Arkham Horror: Litanei der Träume - Ari Marmell - E-Book

Arkham Horror: Litanei der Träume E-Book

Ari Marmell

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Beschreibung

Ein schauerlicher Mystery-Roman aus der Welt von Arkham Horror. Als ein begabter Student der Miscatonic University auf mysteriöse Weise verschwindet, beginnt sein besorgter Mitbewohner Elliot Raslo auf eigene Faust zu ermitteln. Doch Elliot hat Probleme. Er kämpft gegen die verstörende Anziehungskraft eines ewigen Gesangs, den nur er zu hören vermag. Könnte es eine Verbindung zwischen dem Lockruf in Elliots Träumen und der zerbrochenen Steinstele geben, die mit frühzeitlichen Schriften bedeckt ist und von der sein Freund besessen war? Während er nach Antworten forscht, wird er in einen teuflischen Plan hineingezogen, der das Ziel hat, die Wiedergeburt eines uralten Schrecken einzuleiten …

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Die deutsche Ausgabe von ARKHAM HORROR: LITANEI DER TRÄUME wird herausgegeben von Cross Cult, Teinacher Straße 72, 71634 Ludwigsburg. Herausgeber: Andreas Mergenthaler, Übersetzung: Bernd Perplies; verantwortlicher Redakteur und Lektorat: Markus Rohde; Lektorat: Katrin Aust; Korrektorat: Peter Schild; Satz: Rowan Rüster; Cover-Illustration: John Coulthart; Print-Ausgabe gedruckt von CPI Moravia Books s.r.o., CZ-69123 Pohořelice.Printed in the EU.

Titel der Originalausgabe:

ARKHAM HORROR: LITANY OF DREAMS

First published by Aconyte Books in 2021

Aconyte Books is an imprint of Asmodee Entertainment Ltd

Copyright © 2021 Fantasy Flight Games. All rights reserved.

Arkham Horror and the FFG logo are trademarks of Asmodee Group or affiliates.

German translation copyright © 2021 Cross Cult.

Print ISBN 978-3-96658-629-0 (Dezember 2021)

E-Book ISBN: 978-3-96658-630-6 (Dezember 2021)

WWW.CROSS-CULT.DE

Mit Dank an Kirstine,die dieses Buch viel besser gemacht hatund dafür gesorgt hat, dass ich weit wenigerwie ein ignoranter, unsensibler Trottel dastehe,als es sonst der Fall gewesen wäre.

Inhalt

PROLOG

KAPITEL EINS

KAPITEL ZWEI

KAPITEL DREI

KAPITEL VIER

KAPITEL FÜNF

KAPITEL SECHS

KAPITEL SIEBEN

KAPITEL ACHT

KAPITEL NEUN

KAPITEL ZEHN

KAPITEL ELF

KAPITEL ZWÖLF

KAPITEL DREIZEHN

KAPITEL VIERZEHN

KAPITEL FÜNFZEHN

KAPITEL SECHZEHN

KAPITEL SIEBZEHN

KAPITEL ACHTZEHN

KAPITEL NEUNZEHN

KAPITEL ZWANZIG

KAPITEL EINUNDZWANZIG

KAPITEL ZWEIUNDZWANZIG

KAPITEL DREIUNDZWANZIG

KAPITEL VIERUNDZWANZIG

KAPITEL FÜNFUNDZWANZIG

EPILOG

ÜBER DEN AUTOR

PROLOG

Die Aromen des Lebens, die sich schwer und süßlich in seiner Kehle sammelten, tanzten Arm in Arm mit dem Gestank von Fäulnis und Tod.

Wilmott Polaski, eine blasse, dürre Gestalt, die sich zwischen muffigen Büchern und staubigen Regalen, plappernden Studenten und zänkischen Akademikern wohlfühlte – und ganz sicher nicht geplagt von wucherndem Buschwerk, funkelnden, aus den Schatten spähenden Augen, Schwärmen von Insekten und durchnässten Socken –, konnte sich kaum entscheiden, welcher der Gerüche schlimmer war.

Die Stiefel, die er eilig für diesen Ausflug gekauft hatte, passten schlecht, und sein Mantel war kläglich unzureichend. Mücken, die es in der anhaltenden Winterkälte eigentlich gar nicht hätte geben dürfen, schwebten in dicken Wolken über dem trägen Wasser. Seltsame Vögel, oder zumindest glaubte er, dass es Vögel waren, riefen in der Ferne. Fetzen von Moos hingen von schlaffen Ästen herab, die immerfort nach ihm zu greifen schienen, vielleicht angezogen von seiner Körperwärme, wo sie sich doch nach dem Tauwetter des Frühlings sehnten, der sich hartnäckig zu kommen weigerte.

Gab es im Hockomock-Sumpf eigentlich Alligatoren? Er glaubte es nicht, konnte sich nicht erinnern, jemals von solchen Tieren hier gehört zu haben. Doch mit jedem Blick auf die dunkle, sich kräuselnde Wasseroberfläche, die unangenehm am Straßenrand leckte, wurde er unsicherer.

Kurzum, der gute Professor wünschte sich von ganzem Herzen, nicht hier sein zu müssen. Mit etwas Glück würde sein Aufenthalt nicht lange dauern.

Ein weiterer zwanzigminütiger Marsch offenbarte weder einen Alligator noch eine andere Gefahr, die größer als die der Moskitos war, aber schließlich kam – endlich! – das Dorf in Sicht, wegen dem er den Weg aus Arkham auf sich genommen hatte.

Sofern man diese Ansiedlung, wie er mit einiger Verachtung feststellte, überhaupt als Dorf bezeichnen konnte.

Der Ort hatte, soweit er wusste, keinen Namen. Es gab keine festen Grenzen, keine Geschäfte, kein Gemeindezentrum oder irgendeine Identität. Er bestand nur aus einer Ansammlung von verstreut liegenden Häusern und winzigen Gehöften am Rande des Hockomock, eine »Gemeinde« war er nur in dem Sinne, dass die mehreren Dutzend Familien, die in diesen baufälligen Hütten lebten, einigermaßen regelmäßig miteinander Kontakt hatten und nur selten mit jemand anderem.

Die Häuser waren alt und wackelig, Schindeln und Wände begannen zu verrotten, die Stützpfeiler, die sie über dem schlammigen Grund hielten und vor möglichen Überschwemmungen bewahrten, bogen sich wie die Beine eines müden Großvaters. Obwohl Wilmott in der Ferne vereinzelte Arbeitsgeräusche, das Schlagen von Werkzeugen auf Holz oder nasse Erde, vernahm, sah er niemanden.

Nervös kramte er in seiner Manteltasche und überprüfte noch einmal ein Bündel handschriftlicher Notizen sowie ein hastig skizziertes Schaubild. Er hatte mit einem unfreundlichen Empfang gerechnet – von Henry Armitage und anderen Akademikerkollegen hatte er so manchen Bericht darüber gehört, wie misstrauisch einige dieser isoliert lebenden Massachusetts-Gemeinschaften sein konnten –, aber irgendwie kam ihm das völlige Fehlen eines Empfangs noch beunruhigender vor.

Laut seiner hingekritzelten kleinen Karte war er aber immer noch auf dem richtigen Weg. Mit einem Seufzer steckte er die Papiere wieder in seine Tasche und schritt weiter.

Das Wasser des Sumpfes sammelte sich vor ihm und füllte eine flache Vertiefung in der Straße. Schlamm schmatzte unter seinen Schritten und drohte die schlecht sitzenden Stiefel von seinen blasengequälten Füßen zu reißen. Wilmott unterdrückte eine ganze Tirade von Flüchen, die ihm auf der Zunge lagen. Verflucht sollte diese nutzlose Polizei von Arkham sein, verflucht Chester und verflucht auch er selbst dafür, dass er sich in die Unternehmungen des jungen Narren hatte verwickeln lassen!

Er blickte zum Himmel, denn er hoffte, so die Uhrzeit abschätzen zu können, damit er wusste, wie viel Zeit ihm noch blieb, um seine selbst erwählte Mission zu erfüllen. Er musste schließlich früh genug umkehren, um nicht am Ende im Dunklen hier draußen zu stehen. Doch die Sonne, die sich hinter den Zweigen der Zypressen und den dicken, schwerfälligen Wolken verbarg, war keine Hilfe. Mit einem weiteren leisen Fluch richtete er seinen Blick wieder auf den Weg vor sich …

War es das? Das Haus dort, zusammengekauert am Rand des tieferen Wassers? Das Holz aufgequollen, die Fenster schief wie müde Augenlider?

Denkbar war es. Seinem letzten Blick auf die Karte zufolge sollte das sein Ziel sein. Er bemühte sich, die Nervosität, die in seinen Eingeweiden rumorte, zu ignorieren, und richtete sich zu seiner vollen, beeindruckenden – wenn auch beklagenswert dürren – Größe auf. Dann marschierte er vorwärts und schlug mit den Fingerknöcheln gegen die Tür.

Sie erbebte. Flocken getrockneter Farbe bröselten ab und fielen ihm vor die Füße. Sonst passierte nichts.

Wilmott wartete einen höflichen Moment lang, dann klopfte er erneut, noch fester.

Und dann ein weiteres Mal.

Was sollte er machen, wenn niemand zu Hause war? Irgendwie war ihm bei all seinen Überlegungen, ob er überhaupt kommen sollte, bei all der Zeit, die er gebraucht hatte, um sein Ziel ausfindig zu machen und dann zu erreichen, eine so grundlegende Hürde gar nicht in den Sinn gekommen. Vielleicht war diese Art von Unternehmung doch komplizierter, als er gedacht …

Unvermittelt schwang die Tür auf, weniger mit einem Knarren als mit einem lauten und ziemlich einschüchternden Krachen. Wilmott hatte gerade die Faust gehoben, um es ein weiteres Mal zu versuchen. Nun blickte er plötzlich auf ein vergilbtes Hemd unter einer zerschlissenen Jeans-Latzhose.

