Armania - Shanti M. C. Lunau - E-Book

Armania E-Book

Shanti M.C. Lunau

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Beschreibung

Rina ist ein Bücherfreak. Hier findest die Schutz vor den bissigen Kommentaren ihrer Mitschüler und kann selbst eine Heldin sein. Doch vergessen sind die Geschichten zwischen dem Papier, als sie Criff bei einer Schneeballschlacht über den Haufen rennt. Plötzlich steht ihr ganzes Leben auf dem Kopf. Denn Criff ist nicht nur ein Mensch. Und er ist auf der Flucht. Als seine Vergangenheit ihn schließlich einholt und sein Leben am seidenen Faden hängt, liegt alles an Rina. Ihre einzige Hoffnung ist das verschollene Bernsteinblut. Doch dazu muss sie eine versteckte und völlig fremde Welt finden, aus der Criff damals nicht ohne Grund geflohen ist - und die Uhr tickt! Armania ist eine Geschichte über Mut, Hoffnung und die unglaubliche Kraft der Freundschaft.

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Seitenzahl: 548

Veröffentlichungsjahr: 2021

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Hier beginnt eine Geschichte.

Eine Geschichte, die für viele unglaubwürdig klingen mag. Doch für mich ist sie etwas Besonderes. Dieses einzigartige Abenteuer, welches ich euch nun erzähle, hat mein Leben für immer verändert.

Ich erzähle euch die Geschichte vom

BERNSTEINBLUT!

Inhaltsverzeichnis

ALLER ANFANG WAR EIN STURZ

DER ALLTAG BEGINNT ODER NICHT?

DER KLEINE SPRUNG ÜBER DEN GROßEN SCHATTEN

KENNENLERNEN

WENN MAN NICHTS MEHR ZU VERLIEREN HAT...

DAS ABENTEUER BEGINNT

ARMANIA

LOS GEHT’ S

KOCHENDHEIß

TIEF IM DSCHUNGEL

BEI DEN GROßEN KATZEN

DIE FAMILIE DES PRINZEN

DIE BEGEGNUNG

GRAN

DAS MEER UND DIE INSEL

VORBEI?

JETZT WIRD’ S BRENZLIG

WER IST MARIK UND WO IST BENJU?

EINE GESCHICHTE NIMMT IHR ENDE

AUFHÖREN, WENN’ S AM SCHÖNSTEN IST!

DANKSAGUNG

GLOSSAR

BEGRIFFE AUS ARMANIA

ALLER ANFANG WAR EIN STURZ

Die lautstarke Stimme meiner Mutter hallte durchs ganze Haus, die Treppe nach oben, durch die Tür meines Zimmers und mitten hinein in meinen Schlaf: »Frühstück!«

Grunzend zog ich mir die Decke über den Kopf, die Augen noch fest verschlossen, und wünschte mich sehnlichst zurück in meinen Traum. Meine Lider fühlten sich an wie Blei und ich war zu müde, um die Anstrengung aufzubringen, die Augen zu öff nen. Der Grund für meine Müdigkeit war, dass ich bis in die frühen Morgenstunden gelesen hatte, weil ich unbedingt das Ende des Buches wissen wollte. Und wenn ich las, vergaß ich die Zeit. Eigentlich vergaß ich sogar alles um mich herum. Ich war immer so in der Geschichte gefangen, dass ich das Gefühl hatte, selbst ein Teil davon zu sein. Ich spürte den Wind und den Regen. Die trockene Kehle, wenn die Sonne gnadenlos auf einen nieder knallte. Ich spürte das Adrenalin durch meine Adern hetzen und das schnelle Pochen meines Herzens, wenn ich Zeit hatte zu verschnaufen. Ich war wo anders und ich war gerne dort, ignorierte die leisen Worte der Menschen um mich herum, denn in den Büchern war ich so viel cooler als in echt. Ich war tough, stark, furchtlos und hatte immer die richtigen Worte parat. In der Realität hingegen war ich einfach nur ein Mädchen, ging zur Schule und erntete belustigte oder genervte Blicke, wenn ich meine Bücher mit mir herum schleppte. Ich fragte mich oft, wie es wohl wäre, in so einem Abenteuer zu stecken. In einer Welt mit Drachen, außergewöhnlichen Wesen und Liebe auf den ersten Blick. Aber ich würde es nie erfahren, denn in meinem echten Leben gab es keine anderen Wesen. Und ich war ein Feigling, der sich in seine Fantasie ver kroch, wenn andere große Sprüche klopften. Ich war definitiv nur dafür gemacht, ein Abenteuer passiv zu erleben.

»Rina! Manuel! FRÜHSTÜCK!«, brüllte meine Mutter von unten. Stöhnend schlug ich nun also doch die Decke zur Seite und quälte mich aus dem Bett. Mehr schlurfend als gehend landete ich im Badezimmer, wo ich mir erst einmal kaltes Wasser ins Gesicht spritzte. Sofort war ich hellwach. Aus dem Spiegel starrte mir ein blasses junges Mädchen mit rot geränderten Augen entgegen, deren blonde Haare in alle Richtungen abstanden. Da hat die Haar-Fee ja wieder ganze Arbeit geleistet, dachte ich und stieß einen leisen Seufzer aus.

