume. Doch die Gruppe versammelt sich um die Laterne. Ist es zu nass, um ein Feuer zu machen? Oder haben sie das Gefühl, dass es irgendwie respektlos wäre, hier ein Feuer zu entzünden? Auf den Zügen der einheimischen Gruppenmitglieder zeichnet sich die gleiche Unsicherheit ab wie bei Maude. Ungewissheit, aber auch Aufregung. Einer der Männer übernimmt für kurze Zeit die Kamera. Er ist neugierig, selbstbewusst. Der bisher unbekannte Kameramann taucht zum ersten Mal auf. Er scheint ein Amerikaner zu sein oder zumindest ein Weißer wie Maude. Der Kameramann und Maude sitzen auf dem Boden des Tempels, Arm in Arm, feierlich. Sie stoßen mit ihren Feldflaschen an. Singen. Lachen. Ihre lange Reise auf dem Fluss hat endlich Früchte getragen.

Alle Köpfe drehen sich um, als ein – dem Anschein nach – lautes Geräusch aus dem Dschungel kommt.

Der Kameramann nimmt seine Kamera zurück. Schwenkt.

Zwischen den Bäumen flackern Lichter. Die Kugeln treiben wie glühende Bojen auf einem schwarzen Meer.

Sie kommen näher.

Alle sind nun auf den Beinen. Macheten in der Hand. Aufmerksam beobachten sie.

Im Unterholz am Rand des Heiligtums huschen Gestalten umher.

Dann sind sie in den Ruinen. Dunkle Gestalten. Die Lichter begleiten sie.

Menschen tauchen aus der Finsternis auf. Männer und Frauen. Einige von ihnen tragen moderne westliche Kleidung. Voller Schlamm. Sie hängt ihnen wie Lumpen von den Leibern. Sie tragen Fackeln. Und …

Gewehre.

Dutzende von Menschen umgeben Maudes Reisegruppe. Einige bleiben zurück, kaum mehr als Augenpaare in der Dunkelheit. Halb beleuchtete Gesichter. Das Fackellicht verändert sie, lässt sie unheimlich erscheinen.

Andere treten näher.

Maude hat Angst. Aber sie lässt ihre Machete fallen. Hält ihre Hände hoch, um zu zeigen, dass sie keine Bedrohung ist.

Die Menschen aus dem Dschungel sprechen zu ihr.

Sie wirkt verwirrt, antwortet ihnen aber. Wie können sie sich ohne Übersetzer verständigen? Sind diese Leute Amerikaner? Oder Briten? Es ist unmöglich auszumachen, was sie sagen. Einer von Maudes Männern deutet nach oben in die Baumkronen. Maude blickt hinauf, scheint aber nichts zu sehen. Dann werfen die Fackelträger die Fackeln in die Mitte des Rings aus Steinplattformen.

Dort befindet sich eine Feuerstelle, die unter Laubabfällen versteckt war.

Die Flammen schlagen hoch in die Luft. Höher, als man erwarten würde, leuchten sie bis in die Baumkronen hinein.

Jemand wirft die Kamera um.

Der fuchtelnde Arm des Kameramanns taucht im Bildfeld auf, das verschwommene Profil seines bärtigen, panischen Gesichts huscht am oberen Bildrand vorbei. Der Feuerschein spiegelt sich in einer Brille. Die Kamera wird wieder aufgerichtet. Und jetzt neigt sie sich nach oben, richtet sich auf einen Punkt knapp oberhalb der Flammenzungen. Rauchsäulen. Dahinter ein unscharfes Bild. Erhellt vom Feuer. Mehrere gekrümmte, fingerartige Obelisken durchstoßen die dichten Baumkronen. Die Finger sind gespreizt, flehend wie die Hände von Betenden, in einem Moment der Anbetung erhoben. Und so zu Stein erstarrt.

Hat die Expedition diesen Teil des Schreinkomplexes bei Tageslicht übersehen?

Aber wie …?

Ein riesiges Geflecht spannt sich zwischen den Obelisken. Schwer auszumachen. Es ist unscharf. Es wogt. Zittert. Es ist silbern. Seine dicken Stränge sind in einem verschlungenen Muster gewebt. Sie erinnern an ein Spinnennetz.

Aus einer Ecke schießt eine gewaltige schwarze Masse hervor. Hält an. Hat sie sich wirklich bewegt?

Das Netz wogt im Mondlicht. Feuchtigkeit tropft von den Fäden herab.

Während es sich hin- und herwiegt …

Der Film endet.