Er hob den Kopf. Ein vor Wut gerötetes, von dichten, ungepflegten Bartstoppeln bedecktes Gesicht starrte auf ihn herab.

»Was?« Die Stimme des Mannes war so rau wie sein Kinn und seine Wangen.

Wilmott zog seinen Hut – sowohl aus Höflichkeit als auch um sich eine Sekunde Zeit zu erkaufen, um sich von dem Schrecken zu erholen. »Guten Tag. Sind Sie Woodrow Hennessy?«

»Wer will das wissen?« Der Mann sprach mit einem fast unverständlichen, schleppenden Dialekt. Wilmott kam trotz all seiner Bemühungen, freundlich zu sein, kein besserer Begriff als Hinterwäldler in den Sinn.

»Mein Name ist Professor Wilmott Polaski, von der Miskatonic-Universität. Ich …«

»Unileute interessieren mich nich. Wenn Sie ’n Führer suchen, gehen Sie zurück und fragen drüben in Taunton.« Die Tür begann sich zu schließen.

»Nein, Sie verstehen nicht. Ich suche nach einem vermissten Studenten. Chester Hennessy.«

Die Tür verharrte.

Wilmott verstand das als Aufforderung, weiterzumachen, und fuhr fort: »Chester ist jetzt seit einigen Wochen verschwunden und ich fürchte, die Behörden sind mit ihrem Latein am Ende. Ich habe mich erinnert, dass er Sie gelegentlich erwähnt hat, und ich dachte, vielleicht …«

»Hab seit Jahren nich mit Chester gesprochen. Er und seine Leute ham nichts mit unsrer Seite der Familie zu tun.«

Das stimmte so nicht, zumindest wenn er Chesters Schilderungen Glauben schenken durfte. »Mr. Hennessy, wenn ich vielleicht reinkommen dürfte, könnten wir darüber …«

»Ich sagte, ich weiß nichts. Gehen Sie.«

Jetzt wurde Wilmott seinerseits wütend, nicht nur wegen der ständigen Unterbrechungen, sondern auch wegen der gesamten Haltung des Mannes. Erkannte der den Ernst der Lage nicht? War er nicht in Sorge um seinen Verwandten?

Vielleicht hatte es der Kerl irgendwie nicht verstanden. Immerhin war er nur ein ungebildeter Tölpel.

»Mr. Hennessy, ich glaube, ich habe mich womöglich nicht ganz klar ausgedrückt. Chester ist …«

Die Tür öffnete sich noch einmal ganz und auch wenn sich Wilmott selbst womöglich nicht ganz klar ausgedrückt hatte, war die Botschaft, die von den beiden plötzlich nur wenige Zentimeter vor seinem Gesicht hängenden Stahlläufen vermittelt wurde, unmissverständlich. Er erbleichte.

»Gehen Sie!«

Entsetzt hob Wilmott die Hände – in einer davon hielt er noch immer den Hut umklammert – und wich vor der Schrotflinte zurück. Schieres Glück verhinderte, dass er über seine eigenen Absätze oder die wackeligen Stufen stolperte, als er sich von der Veranda zurückzog. Kaum hatte er die Straße erreicht, wurde die Tür zugeschlagen und Hennessy – und seine Waffe – waren wieder verschwunden. Das Herz des Professors hämmerte so laut, dass er das Türgeräusch kaum wahrnahm.

Er stieß einen langen, zitternden Atemzug aus. »Nun ja«, murmelte er. »Das hätte besser laufen können.«

Instinkt und Vernunft drängten ihn, sich umzudrehen und zu gehen, sich zurück nach Taunton zu begeben, für die Nacht in ein Hotel einzuchecken und am Morgen den ersten Zug zurück nach Arkham zu nehmen. Er hatte bereits mehr getan, als ein Professor seinem Studenten schuldig war.

Aber das Projekt …

Doch nicht nur seine eigenen Ambitionen ließen Wilmott zögern. Er wusste einfach – und das so sicher, als hätte er es in einem seiner eigenen Lehrbücher gelesen –, dass ihn Woodrow Hennessy angelogen hatte. Das betraf nicht nur das Verhalten des Mannes, obwohl selbiges, sogar für eine so eigenbrötlerische und unfreundliche Gemeinschaft wie diese, allein schon verdächtig genug war. Es ging um Chester selbst. Während einer der seltenen Gelegenheiten, bei denen seine Verwandtschaft überhaupt zur Sprache gekommen war, hatte Chester Wilmott ausdrücklich erklärt, dass er sich mit der verarmten Seite der Familie viel besser verstand als seine Eltern.

»Besser« mochte nun nicht unbedingt »gut befreundet« bedeuten, allerdings implizierte es ohne Zweifel eine engere Beziehung, als Woodrow hatte durchblicken lassen.

Er drehte sich um und entfernte sich vom Hennessy-Haus, doch wider besseres Wissen hatte Wilmott Polaski bereits eine Entscheidung getroffen.

Er ging nicht weit weg. Höchstens eine Meile, was weit genug entfernt sein sollte, um Hennessy in dem Glauben zu lassen, er sei verschwunden, und kein zufälliges Mitglied der Gemeinde – nicht dass er welche gesehen hätte – den Fremden mit diesem bestimmten Haus in Verbindung bringen würde.

Dort setzte er sich auf einen Baumstamm, der wenigstens halbwegs frei von Schimmel und Pilzen und anderen Substanzen des Sumpfes war, und wartete.

Er wusste, dass die Verzögerung im besten Fall bedeutete, in der Dunkelheit der Nacht zurück in die Zivilisation stolpern zu müssen. Schlimmstenfalls würde er tatsächlich körperlichen Schaden davontragen. Energisch schob er diese Gedanken beiseite. Er fühlte, dass er kurz davorstand, Antworten zu finden, die womöglich nicht nur seinen besten Studenten retten würden, sondern auch das Projekt, mit dem Wilmotts Name in die Lehrbücher, die er so schätzte, eingehen würde.

Die Nacht brach herein. Die Gesänge der Vögel und Insekten des Hockomock änderten ihre Tonlage und Wilmott Polaski schlich zurück in Richtung des windschiefen Hauses.

Er näherte sich von der Seite und bahnte sich absichtlich einen Weg durch das kalte Wasser, das ihn fast bis zu den Knien durchnässte. Sollte Hennessy die Haustür öffnen oder durch die schiefen Fenster hinausschauen, würde er nichts Ungewöhnliches bemerken. Und zum Glück stieg das aufgeweichte Gelände rund um das Haus wieder an, wenn auch nur knapp über den Wasserspiegel, sodass Wilmott nicht länger durch den Schlamm waten musste.

Die Rückseite des Hauses war sogar noch baufälliger als die Vorderseite. Ganze Abschnitte waren aufgeweicht durch Feuchtigkeit und innere Fäulnis. Der gute Professor musste sich mehr als einmal daran erinnern, dass ein solcher Verfall nicht unbedingt ein Zeichen für die Verlotterung der Bewohner war. Die Umwelt mochte durchaus ungeachtet aller Bemühungen, sie in Schach zu halten, in das Holz eindringen, die Farbe abtragen und eine Patina aus Schmutz hinterlassen.

Nicht dass er bei Hennessy allzu viel Hoffnung in dieser Richtung gehabt hätte.

Der Lampenschein, der durch die verzogenen Fensterläden drang, und der helle Mond, der durch die mit Einsetzen der Dämmerung dünner gewordene Wolkendecke schien, boten ihm gerade genug Licht, um sich zurechtzufinden. Genug, um Details des Hauses zu bemerken, die er vorhin übersehen hatte, als er sich ganz auf die Haustür und den Mann darin konzentriert hatte.

Am auffallendsten war das Untergeschoss, das sich unter dem eigentlichen Haus befand. Vielleicht war es zu einer Zeit gebaut worden, als der Wasserstand in der Umgebung noch etwas niedriger als heute gewesen war. Da das Geschoss größtenteils überirdisch war, konnte man es eigentlich nicht als Keller bezeichnen, doch es war zu groß und strukturell solide, um einfach nur ein Hohlraum unter dem Erdgeschossboden zu sein, den jemand zugemauert hatte. Ob das Untergeschoss zusammen mit dem Rest des Hauses erbaut worden war oder ob es jemand später hinzugefügt hatte, vermochte Wilmott, der kein Architekt war, nicht zu sagen.

Er wusste auch nicht, warum das Untergeschoss nicht vollständig mit der Breite des restlichen Hauses übereinstimmte, wodurch eine merkwürdige Kombination aus einem Teil Keller und Teil Kriechkeller entstanden war. Das war zugegeben kein Einzelfall, denn er hatte ähnliche Konstruktionen auch bei anderen Häusern gesehen, an denen er vorbeigekommen war. Vielleicht lag es an der uneinheitlichen Bodenqualität hier an den Rändern des Sumpfes, wo Bereiche, die fest genug waren, um eine Konstruktion zu tragen, neben anderen lagen, die viel zu weich waren. Er wusste es nicht.

Er wusste nur, dass unter dem durchhängenden Boden und zwischen den Holzstützen Wände aus unebenen Steinen und dickem Mörtel standen.