Als ich endlich in der Küche erschien, saß meine Mutter bereits vor dem gedeckten Tisch. So wie jedes Wochenende bestand sie auch am heutigen Samstag wieder auf ein gemein sames Frühstück. Das wäre ja auch gar nicht das Problem, wenn ich nicht so unglaublich müde wäre.

»Guten Morgen, mein Schatz. Sieht man dein Gesicht also auch mal wieder! Heute kein Buch?«, begrüßte mich meine Mutter grinsend.

»Morgen, Mama. Nein, ich hab das Letzte gestern Abend ausgelesen. Aber ich wollte nachher in die Buchhandlung und sehen, was es Neues gibt«, antwortete ich gähnend und setzte mich ihr gegenüber auf den Stuhl.

»Wie wäre es denn, wenn du stattdessen mal deine Schulbücher zur Hand nimmst?« Ihr Ton hatte etwas Unterschwelliges, aber ich wollte an diesem Morgen nicht über meine bevorstehenden Abiturprüfungen reden. Ich wusste, dass ich lernen musste, nur eben noch nicht jetzt.

»Ich weiß, was du damit andeuten möchtest, Mama, aber diese Bücher? Zum Frühstück? Die liegen so schwer im Magen, da bekomme ich doch keinen Bissen mehr runter und wie soll ich dann die Energie bekommen, um den Tag zu überstehen? Lass mich dieses Wochenende noch warten, ich verspreche dir, ich fange am Montag an. Wirklich!«

»Na ja, es ist ja deine Sache, wie und wann du lernst. Ich habe nur manchmal das Gefühl, du lebst zu viel in deinen Fantasiewelten und zu wenig in der Realität. Ich finde es schön, dass du gerne liest, aber das richtige Leben kann einem auch etwas bieten. Es gibt so viel zu entdecken.« Meine Mutter war Landschaftsarchitektin, führte jedoch seit einigen Jahren zusätzlich noch ein Floristikgeschäft im Dorf. Sie sah viele Dinge anders.

»Na, was muss sich unsere kleine Träumerin heute wieder für eine Rede anhören?«, ertönte die gutgelaunte Stimme meines Vaters, als er die Küche betrat. Mit einer Hand rubbelte er mir über die Haare, während meine Mutter einen Kuss auf die Wange bekam.

»Papa!«, maulte ich und tauchte unter seiner Hand hindurch.

»Ach komm, Socke. Die waren sowieso noch nicht gebürstet«, war seine knappe Entschuldigung. »Also, was habe ich verpasst?«

»Mum möchte, dass ich Schulbücher lese anstelle von Romanen«, antwortete ich mit gespielter Empörung.

»Nein, ich möchte bloß nicht, dass du dich versteckst, das hast du nicht nötig. Diese ganzen Bücher und Geschichten …«

»Ach Mara, lass unserer Tochter doch ihre Fantasien. Sie wird früh genug erwachsen sein und Verantwortung übernehmen müssen, dann kann sie bis dahin doch noch ein wenig träumen. Träume und Fantasie sind sehr wichtig, vor allem in kreativen Berufen. Nur wer Fantasie hat, kann einem Essen etwas völlig Neues und Einzigartiges geben.« Mein Vater führte ein Restaurant-Café auf dem Marktplatz und versuchte immer wieder unter schwellig einfließen zu lassen, wie schön es doch wäre, wenn ich meine Ausbildung in der Gastronomie machte. Dass er mich längst so weit hatte, wollte ich aber noch nicht zugeben.

»Manni, es geht hier nicht um irgendwelche neuen Gerichte, es geht um unsere Tochter. Sie sitzt seit Jahren in ihrem Zimmer, liest sich durch ihre Bücher und geht nur raus, um sich in der Buchhandlung ein neues zu kaufen. Die letzten Wochen war es sogar ganz extrem.«

»Dank ihr werden die armen Autoren wenigstens nicht verhungern«, lachte mein Vater und zwinkerte mir zu. Irgend wie ging dieses Gespräch in eine Richtung, von der ich nicht wusste, was ich davon halten sollte. Eilig schob ich mir die letzten Bissen meines Müslis in den Mund und stand auf.

»Ich geh mit Spyke in den Park und schau danach bei Line vorbei, okay?«, sagte ich und verabschiedete mich. Ich sah die Erleichterung über meine Entscheidung, nach draußen zu gehen, in den Augen meiner Mutter, als ich die Küche verließ. Dass ich mir unterwegs dennoch ein neues Buch kaufen wollte, behielt ich besser für mich.