7

Tinte und Gold

Das Geräusch des im Projektor durchdrehenden Films weckte Andy aus seiner traumhaften Trance, seiner Reise in die Welt der bewegten Bilder von Maude Brion. Es war natürlich nur ein Fragment, kaum mehr als zusammengeschnittene fünf oder sechs Minuten. Doch in dieser Zeit hatte er den Keller von Darrell Simmons’ Haus verlassen und war mit Maude auf ihrem noch nie zuvor gesehenen Abenteuer im Regenwald unterwegs gewesen. Er fragte sich kurz, ob das alles ein ausgeklügelter Streich sein mochte. Hatten ihm Red Phelan und seine Kumpane oder jemand anders bei der Zeitung den Filmschnipsel geschickt, um ihn neugierig zu machen? Um ihn zu ärgern.

Nur damit sie über ihn lachen konnten.

Seht euch den Jungen an! Er hat den Köder samt Haken, Schnur und Senkblei geschluckt!

Aber dann erinnerte sich Andy daran, dass er ihn sich an diesem Morgen in der Poststelle selbst ausgesucht hatte. Er war nicht an ihn geschickt worden. Das war sein Schicksal, seine Bestimmung. Wie konnte er sich eine solche Chance entgehen lassen?

Simmons schaltete das Licht an.

»Könnten Sie es noch einmal laufen lassen?«, fragte Andy. »Ich möchte mir dieses Mal Notizen machen. Ich muss so viel wie möglich wissen, wenn ich dort unten nach ihr suche.«

»Sicher, sicher«, sagte Simmons. In seiner Stimme lag ein Hauch von Zögern.

»Das war sie wirklich. Nicht wahr? ›Maude Brion ist quicklebendig.‹« Ungläubig schüttelte Andy den Kopf. War es die Kälte des Kellerraums oder die pure Aufregung, die ihn schaudern ließ?

»Ich habe nur ein Bild von ihr gesehen«, sagte Simmons. »Aber es sieht aus wie sie. Ich habe wie alle anderen die Schlagzeilen gelesen, als sie nicht zurückkam. Das war vor etwa einem Jahr, letzten Sommer. Sie ist so was wie ein weiblicher Percy Fawcett, nur dass sie noch dazu Filmregisseurin ist.«

»Wer ist Percy Fawcett?«, fragte Andy mit großen Augen.

»Berühmter britischer Kartograf. Verschwand 25. Amazonasexpedition. Auf der Suche nach einer alten, versunkenen Stadt in unbekanntem Gebiet. Wie viel wissen Sie über das, worauf Sie sich einlassen wollen?«

Andy zuckte mit den Schultern. »Nicht viel, schätze ich.«

»Dann sollten Sie lieber schnell dazulernen.«

»Ich lerne unterwegs.« Andy war es leid, zu hören, dass er zu unerfahren war. Wie sollte man überhaupt Erfahrungen sammeln, wenn niemand bereit war, einen Dinge ausprobieren zu lassen?

»Dann werden Sie nicht weit kommen. Das ist kein Spaziergang durch die verdammte Heide. Der Amazonas ist viel größer und tiefer als jeder Sumpf in Massachusetts. Sie brauchen einen Führer, Proviant und natürlich ein Boot und Diesel. Und das, nachdem Sie die Reise nach Brasilien gemacht haben. Wer soll das bezahlen?«

Andy ließ sich in seinem Sessel zurücksinken. Die Kissen ächzten.

»Darüber habe ich noch nicht nachgedacht.« Der Fotograf hatte nicht ganz unrecht. Eine Expedition würde viel Geld kosten. Andys Enthusiasmus begann zu schwinden.

»Das hier ist der Beweis, dass sie etwas im Dschungel gefunden hat«, sagte Simmons. »Sie sollten mit Harvey Gedney sprechen.« Er klang, als bedaure er es, Andys Plänen gleich einen Dämpfer verpasst zu haben.

Andy drehte sich um. »Ich? Sie wollen, dass ich mit dem Besitzer des Arkham Advertisers spreche?«

Simmons zuckte mit den Schultern. »Wer sonst hat die Kohle, um Sie nach Südamerika zu schicken?«

Andy dachte darüber nach. Er hatte gezockt, als er seinen Namen auf das Paket geschrieben hatte. War er bereit, alles auf eine Karte zu setzen und zum Chef zu marschieren?

