Arkham Horror: Düstere Ermittlungen – Die gesammelten Novellen Band 2 - Jennifer Brozek - E-Book

Arkham Horror: Düstere Ermittlungen – Die gesammelten Novellen Band 2 E-Book

Jennifer Brozek

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Beschreibung

Die Ermittler von Arkham Horror sind in dieser zweiten Novellen-Sammlung die einzige Hoffnung der Menschheit gegen monströse Schrecken aus der Leere. Enthält drei herrlich schaurige Abenteuer: - Eine Behandlung gegen die schrecklichen Albträume einer Patientin durch die Psychologin Carolyn Fern reißt ein Tor zu den Traumlanden und den Alten Göttern auf. - Die geheimnisvollen Bücher der Miskatonic University sind eine unwiderstehliche Verlockung für den Bühnenmagier Dexter Drake und seine Assistentin Molly Maxwel. Doch schon bald fallen sie dunklen Mächten zum Opfer. - Als die Autorin Gloria Goldberg Arkham besucht, um den unvollendeten Roman ihres Schriftstellerkollegen fertig zu schreiben, entweichen seine Worte von den Seiten und beginnen Arkham zu verwandeln. Außerdem gibt es die Origin-Geschichten der Ermittler aus den Tiefen des Arkham Horror-Archivs.

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Seitenzahl: 592

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INHALT

Bekämpfe den Schwarzen Wind

von Jennifer Brozek

Das Blut Baalshandors

von Richard Lee Byers

Dunkle Offenbarungen

von Amanda Downum

Die Geschichten der Ermittler

BEKÄMPFE DENSCHWARZEN WIND

JENNIFER BROZEK

ÜBERSETZT VONBERND PERPLIES

KAPITEL 1

Es gibt Ereignisse und Menschen, die verändern das eigene Leben für immer. Allerdings erkennen wir nur selten, dass das gerade geschieht. Meine Perspektive, meine Weltsicht, mein Leben wurden dermaßen auf den Kopf gestellt, dass ich mich praktisch dazu gezwungen sehe, niederzuschreiben, was geschehen ist. Ich werde mich an diese Woche stets als einen Wendepunkt erinnern. Und ich werde mich immer an Josephine erinnern, die der Auslöser für diese Veränderungen war.

Es begann, wie all diese Geschichten beginnen: an einem ganz gewöhnlichen Tag. Meine regulären Patienten hatte ich alle schon gesehen. Dann jedoch traf ich auf meine neueste Patientin, Miss Josephine Ruggles. Unsere erste Begegnung war gleich ein Paradebeispiel in Sachen Machtdynamik zwischen Patient und Arzt.

Josephine, die Erbin des Ruggles-Publishing-Vermögens, saß auf der Kante eines dick gepolsterten Sessels, den Rücken gerade und das Kinn gehoben. Sie war noch nicht zu einer dieser namenlosen, traurigen Gestalten der Anstalt geworden, die mit schlaffen Schultern und leeren Augen durch die Korridore schlurften. Nach wie vor trug sie ein edles Leinenkleid, dessen hellgelbe Farbe ganz wunderbar zu dem warmen Mittelbraun ihrer Haut passte. Ihre ebenholzschwarzen Locken wurden von einer Schleife zusammengehalten. Ein kleines goldenes Kreuz hing um ihren Hals.

Auf den ersten Blick war Josephine eine schöne junge Frau von guten Manieren und tadelloser Herkunft. Zumindest wenn man den blassblauen Morgenmantel ignorierte, den sie über ihrem Leinenkleid trug. Oder die dunklen Ringe unter den tief in den Höhlen liegenden braunen Augen. Oder das schwache Zittern ihrer Hände, die sich an den Brokatstoff eines Gewands klammerten, das man für gewöhnlich nicht außerhalb des eigenen Schlafzimmers zeigte.

Ihr Leiden – Albträume, die blutige Spuren hinterließen – schien anfangs ein simpler Fall von Selbstverletzung zu sein. Dann sah ich mir diese Wunden genauer an. Der menschliche Geist vermag einiges, aber ich habe noch nie gesehen, dass er solche Wunden hervorgerufen hätte.

Wie wenig ich doch ahnte, dass ihre Wunden nur das erste von vielen Mysterien sein würden, denen ich mich, während Josephine in meiner Obhut weilte, gegenübersehen würde.

»Sie glauben mir nicht, Doktor Fern.« Josephine hatte eine angenehme tiefe Altstimme, wenngleich ihr die Erschöpfung eine raue Note verlieh.

Ihre Herausforderung verfolgte nur einen Zweck: das Terrain abzustecken. Unglauben würde zu Misstrauen führen, während Glauben dem Patienten gestattete, den Arzt zu manipulieren. Ich ließ mich nicht darauf ein. »Unsere erste Sitzung hat noch nicht einmal begonnen, Miss Ruggles.« Während Josephine darüber nachdachte, sah ich mir an, welche Medikamente meine neue Patientin bekam. Alle sollten ihr seligen, traumlosen Schlaf schenken.

Josephine deutete auf die Notizen in meinen Händen. »Sie hat begonnen, als Sie anfangen haben, die da zu lesen, Doktor. Sie glauben mir nicht.«

Was sollte ich nicht glauben? Meine Patientin litt unter Albträumen, trotz der Medikamente, die sie nahm, um genau das zu verhindern, und sie verletzte sich dabei im Schlaf selbst. Etwas an der Art, wie sie »Doktor« gesagt hatte, warf in mir die Frage auf, wie ihre Begegnungen mit Doktor Mintz verlaufen waren. Vielleicht rührte ihre aggressive Art daher.

In den Aufzeichnungen über sie gab es keine Auffälligkeiten. Andererseits waren viele seiner fragwürdigeren Experimente niemals in den offiziellen Akten vermerkt worden. Es gelang mir, meine Abscheu nicht zu zeigen, während ich mich im Sessel neben dem von Josephine niederließ. »Ich bin ganz Ohr. Bitte erzählen Sie mir, was ich Ihnen Ihrer Meinung nach nicht glaube.«

Josephine seufzte. »Diese Wunden – die Worte auf meinem Rücken. Sie glauben mir nicht, dass sie von diesen Dingen in meinen Träumen verursacht worden sind. Obwohl sie sich an Stellen befinden, die ich nicht erreichen kann. Obwohl sie so frisch und sauber aussehen, als wären sie von einer Druckerpresse eingestanzt worden.«

Natürlich war nichts von dem, was Josephine da behauptete, möglich. Zu Beginn gewähre ich meinen Patienten allerdings stets einen Ausweg aus ihren Fantasien. Eine Möglichkeit, ihre Aussagen zu beweisen oder zu widerlegen. »Ich habe Ihre Wunden noch nicht gesehen. Ich kann sie daher nicht beurteilen.«

Josephine schoss in die Höhe, wie an Marionettenfäden hochgezogen. Sie wandte mir den Rücken zu und öffnete ihren Mantel. Während das Kleidungsstück beinahe lautlos zu Boden glitt, wurde der Grund ersichtlich, warum sie es trug. Die Rückseite ihres Leinenkleids war rötlich-braun verfärbt. Die Reihen nässender Wunden hinterließen ihr Abbild auf dem Stoff. Sie wirkten sehr sauber und akkurat. Obwohl es ungewöhnlich für Patienten war, bei selbst verursachten Wunden so präzise vorzugehen, war es nicht undenkbar.

»Malachi. Er hat mir gesagt, dass Sie es verstehen könnten. Dass Sie damals versucht haben, ihm zu helfen.«

Ich hatte gerade Josephines Rücken und die hieroglyphenartigen Blutflecken auf dem Leinen untersucht – nun zuckte ich zurück.

»Malachi?« Wie war es möglich, dass sie den Namen meines ermordeten Patienten aus dem Sanatorium in Providence kannte? Es war völlig ausgeschlossen, dass sie ihn gekannt hatte, einen Herumtreiber auf der anderen Seite des Bundesstaats.

»Ja, Malachi. Er hat mich eine Weile in meinen Träumen besucht. Nun ist er fort. Ich habe ihn schon eine ganze Weile nicht mehr gesehen.« Die gut aussehende Frau drehte sich in einer kontrollierten, fließenden Bewegung um – ein weiteres Zeugnis ihrer inneren Stärke und Geisteskraft, die noch nicht von der Anstalt gebrochen worden waren. »Verstehen Sie es? Glauben Sie mir?«

Das tat ich nicht. Sie hatte in ihren Träumen mit Malachi gesprochen? Wie sollte das möglich sein? Natürlich gar nicht. Josephine konnte nicht mit meinem ermordeten Patienten gesprochen haben. Das wäre lächerlich gewesen. Sie musste einen anderen Malachi meinen. Schließlich sprach sie von Begegnungen in Träumen.

Ich verbarg meine Verwirrung, indem ich Josephines Morgenmantel aufhob und dann auf die Beine kam. Mit einem sanften Lächeln, das meinen inneren Aufruhr verbarg, reichte ich ihn ihr. »Vielleicht sollten wir ganz von vorn anfangen. Tun Sie so, als wüsste ich gar nichts. Und dann sehen wir weiter.«

Eine ganze Weile sah mich Josephine einfach nur an. Dann nahm sie das Kleidungsstück entgegen und streifte es wieder über. Sie nickte knapp. »Von Anfang an also. Soweit es einen gibt.«

Mein eigener Herzschlag dröhnte in meinen Ohren, als ich mich wieder hinsetzte. Ich versuchte, jeden Gedanken an Malachi zu verbannen. Meine Patientin stand hier vor mir. Sie brauchte meine Hilfe. Wenn ich nur genau genug zuhörte, würde ich ihr wahres Problem schon erkennen. Ich richtete meine Aufmerksamkeit voll und ganz auf sie.