Draußen war noch immer alles weiß vom Schnee, und obwohl der Frühling schon ein paar Mal an die Tür geklopft hatte, war noch niemand bereit, ihn hereinzulassen und der Winter blieb. Und mit ihm die Kälte.

Mit gefühlten fünf Lagen Kleidung am Leib rumpelte ich die Treppe wieder nach unten. Unser wenige Wochen alter Berner Sennenhund saß bereits schwanzwedelnd an der Treppe.

»Komm, Spyke!«, flüsterte ich mit einem Seitenblick zur Küche. Mein Vater lächelte mir verschwörerisch zu, während ich Spyke an die Leine nahm und zurück grinste. Er wusste sicherlich, was ich vorhatte. Mein Vater war einer der fröhlichsten Menschen, die ich kannte, und er schaff te es immer wieder, mich mit seiner guten Laune anzustecken. Wenn er schlechte Laune hatte, dann war etwas wirklich, wirklich Schlimmes passiert.

Nachdem ich mir in der Buchhandlung ein neues Buch gekauft hatte, das ich schon lange einmal lesen wollte, machte ich noch einen Abstecher zum See, damit Spyke ein wenig frei herumlaufen konnte. Schon von weitem sah ich eine Handvoll Leute auf dem zugefrorenen Gewässer stehen. Fassungslos schüttelte ich den Kopf. Der See war zwar noch gefroren, doch die Eisdecke längst nicht mehr so dick, wie vor einigen Wochen. Erst letztes Jahr, als das Eis sogar noch etwas dicker gewesen war, war jemand eingebrochen und mit starken Erfrierungen zu Henry in die Praxis gekommen. Dass aus diesem Unfall niemand gelernt hatte, konnte ich nicht verstehen. Womöglich ging es hier wieder um eine Mutprobe, die waren ja oftmals völlig sinnfrei. Zumindest in meinen Geschichten.

»Hey, Rina. Auch mal draußen? Wo sind denn deine Bücher?«, hörte ich prompt eine Stimme vom See aus rufen, ehe ich richtig erkennen konnte, um wen es sich bei den Personen handelte. Die fünf Jungen gingen in meine Parallelklasse und machten sich, wie so viele andere, gerne darüber lustig, dass ich nie ohne ein Buch anzutreffen war. Da ich nicht besonders mutig war, ließ ich die Sticheleien täglich über mich ergehen. Doch obwohl ich ihnen nicht sehr viel Beachtung schenken wollte, taten sie innerlich ziemlich weh. Wie gut fühlte es sich dann an, als mutige und starke Kriegerin ein Abenteuer zu meistern. Eilig ging ich am See vorbei, die Leine von Spyke fest in der Hand. Das gejohlte »Rina Bücherfreak« der Jungs hallte hinter mir her. Bald, dachte ich und drückte das Buch in meinem Beutel enger an mich. Bald war ich wieder stark und furchtlos.

Anstelle zum Hundeplatz zu gehen, lief ich den Seeberg hinauf, um dort ein wenig zu lesen, während Spyke im Schnee spielte. Der große Felshang über dem Meer gab mir stets das Gefühl von Sicherheit, was eigentlich absurd ist, wenn man bedenkt, dass es verboten ist, hierher zu kommen. Angeblich ist es zu gefährlich. Damit war er wohl das einzige wirkliche Abenteuer in meinem derzeitigen Leben, aber hier konnte ich mich meinen Träumereien und Fantasien hingeben, ohne mir Sticheleien anhören zu müssen. Der Ausblick auf das weite, blaue Meer, nur das Geräusch der Wellen mit den Schreien der Möwen in der Luft und der salzige Wind in Haaren und Gesicht, gaben mir ein Gefühl von Freiheit. Und ich hatte es ganz für mich allein.

Während Spyke die Schneeflocken, die langsam vom Himmel fielen, aufzufangen versuchte, setzte ich mich an den Rand der Klippe und ließ die Beine baumeln. Anstatt mein neues Buch aufzuschlagen, schaute ich auf die Weite des Meeres und das Glitzern der Sonne auf dem dunklen Wasser. Hier oben konnte ich die Worte meiner Mutter verstehen, dass es so viel zu entdecken gibt in der Welt. Aber für mich würde es immer nur aus sicherer Entfernung passieren, wie von dieser Klippe hier. Das stand ein für alle Mal fest.

Ich las einige Seiten in meinem neuen Buch, aber als der Schneefall immer stärker und die Kälte in meinen Beinen immer intensiver wurde, machte ich mich auf den Rückweg. Um die Jungs nicht ein weiteres Mal anzutreff en, lief ich durch die Wohnsiedlungen außerhalb des Parks zurück. Als ich bei Lines Wohnung vorbeikam, versuchte ich mein Glück und klingelte. Sie war tatsächlich zu Hause.

»Hey, Line, ich bin es. Hast du Zeit?«, fragte ich durch die Gegensprechanlage und erhielt sogleich Antwort.