Ein halb versunkener Keller schien durchaus ein Ort zu sein, an dem Hennessy seine Geheimnisse verstecken könnte. Und selbst wenn dem nicht so war, mochte eines der schmalen Fenster den Zugang ermöglichen. Wilmott ging auf alle viere, erschauderte angesichts des glitschigen Schlamms unter seinen Fingern, während er um sein Gleichgewicht rang, und kroch dann unter die Außenkante des Hauses.

Um Pfützen und weggeworfene, verrostete Werkzeuge herum bahnte er sich seinen Weg zum ersten dieser Fenster. Dabei musste er sich auf die Lippe beißen, um nicht seine Abscheu vor den Spinnweben und den umherhuschenden Käfern herauszuschreien.

»Isslaach thkulkris, isslaach cheoshash … Vnoktu vshuru shelosht escruatha …«

Es könnten fünf Stimmen gewesen sein oder fünfzig – er wusste nur, dass es mehr als eine war. Gedämpft durch rissiges Holz und die natürliche Geräuschkulisse des Sumpfes klang eine wie das Echo der anderen. Gemeinsam hallten sie in den gemauerten Räumen und die Worte schienen irgendwie mehr zu sein als die fremde Sprache – oder war es nur Kauderwelsch? –, die seine Ohren erreichte.

»Svist ch’shultva ulveshtha ikravis … Isslaach ikravis vuloshku dlachvuul loshaa … Ulveshtha schlachtli vrulosht chevkuthaansa …«

Immer weiter ging es so und die Worte verschmolzen miteinander, bis er eins nicht mehr vom nächsten unterscheiden konnte, und dann fing alles wieder von vorn an.

Eine unbestimmte Zeit saß er da und lauschte, versuchte, den geringsten Sinn in den Worten zu erkennen, und scheiterte. Mit jeder Wiederholung fühlte sich das Gesagte irgendwie gewichtiger an, obwohl sich die Lautstärke nicht veränderte. Irgendetwas an dieser Litanei war … seltsam. Unrein. Er kam sich vergewaltigt vor, als ob sich etwas Glitschiges ganz hinten in seinem Rachen gewunden hätte, nachdem er einen Bissen von etwas hinuntergeschluckt hatte, das eigentlich eine ganz gewöhnliche Mahlzeit hätte sein sollen. Ihm wurde schwindelig und schlecht und er taumelte ein paar Schritte vom Fenster zurück, während er darum rang, seinen rebellierenden Magen zu beruhigen.

Der Stiel der alten Schaufel, auf die er trat, war fast vollständig verrottet, aber er hatte noch genug soliden Kern, dass es wie ein Schuss knallte, als er unter seinem Fuß zerbrach. Desorientiert und voller Angst, entdeckt zu werden, drehte sich der Professor um und flüchtete platschend durch das sumpfige Wasser in die Nacht hinaus. Das Hennessy-Haus blieb hinter ihm zurück.

Das Haus vielleicht, aber nicht die grässlichen Worte, die vielmehr entschlossen schienen, ihn von nun an überallhin zu verfolgen.

»Isslaach thkulkris, isslaach cheoshash … Vnoktu vshuru shelosht escruatha …«

Zwei Nächte später kam er noch einmal zurück.

Wie zuvor hatte er zunächst die Absicht zu fliehen gehabt und es doch nicht vermocht. Gedanken an Chester Hennessy und ihr gemeinsames Projekt nahmen seine wachen Stunden ein, die er meist damit verbrachte, die Wände seines gemieteten Zimmers anzustarren oder ziellos durch die Stadt zu wandern. Wenn ihn der Schlaf dann endlich einholte, wälzte er sich im Griff schrecklicher Albträume und zitterte so heftig, dass er aus dem Schlaf aufschreckte, nach Visionen von frostigem Eis … von heulenden Winden … endlosen Schatten … von etwas, das nach ihm griff, sich streckte, zupackte …

Und immer, egal ob schlafend oder wach, murmelte in seinem Hinterkopf dieser abscheuliche, verdammenswerte Vers, der sich wand und verdrehte und sich immer wieder überschlug. Wäre er ehrlich zu sich selbst gewesen, hätte Wilmott zugegeben, dass sein Bleiben etwas mit dem Mantra selbst zu tun hatte, weit mehr jedenfalls als mit seiner Sorge um seinen vermissten Schüler oder gar ihr Projekt.

Doch selbst als er seine Rückkehr ins Haus vorbereitete, gestattete er sich nicht, daran zu denken.

Dank eines kurzen Abstechers in die Geschäfte von Taunton war er dieses Mal vorbereitet. Ein Satz Schraubendreher und Miniaturklingen steckte in einer Tasche an seinem Gürtel und er umklammerte eine kleine Laterne in der einen und ein Brecheisen in der anderen Faust. Das Holz des Hennessy-Hauses war allerdings derart schwach, dass Letzteres heillos überdimensioniert wirkte. Der Fensterrahmen gab nach wie Haferbrei. Wilmott hätte sich praktisch mit bloßen Händen Zutritt verschaffen können.

Ächzend robbte er vorwärts und bahnte sich einen Weg durch das Fenster, dann plumpste er auf den schimmeligen Steinboden, wobei ihn sowohl der Aufprall als auch der erstickende Gestank zusammenzucken ließen.

Erst als er sich aufrichtete, bemerkte er, dass die seltsame Rezitation noch immer stattfand, dass die Leute hier unten, wer auch immer sie waren, unverändert ihre geistlose Litanei wiederholten. Bis zu diesem Zeitpunkt hatte er gedacht, die Worte seien nur in seinem Kopf, wie schon in den letzten Tagen.

Diese Erkenntnis ließ eine weitere Welle der Desorientierung über ihn hinwegspülen, so als hätte der Gedanke selbst ihn noch anfälliger gemacht. Der Gang um ihn kippte und zersplitterte in einem Kaleidoskop aus Fragmenten. Gleich darauf zog er sich wieder zusammen. Lediglich ein Schwindelgefühl blieb zurück.

Wilmott taumelte vorwärts, eine Hand an der Wand, während die andere die Laterne umklammerte, die ihm jetzt wie eine bedauerlich unzureichende Lichtquelle vorkam. Der unebene Boden erschwerte es ihm, seiner Schwindelanfälle Herr zu werden. Es war, als würden plötzlich Steine hochkommen, um ihn stolpern zu lassen, oder Löcher bilden, damit er stürzte. Mehr als einmal drang der Sumpf an den tiefsten Stellen zwischen den Steinen ein und schuf Pfützen, in die er platschend hineintrat. Ein- oder zweimal musste er sogar hindurchwaten.

Der Gang konnte doch gar nicht so lang sein, oder? Es musste seiner geistigen Umnachtung geschuldet sein, dass er beinahe glaubte, bereits eine ganze Weile gelaufen zu sein, statt nur eine Handvoll Schritte gemacht zu haben.

Als er erneut stolperte und wütend zu seinen Füßen hinunterblickte, stellte er fest, dass es diesmal nicht der Boden gewesen war, der ihn hatte straucheln lassen.

Die blaugraue, inzwischen zerschlissene Postuniform verbarg den Großteil, aber leider nicht alles von dem halb abgenagten Skelett, das darin steckte. Es waren weder die Zeit noch das Wasser oder gar Ungeziefer gewesen, die das Fleisch und das Gewebe weggerissen hatten. Ungeachtet seiner Desorientierung und seines Entsetzens sah Wilmott deutlich die gezackten Einkerbungen auf den Knochen, die nur von menschlichen Zähnen stammen konnten.

Irgendwie ging er weiter, doch er hatte kaum eine Erinnerung daran, wie er wieder auf die Beine gekommen war. Er wusste auch nicht mehr, wann genau er zusammengebrochen war, noch erinnerte er sich, dass er sich übergeben hatte, obwohl der saure Geschmack auf seiner Zunge dies vermuten ließ.

Ihm war auch, als hätte er die Überreste anderer zerfetzter Leichen neben der des unglücklichen Briefträgers gesehen – unzusammenhängende Bilder von weiteren Gliedmaßen und Schädeln blitzten in seinem Geist auf –, aber erneut weigerte sich sein Gedächtnis, sie so deutlich zu bewahren, dass er sicher sein konnte, ob es real gewesen oder lediglich seiner überreizten Fantasie zuzuschreiben war.

Sein Kopf schmerzte, die Haut spannte sich unangenehm um seinen Schädel. Bis der offensichtliche Gedanke »Kehr um! Verschwinde von hier!« in seinen fiebrigen Verstand durchgedrungen war, hatte er bereits das Ende des Flurs erreicht.

Eine Art Käfig oder eine behelfsmäßige Zelle befand sich dort. Er konnte sich nicht klar darauf konzentrieren, zumindest blieben nur Bruchstücke in seiner Erinnerung hängen. Er erinnerte sich an Steinwände und irgendwelche Eisengitter.

Er erinnerte sich an den Gestank von altem Schweiß, von menschlichen Fäkalien.

Er erinnerte sich nicht an den einen jungen Mann, den er suchte, sondern stattdessen an eine kleine Ansammlung von Gesichtern, die mit Schlamm und Spucke und Blut und Schlimmerem bedeckt gewesen waren, einige nur verschmutzt, andere aber auf subtile Weise missgestaltet. Wenn Chester unter ihnen gewesen war, hatte Wilmott ihn nicht gesehen.

Sie waren es, die die fremdartige Litanei aufsagten, mit aufgesprungenen Lippen und rauen Kehlen. Immer und immer wieder, fast, aber nicht ganz im Gleichklang, sodass die Worte im Ohr zu vibrieren schienen.