Fünf Herzschläge später schloss sich Josephine mir an, nun wieder ganz die gelassene junge Dame aus der feinen Gesellschaft. Doch sosehr sie sich auch um ein ruhiges, kontrolliertes Auftreten bemühte, die Fassade bekam zunehmend Risse: Unbewusst zuckten ihre Blicke in meinem Büro umher und verweilten kurz auf den Fenstern und der Tür, als prüfe sie die Fluchtwege. Wenn ich nicht schnell handelte, würde ich sie an die Anstalt verlieren.

»Wie ging es los …? Vor drei Wochen schreckte ich nachts schreiend aus dem Schlaf auf. Noch während das Dienstmädchen ins Zimmer geeilt kam, verblasste der Albtraum bereits. Heute erinnere ich mich nur noch an eine Spirale aus Symbolen und ein Labyrinth in einem Wald.« Josephine unterbrach sich und sah mich an.

Mit einem Nicken ermunterte ich sie fortzufahren. Einstweilen sagte ich nichts dazu, auch mein Stift blieb still. Bis jetzt war an der Geschichte nichts außergewöhnlich. Das Gefühl von Verlorensein oder Kontrollverlust. Ich fragte mich, was vor drei Wochen geschehen war, um es auszulösen. Ich musste herausfinden, was sich in ihrem Leben geändert hatte.

»Ehrlich gesagt erinnere ich mich nicht an diese Dinge. Ich habe sie in mein Traumtagebuch geschrieben. Ich habe schon immer lebhaft geträumt. Allen in meiner Familie geht es so. Mein Bruder Leland hat sogar noch mehr als ich geträumt. Und was für wunderschöne Träume das waren.« Trauer huschte wie ein Schatten über ihr Gesicht, dann verschwand sie wieder unter einem einstudierten Ausdruck kultivierter Höflichkeit. »Selbst wenn ich die Medizin nehme, träume ich, aber ich kann mich dann nicht erinnern, was ich geträumt habe.« Der Blick ihrer dunklen Augen glitt über mein Gesicht, als suche sie dort etwas. »Ich kann Ihnen nicht sagen, warum mich die Symbole oder das Labyrinth geängstigt haben. Ich gewann meine Fassung wieder und ging zum Tagesgeschehen über.« Ihre Hand mit den sauber geschnittenen Fingernägeln knetete den glatten Stoff ihres Morgenmantels.

Erneut sagte ich nichts, sondern bedeutete ihr mit einer Geste weiterzusprechen. Schweigen war immer mein Verbündeter. Es hatte den Anschein, als sei Josephine mit einer blühenden Fantasie gesegnet. Das war nicht weiter ungewöhnlich. Dass ihre Familie dagegen die Fantasie ihrer beiden Kinder zu fördern schien, war durchaus nicht ganz normal. Aber es wirkte eindeutig so, als würde man dort über die eigenen Träume sprechen.

Josephines Augen verschleierten sich, als sie sich in Erinnerungen verlor. »Ich dachte, es wäre nur ein kurioser Einzelfall. Doch schon am nächsten Morgen bin ich wieder schreiend aufgewacht, am nächsten auch und am darauffolgenden, eine ganze Woche lang. Ich konnte mich nach dem Aufwachen nicht mehr an meine Träume erinnern. Ich muss mich gezwungen haben, sie zu vergessen. Ich wollte mich nicht erinnern.« Sie stockte. »Ein Teil von mir wusste es. Aber ich hatte zu große Angst, herauszufinden, was mich dazu gebracht hatte, mir jede Nacht die Kehle aus dem Leib zu schreien. Vor zwei Wochen tauchten dann die ersten Wunden auf meinem Rücken auf. Zuerst nur ein Symbol – vielleicht ein Wort. Dann folgte, wie ich annehme, ein Satz. Schließlich stand dort das, was Sie gesehen haben: ein ganzer Absatz, tief in meine Haut geritzt. Ich beschloss hierherzukommen, um Hilfe zu erhalten. Meine Wahl fiel auf Sie, nachdem ich erfahren hatte, dass Sie hier arbeiten.«

»Wie haben Sie das herausgefunden?« Mir fiel auf, dass Josephine begonnen hatte, mich in ihre Geschichte einzubinden. Sie nahm wohl an, ich würde glauben, dass diese Wunden Schriftzeichen waren. Oder sie weigerte sich zu akzeptieren, dass ich das eben nicht tat.

»Doktor Mintz sprach im Vorbeigehen mit Schwester Heather über Sie. Und ich erinnerte mich, dass Malachi Ihren Namen erwähnt hatte.« Josephine schenkte mir ein dünnes Lächeln. »Da ich freiwillig hier bin, kann ich selbst entscheiden, wer mich behandelt. Ich nehme an, dass unser guter Doktor über diese Wendung der Ereignisse nicht sehr glücklich ist.«

Erneut unterdrückte ich meine Abscheu gegenüber den Experimenten des »guten« Doktors. »Davon darf man wohl ausgehen. Würde es Ihnen etwas ausmachen, wenn ich mit ihm über seine Erkenntnisse spreche?« Ich fragte mich, ob Josephine Doktor Mintz gegenüber Malachi erwähnt hatte – ihren Malachi, nicht meinen. Dieser Name würde ihm etwas sagen.

Nein. Es war ein Zufall. Nichts weiter. Der Name mochte nicht beliebt sein, aber so ungewöhnlich war er nun auch wieder nicht. Sie bezog sich ganz eindeutig nicht auf meinen verlorenen Patienten.

Josephine schüttelte den Kopf. »Nein, es macht mir nichts aus. Aber ich werde mich nicht auf seine Experimente einlassen. Ich kann die Resultate an einigen seiner Patienten sehen, wenn diese armen Seelen an meinem Zimmer vorbeilaufen.«

»Natürlich nicht.« Die folgenden Worte wählte ich mit größtem Bedacht. Ich wollte ihr weder zustimmen noch ihr widersprechen. Außerdem wollte ich auch keine Türen zuschlagen. Wir waren immer noch dabei, Vertrauen aufzubauen. Ich musste sicher sein, dass ich verstanden hatte, was sie mir erzählte. Eine medizinische Zusammenfassung würde die Grundlage für künftige Diskussionen bilden. »So wie ich das verstehe, leiden Sie also seit drei Wochen unter Albträumen, haben aber keine Erinnerung daran, wovon sie handeln. Ist das richtig?«

Josephine dachte einen Moment über meine Worte nach, bevor sie zustimmend nickte.

»Vor zwei Wochen sind dann die Wunden nach und nach aufgetaucht. Sind sie immer auf Ihrem Rücken erschienen?«

»Nein. Die erste befand sich an meiner Seite.« Sie berührte ihre linke Hüfte. »Es war ein einzelnes Symbol. Danach sind sie auf meinen Rücken gewandert.«

»Heilen sie?« Ich wollte mir Notizen machen, aber etwas aufzuschreiben hätte eine Barriere zwischen uns errichtet. Mit einer einzigen Bewegung meines Stifts wäre ich von der Vertrauten zur Ärztin geworden. Und Vertrauen, das einmal beschädigt war, ließ sich nur schwer wieder aufbauen. Ich musste mich also für den Moment auf mein Gedächtnis verlassen.

»Manche. Aber über Nacht tauchen sie wieder auf. Ich fürchte, ich werde für immer Narben davontragen.«

»Ist in den letzten Tagen irgendetwas Neues erschienen?« Wenn ja, bedeutete das, dass ihre Krankheit unverändert fortschritt. Wenn nein, hatte sie sich stabilisiert – vielleicht dank des Wissens, dass ich ihre neue Ärztin sein würde.

Josephine schüttelte den Kopf. »Nicht dass ich wüsste. Aber mein Rücken ist mittlerweile so voll mit dieser Schrift, dass ich gar nicht sagen könnte, ob etwas neu hinzugekommen ist. Der Schmerz ist der gleiche: ein einziges Brennen über die ganze Fläche meines Rückens, das noch zunimmt und geradezu stechend wird, wenn man den Stoff davon abzieht.«

Einen Moment lang legte ich meine Hand ans Kinn und dachte nach. Als Psychologin untersuchte ich meine Patienten nur dann körperlich, wenn es absolut notwendig war. Hier schien das der Fall zu sein. Ich musste die Wunden selbst sehen, um sie zu markieren und ihren Heilungsprozess zu überprüfen. Außerdem würde mir das einen besseren Eindruck davon verschaffen, wie sie überhaupt erst entstanden waren.

Mit dieser Entscheidung stand ich auf. »Miss Ruggles, ich muss mir Ihre Wunden ansehen. Außerdem würde ich gern eine Zeichnung und einen Abdruck davon anfertigen. Würden Sie das erlauben?«

»Was wollen Sie damit anstellen?«

»Das weiß ich noch nicht, bis ich die Wunden gesehen habe. Es kommt darauf an, wie sie entstanden sind. Und das wird sich zeigen, wenn ich sie mir ansehe.« Ich ließ die verbale Hintertür offen, dass das, was Josephine mir über ihre Wunden erzählt hatte, wahr sein könnte. Darüber hinaus gewährte ich ihr die Würde, mein Gesuch abzulehnen und ihr Fantasiegespinst zu schützen.

Obwohl ich nicht eindeutig gesagt hatte, dass die Wunden meiner Meinung nach selbst zugefügt waren, konnte ich beobachten, wie Enttäuschung, Angst, Entschlossenheit und Akzeptanz über Josephines Züge huschten, eines nach dem anderen. Sie war zu dem Schluss gekommen, dass ich ihr nicht glaubte, ging aber davon aus, dass meine Untersuchung ihre Überzeugung belegen würde, dass ihre Träume die Zeichen hinterlassen hätten – und dass sie nicht selbst dafür verantwortlich war.

Ich auf der anderen Seite erwartete, genau das zu sehen, was ich bislang immer gesehen hatte – die aufgerissene Haut selbst zugefügter Wunden, die von Fingernägeln stammten. Es spielte dabei keine Rolle, wie gepflegt Letztere aussahen.