»Hätten Sie Lust auf einen Ausflug in den Dschungel?«, fragte Andy. »Ich könnte einen Fotografen gebrauchen.«

»Nein, danke«, erwiderte Simmons. »Ich habe hier in Arkham mehr als genug mit seltsamen Ereignissen zu tun. Ich muss nicht auf Weltreise gehen, um weitere zu finden. Dieser Knüller gehört ganz Ihnen, Kumpel.«

Andy wünschte, der Fotograf hätte Ja gesagt. Die Aussicht, Gedney um Geld zu bitten, war mehr als nur ein bisschen einschüchternd. »Ich weiß nicht mal, wo ich Gedney finden kann«, sagte er.

»Er wird heute Abend im Miskatonic-Museum sein. Ich soll bei der Eröffnung einer neuen Ausstellung ein paar Werbefotos von ihm machen.«

Andys Miene hellte sich auf. »Ich berichte über diese Geschichte! Ich dachte, das wäre bloß eine dieser steifen Veranstaltungen, bei der mir ein paar verstaubte alte Kuratoren alle Texte in die Hand drücken, die ich brauche. Aber was, wenn ich stattdessen bleiben und mich unter die Gäste mischen würde? Würden Sie mir Gedney vorstellen? Ich übernehme dann.«

»Kein Problem. Aber erst nach dem Fototermin. Ist das in Ordnung für Sie?«

»Und wie!« Es fühlte sich wirklich so an, als wäre diese Geschichte für ihn bestimmt. »Können wir uns den Film nun noch einmal ansehen?« Andy klappte seinen Notizblock auf und hielt seinen Bleistift bereit.

»Der Projektor ist bereit.« Von Andys Begeisterung angesteckt, tauchte Simmons den Raum wieder in Dunkelheit. Er drehte an der Kurbel. Sah zu, wie die Passagiere des Dampfschiffs ruckartig zum Leben erwachten.

Andy machte es sich für einen weiteren Ausflug zur Geisterkautschukplantage bequem. Den von Kletterpflanzen überwucherten Ruinen.

Er würde Gedney um das Geld bitten, um Maude Brion und das zu finden, was diese über die Spinnenkönigin herausgefunden hatte. Verdammt, alles, was er über die Legende wusste, war, dass angeblich eine Göttin oder ein Monster in dem abgelegenen Dschungel lebte. Entweder kontrollierte sie die Spinnen oder sie war eine von ihnen. Vielleicht auch beides. Er war sich nicht sicher. Die schwarze Masse, die zwischen den Obelisken wogte – wirklich erkennen konnte man eigentlich nichts. Vielleicht war es eine Person in einem Kostüm. Vielleicht war es auch nichts. Ein Scherz. Aber allein Maude zu finden wäre immer noch die größte Story des Landes. Wenn der Advertiser eine Exklusivstory hätte … und Andy die Schlagzeile bekäme … würde er mit Jobangeboten von allen großen Zeitungen überschüttet werden! Das wäre der Weg zu der Nachrichtenkarriere, von der er immer geträumt hatte. Er würde weltberühmt werden!

Andy war der Einzige im Raum, der wie ein Reporter gekleidet war. Anders gesagt handelt es sich bei dem Empfang im Museum um eine Veranstaltung, bei der Smoking und schwarze Fliege Pflicht waren. Selbst das Cateringpersonal hatte sich rausgeputzt. Obwohl seine eigene Garderobe dagegen kläglich bescheiden wirkte, war Andy entschlossen, zu bleiben. Er hatte ein stählernes Funkeln in den Augen. Vielleicht war das – und nicht seine abgewetzten Manschetten – der Grund, warum Gedney ihn neugierig ansah und sich nicht abwandte, als Andy im Schein der Kristalllüster durch den langen, getäfelten Raum auf ihn zuging.

»Mr. Gedney, ich bin stolz, für Sie zu arbeiten«, sagte Andy und streckte seine Hand aus.

»Tun Sie das?« Gedney konnte seine Verwunderung nicht verbergen, als er die Hand schüttelte.

»Ja, Sir. Ich schreibe für den Advertiser. Und ich möchte mit Ihnen über einen Knüller sprechen.« Andy hatte sich vorgenommen, dass er, wenn er schon gefeuert werden würde, auch gleich loslegen und es schnell hinter sich bringen könnte.

»Kann das nicht warten?« Der Überraschungsangriff funktionierte. Er hatte Andy nicht sofort gefragt, wer er sei. Ein Kellner bot ihnen die Häppchen auf einem silbernen Tablett an. Gedney schnappte sich ein gefülltes Ei.

»Ich fürchte, dass uns die Konkurrenz zuvorkommen könnte«, erwiderte Andy.