»Svist ch’shultva ulveshtha ikravis …«

Und Wilmott schritt auf sie zu, die leere Hand ausgestreckt, um an der Kette und dem Vorhängeschloss zu zerren, die sie einsperrten. Sein eigener Mund begann sich zu bewegen. In seinem Kopf war nur noch ein Gedanke, ein Instinkt: der Wunsch, sich ihnen anzuschließen.

Das hässliche Krachen einer Schrotflinte und das Prasseln von Steinsplittern, die von der mit Schrotkugeln durchlöcherten Decke fielen, holten ihn aus seiner Trance.

Im Eingang zu einem senkrecht hinzustoßenden Gang, den Wilmott in seiner Ablenkung zuvor übersehen hatte, stand Woodrow Hennessy. Er umklammerte seine Waffe so fest, dass die Fingerknöchel leichenhaft weiß hervortraten, und verdrehter Stoff ragte als behelfsmäßige Stöpsel aus seinen Ohren.

»Ich sagte, Sie sollen gehen, verdammt noch mal!«

Wäre Wilmott mehr bei Verstand gewesen, mehr er selbst, hätte er vielleicht nicht nur die Wut, sondern auch das Entsetzen und den Kummer gehört, die den Ausbruch des Mannes begleiteten.

Aber er war es nicht und er tat es nicht. Heulend vor Verwirrung und Angst drehte sich der Professor um und rannte den Weg zurück, den er gekommen war.

Er platschte durch Pfützen, stolperte über Leichen, schürfte sich die Hände auf, als er durch das offene Fenster hinauskrabbelte. Obwohl es stockdunkel war, hätte er beinahe vergessen, seine Laterne mitzunehmen. Seine Gedanken – zumindest alle, die nicht von der endlosen, dröhnenden Litanei eingenommen wurden – galten nur der Flucht. In seiner Panik schien es daher Sinn zu ergeben, in den Sumpf zu fliehen statt zurück auf die Straße. Denn dieses monströse Landei mit den in seinem Keller eingesperrten Verrückten würde ihm dorthin sicher nicht folgen.

Als sich sein pochendes Herz endlich beruhigt hatte und sein Kopf lange genug aufhörte, sich zu drehen, dass er die Nachteile seines Vorgehens erkennen konnte, hatte er sich bereits hoffnungslos verirrt.

Stunden vergingen. Wilmott zitterte heftig. Er war durchnässt bis zur Taille. Irgendwann saugte ihm der Schlamm unter der dunklen Wasseroberfläche den übergroßen Stiefel vom Fuß, woraufhin er gezwungen war, zu hinken, weil er fürchtete, dass er auf etwas Stechendes, Schneidendes … oder Beißendes treten könnte.

Namenlose Kreaturen kreischten in der fernen Dunkelheit. Der Sumpf kräuselte sich unter den Bewegungen der Dinge, die darin schwammen.

Aus dem Schlamm unter ihm und den Zedern ringsum ragten Gliedmaßen, die an seiner Kleidung und seiner Haut zerrten und ihn erschrocken aufschreien ließen, ganz gleich wie sehr er versuchte, seine Lippen geschlossen zu halten. Sicherlich waren es nur Äste, Wurzeln, Lianen. Doch im flackernden Licht seiner Laterne und dank seiner überreizten Gedanken – die sich immer verzerrter, immer träger anfühlten, wie in einem geistigen Schraubstock zusammengepresst – hätte er schwören können, dass sie sich bewegten und sich bogen, um nach ihm zu greifen.

Und dann verblasste selbst das wenige Licht, das er hatte. Sein Tanz wurde immer hektischer, während die Flamme durstig an den letzten Ölresten leckte. Die Lampenflamme und seine Panik flammten in einem letzten Ausbruch auf.

Vor ihm, halb im Sumpf versunken, von Ranken eingehüllt und mit Schleim bedeckt, lag ein schwarzer Stein. Wilmott blickte auf Schriftzeichen, die in einem Alphabet eingemeißelt waren, das keinem ihm bekannten ähnelte und das er unmöglich lesen konnte – und das ihm doch auf einer Ebene unterhalb des Bewusstseins, vielleicht sogar jenseits des Verstandes, vertraut erschien. Es zerrte an ihm, ein Gefühl, das er ebenso körperlich wie emotional spürte. Ein Schauer entstand in seinem Nacken, erstarb aber, bevor er sich ausbreiten konnte, so als wüsste sein Körper nicht mehr, wie er sich bewegen sollte.

Die Laterne erlosch und enthüllte unvermittelt eine andere Lichtquelle, die hinter Wilmott aus dem Sumpf auftauchte.

»Professor!« Die Stimme von Woodrow Hennessy klang heiser. Er musste schon eine ganze Weile gerufen haben. »Professor, können Sie mich hören?«

Er wurde sichtbar, Wasser schwappte um seine Waden. Wilmott Polaski riss seinen Blick von dem Stein los, ging auf den Neuankömmling zu und antwortete auf die einzige ihm mögliche Art, mit den einzigen Worten, die er noch kannte.

»Isslaach thkulkris, isslaach cheoshash …«

Hennessy mochte ihn nicht gehört haben – er trug immer noch die Stoffstöpsel in den Ohren, schien mehr Angst vor dem zu haben, was er hören könnte, als davor, taub durch den Sumpf zu stapfen –, aber er erkannte die Rezitation dennoch. Mit einem Schrei der Wut, der Schuld, der Verleugnung, aber vor allem der Angst hob er die Schrotflinte in Richtung des entgegenkommenden Professors und feuerte.

KAPITEL

EINS

Es war ein sanftes Lied, dessen Töne aus dem Blättern von Papieren bestanden, dem Zuschlagen ledergebundener Einbände, dem Rollen von Leitern und dem Scharren von Stühlen, dem Rascheln von Hosen, von Röcken und dem gedämpften Gemurmel leiser Gespräche, die nie so leise waren, wie die Studenten glaubten.

Es war ein sanftes Lied, das aus Dutzenden von Räumen und gewölbten Fluren, aus jedem Stockwerk der berühmten Orne-Bibliothek der Miskatonic-Universität drang – und das Daisy Walker an einem normalen Tag mit all seinen subtilen Noten beflügelnd und inspirierend fand.

Heute war kein normaler Tag. Genau genommen hatte sie in den letzten Monaten überhaupt nicht viele normale Tage gehabt.

Anfangs war ein Teil ihres Unbehagens vielleicht aus der Angst vor ihrer neuen Verantwortung erwachsen. Dieses neue Semester, im Frühjahr 23, war erst das zweite, seit Dr. Armitage ihr die Verantwortung für die Sondersammlungen übertragen hatte, also für die verbotenen Bände und Schriften, für die die Orne-Bibliothek bekannt war. Allein das am wenigsten wertvolle Buch darin kostete mehr, als Daisy im Jahr verdiente, der Wert der gesamten Sammlung war unermesslich, nicht nur in finanzieller Hinsicht, sondern auch im Hinblick auf ihr unersetzliches Wissen.

Daisy kannte sich jedoch gut genug, um zu wissen, dass sie zwar anfangs nervös gewesen war, sich aber in den letzten Monaten mehr als gut an ihre neuen Aufgaben gewöhnt hatte.

Ein Teil ihres Unbehagens könnte auch auf den Inhalt der Bücher zurückzuführen sein, die sie studiert hatte, nachdem die Stelle ausgeschrieben worden war und Armitage angedeutet hatte, dass er sie dafür in Betracht ziehen würde. Während der größte Teil der Sondersammlungen einfach nur alt war, waren einige der Inhalte … eigentümlich.

Sie hatte ein paar der Bücher gelesen, als sie die Gelegenheit dazu erhielt: De Vermis Mysteriis, John Dees Teil des Necronomicon, die Del-Arrio-Übersetzung der Kabala von Saboth. Diese Bücher handelten von uralten Dingen, von längst vergessener Magie und von Namen, die hätten sein sollen. Als Fenster zu alten Kulturen und Glaubensvorstellungen faszinierten sie Daisy, aber was ihren tatsächlichen Inhalt anging? Sie glaubte natürlich kein Wort davon. Das alles war nicht realer als die Fantasien von Gogol oder Stoker. Trotzdem verspürte sie in letzter Zeit das Bedürfnis, in den späteren Stunden ihrer Schicht ein paar zusätzliche Lichter einzuschalten. Sie überprüfte die Schlösser, bevor sie sich zur Nachtruhe begab, und – hin und wieder – wachte sie panisch und schweißgebadet aus Albträumen auf, an die sie sich nie genau zu erinnern vermochte.

Doch wiederum kannte sich Daisy selbst gut genug, um zu wissen, dass keine muffigen alten Mythen oder Märchen sie derart gründlich oder lang anhaltend beunruhigen würden.

Nein, es war …

»Miss Walker?«

»Oh!« Die junge Bibliothekarin zuckte auf ihrem Stuhl zusammen. Die Hände umklammerten die Kante ihres Schreibtisches. Es war, soweit sie sich erinnern konnte, das erste Mal, dass jemand die Tür zu ihrem Büro geöffnet hatte, ohne dass sie es bemerkt hatte.

An diesen Gedanken musste sie sich auch erst noch gewöhnen: ihr Büro.

»Oh!«, echote die noch jüngere Frau, die mit weit aufgerissenen Augen und rundem Gesicht in der Tür stand. »Es tut mir so leid! Ich wollte Sie nicht erschrecken.«

Daisy strich eine lange blonde Haarlocke zurück. »Schon gut, Abigail. Ich war nur … in Gedanken versunken, schätze ich.« Nicht dass sie die Absicht gehabt hätte, besagte Gedanken preiszugeben, weder was ihre Bücher anging noch … andere Dinge.