Josephine neigte den Kopf. »Ich erlaube es Ihnen. Mein Dienstmädchen wartet vor Ihrem Büro.«

Hanna, Josephines Dienerin, entsprach in jeder Hinsicht der Vorstellung einer Bediensteten. Sie trug ein schwarzes Kleid von guter Qualität und eine weiße Schürze. Ihre hellbraune Haut war rein und sauber. Ihr Haar – schwarz, aber von grauen Strähnen durchzogen – hatte sie zu einem straffen Knoten zusammengebunden. Lachfältchen zierten ihr Gesicht und ihr fehlten die typischen Schwielen einer Hausangestellten, die für niedere Arbeiten herangezogen wurde. Stattdessen schien sie sich allein um Josephines Wohlergehen zu kümmern.

Die zwei Frauen wirkten sehr innig im Umgang miteinander. Sie schienen sich ohne große Worte zu verstehen, was einen Grad an Vertrautheit nahelegte, den nur wenige je erreichen. Zweifellos würde Hanna für ihre Herrin bis ans Ende der Welt gehen. Vielleicht würde es mir gelingen, einen Termin mit ihr einzurichten, um zu sehen, ob sie mir Dinge erzählen konnte, zu denen meine Patientin nicht imstande war.

Ich verschloss die Bürotür, während Hanna Josephine mit ihrem Kleid half. Es kam zwar nur selten vor, dass mich jemand während einer Sitzung störte, aber es kam vor. Ich ging lieber auf Nummer sicher.

Ein scharfes Einatmen hinter mir erregte meine Aufmerksamkeit. Als ich mich umdrehte, sah ich, wie Hanna den Leinenstoff von Josephines Rücken zog. Das Dienstmädchen griff nach einem weichen Tuch, das sie in ihrem Korb mitgebracht hatte – zweifelsohne eine weitere Vorsorgemaßnahme der jungen Miss Ruggles. Ich hob eine Hand und hielt sie auf. »Warten Sie. Bitte. Gestatten Sie mir zuerst einen Blick darauf.«

Hanna sah Josephine an, die nickend ihr Einverständnis gab. »Verzeihen Sie, Ma’am. Normalerweise verbinde ich ihre Wunden jeden Morgen. Heute war eine Ausnahme.«

Auf den ersten Blick war Josephines Rücken ein blutiges Chaos. Dann konnte ich die Symbole ausmachen. Ich trat näher und betrachtete die Wunden genauer. Die Haut wölbte sich nach außen, als wären die Male aus ihr herausgetrieben statt in sie hineingekratzt worden.

Während ich sie betrachtete, verwandelte sich eine der Wunden vor meinen Augen in ein Schriftzeichen. Dann wurden die Reihen zu Sätzen. Dort stand wirklich etwas geschrieben. Ich spürte, wie mich die Zeichen anzogen. Sie fühlten sich gleichzeitig fremd und seltsam vertraut an.

»Nun?«, fragte Josephine.

Ich schob den Gedanken, der mich befallen hatte, beiseite und konzentrierte mich wieder auf meine Aufgabe. Wie konnte ich nur gedacht haben, dass es sich um eine Schrift handeln könnte? Es waren nichts weiter als Reihen von Wunden – keine Zeichen. Und ich musste herausfinden, wie diese Wunden entstanden waren. »Einen Moment bitte.«

Wenn man wieder und wieder an einer Wunde kratzte, blieben kleine Krater zurück. Ich hatte Patienten, die ihren Schorf blutig kratzten. Die Ränder solcher Wunden standen immer etwas hoch. Allerdings veränderten sie sich mit dem Heilungsprozess und dem Schaden, der dabei entstand, wenn man die Kruste von der Haut riss.

Die Ränder hier waren gerade und sauber. Ich berührte Josephines Rücken mit der Fingerspitze und fuhr über eines der Male. Das getrocknete Blut fühlte sich rau an, aber die Haut darunter war weich. Es fühlte sich so an, als wären die Wunden ganz frisch entstanden, obwohl die Verletzungen bereits seit über einer Woche existierten. Ein wiederholtes Aufreißen der Haut war nicht festzustellen. Das sollte unmöglich sein.

»Seien Sie so nett, Hanna, und reinigen Sie nun eine Wunde nach der anderen. Ich werde alles aufzeichnen. Dann gehen wir zur nächsten über.«

»Ja, Doktor.«

»Miss Ruggles …«

»Nennen Sie mich Josephine. Schließlich sind wir jetzt … vertraut miteinander. Oder nicht?«

Die junge Frau drehte sich nicht um, aber ich spürte, dass sie mir ein Lächeln schenkte. Oder vielleicht lächelte sie lediglich über einen Scherz, den nur sie verstand. »Wie Sie wünschen. Josephine. Nässen die Wunden im Laufe des Tages weiter?« Ich fragte mich, ob sie bemerkt hatte, dass ich ihre Vertrautheit nicht erwidert hatte, indem ich sie bat, mich Carolyn zu nennen. Ganz gleich ob sie uns für Freundinnen hielt oder nicht: Wir waren es nicht. Es gab Grenzen, die es in der Beziehung zwischen Arzt und Patient einzuhalten galt.

»Manchmal. Je anstrengender ein Tag ist, desto mehr reagieren die Wunden darauf.«

»Danke.« Ich nickte Hanna zu. »Bitte, fangen Sie an.«

So standen wir da, die Erbin, ihre Bedienstete und ich: ein Stillleben der Fürsorge. Hanna säuberte eine Wunde nach der anderen und erlaubte mir jedes Mal, sie exakt abzuzeichnen, bevor sie zur nächsten überging. Eine schwere Stille hing in der Luft – nicht unangenehm, nur erwartungsvoll.

Als Hanna das letzte Mal von Blut gereinigt hatte, hatte mehr als die Hälfte von ihnen angefangen, zu glänzen und zu nässen. Ich zog eines meiner sauberen Taschentücher aus der Schreibtischschublade und faltete es auf. »Wir werden das hier jetzt in einer einzigen Bewegung auf Josephines Rücken pressen«, erklärte ich der Bediensteten, »dann ziehen wir es wieder weg, sobald sich alle Male darauf zeigen.« Es sollte bei dem feinen weißen Stoff nicht lange dauern, bis sich die Wunden als Ganzes darauf abzeichnen würden.

Gemeinsam bedeckten wir Josephines Rücken. Vorsichtig presste ich meine Hand gegen den Stoff. Die Zeichen – die Wunden – bluteten fast augenblicklich durch. Mit einem Nicken zogen wir das Taschentuch wieder ab und nun hatte ich eine perfekte Nachbildung der Schrift, die sich scheinbar gewaltsam ihren Weg durch Josephines Haut bahnte.

Etwas an der Art, wie sich das Blut in den Stoff saugte, drängte mir eine weitere Assoziation auf: die an Blut, das auf Tausenden religiösen Gemälden durch Haut brach. Während Hanna die Wunden ihrer Herrin verband und ihr dabei half, sich wieder anzukleiden, erfüllte ein einziger Gedanke meinen Geist: Stigmata.

Was für ein Trauma auch immer Josephines Geist zerrüttet hatte, es schien denkbar, sogar logisch, dass die einzige Möglichkeit, diesem Ausdruck zu verleihen, in der Manifestation Stigmata-ähnlicher Symptome lag. Ich gestattete mir ein erleichtertes Lächeln. Wie es aussah, hatte ich eine mögliche Antwort.

Aber zuerst würde ich den »guten« Doktor Mintz konsultieren müssen.

KAPITEL 2

Nach meiner Begegnung mit Josephine suchte ich ihren ehemaligen Psychologen Doktor Mintz auf, um ihn um alle Informationen zu bitten, die er mir zu dem Fall geben konnte. Mir war von Anfang an bewusst, dass dieses Unterfangen eine Herausforderung werden würde. Bis jetzt hatte ich mich immer geweigert, meine Forschung im Bereich hypnotisierende Medikamente und seine Experimente mit einem »Traumverstärker« zu verbinden. Hätte ich gewusst, dass seine Hilfsbereitschaft davon abhängen würde, wie nützlich ich ihm sein würde, hätte ich mich vielleicht geweigert, im Arkham-Sanatorium zu arbeiten.

Unter diesen Umständen war meine Beziehung zu dem »guten« Doktor bestenfalls als angespannt zu bezeichnen, an schlechten Tagen auch als feindselig. Bei diesem Gespräch hoffte ich irgendwo in der Mitte zu landen.

Unser Aufeinandertreffen lief letztlich ungefähr so, wie es zu erwarten gewesen war.

»Doktor Mintz!« Ich rief ihm hinterher, kurz bevor er in seinem Büro verschwinden konnte. Er blieb im Eingang stehen und wartete – ein gepflegt aussehender, älterer Herr, der mir mit einem Anflug von Ungeduld entgegenblickte. Wenn man ihm nicht gab, was er von einem wollte, war er kein freundlicher Zeitgenosse. Obwohl er sich nicht rundheraus feindselig gab, sparte er sich seine guten Umgangsformen doch für diejenigen auf, die bereit waren, ihm etwas zu bieten.

»Was wollen Sie?« Er trat in sein Büro und drehte sich um, wobei er die Hände hinter dem Rücken faltete.