»Klar, komm rauf!« Summend öffnete sich die Tür im Erdgeschoss und ich stieg die Treppen bis zur zweiten Etage nach oben, wo Line bereits wartete.

»Hey Spyke, du kleine Ratte!«, begrüßte sie den Welpen und ging lachend in die Hocke, um das nasse Fell zu kraulen. Zu mir gewandt fügte sie hinzu: »Du kommst genau richtig, es gibt gerade Mittagessen.«

Ich betrat hinter ihr die Wohnung und legte meine Sachen ab. Lines Blick fiel dabei auf meine Büchertasche.

»Hey, du hast es dir gekauft! Wohl auch noch keine Lust auf Lernen, hm? Leihst du es mir aus, wenn du es gelesen

hast?«, fragte sie, nachdem sie das Buch aus der Tasche geholt und auf den Buchrücken geschaut hatte. Ich musste grinsen. In Line hatte ich jemanden, der mich als Einzige zu verstehen schien. Auch wenn es bei ihr nicht so stark war, wie bei mir, teilte sie meine Leidenschaft für Bücher.

»Hallo, Rina, schön, dich mal wiederzusehen«, begrüßte mich Lines Mutter Klara, als ich hinter ihrer Tochter die Küche betrat. »Hunger?«

Der Geruch von frischer Tomatensoße und Nudeln stieg mir in die Nase und mein Magen gab ihr die passende Antwort.

»Das nenne ich mal ein klares Ja«, ertönte da auch schon eine weitere, tiefere Stimme hinter mir. Michael war der neue Mann von Lines Mutter, von dem sie gerade ein Kind erwartete. Liebevoll strich er ihr über den runden Bauch und küsste Klara in den Nacken.

Nach dem Essen flüchteten Line und ich uns mit Spyke in ihr Zimmer.

»Und, was führt dich hierher? Irgendeinen bestimmten Plan gehabt?«, fragte Line und setzte sich zu mir aufs Bett.

»Nicht direkt. Aber es ist echt schön draußen, vielleicht können wir rausgehen. Schauen, was in unserem Dorf so Neues los ist. Vor lauter Lesen komme ich viel zu wenig an die frische Luft«, erwiderte ich schulterzuckend und zu meiner Freude nickte sie. Wir schauten gerne Leuten zu, die sich unterhielten, und dachten uns eigene Gespräche zu ihren Gesichtern und Bewegungen aus.

»Hat dich deine Mutter mal wieder ermahnt?«, fragte sie dennoch mit wissendem Blick und mein zerknirschtes Gesicht war ihr Antwort genug. Line zog sich also etwas Wärmeres an und dann ging es auch schon wieder nach draußen. Wir trotteten den kleinen Feldweg entlang über die Straße in den Park und kamen bald an eine kleine Siedlung, in der viele alte Häuser standen. Ich mochte diese Straße, nur leider zog fast nie jemand zu uns ins Dorf, geschweige denn in eine der wilden Siedlungen. Möglicherweise erschien das Dorf auf den ersten Blick nicht sehr vielversprechend, und die meisten fuhren daher einfach daran vorbei. Das Dorf war klein, alles Nötige war zu Fuß oder mit dem Fahrrad zu erreichen, ein Auto benutzte man hier eigentlich nur, um aus dem Dorf heraus und zur nächsten Stadt zu fahren. Manchen Besuchern waren aber auch die wilden Siedlungen einfach zu verwirrend, weil hier alle Häuser kreuz und quer standen und nicht in einer Reihe. Ich liebte genau das an diesem Dorf. Dass es nicht so groß, nicht so gradlinig war. Manchen hingegen war das Dorf aber auch einfach nur zu klein. Es passierte selten, dass es neue Leute hierher verschlug, doch wenn dies tatsächlich einmal der Fall war, dann wollten sie meist so schnell nicht wieder weg.

An diesem Samstag sahen wir zu unserer Freude tatsächlich einen Umzugswagen. Der Schnee auf den Straßen war bereits so hoch, dass der große Wagen ihn vor sich herschieben musste und er nun als Berg vor der Motorhaube lag. Der Weg zur Tür hingegen war von Schnee befreit worden, damit die Packer es einfacher hatten, die Möbel nach innen zu tragen. Line und ich machten uns einen kleinen Spaß daraus, zuzusehen und Gespräche zwischen den Möbel packern zu erfinden. Zusätzlich aber versuchten wir herauszufinden, wer die Neuen waren, wie sie aussahen und ob vielleicht sogar jemand in unserem Alter dabei war. Spyke schaute dabei aufgeregt zwischen Line und mir hin und her. Wir malten uns die freundlichsten Leute aus, stellten dann aber später fest, dass es sich lediglich um einen alten Mann handelte. Enttäuscht standen wir von der kleinen Gartenmauer, auf der wir gesessen hatten, auf und machten uns auf den Weg zurück zu Line nach Hause. Mit einem alten Mann konnten wir nicht so viel anfangen.