»Ich habe geklopft«, sagte Abigail schüchtern. »Doch Sie haben nicht geantwortet, aber weil ich wusste, dass Sie hier drin sind, wollte ich sichergehen, dass es Ihnen gut geht.« Sie zögerte, dann fügte sie – vielleicht weil sie die Abwesenheit in Daisys Gesichtsausdruck bemerkte – hinzu: »Geht es Ihnen gut?«

»Ja, danke. Ich schätze, ich war nur tiefer in Gedanken versunken, als mir klar war. Sie, äh, Sie brauchten etwas?«

Der Blick der großen Augen huschte zur Seite, nach unten, zurück zu Daisy. »Es ist nur … Also, ich dachte, ich sollte fragen, ob Sie irgendetwas in den, ähm, Sondersammlungen zu erledigen haben.«

»Ich verstehe.« Mit eiserner Selbstbeherrschung verhinderte Daisy, dass sich ihre Lippen zu einem wissenden Grinsen verzogen. »Nein, meine Liebe, im Moment nicht.«

»Oh.« Wieder der kurze Blick in Richtung der verbotenen Räume. »Sind Sie, ähm, sind Sie sicher?«

Es fiel ihr immer schwerer, das Grinsen zu unterdrücken – gleichzeitig musste sie den Drang bekämpfen, den Kopf zu schütteln. Abigail Foreman war eine fleißige studentische Mitarbeiterin und Daisy hätte sich glücklich geschätzt, wenn sie nach ihrem Abschluss bleiben würde – sollte ihr Interesse an Bibliothekswesen sie in diese Richtung führen.

Allerdings erlag sie etwas zu leicht gewissen Ablenkungen in Jungengestalt.

»Zu deinen Pflichten, Abigail, gehört es, Studenten und Gönnern Hilfe zu leisten, wenn sie darum bitten – und nicht, sie denen aufzudrängen, die keine solche Bitte geäußert haben.«

Abigail errötete, bis ihre Haut praktisch glühte. »Ja, Miss. Tut mir leid, Miss.«

Jetzt erlaubte sich Daisy ein Lächeln, in der Hoffnung, der Zurechtweisung dadurch etwas von ihrer Schärfe zu nehmen. »Nun, ich glaube, jemand hat mir gesagt, dass die Südamerikastudien wieder ins Regal gestellt werden müssen.«

Abigail ergriff die Chance zum Rückzug und flüchtete aus dem Büro. Daisy entließ den Seufzer, der sich in den letzten Augenblicken aufgestaut hatte. Sie mochte das Mädchen, hätte normalerweise viel mehr Nachsicht mit ihrer neuesten Verliebtheit gehabt, hätte sie vielleicht sogar ermutigt.

Aber Raslo! Warum musste das Interesse des armen Mädchens bei all den feinen jungen Burschen, die der Campus der Miskatonic zu bieten hatte, ausgerechnet Elliot Raslo gelten? Selbst wenn er nicht derzeit von Unsicherheit und Trauer verzehrt würde, selbst wenn alles in seinem Leben, alles an der Miskatonic-Universität gut und schön gewesen wäre, selbst dann …

Aber es war nicht an ihr, dieses Geheimnis preiszugeben. Der Junge wäre vor Scham vermutlich in Grund und Boden versunken, wenn er gewusst hätte, dass sie es kannte.

Daisy stand auf – der Stuhl schabte über den Boden –, strich sorgfältig ihre Bluse und ihren Rock glatt und verließ ihr Büro, folgte allerdings nicht Abigail, sondern wandte sich in die entgegengesetzte Richtung.

Die äußerste Kammer der Sondersammlungen war ein Lesesaal, der nur aus einem Tisch, einer Handvoll bequem gepolsterter Stühle und einer Lampe bestand. Studenten und Besucher durften die Sammlungen nur einzeln oder in kleinen Gruppen nutzen, und das auch nur zu festgelegten Zeiten, je nach Dienstalter, Art ihrer Forschung und im Austausch gegen freiwillige Arbeit. In den letzten Wochen standen die Chancen fünfzig-fünfzig, dass Elliot hier sein würde – sofern niemand anders Zeit reserviert hatte. Daher wäre Daisy nicht überrascht gewesen, ihn zu sehen, selbst wenn sie aufgrund von Abigails unverhohlenem Interesse nicht schon gewusst hätte, dass er anwesend war.

Der junge Mann hatte die Ellbogen auf dem Tisch und den Kopf in die Hände gestützt, sodass Daisy nicht sicher war, ob er wach war. Seine braune Jacke sah zerknittert aus, sein schwarzes Haar zerzaust. Es war noch gar nicht so lange her, da wäre es ihm unangenehm gewesen, in einem solchen Zustand draußen gesehen zu werden.

»Elliot?«

Tatsächlich war er wach. Er sah zu ihr auf. Seine Miene war von Erschöpfung und aufgewühlten Gefühlen gezeichnet. Bartstoppeln, die mehrere Tage alt waren, verunzierten sein Gesicht – das aufgrund eines mediterranen Großelternteils ein bisschen dunkler als ihr eigenes war.

»Gibt es Neuigkeiten?«

Das war fast jedes Mal seine erste Frage, wenn sie ihn sah, ungeachtet dessen, dass sie ihm immer wieder versichert hatte, sie würde ihm sofort Bescheid geben, wenn sie etwas hörte.

»Nein.« Sie zog einen Stuhl heran und setzte sich ihm gegenüber. »Nichts.«

»Verdammt!« Er beruhigte sich wieder, bevor sie ihn dazu ermahnen musste. »Die sind alle nutzlos.«

Sie wusste, dass er die Ermittler bei der Polizei von Arkham meinte. Auch das war Teil des Rituals, dieses Gespräch, das sie schon so oft geführt hatten. Sie nahm mittlerweile an, dass er einen Trost in dieser Wiederholung fand, so gering er auch sein mochte.

»Sie haben kaum etwas, worauf sie aufbauen können«, sagte sie zu ihm. In der Tat hatten sie fast nichts. Chester Hennessy, Elliots bester Freund und Zimmergenosse, war spurlos verschwunden – ein Kunststück, das Professor Polaski, Chesters Mentor und Berater bei seiner laufenden Forschung, einige Wochen später wiederholt hatte.

»Sie ignorieren das wenige, was sie haben«, beharrte Elliot und rieb sich mit einem Fingerknöchel das Auge. »Sie behandeln Chester und den Professor immer noch als getrennte Vorfälle, obwohl jeder Idiot sehen kann, dass sie zusammenhängen. Sie bestehen immer noch darauf, dass Chester abgehauen ist wegen dieser Schlampe …«

»Mäßigung, Mister Raslo!«

Er wich zurück, als hätte sie ihn geohrfeigt. »Ich … Natürlich. Es tut mir wirklich leid, Miss Walker.«

Daisy wusste, dass er es ernst meinte. Elliot war im Allgemeinen eine sanfte, zuvorkommende Seele. Zumindest wenn er nicht erschöpft, frustriert und verängstigt war.

Sie legte ihre Hand auf seine und schaffte es, nicht zusammenzuzucken, als er sie wie einen Rettungsring umklammerte. Normalerweise hätte sie das Buch, das vor ihm auf dem Tisch lag, zur Seite gezogen, hätte sich geweigert, ihre Hände auf diese Weise auf dem Einband ruhen zu lassen, aus Angst, die Öle ihrer Haut könnten das alte Material beschädigen, aber ein oder zwei kurze Augenblicke würden wohl nicht schaden.

Es war nicht das erste Mal, dass er um dieses Werk gebeten hatte. Wochenlang hatte er versucht, Chesters Forschung nachzuvollziehen, in der Hoffnung, dass irgendetwas in den letzten Studien des vermissten Studenten – dem Projekt, dem er sich seit Monaten mit Leib und Seele verschrieben hatte – ein wenn auch schwaches Licht auf das Geheimnis seines Verschwindens werfen könnte.

Bis jetzt hatte er, sofern er nichts vor ihr geheim hielt, genauso viel Erfolg wie die Polizeibeamten gehabt, die er als Idioten und Narren beschimpfte: nämlich gar keinen.

Sie hatte nichts gegen seine Anwesenheit und schätzte seine Hilfe sehr. Wie Chester vor ihm hatte Elliot, um sich mehr Zeit in den Sondersammlungen zu verdienen, freiwillig geholfen, unwichtige Dokumente für die Orne-Bibliothek und die Universität generell zu sortieren: Briefe und persönliche Papiere, die ihnen von Ehemaligen vermacht worden waren, alte Zeitungsausschnitte, Berichte über historische Artefakte, die aus Museen und anderen Universitäten gestohlen worden waren und nach denen sie Ausschau halten sollten, und so weiter. Er behauptete, es ginge ihm nur darum, seinen vermissten Mitbewohner zu finden, aber Daisy glaubte, es war für ihn zugleich eine Möglichkeit, um sich dem verlorenen Freund näher zu fühlen. Elliot war an den Tagen, an denen er sich konzentrieren konnte, sogar besser in diesen banalen, doch essenziellen Aufgaben, als Chester es gewesen war. Trotzdem beunruhigte sie seine zunehmende Besessenheit, ganz zu schweigen von der Beeinträchtigung seiner schulischen Leistungen. Daisy wusste, dass er Kurse schwänzen musste, um ständig hier sein zu können.