»Miss Josephine Ruggles. Sie hatten mehrere Sitzungen mit ihr. Ich dachte mir, es wäre vielleicht …«

Er unterbrach mich mit einem Schnauben. »Dieses hysterische Weib? Haben Sie noch nicht begriffen, dass sie sich verletzt, um Aufmerksamkeit zu bekommen? Verschreiben Sie ihr etwas Laudanum und schicken Sie sie nach Hause.«

Verblüfft sah ich ihn an. »Ach! Nach einer Woche mit Miss Ruggles ist das Ihre einzige Diagnose?«

Meine Rückfrage und der Tonfall, in dem ich sie stellte, ließ Doktor Mintz zögern. Er brummte leise. »Nun, ich muss zugeben, dass sie für eine Frau ihrer Rasse ungewöhnlich gebildet, höflich und wohlhabend ist. In diesen Punkten ist sie bemerkenswert.«

Ich riss die Augen auf, bemüht, meine Verärgerung über seine konservativen Ansichten zu verbergen. »Ihre Rasse?«

»Ja. Man sieht nicht oft schwarze Erbinnen – oder auch nur schwarze Frauen, die gebildet sind.«

»Das ist so nicht richtig, Doktor.« Ich blieb ganz ruhig. »Ich stamme aus einer vermögenden Familie. Das Geld war nötig, um meine Ausbildung zu finanzieren. Mehr als ein Viertel meiner Mitstudenten waren nicht weiß. Und was das Begütertsein angeht: Im Umfeld der Neureichen, und viele aus der schwarzen Elite zählen dazu, ist die einzige Farbe, die zählt, die Ihres Geldes. Zumindest gilt das unter der jüngeren Generation.«

Der Doktor brummte erneut. »Wie auch immer, Doktor Fern, ich bleibe bei meiner Diagnose einer Hysterie. Miss Ruggles will einfach nur Aufmerksamkeit.«

»Und ihre Wunden? Ich habe sie mir angesehen. Sie sind außergewöhnlich akkurat und die Haut ringsum ist …«

»Sie ist begabt, das muss man ihr lassen. Gelenkig genug, um jede Stelle ihres Rückens aufzukratzen. Ich weiß nicht, warum sie sich selbst verletzt. Ich hatte nicht genug Zeit, um diesen Teil ihrer Psyche auszuloten, und sie hat sich meiner Behandlungsmethode verweigert.« Er blickte mich an und ein kleines, selbstgefälliges Lächeln umspielte seine Lippen. »Aber wenn Sie ihre Probleme nicht lösen können, helfe ich Ihnen gern aus. Vielleicht wäre es an der Zeit, dass wir unsere Forschungsgebiete zusammenlegen. Immerhin sind es ihre Träume, so sagt sie doch, die ihr solchen Kummer bereiten. Wenn wir zur Wurzel des Problems vordringen …«

Ich schüttelte den Kopf und machte einen Schritt zurück. Hier würde ich keine Hilfe bekommen. »Nein, Doktor. Ich denke nicht, dass das nötig sein wird. Ich wollte nur Ihre privaten Notizen über die Gespräche einsehen. Die Krankenakte war ziemlich dünn.«

»Private Notizen sind genau das, Doktor: privat. Guten Tag.« Mit diesen Worten schlug er mir die Tür vor der Nase zu.

Ich schob meine Brille zurecht. »Danke für Ihre Hilfe«, murmelte ich der gleichgültigen Barriere zu. Ich hätte es besser wissen sollen. Er würde mir nicht helfen, solange ich ihm nicht half. Diese Anstalt war wirklich ein deprimierender Ort. Ich würde also ins Archiv gehen und sehen müssen, ob sich dort noch etwas finden ließ. Oder, noch besser, ich könnte versuchen, Schwester Heather dazu zu bringen, mir ein paar Hinweise darüber zu geben, was Doktor Mintz verbergen wollte.

Ich zog die Jacke meines Kostüms enger um mich. Selbst hier, im Korridor der Anstalt, herrschte die ständige Kälte der Steinwände vor, trotz des Teppichbodens und der Gemälde, die die Wände zierten. Es war der einzige Korridor im ganzen Gebäude, der mit Teppich ausgelegt war. Er diente Besuchern und Patienten gleichermaßen als visueller und akustischer Hinweis darauf, dass das Obergeschoss der Anstalt nicht so war wie der Rest. Hier hatten die Ärzte ihre Büros und führten ihre Gespräche. Patienten in diesem Korridor wurden stets von Anstaltspersonal begleitet.

Ich eilte aus dem Obergeschoss eine enge Treppe hinunter in die tiefer liegenden Stockwerke, in denen Schwester Heather die meiste Zeit auf ihre ganz eigene Weise für die Patienten sorgte. Der Gestank ungewaschener Körper traf mich wie ein Faustschlag, als ich den Korridor erreichte. Meine Schuhe klackerten auf dem schwarz-weiß gemusterten Boden, der vor Dreck und anderen Dingen starrte, über die man lieber nicht nachdenken wollte. Normalerweise gelang es mir, die Kälte der Anstalt, ihren Geruch und die schwache Korridorbeleuchtung zu ignorieren, die unnatürliche Schatten hervorrief.

Ich arbeitete hier, um diesen Ort für alle – Ärzte und Patienten gleichermaßen – besser zu machen. Meine Tätigkeit war nichts für Leute mit schwachen Nerven, wie ich während meiner Zeit im Sanatorium von Providence gelernt hatte. Aber ich konnte – und würde! – meine Aufgabe fortsetzen, ohne der Atmosphäre von Verzweiflung und Verdammnis, die in dieser Anstalt herrschte, zum Opfer zu fallen. Es musste mir einfach gelingen. Ich schien die einzige Person hier zu sein, die dazu imstande war.

Es wurde Zeit, dass ich meine Umgebung vergaß und mich ganz auf meine Aufgabe konzentrierte. Das hier war nichts anderes als der Tag, an dem ich zum ersten Mal in ein Gespräch mit einem widerspenstigen Patienten gegangen war. Es ist immer der erste Blick, der mir verrät, ob es ein Problem geben wird oder nicht. Ganz egal ob es daran liegt, dass ich eine Frau bin oder jünger als die Person, mit der ich sprechen werde, der Blick ist immer der gleiche. Während meiner Zeit an der Universität von Chicago war ich Expertin darin geworden, ihn zu erkennen und dann nicht weiter zu beachten.

Verunsichert oder nicht, als ich den ersten Patientenkorridor erreichte, hatte ich einmal mehr meine freundliche, professionelle Maske aufgesetzt. Es handelte sich um einen der offenen Bereiche, in dem es den Patienten ohne Neigung zu Gewalt erlaubt war, sich zwischen ihren Zimmern und dem Aufenthaltsraum frei zu bewegen. An den meisten Tagen besuchte ich meine Patienten auf ihren Zimmern. Das war angenehmer für sie. So hatten sie das Gefühl, ein wenig Kontrolle über die Situation zu haben. Ich nickte Theresa, meiner tanzenden Patientin, zu, als sie winkte – sie liebte es, im Walzerschritt mit der Fantasiegestalt ihres verstorbenen Ehemanns dahinzugleiten –, und dann Victoria, die auf einem Sofa saß und vor und zurück schaukelte, als wäre sie eine Maschine. Sie erwiderte den Gruß, als sich unsere Blicke trafen, aber hörte nicht auf, sich zu wiegen.

Ich fand Schwester Heather, die gerade damit beschäftigt war, eine mir unbekannte Patientin aus den Duschen zurückzubegleiten – eine der wenigen verschlossenen Türen in diesem Korridor. Ich glaube, ich hätte die Statur der Schwester überall wiedererkannt. Mit ihren breiten Schultern, dem geraden Oberkörper und dem kurz geschnittenen, ergrauenden Haar – ungewöhnlich flott für ein derart ernstes Ambiente – hätte Schwester Heather perfekt in die neueste Flapper-Mode gepasst. Stets bewegte sie sich mit bewusster Entschlossenheit, wie eine Frau auf einer Mission. Im Geiste konnte ich sie mir ebenso leidenschaftlich auf einem Suffragetten-Protestmarsch wie auf der Tanzfläche einer Flüsterkneipe vorstellen.

Im Moment konzentrierte sich Schwester Heather darauf, ihre Patientin durch den kalten Anstaltskorridor zu bugsieren. Hinter ihr schlenderte ein Pfleger auf Streife durch den Gang und blickte in die Zimmer der Patienten hinein. Mir fiel auf, dass er dabei Schwester Heather und ihre Patientin im Auge behielt. Die Patientin wirkte auf mich unauffällig. Langes, nasses schwarzes Haar klebte im Gesicht der Frau und sie hatte diesen schlurfenden Schritt einer Patientin, die unter starken Medikamenten stand. Ich verdrängte sie aus meinen Gedanken. Sie war nicht meine Patientin und daher auch nicht mein Problem. »Schwester Heather, könnte ich Sie kurz sprechen?«

Die ältere Frau schenkte mir ein einstudiertes, schmallippiges Lächeln. Sie hielt ihre Patientin an einem Arm fest, als sie mitten im Gang zum Stehen kamen. »Was gibt es, Doktor Fern?«

»Es geht um Josephine Ruggles. Ich hätte gern Doktor Mintz’ Akten über sie.«

»Ich bin mir sicher, dass die Akten in Ihr Büro gebracht worden sind.« Sie runzelte die Stirn und hielt ihre Patientin mit einem beiläufigen Ruck davon ab, davonzuwandern. Die Patientin neigte ihren Kopf unserem Gespräch zu.

»Nicht alle.«

Sie sah mich durchdringend an und ich bemühte mich, gleichmäßig weiterzuatmen. Doch ich spürte bereits, wie mir die Röte den Hals hinauf in die Wangen stieg.

»Ich verstehe. Nun, ich schätze, dann müssen Sie mit Doktor Mintz reden.«

»Das würde ich, aber er würde mir ohnehin nur sagen, dass ich sie von Ihnen bekomme. Wir wissen beide, wie er ist.«

Sie hob das Kinn und blickte von oben auf mich herab. Misstrauen stand ihr deutlich ins Gesicht geschrieben. »Ich werde sehen …«

Unvermittelt kam Bewegung in die Patientin, die ihren Kopf geneigt hatte, um mich unter ihrem nassen Haar heraus anzusehen. Sie entriss sich Schwester Heathers Griff, packte meinen Arm und zog uns beide auf die Knie. Ein einzelnes goldbraunes Auge starrte mich an, hell und stechend. Der Rest ihres Gesichts war nach wie vor von ihrem Haar verdeckt.