»Schade irgendwie. Hatte gehofft, mal wieder ein neues Gesicht in der Schule zu sehen«, seufzte Line, während wir an den Häusern entlang zurückgingen.

»Hmm«, stimmte ich zu. »Aber eigentlich hätten wir es uns denken können. Die wenigsten, die neu hierherziehen, sind in unserem Alter.«

»Dabei gibt es hier doch so viel zu entdecken«, redete Line weiter. Ich verdrehte die Augen.

»Ach komm, so lange hätten wir die Person eh nicht gesehen. Die Schule ist ja gar nicht mehr so lang. Also, wie sieht es aus, Line? Schneeballschlacht? Spyke können wir da vorne anbinden«, versuchte ich das Thema zu wechseln. Ich drückte ihr die Leine in die Hand und beschleunigte bereits meinen Schritt, den Blick noch immer auf Line gerichtet, um ihre Antwort abzuwarten. Ihr Lächeln verschwand.

»Rina, pass auf!«, rief sie noch, doch da war es bereits zu spät. Mit voller Wucht prallte ich gegen etwas und hörte, wie neben mir ein paar Dinge in den Schnee fielen. Ich ebenfalls. Ich hörte das laute Lachen von Line und ihre stapfenden Schritte. Meine Mütze war mir über die Augen gerutscht und als ich sie hochschob, sah ich den Schlamassel: Ich war gegen einen Jungen gelaufen, der nun mit zwei halbvollen, kaputten Papiertüten aus dem Supermarkt über mir stand. Seine Einkäufe lagen um mich herum verteilt im Schnee. Ich spürte, wir mir die Hitze ins Gesicht schoss.

»Oh man, tut mir voll Leid. Ich hab dich nicht … also ich wollte … war keine Absicht, wirklich … ich …«, stammelte ich hilflos vor mich hin und sammelte dabei hektisch die Einkäufe vom Boden auf. Ich hörte, wie ein tieferes und ehrlich klingendes Lachen in das von Line mit einstieg.

Mein Gesicht lief noch dunkler an, während ich mich mit vollen Armen aufrappelte. Jetzt sah ich den Jungen zum ersten Mal richtig an. Er war etwa einen Kopf größer als ich, ungefähr in unserem Alter und trug eine graue Mütze über seinen hellen rotbraunen Haaren. Sie schauten an manchen Stellen ein wenig unter der Kopfbedeckung hervor. Mein Blick jedoch blieb an seinem Gesicht hängen, aus dem mir ein breites Lächeln und strahlende, warme, orangefarbene Augen entgegenblickten. Mir blieb die Spucke weg und ich muss ihn wohl ziemlich belämmert angesehen haben, denn ich spürte Lines Ellenbogen in meiner Seite.

»Gib mir mal eine Tüte. Wir helfen dir tragen«, sprach sie den Jungen an, um das Schweigen zu brechen, und er reichte ihr lächelnd eine seiner kaputten Tüten.

»Das wäre echt super. Ich wohne auch nicht weit von hier«, erwiderte er und zwinkerte mir grinsend zu. Ich versuchte zurückzulächeln und scheiterte kläglich.

In der Hoffnung, dass es doch noch eine weitere neue Familie hierher verschlagen hatte, folgten wir ihm, doch zu unserer Verwunderung steuerte er direkt auf das Haus des alten Mannes zu. Der Umzugswagen war bereits weg, die Einfahrt frei von den letzten Möbeln und Kisten.

»Moment mal! Hier wohnst du?«, fragte ich unsicher, blieb stehen und sah mich suchend um, ob ich das Haus auch wirklich nicht verwechselte.

»Ja«, kam es kurz und knapp von ihm, dabei drehte er sich um und schaute mich verwundert an. »Alles in Ordnung?«

»Äh, ja, ich … ähm … alles gut. Nicht so wichtig.« Ich setzte mich wieder in Bewegung.

»Danke für eure Hilfe«, sagte der Junge, nachdem wir seine Tür erreicht hatten, und nahm uns die Einkäufe wieder ab, um sie ins Haus zu bringen.

»Kein Problem«, erwiderte Line freundlich und ich stand stumm daneben. Sag etwas Kluges, etwas Lustiges, sag irgend was!, redete ich mir in Gedanken ein, brachte aber nur ein leises, kratziges und eilig aneinanderge nuscheltes »Gern geschehen« zustande.

»Hey!«, rief er uns noch hinterher, als wir bereits einige Schritte gegangen waren. Wir drehten uns um. Seine Augen sahen direkt in meine. »Pass auf, wo du hinläufst, sonst fällst du noch in ein Loch und tust dir weh! Okay?«

»Alles in Ordnung?«, fragte Line, sobald wir außer Reichweite waren.