Hatte ihre Nachsicht im Umgang mit den Sondersammlungen und mit seiner Forschung Chester Hennessy irgendwie in Gefahr gebracht? So unwahrscheinlich es auch schien, es war mehr als alles andere ebendiese Angst, die sie nachts wach hielt und die tagsüber an ihrer Gelassenheit nagte. Das war kein Fehler, den sie mit seinem Freund wiederholen wollte, sosehr er auch das Bedürfnis verspürte, Chester zu folgen.

»Elliot«, begann sie schließlich, »Sie müssen …«

Nur weil Daisy die Tür zum Lesesaal nicht geschlossen hatte, erreichte der Aufruhr sie überhaupt, hörte sie die plötzliche Kakophonie, die den Gesang der Bibliothek störte. Noch herrschte kein Geschrei, aber da waren Stimmen, die im Streit lauter wurden und leicht zu Geschrei werden konnten.

Oder Schlimmerem?

Sie stand auf, ihr Rücken so steif wie ihre Miene. Selbst an guten Tagen hatte Daisy keine Geduld mit denen, die den Frieden in ihrer Bibliothek stören wollten. Wer auch immer sich törichterweise dazu entschlossen hatte, dies heute zu tun, während sie all diese Sorgen plagten, musste damit rechnen, eine Standpauke von ihr gehalten zu bekommen. »Es tut mir sehr leid. Entschuldigen Sie mich.«

Mit einem Rascheln ihres Wollrockes war sie fort.

Elliot sah ihr hinterher, doch sein müder Verstand begriff nicht sofort die Bedeutung dessen, was sie gehört hatten.

Miss Walker, seine Ausbilder, seine Mitschüler. Sie alle glaubten, dass er aus Kummer und Sorge ständig abgelenkt war, auch wenn sie unmöglich verstehen konnten, wie stark er …

Nun, sie hatten teilweise recht. Aber nur teilweise.

Und sie schrieben seine Recherchen, seinen fieberhaften Zwang, Chesters Forschungen nachzuvollziehen, einer obsessiven und höchstwahrscheinlich vergeblichen Hoffnung zu, ihn ausfindig zu machen, obwohl die Polizei und seine eigene Familie es bislang nicht vermocht hatten.

Sie hatten teilweise recht. Aber nur teilweise.

Doch da war noch etwas, das er bis jetzt niemandem gegenüber erwähnt hatte.

Dass Chester ihm an einem gewissen Abend aufgeregt erzählt hatte, dass der Schlüssel, der sein geheimnisvolles Projekt endlich zum Durchbruch bringen würde – dieses Projekt, von dem er behauptete, dass es all seine Ambitionen übertreffen und seinen Namen in den Annalen der Archäologie verewigen würde, noch bevor er seine Ausbildung abgeschlossen hatte –, gefunden sei. Allerdings hatte er sich dann gesträubt, zu erklären, was genau er gefunden hatte oder wie dieses Etwas helfen könnte.

Dass Chester in den letzten Tagen vor seinem Verschwinden distanziert, lustlos und ständig mit sich selbst beschäftigt gewesen war. Er hatte schlecht geschlafen, kaum gesprochen. Er hatte angefangen, vor sich hin zu murmeln, manchmal auf Französisch oder in Sprachen, die Elliot nicht identifizieren, geschweige denn verstehen konnte.

Elliots eigene Studien, die sich auf die Psychologie des menschlichen Geistes konzentrierten, ließen ihn glauben, dass sich die Bemühungen seines Freundes in eine gefährliche, vielleicht sogar krankhafte Besessenheit verwandelt hatten. Schließlich hatte er sich entschlossen, Chester damit zu konfrontieren, obwohl sein Herz pochte und sich sein Magen bei dem Gedanken, was eine solche Intervention für ihre Beziehung bedeuten könnte, wie ein sterbender Wurm zusammenzog. Doch bevor er den Mut hatte aufbringen können, tatsächlich etwas zu sagen, war Chester verschwunden.

Und seither …

Seither war Elliot selbst in vielen Nächten aus verworrenen Albträumen erwacht, an die er sich nur noch bruchstückhaft erinnern konnte. Und er hatte vor Kälte gezittert, nur dass diese Kälte nichts mit der Temperatur des Raumes zu tun hatte, in dem er schlief. Die Albträume hatten von ewigem Eis gehandelt und von Dingen, die sich im Schatten regten, Dingen, die hinter endlosen Schleiern aus Hagel und Graupel lebten.

Die Träume allein, damit hätte er fertigwerden können. Es war vielmehr diese ständige Litanei, die ihn in den Wahnsinn zu treiben drohte.

Nur ein paar Worte, ein Satzfragment, ständig wiederholt. Etwas in dieser unbekannten Sprache, etwas, das Elliot Chester nur einmal hatte murmeln hören. Die Phrase hatte sich in seinem Hinterkopf festgesetzt, ein ständiges Jucken, das er nicht kratzen konnte, was ihn aber nicht aufhielt, es ständig zu versuchen. Sie hallte wieder und wieder nach, schlängelte sich durch jedes Gespräch, brodelte unter jeder Vorlesung, bis er schreien wollte.

Diese Worte schreien wollte.

Es war dieser Halbsatz, dieses Fragment, das ihn mehr ablenkte als jede Suche, mehr als jeder Kummer. Und er wusste, ohne genau zu wissen, woher, dass es noch viel schlimmer gewesen wäre, dass es ihm wirklich alle Vernunft und Selbstbeherrschung geraubt hätte, wäre da nicht seine andere Entdeckung gewesen, die er gemacht hatte, als er Chesters Nachforschungen zurückverfolgt hatte. Dieses andere Mantra.

Es war nur ein Mantra, nicht wahr? Es konnte nicht wirklich …

Erneut wurden Stimmen draußen in der Bibliothek laut. Sie schrien nicht ganz, aber es war genug Tumult, um ihn aus seinen Gedanken zu reißen. Elliot hievte sich von seinem Stuhl. Er bezweifelte, dass Miss Walker oder das Bibliothekspersonal Hilfe brauchen würden, um mit dem Problem fertigzuwerden, und falls sie es wider Erwarten doch taten, hatte er keine Ahnung, wie er ihnen hätte helfen können. So war es eher ein verzweifeltes Bedürfnis nach Ablenkung als irgendein Pflichtgefühl, das ihn dazu bewegte, der Bibliothekarin den Flur hinunter nachzugehen.

Alle normalen Aktivitäten in der Haupthalle der Bibliothek waren zum Stillstand gekommen, während die Studenten über ihre Bücher und Papiere hinweg auf die Konfrontation blickten, die sich vor dem massiven Eingang zusammenbraute. Mehrere der Orne-Mitarbeiter und zwei der uniformierten Sicherheitskräfte der Miskatonic waren in einem Pulk um einen Fremden versammelt, der offenbar versucht hatte, die Bibliothek zu betreten.

Der Mann sah nicht im Entferntesten wie ein Student, Mitarbeiter oder Ehemaliger aus und obwohl die Orne-Bibliothek für andere Gäste offen war, mussten diese entweder eingeladene Forscher sein oder einen formellen Termin weit im Voraus vereinbart haben. Den erhobenen Stimmen nach zu urteilen, von denen einige offensichtlich müde wurden, sich zu wiederholen, erfüllte der Fremde keine der beiden Qualifikationen.

Elliot hatte nicht die leiseste Ahnung, was er von dem Mann halten sollte. Er war nicht besonders groß, aber seine breiten Schultern und seine stolze Haltung ließen ihn größer erscheinen. Er trug einen langen, schweren Mantel, der gut in die Straßen von Arkham gepasst hätte, aber die Stiefel, die aus seinen Hosenbeinen herausragten, waren aus weichem Leder und entsprachen weder einem Stil noch einer Mode, die Elliot je gesehen hatte. Ebenso fremdartig wirkten die Gesichtszüge des Mannes, die flacher und dunkler waren als Elliots eigene. Der junge Student kannte sich nicht so gut in der Welt aus, wie er es gern gehabt hätte, daher konnte er das Herkunftsland des Fremden nicht einordnen. Er erinnerte Elliot ein wenig an einen mongolischen Forscher, den er einmal getroffen hatte, und ein wenig an einen amerikanischen Ureinwohner, aber beides traf es nicht ganz.

»Es sind nur ein paar Fragen!« Die Stimme des Fremden war tief und volltönend, sein Akzent lag, wie alles andere an ihm, so weit jenseits von Elliots Erfahrung, dass er ihn nicht einordnen konnte. »Sicherlich kann mir einer Ihrer Bibliothekare fünf Minuten seiner Zeit schenken!«

Einer der Sicherheitsbeamten wollte ihn erneut abwehren und trat bedrohlich näher. Vielleicht war es die Gefahr, dass die Konfrontation in eine echte Schlägerei ausarten könnte, die Daisy Walker, die sich am Rande des Tumults aufhielt, schließlich dazu veranlasste, einzugreifen. »Und was sind das für Fragen, Mr. …?«

»Miss Walker«, protestierte der Wachmann, »ich glaube nicht, dass Sie …«

»Ist schon in Ordnung, Floyd.«

Der Fremde drehte sich in ihre Richtung. Sein Mantel öffnete sich und enthüllte eine Reihe von Talismanen und Amuletten, die an einem veritablen Dickicht aus Lederbändern und Tierdärmen von seinem Hals hingen. Elliot hatte keinen besonders guten Blickwinkel, aber er glaubte, alten Bein-, Holz-, Stein- und dicken Lederschmuck auszumachen. Auf allen Amuletten waren kleine Muster eingeschnitzt oder -gestickt, doch auf die Entfernung vermochte er keine Einzelheiten zu erkennen.