Bevor ich mich von ihr losreißen konnte, schüttelte sie den Kopf, eine ebenso heftige wie verzweifelte Geste. »Sie müssen ihr helfen. Sie sind die Einzige, die das kann.«

Erschrocken und wie betäubt erstarrte ich im Griff der Patientin. »Wem helfen?« Das war das Einzige, was ich über die Lippen brachte. Ich versuchte, das Gesicht der Frau besser zu erkennen, aber sie schüttelte erneut den Kopf und ihr Haar verbarg es vor mir. Ein strahlend goldbraunes Auge – wach trotz all der Medikamente in ihrem Körper – erwiderte meinen Blick.

»Es ist in ihr. Es war zu viel für mich. Zu viele Dinge, für die ich verantwortlich war. Ich konnte nicht … Sie brauchte es … Ich wusste nicht, was sie tun würde … Der Schutz versagte. Sie müssen ihr helfen.«

Ich legte meine Hand auf die ihre und sprach mit betont ruhiger Stimme. »Ich verstehe Sie nicht. Wem muss ich helfen?«

Der Griff um meinen Arm wurde fester, obwohl das Bewusstsein in ihrem einzelnen Auge bereits schwand. »Zwingen Sie mich nicht, Ihnen die Scheuklappen von den Augen zu reißen. Zwingen Sie mich nicht dazu. Das wird Sie für immer verändern. Mich wird es auch verändern. Bitte zwingen Sie mich nicht dazu!«

Dann packte Schwester Heather die Frau an den Schultern und zerrte sie wieder auf die Beine. Erschüttert stand auch ich auf und musterte die Patientin. Sie reckte mir eine Hand entgegen. »Helfen Sie ihr, bitte. Aber zwingen Sie mich nicht dazu, Ihnen die Scheuklappen von den Augen zu reißen!« Im nächsten Moment hatte der Pfleger sie im Griff. Der Mann schlang einen kräftigen Arm um die Hüfte der Frau, während er einen ihrer Arme auf den Rücken drehte. Ohne größere Mühe trieb er die nun nicht länger Widerstand leistende Frau vor sich her.

Sie streckte mir ihren freien Arm entgegen und murmelte etwas über jemanden, der Hilfe brauchte, und über Scheuklappen vor meinen Augen. Nichts davon ergab irgendeinen Sinn.

»Bringen Sie sie auf ihr Zimmer. Fixieren Sie sie, bis sie sich beruhigt hat.« Schwester Heather drehte sich um und musterte mich mit prüfendem Blick von Kopf bis Fuß. »Interessant. Seit sie vor drei Wochen hier eingetroffen ist, hat sie nicht mehr so viele zusammenhängende Sätze gesprochen.«

Ich spürte noch immer den Griff der Patientin an meinem Arm, hörte noch immer die Dringlichkeit in ihrer Stimme, sah noch immer ihren Blick, der mich festhielt. »Wer ist sie?«

»Professor Sati Das. Eine Professorin für Archäologie aus England. Geboren in Assam, Indien. Ihr Vater ist Brite, ihre Mutter eine Frau aus Assam. Sie hat hier an der Ostküste irgendeinen Ort besucht und ist dabei ins Koma gefallen. Nach dem Aufwachen hat sie nur Unsinn über Scherben und Folianten gebrabbelt. Man hat sie aus dem Saint Mary’s zu uns verlegt.«

Das ergab auf eigentümliche Weise Sinn. Ihr britischer Akzent hatte eine fremdartige Note gehabt. »Was meinte sie damit, dass sie mir ›die Scheuklappen von den Augen reißen‹ müsse? Hat sie so etwas schon einmal gesagt? Und wer ist die Person, für die sie um Hilfe bittet?« Ich presste meinen Arm an meinen Körper – er schmerzte noch immer. Die Kraft der Patientin war bemerkenswert gewesen.

»Ich kann Ihnen keine dieser Fragen beantworten. Zu mir hat sie noch nie so etwas gesagt.« Die Schwester unterzog meinen Arm einer flüchtigen Untersuchung, drehte dabei an meinem Handgelenk, dann dem Ellbogen. »Es ist alles in Ordnung. Sie werden einen blauen Fleck davontragen, aber das ist alles.« Schwester Heather rückte ihre Schwesternhaube zurecht. »Das war wirklich seltsam. Normalerweise ist sie so ruhig.«

Ich rieb mir über den Arm und versuchte, das Gefühl von Satis kalter Hand zu vertreiben. »Vielleicht liegt es an der Art ihres Traumas. Wir haben uns noch nie zuvor gesehen. Wer ist ihr Arzt?«

»Doktor Mintz behandelt sie. Sie gilt als mögliche Kandidatin für seinen Traumverstärker.« Schwester Heather sah mich an. »Ich werde ihm von ihrer Reaktion Ihnen gegenüber erzählen müssen – wenn ich die Akten hole, die Sie haben möchten.«

Ich nickte, wohl wissend, dass Doktor Mintz die Schwester abweisen würde. Oder vielleicht gab er ihr auch Kopien der nutzlosen Informationen, die er mir schon geschickt hatte. »Natürlich.«

»Vielleicht haben Sie etwas an sich … die Farbe Ihres Haars oder Ihre Brille … das etwas bei ihr ausgelöst hat.« Die Oberschwester musterte mich noch immer, als wäre ich ein interessanter Käfer.

»Möglicherweise«, pflichtete ich ihr bei und unterdrückte ein Schaudern. »Danke, dass Sie mir die Akten besorgen.« Ich nickte ihr zum Abschied zu und drehte mich auf dem Absatz um. Schwester Heather hielt mich nicht auf, während ich davoneilte, aber ich spürte ihren stechenden Blick in meinem Rücken. Was würde sie dem guten Doktor noch alles über diese eigenartige Begegnung erzählen?

Ich kehrte in die Sicherheit meines Büros zurück, dankbar für die immerhin schwache Wärme und die Vertrautheit meiner Bücher. Ich fühlte mich hin- und hergerissen zwischen meinem aktuellen Fall und der Begegnung mit der Professorin. Warum hatte sie so reagiert?

Mit einem Kopfschütteln befreite ich meinen Geist von der Patientin, die nicht meine war, und wandte mich meinen Aufzeichnungen über Josephine Ruggles zu. Ich betrachtete die Zeichnung, die ich von ihren Wunden gemacht hatte, und verglich sie mit dem Abdruck auf dem Taschentuch. Die Male auf Josephines Rücken wirkten tatsächlich wie eine Schrift. Vielleicht eine Kreuzung zwischen Arabisch und Sanskrit. Irgendetwas Altes jedenfalls. Ein vergessener Dialekt? War es möglich, unter Stigmata zu leiden, die sich in geschriebenen Worten auf der Haut manifestierten?

Ich hatte zu viele Fragen und keine Antworten.

In der Zwischenzeit musste ich mir eine Behandlungsmethode für Josephine ausdenken, um ihre Albträume in den Griff zu bekommen. Ganz gleich, ob die Wunden selbst zugefügt oder Stigmata-ähnliche Symptome waren, es war anzunehmen, wahrscheinlich sogar, dass ihr Hypnosesitzungen helfen würden. Die Ursache ihres Problems lag in ihrem Geist. Dessen war ich mir sicher.

Ich durchstöberte meine medizinischen Werke, fand aber nur einen Hinweis auf Wundmale, die nicht christlicher Natur waren – was einem Bluten am Kopf, den Handflächen, der Seite oder den Handgelenken entsprach. Die Quelle war ein deutlich älteres, nicht medizinisches Buch aus dem frühen neunzehnten Jahrhundert. Natürlich würde ich ein solches Buch nicht in der kleinen Präsenzbibliothek der Anstalt finden. Ich würde die Universitätsbibliothek besuchen müssen, wenn ich überhaupt eine Chance haben wollte, es – oder ein vergleichbares Werk – aufzuspüren.

Es war eine ganze Weile her, seit ich das letzte Mal die Orne-Bibliothek aufgesucht hatte. Aber vielleicht fand ich dort den Schlüssel zu Josephines Leiden.

KAPITEL 3

Als ich ein Kind war, zogen wir kreuz und quer durch die Vereinigten Staaten. Mein Vater arbeitete für die Eisenbahn und reiste von Station zu Station, um sie zu inspizieren, zu verbessern und zu verwalten, bis sie den Standards der Union Pacific entsprach. Dann reisten wir weiter. Der längste Aufenthalt an einem Ort belief sich auf zwei Jahre.

Seine Reisen erlaubten es mir, die Universität von Chicago für mich zu entdecken und mich in sie zu verlieben. Da sie im Hinblick auf Frauen zu den progressiveren Bildungseinrichtungen zählte, beendete ich mein Grundstudium dort mit Auszeichnung – und einer Offenheit des Geistes, die an der Ostküste nicht üblich ist.

Als ich bereit für mein Hauptstudium war, hatte sich meine Familie in Boston, Massachusetts, niedergelassen. Dadurch war es mir nur möglich, meine weiteren Studien am Pembroke College zu absolvieren. Ich wollte in der Nähe meiner Familie bleiben. Während meiner Studienjahre hatte ich Gelegenheit, der Orne-Bibliothek der Miskatonic-Universität einen Besuch abzustatten. Ich recherchierte dort Forschungsunterlagen für meine Abschlussarbeit.

Die Universität von Chicago hat eine wundervolle Bibliothek – ebenso das Pembroke College. Beide sind bis unter die Decke mit Büchern gefüllt. Aber beiden fehlt die Sinnlichkeit, die Atmosphäre oder die Verehrung für Bücher, die der Orne-Bibliothek zu eigen ist. Es ist die Art Bibliothek, von der Bibliotaphen träumen, mit dunklen Holzvertäfelungen, gewaltigen Regalen und einer andächtigen Atmosphäre.