Ich nickte, öffnete den Mund, um ihr zu antworten, und sprudelte sogleich einen ganzen Wortschwall hervor: »Wahnsinn, hast du das gesehen? Diese Augen. Hast du schon mal von Menschen gehört, die orangefarbene Augen haben? Also ich nicht. Da wird einem gleich so richtig warm ums Herz. Hast du das nicht gespürt? Meinst du, er trägt Kontaktlinsen? Aber es sah gar nicht aus wie Kontaktlinsen. Solche Augen müssen mega selten sein.«

Das Lachen von Line ließ mich in meinen Worten innehalten.

»Was ist?«

»Also, ich habe etwas ganz anderes gesehen. Oh man, das war ein Bild, wie du gegen ihn gestoßen bist. Der Knüller, da hätte man ein Video von machen sollen, wirklich.«

Ich spürte, wie mir erneut die Röte ins Gesicht schoss.

»Na ja, ich muss dann auch langsam mal wieder zurück. Ich schlaf heute bei meinem Vater und helfe ihm am Wochenende ein bisschen in der Praxis. Wir sehen uns Montag in der Schule. Und hör auf die Worte des Jungen, fall nicht in ein Loch oder so! Bis Montag!«, verabschiedete sich Line an der Kreuzung zu ihrer Wohnung und drückte mir die Leine von Spyke zurück in die Hand.

Den ganzen Weg nach Hause musste ich an den Vorfall denken, wobei ich einmal beinahe wirklich in ein kleines Loch gefallen wäre, dass jemand in den Schnee gegraben hatte. Mir gingen diese Augen einfach nicht aus dem Kopf, und seine Stimme war so warm gewesen. Irgendetwas hatte er mit mir angestellt und ich wusste einfach nicht, was. Ich wusste nur, dass es mir noch nie zuvor passiert war.

DER ALLTAG BEGINNT – ODER NICHT?

Es ist 6.30 Uhr und wir haben einige tolle Lieder » für euch, mit denen ihr bestimmt gut in den neuen Tag starten könnt. Hier kommt …« ertönte die Stimme des Radiomoderators neben meinem Ohr, ehe ich ihn mit einem leichten Schlag auf das Holz des Weckers zum Schweigen brachte. Meine Augenlider klebten so fest zusammen, als hätte sie jemand mit Sekundenkleber eingeschmiert. Es war einfach zu früh.

Den gestrigen Tag hatte ich mit meinem Vater zu Hause Plätzchen gebacken und das ganze Haus roch an diesem Abend köstlich nach frischem Gebäck. Sehnsüchtig zog ich nun mit der Nase die Luft ein, konnte aber leider keinen Plätzchenduft mehr ausmachen. Widerwillig kroch ich aus dem warmen Bett und schlurfte ins Badezimmer für meine tägliche Portion kaltes Wasser.

Als ich wenig später angezogen in der Küche erschien, um mir meine Schulbrote zu machen, begegnete ich meiner Mutter, die eilig an mir vorbeihuschte. Sie war wieder mal spät dran.

»Bis heute Abend. Viel Spaß in der Schule«, sagte sie im Vorbeigehen und drückte mir einen Kuss auf die Nase.

»Hmm«, gab ich nur zurück, denn Spaß in der Schule war bei mir doch eher eine Seltenheit. »Dir auch bei der Arbeit!«, rief ich noch, ehe die Haustür ins Schloss fiel. Mein Vater musste erst später arbeiten und ich hörte ihn kurz darauf in der Küche die Kaff eemaschine ans chmeißen, während ich in meinem Zimmer bereits die letzten Schulsachen in meine Tasche packte. Bevor auch ich mich auf den Weg zur Schule machte, gab ich ihm ebenfalls einen Guten-Morgen-Kuss auf die Wange.

»Denk daran, mit Spyke zu gehen, Dad!«, erinnerte ich ihn und schnappte mir einen Apfel aus der Obstschale.

»Ja, Frau Lehrerin«, antwortete mein Vater und verschwand grinsend im Bad.

In der Nacht hatte es wieder heftig geschneit, daher beschloss ich, an diesem Morgen mit dem Schulschlitten zu fahren. Ich würde nicht mehr lange die Gelegenheit haben können, diesen Service zu nutzen, und ich wollte jede Chance annehmen, auf dem Weg mein neues Buch weiter zu lesen. Jede Seite war ein Gewinn.

Im Vorbeigehen strich ich einem der großen Zugpferde des Schlittens über den Hals.

»Guten Morgen, danke fürs Warten und Mitnehmen«, begrüßte ich auch die anderen Pferde und anschließend den Kutscher, ehe ich mir einen freien Platz suchte. Ich sage Tieren gerne Dinge, die ich auch einem Menschen sagen würde. Warum auch nicht, immerhin haben sie genauso ein Recht auf nette Worte wie wir. Ich bin überzeugt davon, dass sie mehr verstehen, als wir glauben.