»Shiwak«, antwortete der Mann auf Daisys angedeutete Frage. »Billy Shiwak.«

»In Ordnung, Mr. Shiwak. Was ist so dringend, dass Sie in meiner Bibliothek so einen Aufstand machen müssen?«

Nein, nicht Bein, Elfenbein, entschied Elliot und fragte sich unwillkürlich, warum er sich so sehr auf den Zierrat dieses Mannes – Shiwak – konzentrierte.

Nach den vergangenen Momenten der Anspannung schien Shiwak jetzt, wo er die Gelegenheit hatte, seine Fragen zu stellen, fast verwirrt. Er sah sich einige Sekunden lang um, als suche er nach Worten.

»Zunächst einmal«, begann er, »hoffe ich, dass Sie mir sagen können, wo ich einen Mann namens Jebediah Pembroke finden kann. Man hat mir gesagt …« Elliot erfuhr nie, was man Shiwak gesagt hatte, denn Daisy Walker erstarrte bei der Erwähnung des Namens regelrecht, obwohl er Elliot selbst nichts sagte. In seinen dreieinhalb Jahren an der Miskatonic hatte Elliot noch nie erlebt, dass sie so auf etwas reagierte.

»Wie können Sie es wagen?«

Alle, auch die Sicherheitsleute und der Neuankömmling selbst, traten erschrocken einen Schritt zurück.

Als Daisy fortfuhr, bebte ihre Stimme geradezu. »Ich weiß nicht, was für Gerüchte und Klatsch Sie gehört haben, aber ich werde mich oder diese Hallen nicht Ihren … Ihren Verleumdungen aussetzen.«

»Miss Walker, ich wollte Sie ganz gewiss nicht beleidigen. Ich habe nur …«

»Ich wäre Ihnen dankbar, wenn Sie meine Bibliothek jetzt verlassen würden, Mr. Shiwak.«

»Bitte, ich …«

»Ich wäre Ihnen dankbar. Wenn Sie jetzt gehen.«

Die Härte in ihrem Tonfall und ein Blick auf die strengen Mienen der beiden Sicherheitsleute überzeugten den Mann offenbar davon, dass eine weitere Auseinandersetzung niemandem etwas nützen würde. Mit einem steifen Nicken machte er sich auf den Weg zu den Türen. Die Wachen folgten ihm im Gleichschritt.

Daisy wirbelte herum, ihr Absatz grub eine Kerbe in den dünnen Teppich im Foyer. »Dies ist immer noch eine Bibliothek«, verkündete sie dem Personal und den Studenten mit Nachdruck, »kein Theater.«

Schnell wandten sich alle Gesichter wieder ihren Büchern oder Notizen oder ihren Aufgaben zu. Hocherhobenen Hauptes fegte die Bibliothekarin durch den Hauptraum und machte sich auf den Weg zurück in ihr Büro.

Elliot allein starrte weiterhin auf die Türen und dachte über den Kerl nach, der dahinter verschwunden war. Denn erst jetzt, als die verdammte Litanei in seinem Hinterkopf zu ihrer gewohnten Lautstärke zurückkehrte, merkte er, dass sie kurz leiser geworden war, wenn auch nur ein klein wenig.

Und das nur dank der Anwesenheit dieses Billy Shiwak.

Leiser in der Gegenwart dieses eigenartigen Billy Shiwak.

KAPITEL

ZWEI

Mit zusammengepresstem Kiefer stürmte William »Billy« Shiwak aus der Orne-Bibliothek. Dabei fluchte er heftig – allerdings nur in Gedanken. Die Reise war schon so schlecht genug verlaufen; zu riskieren, durch einen unglücklich geäußerten Fluch die Aufmerksamkeit eines böswilligen Toornaq auf sich zu ziehen, wäre der Gipfel der Dummheit gewesen.

Und für einen Tag hast du dich wahrlich genug zum Narren gemacht, oder, Billy?

Mehr als ein Jahr hatte er unter ihnen gelebt und noch länger damit verbracht, sie zu studieren. Den größten Teil seines Lebens hatte er geübt, um ihre Sprache so gut wie seine eigene zu sprechen – und trotz alledem konnte Billy die Amerikaner nicht einmal im Ansatz verstehen. Zweifellos hatte die Frau einen guten Grund, seine Erwähnung von Pembroke als beleidigend zu finden, aber er konnte sich beim besten Willen nicht vorstellen, welchen. Eine persönliche Geschichte vielleicht? Eine familiäre Fehde? Oder etwas ganz anderes?

Der Ujaraanni. Ich hätte mit Fragen über den Ujaraanni beginnen sollen.

Nach all seinen Bemühungen, nachdem er so weit gekommen war, hatte er übereilt gehandelt, obwohl er hätte geduldig sein sollen. Er war direkt vom Bahnhof zum Campus marschiert, ohne zu überlegen, wie er sich den Leuten hier am besten nähern sollte. Was für eine Dummheit!

Nun, es war nicht mehr zu ändern. Die Miskatonic-Universität war zwar seine beste Spur gewesen, aber nicht die einzige. Er würde den anderen nachgehen und hoffen müssen, dass sie sich entweder als fruchtbar erwiesen oder zumindest so viel Zeit in Anspruch nahmen, dass er unterdessen eine bessere Methode fand, sich der Lehranstalt zu nähern.

Die beiden Wachen wollten offenbar sicherstellen, dass er das Gelände verließ. Jetzt, da seine Wut auf Daisy Walker und noch mehr auf sich selbst zu verblassen begann, fiel ihm erst auf, dass die Männer ihm immer noch in einigen Schritten Entfernung folgten. Er blieb auf den klar abgegrenzten Wegen zwischen den massiven Steingebäuden – von denen jedes einzelne größer war als alle Häuser in Itilleq zusammengenommen – und an den Rasenflächen entlang, die so ordentlich gepflegt waren, dass sie ihr Grün selbst in einem Winter bewahrten, den die Leute hier in Massachusetts zweifellos als hart empfanden.

Was wussten die schon über harte Winter?

Als sie sich dem Rand des weitläufigen Geländes näherten, blieb Billy stehen und drehte sich um. »Kann einer der Herren eine preiswerte Unterkunft empfehlen?«

Der dünnere und ältere der beiden – hatte die Bibliothekarin ihn Floyd genannt? – schnaubte nur und wandte sich ab, aber der andere nickte. »Gibt ein paar Absteigen oben im Geschäftsviertel. Sind nicht besonders schick und die meisten vielleicht nicht mal besonders sauber, aber wenn Sie nicht wählerisch sind, wo Sie pennen, werden sie Ihnen reichen.«

Billy versuchte, eine mentale Karte von dem, was er bisher von Arkham gesehen hatte, zu zeichnen. »In der Nähe des Bahnhofs?«

»Ja, mehr oder weniger.«

»Ich würde einen anderen Ort vorziehen.« Wenn er sich richtig orientierte, hatte er auf seinem Weg vom Zug kommend mehrere Blocks gesehen, die von der örtlichen Polizei abgesperrt worden waren. »Da gab es irgendeinen Vorfall …?«

»Oh, richtig. Da draußen breitet sich eine Grippe aus.« Der Wachmann überlegte einen Moment, dann sagte er: »Ma’s.«

»Wie bitte?«

»Ma’s Gästehaus. Südstadt. Sie hat in der Regel ein paar Zimmer frei, solange man nicht so dumm ist, ihre Regeln zu brechen.«

»Ich verstehe. Und wie würde ich …?«

Doch entweder weil Floyd theatralisch seufzte und mit dem Fuß wippte oder weil seine eigene Geduld am Ende war, hatte der Wachmann keine Lust mehr, Fragen zu beantworten. »Gehen Sie einfach die Garrison hinunter«, sagte er, während er sich bereits abwandte. »Ich bin sicher, dass Sie dort jemanden finden, der Ihnen weiterhelfen kann.«

Billy machte sich nicht die Mühe, ihm ein Dankeschön nachzurufen. Er bezweifelte, dass es der Mann noch gehört – oder dass es ihn interessiert – hätte.

»Vater«, murmelte er, »welcher Anersaat oder Toornat dein Unglück auch immer verursacht hat, ich hoffe, dein Leid hat ihn gesättigt. Ich habe schon genug Schwierigkeiten mit menschlichen Hindernissen, vielen Dank.«

Immer noch grummelnd, suchte er nach einem Straßenschild, um sich zu vergewissern, dass er sich tatsächlich auf der Garrison befand, und bog dann nach Süden ab.

Nach dem Weg zu fragen erwies sich als schwieriger, als der Sicherheitsmann der Miskatonic angedeutet hatte.

Nicht etwa weil es an Menschen mangelte, die man hätte fragen können. Selbst im treibenden Nebel und der ungewöhnlich kühlen Vorfrühlingsbrise des Abends gingen die Bürger ihren Geschäften nach. Auf den Straßen fuhren Autos und Pferdekutschen an ihm vorbei und auf den Gehwegen wimmelte es von Fußgängern.

Nein, das Problem war, jemanden zu finden, der bereit war, mit ihm zu sprechen.

Abgesehen von seinen Stiefeln aus Robbenfell – er hatte es einfach nie geschafft, sich in amerikanischem Schuhwerk wohlzufühlen – und den Amuletten, die er versuchte, weitgehend unter seinem Mantel zu verbergen, hatte sich Billy weitgehend unauffällig angezogen. Wenn er versucht hätte, in einer Menschenmenge zu verschwinden oder anonym zu bleiben und sich bedeckt zu halten, hätte das wohl gereicht.