Die Orne-Bibliothek der Miskatonic-Universität zu betreten fühlte sich an, als würde man über heiligen Boden schreiten. Eine fast übernatürliche Stille erfüllte den großen, offenen Raum und der Duft alter Bücher hing in der Luft. Selbst meine Schritte auf dem Marmorboden klangen gedämpft. Ich seufzte selig. Diese Bibliothek war mein Zuhause.

Meine Füße fanden den Weg zum Zettelkatalog wie von allein. Ich schlüpfte zwischen den großen Holztischen hindurch und nickte der Bestandsbibliothekarin, Miss Mayer, zu. Wenn ich nicht fand, was ich suchte, würde ich sie fragen. Doch die Bibliothekarin hatte mir beigebracht, dass ich zuerst auf eigene Faust recherchieren musste, weil die Wahrscheinlichkeit groß war, dass ich dabei über etwas stolperte, das ich zuvor nicht bedacht hatte.

Meine erste Suchrunde im Register ergab durchaus einige Ergebnisse, aber ich war mir unsicher, wie nützlich diese sein würden. Für den Anfang hatte ich vier Bücher ausgemacht: Fünf Wunden: Der erste Stigmata-Fall von Davidson, 1720, Das Phänomen der Stigmata, Göttlich und teuflisch von Spring und Mayhew, 1895, Stigmata: Eine Untersuchung von Hunt und Mead, 1901, und Das Wunder der Wundmale von Harrington, 1910. Auch wenn keines der Bücher medizinischer Natur war, würden sie mir einen Eindruck davon geben, ob Josephines Male Stigmata sein könnten oder nicht.

Während ich die vier Bücher zusammensuchte, stolperte ich über eines mit dem Titel In Blut geschrieben von Sutherlin und Drury-Crusett, 1919. Es war neu und schien sich auf den ersten Blick einer deutlich analytischeren Herangehensweise als die anderen vier Bücher zu bedienen. Ich fügte es meinem Stapel hinzu. Als ich zu den großen Holztischen zurückkehrte, wählte ich fast wie von selbst den, an dem ich früher immer gesessen hatte – ein Tisch hinten in der Ecke, der mir eine gute Sicht auf den Rest des Raums bot und der die Anzahl an Personen beschränkte, die hinter mir vorbeiliefen.

So fortschrittlich meine beiden Universitäten auch sein mochten, manche der weniger aufgeklärten unter meinen Mitstudenten hatten es damals für lustig gehalten, den Frauen meiner Seminare »Streiche« zu spielen. Zweimal war mir von hinten Wasser übergegossen worden, während ich in der Bibliothek recherchiert hatte, wodurch Stunden meiner Arbeit einfach dahin gewesen waren. Zweimal war ich klatschnass und mit Schamesröte im Gesicht in meinen Schlafraum gelaufen, während meine Klassenkameraden hinter meinem Rücken feixten. Zweimal war genug. Ich hatte daraus gelernt, mich nur noch dort hinzusetzen, wo ich den Raum, die Anwesenden und das, was hinter mir geschah, im Blick behalten konnte.

Stunden später lagen seitenweise Notizen zu Stigmata vor mir, aber ich war mir unsicher, ob mir irgendetwas davon im Fall von Josephine weiterhelfen würde. Es gab keinerlei Fälle, bei denen Wundmale im Schlaf auftraten. Es gab keinerlei Fälle – nicht einmal Geschichten darüber –, in denen Stigmata Worte in irgendeiner Sprache gebildet hätten. Selbst Fälle, bei denen die Stigmata auf der Haut eine erkennbare Form angenommen hatten, waren unbekannt.

Alle Forschungen – wenn man sie überhaupt so nennen konnte – waren tief im religiösen Mystizismus verwurzelt und führten jedes Mal zurück zur Christusgestalt. Selbst das anfangs vielversprechende In Blut geschrieben erwies sich als Enttäuschung, mal abgesehen von einem Verweis auf ein weiteres Buch, Anomalistische Gedanken zum Thema Wunder von Avi Zunger, einem jüdischen Gelehrten. Es stand kein Erscheinungsjahr hinter dem Eintrag und ich konnte das Buch im Zettelkatalog nicht finden.

Es wurde Zeit, Miss Mayer aufzusuchen.

Mit der gleichen stillen Ehrerbietung, die man einem respektablen Professor entgegenbringen würde, näherte ich mich der Auskunftstheke. Eine Bibliothekarin ist die Hüterin der Bücher und kennt ihre Geheimnisse. Wenn man beide gut behandelt, wird man mit Wissen belohnt. Und genau das brauchte ich im Augenblick.

Miss Mayer war eine ältere Dame. Ihr dichtes Haar, das im Nacken zu einem Dutt gebunden war, wies mehr Grau als Schwarz auf. Sie trug ein makelloses gepunktetes Kleid und einen Pullover. Außerdem hing ihr eine Lesebrille an einer langen Kette um den Hals.

Miss Mayer wartete, bis ich die Auskunftstheke erreicht hatte, bevor sie den Kopf hob. Ihre Miene hellte sich auf, als sie mich erkannte. »Miss Fern! Ich sah Sie hereinkommen. Oder heißt es mittlerweile ›Doktor‹?«

»Es heißt Doktor«, bestätigte ich.

»Gut gemacht.«

»Danke.«

»Was kann ich für Sie tun?«

»Ich suche dieses Buch.« Ich zeigte ihr den Titel des Buchs und den Autorennamen. »Aber es scheint nicht im Zettelkatalog zu sein. Es wurde in einem anderen Buch als Quelle genannt. Es behandelt die Psychologie hinter Wundern und Wunderdenken im Hinblick auf Stigmata.«

Die Bibliothekarin blickte einen Moment lang schweigend ins Leere, während sie ihren inneren Zettelkatalog konsultierte. Dann nickte sie geistesabwesend. »Wenn wir das Buch haben, gibt es ein paar Stellen, wo es liegen könnte. Das sollte nicht lange dauern.«

Mit diesen Worten ließ sie mich an der Auskunftstheke stehen. Ich widerstand dem Bedürfnis, ihr wie ein Hündchen hinterherzulaufen. Stattdessen brachte ich die Bücher, die ich zuvor entnommen hatte, an ihre Stellplätze in den Regalen zurück. Anschließend sammelte ich meine Sachen ein. Entweder fand Miss Mayer das, wonach ich suchte, oder ich war hier fertig.

Als ich zur Theke zurückkehrte, erwartete mich die Bibliothekarin bereits. Sie beugte sich über ein dickes Werk mit handbeschriebenen Seiten – ein Bestandsbuch vielleicht oder ein Verzeichnis. Ich wartete still, bis sie sich aufrichtete. »Das ist ein interessantes Werk, nach dem Sie sich da erkundigt haben. Es liegt im Raum für seltene Bücher.«

»Ich verstehe. Darf ich es mir ansehen?« Ich war mir nicht sicher. Als Angestellte der Anstalt hatte ich die Genehmigung, einige Bereiche der Bibliothek zu betreten, aber ich wusste nicht, welche Rechte hierfür benötigt wurden.

Miss Mayer nickte. »Ja, aber Sie müssen im Raum für seltene Bücher bleiben und Baumwollhandschuhe tragen. Ich nehme an, dass Sie welche dabeihaben?«

»Ja, Ma’am. Habe ich.« Ich zeigte ihr die Handschuhe, die ich bereits trug. Ich hatte es mir zur Angewohnheit gemacht, neben meinen gewöhnlichen Handschuhen immer auch ein Paar Baumwollhandschuhe in meiner Handtasche mitzuführen – ein Überbleibsel der vielen Stunden, die ich mit Füllfederhalter und Papier an der Universität verbracht hatte. Natürlich trug ich außerhalb der Anstalt Handschuhe, aber im Inneren war eine derartige Förmlichkeit unnötig.

Sie schrieb etwas auf einen Notizzettel. »Der Raum für seltene Bücher liegt im zweiten Stock zur Linken am Ende des Gangs. Behalten Sie diese Karte bei sich. Sie dient sowohl zur Auskunft als auch«, sie schenkte mir ein wissendes Lächeln, »als Zugangserlaubnis, um sich in dem Raum aufhalten zu dürfen. Sie finden das gesuchte Buch im dritten Regal auf dem zweiten Regalbrett. Es ist nicht besonders alt, aber selten und empfindlich. Gehen Sie vorsichtig damit um.«

Ich wusste, dass diese Warnung eine Standardfloskel war. »Natürlich. Vielen Dank für Ihre Hilfe.«

»Gern geschehen. Bitte denken Sie daran, dass die Bibliothek um Punkt sieben schließt.«

»Das werde ich.« Ich wandte mich der Treppe zu und warf dabei einen Blick auf meine Uhr. Es war bereits nach fünf. Ich hatte Stunden hier verbracht, ohne zu merken, wie viel Zeit verstrichen war. Aber genau so lief Recherche. Glücklicherweise war meine Patientenliste nicht lang und ich würde meine Arbeit auch morgen erledigen können. Hier und jetzt war ich etwas auf der Spur, das meiner neuesten Patientin helfen mochte.

Am Ende des Gangs im zweiten Stock ragte eine eindrucksvolle Doppelflügeltür auf. Über der Tür verkündete ein Schild, dass dies der Ruggles-Raum für seltene Bücher sei. Neben der geschlossenen Tür hing auf Augenhöhe eine schwarz-goldene Plakette. Neugierig trat ich näher.