Die Sache mit dem Schulschlitten war aus einer Laune unseres Bürgermeisters entstanden. An einem Morgen, im Winter vor etwa viereinhalb Jahren, hatte er aus Spaß einen Schlitten bereitgestellt, der die Kinder zur Schule bringen sollte. Das hat er dann die ganzen letzten vier Wochen vor Weihnachten gemacht und irgendwann ist es zur Tradition unseres Dorfes geworden, weil es so gut ankam. Es ist nur eine kurze Strecke, aber es beschert den Kindern einen lustigen Schulweg. Vor allem die Kleineren gehen im Winter nun besonders gerne zur Schule. Möglich war dies aber nur, wenn genügend Schnee lag und auch nur am Morgen. Mittags wurde gelaufen.

Am Schultor unserer 275 Jahre alten Schule angekommen, ließ ich mir ein wenig Zeit. Ich war früh genug und die Stelle in meinem Buch gerade unglaublich spannend, deshalb quetschte ich mich durch die Schülermassen und suchte mir einen halbwegs ruhigen Platz im warmen Inneren des Gebäudes. Als ich nach einer Weile erneut auf die Uhr sah, sprang ich erschrocken auf und machte mich so schnell wie möglich auf den Weg in Richtung Klassenzimmer. Eilig sprang ich die Stufen zur ersten Etage hoch und kam etwa 30 Sekunden vor meinem Lehrer an. Ich hasste Montage. Wir hatten Erdkunde in den ersten beiden Stunden und dieses Fach lag mir einfach überhaupt nicht. Egal, wie viel ich lernte, ich vergaß alles sofort wieder. Das merkte auch mein Lehrer, und in der Hoffnung, dass ich irgend wann mal einen sinnvollen Satz herausbrachte, nahm er mich leider fast jede Stunde dran. Ich bewunderte, dass er es noch nicht aufgegeben hatte, doch es demütigte einen ziemlich, wenn die Klasse jedes Mal mitbekam, wie wenig ich in diesem Fach auf die Reihe bekam.

»Du müsstest doch so was wissen, so viel wie du immer liest«, meinten die einen, während die anderen zurückriefen:

»Quatsch, die kennt doch nur die Orte aus ihren Geschichten. Da gibt es Spanien und Deutschland und so nicht.«

Wie froh war ich, wenn ich diese Tortur bald hinter mir hatte. Nie wieder Erdkunde-Unterricht. Nie wieder fiese Kommentare. Ich konnte es kaum erwarten.

Vom Unterricht bekam ich wie immer nicht viel mit. Ich schaute gelangweilt nach draußen und was Herr Watz sagte, gelangte durch das eine Ohr in meinen Kopf und durch das andere wieder hinaus. Eben ein ganz normaler Montagmorgen.

In der Pause traf ich mich mit Line wie immer an der Schulmauer, die wir von Schnee befreiten und uns anschließend daraufsetzten.

»Oh man, Herr Isge war heute echt total verpeilt. Der hat seinen Stift zur Kreide von der Tafel gelegt, seine Brille auf die Fensterbank und den Tafelschwamm in seine Tasche. Natürlich hat er nichts wiedergefunden. Außerdem hampelte der die ganze Zeit herum und stotterte nur noch, wenn er versuchte, uns was zu sagen. Ich glaube, der ist nervöser als wir!«, lachte Line, als sie über ihren Biologie-Lehrer redete.

»Hmhm«, murmelte ich nachdenklich, ohne wirklich zuzuhören.

»Was ist mit Frau Sonn, ist die noch genauso streng wie vorher oder lässt sie die Zügel etwas länger?«, fragte Line weiter und schaute mich von der Seite an.

»Ja«, sagte ich bloß und ließ meinen Blick über den Schulhof gleiten, ohne recht zu wissen, wonach ich suchte.

»Und, was steht bei dir diesen Sommer an? Badeseen und Eisessen? Ausflüge in die Stadt? Eine Reise durch dein Bücherregal? Oder doch lieber den ganzen Tag arbeiten und eine Ausbildung anfangen?«

»Ja gut«, antwortete ich noch immer geistesabwesend.

»Hey!«, Line stieß mir lachend mit dem Ellenbogen in die Seite. »Alles okay bei dir? Suchst du was Bestimmtes?«

»Was? Ich … nein … also … ja … sag mal Line, meinst du, dieser Junge von Samstag geht auf unsere Schule?«

Sie grinste mich wissend an. »Hat es da etwa jemanden erwischt?« Ihre Augenbrauen sprangen hoch und runter.

»Quatsch!«, antwortete ich und machte eine abfällige Handbewegung, merkte jedoch im selben Augenblick, wie mir die Hitze in den Kopf stieg und mein Herz schneller zu schlagen begann. Verräter, schickte ich meinem Körper eine Botschaft.

»Jetzt sag doch mal«, bat ich nach einer kurzen Pause um Antwort auf meine vorherige Frage. Line sah sich nachdenklich auf dem Schulhof um, so wie ich es bereits zuvor getan hatte, ehe sie mir antwortete: »Ich glaube nicht. Tut mir leid, aber er wirkte etwas älter als wir, ich bin mir sicher, er ist schon fertig mit der Schule. Wieso sollte er sonst so kurz vor Ende umziehen? Der studiert doch bestimmt schon oder macht eine Ausbildung oder sowas und ist nur zu Besuch hier. Sorry, Rina.«

Ich antwortete nicht darauf.