Einem Fremden nahe genug zu kommen, um mit ihm zu sprechen, war jedoch eine andere Sache. Seine Gesichtszüge waren mehr als genug, um ihn als Außenseiter zu kennzeichnen, und obwohl er schon Städte besucht hatte, in denen Ausländer – oder jeder, der eine merklich dunklere Hautfarbe als eine Leiche hatte – weitaus schlechter behandelt worden waren, bedeutete das nicht, dass der durchschnittliche Bewohner von Arkham ihn mit offenen Armen empfing.

Es war tatsächlich ein junger Schwarzer – die fünfte Person, die er anhielt –, der ihm schließlich (und sogar gut gelaunt) den Weg wies und ihm dreimal einschärfte, bloß nicht Ma Mathisons Sonntagabend-Suppe oder ihren Apfelkuchen zu verpassen.

»Der is sogar besser als Velmas Kirschkuchen! Und es gibt niemanden, der das leichtfertig behaupten würde!«

»Ganz … gewiss nicht.«

Nachdem sich diese Wegbeschreibung als unzureichend für einen Mann herausgestellt hatte, der sich in Arkhams Nebenstraßen nicht auskannte, erhielt er eine zweite von einem freundlichen alten weißen Ehepaar – eine Tatsache, die Billys Meinung von der Stadt im Allgemeinen etwas verbesserte –, das in einem makellos sauberen Ford Model-T herumfuhr.

Schließlich fand er sich, müde und hungrig, auf den Stufen von Ma’s Gästehaus wieder, einem überraschend großen Gebäude, dessen strenge Spitzen und fast bedrohlich scharfe Linien auf eigentümliche Weise durch die hellen Lichter, sowohl im Inneren als auch draußen, und die fröhlichen Klänge von jenseits der Tür ausgeglichen wurden.

Als er eintrat, zog er eine Menge Blicke auf sich, aber nur ein paar wirkten misstrauisch oder feindselig, die meisten drückten reine Neugier aus und alle wandten sich schnell wieder ihren eigenen Angelegenheiten zu. Die Leute saßen in einem großen Gemeinschaftsraum auf einer Vielzahl von Stühlen, die zwar nicht zusammenpassten, aber mit Bedacht so ausgewählt und platziert worden waren, dass sich Farben und Muster gegenseitig ergänzten.

Das andere Ende des Raumes öffnete sich zu einer kleineren Kammer, in der sich etwas befand, das ein gemeinsamer Esstisch zu sein schien. Obwohl er derzeit verlassen war, wurden dort, wenn man den köstlichen Gerüchen glauben durfte, die in der Luft hingen, regelmäßig gekonnt zubereitete Mahlzeiten serviert.

Eine große, dunkelhaarige Frau mit Perlen und einem geblümten Kleid eilte ihm entgegen. Mit einem Akzent, den er noch nie gehört hatte und der so schwer war, dass er fast hindurchwaten musste, stellte sie sich als Ma Mathison vor und hieß ihn in ihrem Haus, in Arkham und so weiter willkommen.

»Nur zwei Dollar die Nacht, oder zwölf für die Woche, und Sie werden in Arkham nichts Besseres finden, auch nicht für das Doppelte! Das Abendessen ist auch dabei, solange Sie um sechs zum Tischgebet da sind. Pünktlich um sechs, verstanden? Sonst sind Sie auf sich allein gestellt, denn ich fülle keine Bäuche, die das Tischgebet verpassen!«

»Äh, ich verstehe. Ist gut, Ma’am.«

Ma zählte den Rest ihrer Regeln auf, während sie ihn zu einem Schreibtisch auf der anderen Seite des Raumes führte, wo sie gut gelaunt seinen Namen notierte und sein Geld entgegennahm. Es waren zahlreiche Regeln.

»Keine Besucher unten nach neun, keine Besucher in den Zimmern nach acht, grundsätzlich keine Besucher des anderen Geschlechts. Ich dulde kein skandalöses Verhalten in meinem Haus! Das Mittagessen kostet sechzig Cent und wird von elf bis zu dem Zeitpunkt serviert, an dem das Essen ausgeht. Sie können einen Gast mitbringen, aber für jeden, der nicht für ein Zimmer bezahlt, kostet es fünfundsechzig Cent. Sie können kommen und gehen, wann Sie wollen, aber ich möchte nicht, dass meine anderen Gäste gestört werden, wenn ich also Beschwerden über Lärm in den frühen Morgenstunden höre, fliegen Sie raus!«

Sie erhaschte einen Blick auf seine Amulette und fügte noch hinzu: »Und Sie können zu Hause machen, was Sie wollen, aber in diesem Haus wird zu niemandem gebetet außer zu unserem Herrn und seinem Sohn Jesus Christus, verstanden?«

»Ich verstehe, ja.« Billy blickte kurz auf den Schlüssel in seiner Hand. Er konnte sich nicht erinnern, wann sie ihn während ihres Wortschwalls dort hingesteckt hatte, und fühlte sich vage schwindlig. Vielleicht brauche ich einen Übersetzer.

Oder Ohrstöpsel.

»Wenn Sie irgendwelche Fragen haben«, schloss sie schließlich, »lassen Sie es mich einfach wissen.«

Während sie sprach, entfernte sie sich bereits, da sie offensichtlich keine erwartete. Die meisten ihrer Gäste waren wahrscheinlich entweder Stammgäste oder so überwältigt von dem verbalen Trommelfeuer, das sie gerade über sich hatten ergehen lassen müssen, dass ihnen nichts einfallen wollte.

»Tatsächlich wäre da etwas.« Billy wartete, bis sie stehen geblieben war, die unerwartete Antwort verarbeitet hatte und sich wieder in seine Richtung drehte. »Ich frage mich, ob Sie mir sagen können, wo ich …« Er hielt inne und rief sich die ungewöhnlichen Namen ins Gedächtnis. Er hatte sie aufgeschrieben, aber er wollte lieber nicht danach wühlen müssen. »… entweder den Kuriositätenladen oder einen Ort namens Der Alte Zauberladen finde.«

Er bemerkte, wie sich Mas Augen verengten, wie sich die Haut um ihre Lippen und ihr Kinn spannte, und erst dann wurde ihm – angesichts dessen, was sie ihm bereits gesagt hatte – klar, warum sie ihm die Frage vielleicht übel nahm.

In Sachen Diplomatie leistest du heute ganze Arbeit, Billy.

»Ich, äh, bin kein Anwender«, erklärte er ihr, was zumindest teilweise stimmte. Er war sicherlich kein Angakkoq, obwohl Ma den Glauben, den er vertrat, die Götter, die er verehrte, und die Geister, die er fürchtete, zweifellos für hinreichend heidnisch gehalten hätte. »Ich versuche nur, einige … kulturelle Relikte aufzuspüren.«

Was auch teilweise zutraf.

Obwohl der Argwohn nicht ganz aus ihrer Miene wich, lenkte sie ein und gab Billy eine allgemeine Wegbeschreibung zu beiden Etablissements. Am liebsten hätte er schon wieder geflucht. Er war nur ein paar Blocks vom Kuriositätenladen entfernt gewesen, war auf seinem Weg vom Zug zur Miskatonic praktisch daran vorbeigegangen. Und Der Alte Zauberladen lag zwar etwas abseits, aber näher an der Universität als an seinem gegenwärtigen Aufenthaltsort.

»Aber wenn Sie wirklich nach alten Relikten suchen«, fuhr sie fort, »dann sollten Sie bei der Gesellschaft für Geschichte anfangen. Die können Ihnen wahrscheinlich den richtigen Weg weisen und haben nichts mit Leuten zu tun, die in Hexen- und Lasterhöhlen verkehren.«

»Die Gesellschaft für Geschichte?«

»Ja. Die bewahren alle Arten von Schriften, Bildern, Kunst und altem Krimskrams auf. Die größte Sammlung in Arkham außerhalb der Miskatonic. Vielleicht noch größer, wenn man speziell nach lokaler Geschichte sucht.«

Das tat er nicht, ganz und gar nicht. Dennoch klang dies nach einem Ort, an dem man etwas über den Handel mit gestohlenen historischen Objekten wissen könnte oder wenigstens in der Lage wäre, ihn an diejenigen zu verweisen, die das taten, wenn er vorsichtig genug fragte. Die Aufregung sandte ihm einen Schauer über den Rücken – ganz zu schweigen von der Erleichterung, dass sich seine früheren Fehltritte des Tages womöglich noch ausbügeln ließen.

»Ob sie um diese Zeit noch geöffnet hat?«, fragte er und steckte seinen Zimmerschlüssel in die Tasche.

Ma Mathison zuckte mit den Schultern. »Kann ich nicht sagen.« Sie blickte jedoch etwas zu offensichtlich auf die Uhr auf der anderen Seite des Korridors.

Billy folgte ihrem Blick, sah, dass es nur noch etwas mehr als eine Stunde bis zum »Tischgebet« war, und zuckte dann seinerseits mit den Schultern. »Ich schätze, dann bin ich heute Abend beim Abendessen auf mich allein gestellt. Danke, Mrs. Mathison.«

Obwohl sowohl sein Magen als auch seine Füße rebellierten, wandte er sich von den weichen Stühlen und den Gerüchen des kommenden Abendessens ab und machte sich wieder auf den Weg durch die Straßen von Arkham.

Die Gesellschaft für Geschichte in Arkham residierte in einem massiven, dreistöckigen georgianischen Herrenhaus, das die umliegenden Häuser überragte. Zweifellos war es das Heim einer obszön reichen Familie gewesen, bevor es der Organisation vermacht worden war. Der schmiedeeiserne Zaun, der das Haus umgab, wirkte nicht gerade einladend – aber die Bronzetafel am Tor, die die Gesellschaft auswies, war deutlich verlockender.