Gewidmet Thomas Ruggles (1846–1918)

Zu Ehren seiner Liebe für das geschriebene Wort und seines lebenslangen Einsatzes, Wissen für alle zugänglich zu machen. In Erinnerung an seine großzügige Unterstützung der Orne-Bibliothek. Ein Mann, der seiner Familie, seinen Freunden und der Gemeinschaft stets treu war. Sein Verlust erinnert uns daran, wie wichtig es für einen Bibliothekar ist, junge Menschen zu unterstützen, Kultur zu vermitteln und in turbulenten Zeiten Informationen zu bieten. Wir werden ihn vermissen.

In liebender Erinnerung, Alonzo und Nina Ruggles

Ich strich mit der Hand über die erhabenen Bronzelettern der letzten zwei Namen. Alonzo und Nina waren Josephines Eltern. Auf den ersten Blick schien das ein unglaublicher Zufall zu sein. Dann erinnerte ich mich daran, dass Josephine die Erbin von Ruggles Publishing war. Natürlich hatten ihr Großvater – wenn das Thomas Ruggles gewesen war – und ihre Eltern die Universität und ihre Bibliothek unterstützt.

Ich öffnete die Türen zum Raum für seltene Bücher und hielt inne, um mich umzusehen. Statt dem Grau, dem Weiß und dem dunklen Holz des Erdgeschosses war dieser Raum in helleren Braun- und Beigetönen gehalten. Ich schaltete das Licht ein. Schwere rostrote Vorhänge hielten alles natürliche Licht von den empfindlichen Büchern fern. Eine trockene Kühle herrschte. Ich schloss die Tür, um das Klima zu bewahren.

Ockerfarbene Bücherregale mit Glasfronten säumten die Wände, außerdem gab es zwei frei stehende Regale, die neben drei großen Tischen standen. An der Oberkante jedes Regals war eine Messingnummer befestigt. So viel geheimes Wissen. Mir schwamm der Kopf. Selbst der Boden war eine Mischung aus hellen und dunklen Hölzern, die in einem Spiralmuster angeordnet waren, ein auffälliger Kontrast zu dem Marmorboden des Erdgeschosses.

Da ich wusste, dass meine Zeit knapp bemessen war, begab ich mich zum dritten Bücherregal und öffnete die Glastüren. Jede einzelne von ihnen konnte, wie es aussah, abgeschlossen werden, und ich fragte mich, ob die Bibliothekare abends auch die Regale oder nur die Tür des Raums für seltene Bücher absperrten. Der charakteristische Geruch vergilbter Bücher begrüßte mich wie ein alter Freund. Während ich das zweite Regalbrett auf das Buch, das ich suchte, überprüfte, fiel mir auf, dass nirgendwo Staub lag. Die Bibliothekare kümmerten sich gut um den Raum und seinen wertvollen Inhalt.

Nachdem ich meinen Schatz gefunden hatte, ließ ich mich an einem der Tische nieder, um zu lesen.

Anomalistische Gedanken zum Thema Wunder von Avi Zunger war ursprünglich auf Hebräisch verfasst und dann ins Englische übersetzt worden. Höchstwahrscheinlich war es die Abschlussarbeit eines Studenten gewesen. Von hinten nach vorne geschrieben, steckte jeweils eine Seite sauber getippter englischer Übersetzung zwischen zwei Buchseiten, wobei Markierungen auf die korrespondierenden Stellen in der Originalschrift hinwiesen. Höchstwahrscheinlich war der Student im Hauptfach eher Linguist als Philosoph oder Psychologe gewesen.

Ich vertiefte mich in den Text. Avi Zunger hatte eine interessante Art, die mentalen Verrenkungen zu beschreiben, die der Geist betrieb, um das Unmögliche zu akzeptieren. Während ein Kind alles als wahr akzeptieren konnte, was man ihm präsentierte, ganz gleich wie unglaublich, beschäftigte Zunger die Frage, was einen Erwachsenen dazu bringen konnte, das Gleiche zu tun. Vielleicht gab es eine gebundene Übersetzung des Werks, die ich mir bestellen konnte. Es würde ein kostspieliges Vergnügen werden, aber dieses Buch war wertvolles Recherchematerial und gehörte in meine persönliche Bibliothek.

Während die Minuten verstrichen und ich mir Hinweise für den Umgang mit Josephine und ihren Wunden notierte, begann ich mich zu fragen, ob ich mich nicht etwas vorschnell auf das Konzept der Stigmata festgelegt hatte. Wieder und wieder wälzte ich diesen Gedanken im Kopf, wobei ich geistesabwesend auf den Boden starrte. Irgendetwas daran kam mir vertraut vor … und doch fremdartig.

Meine Sicht verschwamm. Ich hörte auf, mir Notizen zu machen, hörte auf, den Text zu lesen. Das Spiralmuster auf dem Boden drehte sich plötzlich und wogte, als wäre es lebendig. Die dunkleren rostroten Formen verschwammen und flossen durch das Holz, wodurch sie den Malen auf Josephines Rücken auf einmal seltsam ähnlich sahen.

Ich hatte drei Symbole zum Vergleich auf einen Notizzettel gemalt und zog diesen nun aus meiner Handtasche, um ihn mir vor das linke Auge zu halten. Ich verglich das Muster auf dem Boden mit den Symbolen. Dabei ließ ich zu, dass sich meine Augen entspannten. Die Zeichen auf dem Boden und meine Zeichnungen verschwammen fast auf die gleiche Weise, wurden beinahe eine Einheit.

War dieser Raum irgendwie mit dem Leiden meiner Patientin verbunden?

Ich dachte über diese Frage nach, als ich den Zettel wieder wegsteckte. Natürlich hatte Josephine diesen Raum gesehen, als er einem ihrer verstorbenen Familienmitglieder gewidmet worden war. Natürlich könnte das etwas in ihr ausgelöst haben. War all dies eine verspätete Trauerreaktion auf den Tod ihres Großvaters? Ich musste mit ihr darüber sprechen. Wie hatte ihre Beziehung zu Thomas Ruggles ausgesehen? Und warum sollte es mehr als zwei Jahre dauern, bevor sich ihre Trauer auf solch offensichtliche und blutige Art und Weise Bahn brach?

Ein Blick auf die Uhr verriet mir, dass es bereits halb sieben war. Ich musste aufräumen und mich von Miss Mayer verabschieden. Vielleicht wusste sie, wer den Raum gestaltet hatte. Mithilfe dieser Person mochte es mir möglich sein, die Male auf Josephines Rücken mit ihrem Großvater in Verbindung zu bringen.

KAPITEL 4

Nicht alle meine Patienten eignen sich für die Hypnosetherapie. Viele sind zu misstrauisch, temperamentvoll oder nicht imstande, sich genug zu entspannen, um sich geführt mit ihren innersten Gedanken auseinanderzusetzen. Bei solchen Patienten wende ich gewöhnlichere Methoden der Psychologie an, um zum Kern ihrer Probleme vorzustoßen – sofern das möglich ist.

Meine Hypnosetherapietechnik entstand nach einer Menge Recherche und Nachdenken. Im Grunde geht es um Folgendes: Viele meiner Patienten können sich ihren Traumata einfach nicht im kalten, erbarmungslosen Licht des Tages stellen. Aber in einem entspannten, schläfrigen, hypnotisierten Zustand lässt das innere Kind (oder der Kritiker) los und gestattet ihnen, ihre Probleme mit mehr Abstand zu betrachten.

Ich hatte Glück, dass sich der Apotheker des Sanatoriums von Providence bereit erklärte, mit mir zusammenzuarbeiten und die Lösung zu entwickeln, die ich heute verwende. Das Sedativ entspannt den Körper und den Geist, ohne für Bewusstseinsverlust zu sorgen. Es reicht gerade, um das Unbehagen jener zu lindern, die unfähig sind, sich zu entspannen, und ihren Geist empfänglich für Suggestion zu machen. Beides ist nötig, damit die Patienten den schwierigen Pfad hinunter zu ihren eigenen Ängsten und Traumata geführt werden können. Dabei bleiben sie gerade genug bei Bewusstsein, um meine Anwesenheit zu registrieren und meine Führungsautorität sowie das Gefühl von Sicherheit anzunehmen, die ich ihnen biete.

Genau das, so hatte ich entschieden, brauchte Josephine. Und ich hatte recht.

Die Sonne stand noch hoch am Himmel, aber Josephine war für heute meine letzte Patientin. Ich zog die Vorhänge zu, während sich Josephine setzte. Sie war genauso adrett gekleidet wie gestern, in ein hellblaues Kleid und einen Pullover, aber die Ringe unter ihren Augen wirkten noch tiefer und dunkler und verliehen ihr etwas Getriebenes. Neugierig sah sie mich an, sagte aber nichts. Erneut war ich es, die das Gespräch anstoßen musste. »Wie geht es Ihnen?«

»Hatte ich Albträume letzte Nacht? Ja. Habe ich wieder geblutet? Ja. Habe ich Schmerzen? Nein. Alles wie immer.« Die Erbin deutete auf den Raum. »Sie haben Ihr Büro seit gestern umgeräumt.«

Ich wusste, dass sie sich damit vor allem auf den Sitzbereich meines Büros bezog. Ihr kurz angebundenes Auftreten und der Umstand, dass sie sofort das Thema gewechselt hatte, verrieten mir, wie schlimm die letzte Nacht gewesen sein musste. Josephine war müde und angespannt.

»Ja. Ihnen mag das hier neu erscheinen, aber so arrangiere ich die Möbel fast immer, wenn ich eine Hypnosetherapiesitzung plane. Das ist nicht nur praktisch und bequem, sondern auch ein sichtbarer Hinweis für Ihr Unterbewusstsein.«

Die zwei dick gepolsterten Sessel standen einander nun direkt gegenüber, der Beistelltisch leicht versetzt daneben. Auf dem niedrigen Tisch lagen meine Abschriften ihrer Akte, meine Gesprächsnotizen und die Ergebnisse meiner Bibliotheksrecherche. Das Beruhigungsmittel, das ich bevorzugt verwendete – Spritze und Ampulle –, ruhte obenauf, direkt neben meinem Lichtverstärker.