»Das dürfen wir nicht zulassen. Aber sagen Sie mal, sollten Sie damit nicht zu Ihrem Redakteur gehen?«

»Die Sache ist so groß, dass wir uns früher oder später ohnehin an Sie hätten wenden müssen«, gab Andy zurück. »Ich dachte, ich fange gleich oben an.«

Gedney nickte. Es war unklar, ob er interessiert war oder nur höflich sein wollte. Andy hatte das Gefühl, dass sich Gedney in der Menge der Museumsbesucher unwohl fühlte und dass er ihm nun einen Vorwand geliefert hatte, sich von den anderen Besuchern fernzuhalten. Doch nicht alle von ihnen achteten auf solche Signale. Ein breitschultriger Mann mit Schnauzbart und von Brandy geschwängertem Atem polterte näher und stellte sich Schulter an Schulter mit Andy. Er nickte und trank aus seiner Tasse einen Schluck mit Alkohol versetzten Kaffee.

»Das ist Oscar Hurley«, sagte Gedney. »Oscar, das ist …« Er hielt inne. »Wer sind Sie?«

»Andy Van Nortwick. Reporter.«

Hurley grunzte wie ein Walross. Seine flossenartige Hand umklammerte Andy, als brauche er eine Stütze.

»Andy wollte mir gerade die nächste große Story des Advertisers verraten.« Gedney gab Andy ein Zeichen, in Hurleys Anwesenheit fortzufahren. »Oscar kann schweigen. Sie brauchen sich keine Sorgen zu machen.«

Hurley schnaubte und gab Andy einen aufmunternden Klaps in den Nacken.

Andy fragte sich, ob sich Hurley am nächsten Tag an irgendetwas erinnern würde. Er schien ziemlich abgefüllt zu sein.

Also erzählte ihnen Andy die Geschichte von Maudes Filmrolle, vom Dschungel bis zur Leinwand.

Dann schlug er vor, die Zeitung solle ihn auf eine Expedition schicken, um Maude zu suchen.

Gedney schüttelte widerstrebend den Kopf. »Das ist eine verdammte Menge Geld für eine Schlagzeile. Eine verdammte Menge. Selbst wenn es eine Exklusivstory für die Zeitung wäre.« Er balancierte ein Glas eisgekühlte Coca-Cola und ein zweites gefülltes Ei in einer Hand und winkte mit der anderen irgendwelchen Leuten auf der anderen Seite des Ausstellungsraums zu. »Ich kann nicht genug Ausgaben verkaufen, um diese Art von Ausflug zu rechtfertigen. Das Ganze klingt doch ein wenig sehr weit hergeholt, nicht wahr? Es gibt keine Garantie, sie zu finden. Sie wissen ja nicht einmal, wer den Film geschickt hat.«

Enttäuschung überkam Andy. Vielleicht hatte Gedney recht. Andy wusste nicht viel. Er hatte nur einen flüchtigen Blick auf Maude inmitten einiger Ruinen erhascht. Und auf diese seltsame Gruppe, die aus dem Dickicht gekommen war.

Vielleicht war das Unterfangen von Anfang an zum Scheitern verurteilt.

Oder?

In seinem Kopf rangen Selbstzweifel und die Wut darüber, nicht ernst genommen zu werden, miteinander. Das Letzte, was er brauchte, war eine Wiederholung des Fiaskos mit Alden Oakes vom letzten Sommer. Andys Sturheit hatte ihm im Leben wahrscheinlich genauso oft geschadet, wie sie ihm geholfen hatte, aber er hatte sie nie bereut. Er hatte das Bauchgefühl eines Reporters. Da war was dran. Hatte sein Boss das nicht begriffen?

Gedneys Aufmerksamkeit wurde abgelenkt. Er starrte in eine Glasvitrine hinter ihnen. Artefakte aus Stein.

In diesem Moment meldete sich Hurley zu Wort und verblüffte alle, auch sich selbst. »Schade, dass es kein Gold gibt«, brummte er unwirsch.

Zum ersten Mal bemerkte Andy, dass Hurley an jedem Finger Ringe trug. Goldene Ringe. Besetzt mit kostbaren Edelsteinen. Er lächelte Andy an und enthüllte einen goldenen Eckzahn.

Gedney blickte von dem Schaukasten auf. »Oscar ist in der Minenbranche tätig. Ein echter Goldgräber.«

»Aber es gibt Gold«, log Andy. »Jedenfalls Gerüchte über Gold. Unmengen davon. Es heißt, die Spinnenkönigin habe gelbes Metall gehortet. Dass ihr Tempel auf einer Mine stehe. Götter lieben ihre goldenen Götzen.«

»Damit hätten Sie anfangen sollen, mein Junge!« Hurley klopfte Andy auf den Rücken. »Jetzt haben Sie mich neugierig gemacht. Also legen Sie mal nach. Erzählen Sie mir mehr. Haben Sie irgendwelche handfesten Beweise?«

Es gibt Momente im Leben eines Menschen, die es prägen. Man nennt sie Zäsuren. Sie grenzen Lebensabschnitte voneinander ab. Vorher und nachher. Als Andy an jenem Morgen in der Poststelle seinen Namen auf das Paket geschrieben hatte, hatte er eine Zäsur gesetzt und nun würde er sie in Stein meißeln.

»Ja«, sagte er. »Aber ich zögere. Was ich habe, ist zu geheim, um in der Öffentlichkeit besprochen zu werden.«

Er wartete. Schweiß lief ihm kalt den Rücken hinunter. Der schwere Blick von Hurley lag brütend auf ihm. Er wog ihn ab, schätzte seinen Wert ein. Ein Funkeln wilder Gier lag in diesen Augen.

»Kommen Sie morgen Nachmittag in mein Büro«, sagte Hurley. Er griff in seine Westentasche und drückte Andy dann mit seinen heißen Fingern eine dicke, goldumrandete Visitenkarte in die Hand.

HURLEY MINING COMPANY

Oscar M. Hurley

Gründer & Präsident

Arkham, Massachusetts

Am unteren Rand der Karte war eine Adresse im Geschäftsviertel aufgedruckt. Nachdem der Termin ausgemacht war, machte sich Hurley auf den Weg. Andy drehte sich um, um Harvey Gedney für seine Zeit zu danken. Aber Gedney hatte sich ans andere Ende der Ausstellungshalle verzogen, sein schwarzer Smoking glitt in einen mit Chinoiserie-Tapeten tapezierten Korridor voller Schatten. Enttäuscht zog sich Andy zurück und machte sich auf den Weg hinaus in die nächtlichen Straßen. In Gedanken war er bereits woanders. Er hatte ein Treffen morgen, auf das er sich vorbereiten musste.

Die gut gekleidete Frau, die nicht weit von ihm entfernt gestanden hatte, bemerkte er nicht. Sie hatte ihr langes blondes Haar hinter die Ohren geschoben, damit sie kein Wort des Gesprächs der drei Männer verpasste. Mit einem scharfen, schimmernden Fingernagel tippte sie gegen das Vitrinenglas. Sie bewunderte die Artefakte und wusste, welche gefälscht waren.

Auch sie würde morgen ein Treffen haben.

8

Iris

»Entschuldigen Sie, sind Sie Andy Van Nortwick?«

Der junge Mann, den sie im Museum belauscht hatte, hatte seinen Kopf in die Hände gestützt. Er blickte vom Schreibtisch auf. Seinem zerzausten Haar, den dunklen Augenringen und dem gleichen zerknitterten Anzug nach zu urteilen, den er gestern im Museum getragen hatte, vermutete sie, dass er nicht im Bett gewesen war. Der Ärmste. Sie hatte sich den Weg ins Gebäude erschlichen. Sie konnte selbstbewusst auftreten und sich gut an Details erinnern. Durch eine Beschreibung des jungen Reporters, der gestern Abend mit der Museumsgeschichte beauftragt gewesen war, erhielt sie von einer Sekretärin seinen Namen und den Standort seines Schreibtisches. Wenige Minuten später schritt sie nun auf ihn zu.

»Ich bin Andy.« Seine Stimme klang rau. Er unterdrückte ein Gähnen.

Sie schloss ihre behandschuhte Hand um seine Finger. Ein fester Händedruck. Ein knappes Lächeln, nur mit den Lippen.

»Freut mich, Sie kennenzulernen«, sagte sie. »Ist das ein guter Ort zum Reden?«

Er spähte um die Säule herum in die Nachrichtenredaktion. Auf der anderen Seite hatten sich Gesichter umgedreht, wie Blumen, die der Sonne folgten, und aus jedem Winkel wurde versucht, einen Blick auf die Besucherin zu erhaschen. Die Schreibmaschinen waren verstummt.

»Worüber?«, fragte er.

»Das ist privat. Ich weiß etwas, das Ihnen helfen könnte.« Sie zeigte auf ihn, als wäre er ein Paar Ohrringe, das sie anprobieren wollte, bevor sie sich entschied, ob sie sie kaufen würde.

»Dann sollten wir gehen.« Der Reporter nahm seinen Mantel vom Haken an der Wand.