Ich ließ mich ihr gegenüber nieder. Wir waren uns nun sehr nah, unsere Knie trennten kaum ein paar Handbreit. Diese Nähe suggerierte einigen Patienten, wie Josephine, Vertrauen und Aufrichtigkeit. Bei anderen musste ich deutlich mehr Abstand halten. »Ich habe viel nachgedacht und ich habe nun einige Ideen, was Ihren Fall angeht. Haben Sie in den letzten Jahren etwas Tragisches erlebt? Einen Verlust vielleicht?«

Josephine dachte eine ganze Weile darüber nach. »Ich habe Verluste erlitten, ja … obwohl mir keiner einfallen würde, den ich tragisch nennen würde.«

»Ist vielleicht ein Familienmitglied oder eine Kindheitsfreundin gestorben?«

Sie schüttelte den Kopf. »Nicht in den letzten Jahren.«

Verdrängung war eine natürliche Reaktion auf den Schmerz, den der Verlust geliebter Menschen mit sich brachte. Es war nicht ungewöhnlich bei meinen Patienten, dass sie sich weder ihres Verlusts noch der Wunden, die dieser an ihrer Psyche hinterlassen hatte, bewusst waren. »Ich glaube, dass Ihre Wunden ein einzigartiger Fall von Stigmata-ähnlichen Symptomen sein könnten, ausgelöst von Trauer.«

Josephine sah mich stumm an. Sie erwartete meine Erklärung. Als diese nicht erfolgte, entspannte sich ihre steife Haltung etwas. »Trauer? Was sollte ich … Wen sollte ich betrauern?«

»Trauer«, bekräftigte ich. »Darüber werden wir gleich sprechen.«

Ihre Miene wandelte sich von Verwirrung über Überraschung hin zu dankbarer Erleichterung. »Sie glauben mir? Dass ich mich nich … Dass ich mich nicht selbst verletzt habe.«

»Ich glaube Ihnen.« Josephine hatte den Gedanken, dass sie an Trauer leiden könnte, bereits wieder verdrängt, weil ich ihr tatsächlich zu glauben schien. Diese Erleichterung und Dankbarkeit würde sie sehr viel empfänglicher für unsere Hypnosesitzung machen. Das musste ich ausnutzen.

Und noch etwas war interessant. Bis zu diesem Augenblick hatte sie nie ein Wort verschliffen. Vielleicht war das ein Zeichen starker Gefühle. Ich würde das beobachten und den Auslöser ermitteln. Unbewusste Manierismen logen selten – selbst wenn der Patient argwöhnisch war. Ich schärfte mir ein, auf jede Veränderung ihrer Sprache zu achten.

Josephine schloss ihre Augen. »Danke.«

»Sie wissen, dass ich Hypnotherapie bei meinen Patienten verwende, um zum Kern ihrer Probleme vorzudringen?«

Sie nickte.

»Ich würde diese Technik gern bei Ihnen anwenden.«

»Was heißt das?« Misstrauen kehrte in ihre Stimme zurück und ihre Haltung versteifte sich wieder, während sie die Augen öffnete. »Wie wird sich das anfühlen? Es klingt … ungewöhnlich.«

»Es ist ungewöhnlich. Eigentümlich und merkwürdig. Manche Kollegen haben mich schon für verrückt erklärt. Allerdings können sie weder meine Ergebnisse noch die Anzahl an geheilten Patienten leugnen.« Ich zuckte mit den Schultern. »Es erfordert nichts von Ihnen, abgesehen von der Bereitschaft, weiterzumachen. Ich kann keine Person hypnotisieren, die nicht bereit dazu ist. Sie muss es auch wollen.« Ich deutete auf die Spritze und die Ampulle mit der klaren Flüssigkeit. »Das hier ist ein Beruhigungsmittel. Es ist nicht zwingend nötig, aber es hilft dem Patienten dabei, sich zu entspannen und sich auf die hypnotische Reise zu begeben.«

»Wenn ich mich einverstanden erkläre, was machen wir dann?«

»Wir werden uns auf eine Reise in Ihren Geist begeben. Und wir werden den Ursprung Ihres Leidens ausfindig machen.«

Josephine fixierte mich mit ihrem Blick. »Und Sie werden bei mir sein?« Es war eine Frage, eine Bitte und zu einem kleinen Teil auch ein Befehl. Sie war eine Frau, die es gewohnt war, dass man ihr gehorchte.

»Ich werde die ganze Zeit bei Ihnen sein. Ich werde mich nicht von Ihrer Seite rühren.«

»Wenn meine Albträume irgendein Anhaltspunkt sind, ist mein Geist ein gefährlicher Ort.«

Es war eine Herausforderung. Ich nickte. »Das mag sein, aber ich werde nicht von Ihrer Seite weichen, während wir uns in der Sitzung befinden. Sie sind bei mir sicher.« Das war ein Versprechen, das ich all meinen Patienten gab, und meine Versprechen waren mir heilig.

Ihr Lächeln wirkte etwas brüchig. »Das glaube ich kaum, Doktor. Aber ich glaube Ihnen, dass Sie es ernst meinen.« Mit diesen Worten knöpfte sie die Manschette eines Ärmels auf und schob sowohl den Pullover als auch den Leinenstoff nach oben, um ihren Unterarm zu entblößen. Sie hielt ihn mir hin.

Ich zögerte nicht. Ich bereitete das Beruhigungsmittel vor und verabreichte es ihr. Währenddessen redete ich mit ihr, teils zur Ablenkung, teils zur Information. »Während meiner Forschungen bin ich einem Gelehrten begegnet, der untersuchte, wie der menschliche Geist reagiert, wenn er mit dem Unmöglichen konfrontiert wird – Wundern, Magie, dem Übernatürlichen. Wenn wir jung sind, akzeptieren wir diese Dinge, denn wir wissen noch nicht, dass wir das nicht sollten. Das Gleiche geschieht in Träumen. Wenn wir älter werden und mit solchen Dingen konfrontiert werden, weigern wir uns, sie zu akzeptieren, bis wir absolut keine andere Erklärung mehr haben. In Träumen jedoch kehren wir in den kindlichen Zustand der Akzeptanz des Unmöglichen zurück, denn unser Verstand ist nicht da, um uns zu sagen, dass etwas nicht sein kann.«

»Das ist das Ziel der Hypnosetherapie?«

»Genau.« Ich presste ein Stück Watte auf die Einstichstelle, bevor ich sie mit einem Pflaster bedeckte. Ich half ihr sogar, ihren Ärmel zurechtzurücken und ihre Manschette zuzuknöpfen, als wäre ich ein Ersatz für Hanna. »Wenn wir erwarten, dass etwas Wunderbares passiert, ist es fast so, als würde unser Geist in einen unschuldigen Zustand der Akzeptanz zurückverfallen. Wenn es dann also tatsächlich passiert, nehmen wir es an, ohne es zu hinterfragen.«

Ich dämpfte die Lichter, bis nur noch eine Lampe über und hinter Josephine leuchtete. »Ich möchte, dass Sie genau das versuchen. Ich möchte, dass Sie jeden Gedanken anerkennen und akzeptieren, der Ihnen, während wir auf der Reise sind, in den Sinn kommt. Ganz gleich was Sie denken, Sie werden in Sicherheit sein. Ich bin an Ihrer Seite.«

»Versprechen Sie mir das?« Josephine Stimme hatte bereits den sanften Klang völliger Entspannung.

Ich sah, wie sie in den bequemen Sessel zurücksank. Ihre dunkelbraunen Augen blickten mich unter schweren Lidern an. »Ich verspreche es. Ich werde nicht von Ihrer Seite weichen, solange wir in der Sitzung sind.« Ich nahm meinen Lichtverstärker vom Beistelltisch – ein Gerät, das ich erfunden hatte, um meinen Patienten zu helfen, in Trance zu verfallen. Es war kaum mehr als ein hölzerner Rahmen mit einer Metallscheibe, die an einem dünnen Draht aufgehängt war. Ich setzte mich ihr gegenüber. »Richten Sie Ihre Aufmerksamkeit hierher, Josephine, auf die Scheibe.« Ich ließ die Scheibe vor- und zurückschwingen. Das bewegte Licht wanderte über ihr Gesicht.

Josephine lächelte. »Keine Uhr?«

»Keine Uhr«, bestätigte ich. »Das hier ist eine Therapie, keine Jahrmarktsshow. Es gibt keinen Grund für eine schicke Uhr, die sowohl das Publikum als auch einen Teilnehmer in den Bann schlägt. Nur das hier. Nur Sie und mich. Sehen Sie auf das Licht und lassen Sie Ihre Gedanken treiben. Lassen Sie sie einfach schweifen, wohin sie wollen. Und wenn Ihre Augenlider schwer werden, schließen Sie sie.«

Sie schloss die Augen, öffnete sie kurz und schloss sie dann erneut.

Ich sprach mit leiser, sanfter Stimme. Ein durchgehend monotoner Klang war der Schlüssel, um einen Patienten in Trance zu halten. »Denken Sie daran, dass Sie bei mir sicher sind.«

»Sicher.« Josephines Tonfall war leise und schläfrig. Das Beruhigungsmittel wirkte schnell.

Ich senkte den Lichtverstärker und legte ihn auf meinen Schoß. »Wir begeben uns auf eine Reise. Ich möchte, dass Sie an die letzten drei Wochen denken. Stellen Sie sich vor, sie wären jemand anderem widerfahren. Es liegt ein dünner Schleier zwischen Ihnen und Ihren Erinnerungen. Wenn Sie sich erinnern, wird es sich anfühlen, als wären diese Geschehnisse jemand anderem passiert. Sie können Sie nicht berühren. Verstehen Sie mich, Josephine?«