Als ich mittags zu Hause war, setzte ich mich zu Spyke auf den Boden und drückte mein Gesicht in sein dickes Fell. Er hörte mir aufmerksam zu, als ich ihm von meinem Tag berichtete, und erntete dafür ein Küsschen auf seine Nase.

»Komm, Kleiner, lass uns ein bisschen frische Luft schnappen, bevor es ans Lernen geht«, sagte ich und zog ihm das Geschirr über. Der Himmel hatte sich bereits wieder zu gezogen und es begann erneut zu schneien, daher wurde unser Spaziergang nur sehr kurz. Ich ging den gleichen Weg wie Samstag durch die Siedlung zurück, begegnete jedoch niemandem. Als ich wieder zu Hause ankam, war ich so dick eingeschneit, dass ich mit einer Möhre als Nase durchaus als Schneefrau hätte durchgehen können. Ich sehnte mich nach dem Sommer, wenn die Vögel wieder in den Bäumen zwitscherten und die Sonne die blasse Haut küsste.

Seufzend ließ ich mich hinter meinem Schreibtisch nieder und fing an zu lernen. Immer wieder schweiften dabei meine Gedanken ab, doch ich zwang mich, die Texte, die vor mir lagen, zu lesen und zu behalten. Oh, wie ich Sachliteratur hasste.

Als ich die Stimmen meiner Eltern im Erdgeschoss hörte, gab ich es schließlich auf. Erleichtert, einen Grund für eine Pause gefunden zu haben.

»Rina? Hilf uns mal!«, rief die Stimme meiner Mutter nach oben. Ich sprang sogleich auf und eilte die Treppe hinunter. Die beiden standen vor der Haustüre und stemmten sich mit ganzer Kraft dagegen.

»Kannst du den Schlüssel drehen, während wir drücken?«, fragte mein Vater, während der Schnee von seiner Jacke tropfte.

»Was ist denn los? Wo kommt der Sturm denn auf einmal her?«, fragte ich überrascht, während ich den Schlüssel drehte.

»Wenn ich das wüsste, Socke. Wenn ich das wüsste. Ich weiß nur, dass ich einen riesigen Hunger habe. Wie sieht es aus, hast du Lust, für uns zu kochen?«, antwortete mein Vater keuchend und erntete ein Grinsen von mir. Der Tag sollte noch kommen, an dem ich nicht kochen wollte!

Ich briet selbstgemachte Gemüse-Bratlinge und servierte sie mit in Paprika-Soße geschwenkten Spätzle und grünem Salat. Meine Eltern luden sich ihre Teller voll und hörten erst mit dem Essen auf, als nichts mehr da war, was man auf den Teller hätte legen können. Ich stocherte währenddessen noch immer in meiner ersten Portion herum, die Gedanken permanent unterwegs.

»Hey, Socke, alles in Ordnung bei dir?«, fragte mein Vater und legte sein Besteck beiseite.

»Ja, ja«, antwortete ich eilig, »ich habe nur heute nicht so großen Appetit. Ich bin müde und würde gerne früh schlafen. Ist das in Ordnung für euch?«

»Natürlich, ich räum hier auf, leg dich ruhig hin. Hast viel gelernt heute, oder? Das macht müde. Bis morgen, meine Süße«, erwiderte mir meine Mutter und küsste mich auf die Stirn, bevor ich mein Besteck beiseitelegte und in meinem Zimmer verschwand. Ich schlief an diesem Abend schnell ein und träumte von einem Paar wunderschöner orangefarbener Augen.

Am nächsten Morgen musste ich mich wieder einmal beeilen, weil ich nach dem Weckerklingeln doch noch eine Runde geschlafen hatte. Ich schaff te es gerade noch, mir etwas zu Essen einzupacken, dann raste ich auch schon aus der Tür. Was ich draußen sah, musste ich jedoch erstmal für einen kurzen Augenblick auf mich wirken lassen. Der große Sturm am Abend zuvor hatte nun endgültig den Frühling gebracht, der Schnee war bis auf eine hauchdünne Schicht nächtlichem Frost verschwunden und es was spürbar milder geworden. Ich war erstaunt, wie schnell sich manche Dinge ändern konnten.

Nach der Schule ließ ich mir Zeit für den Heimweg und wollte am See entlang nach Hause gehen, um den Kopf freigepustet zu bekommen. So langsam musste ich wirklich intensiver mit dem Lernen anfangen und wollte keine störenden Gedanken haben. Die Eisschicht auf dem See begann zu tauen und war an manchen Stellen bereits dem klaren Wasser gewichen. Schon von weitem sah ich Marco und Luis am Ufer stehen und wollte gerade abbiegen, damit sie mich nicht sahen, als ich bemerkte, dass sie nicht alleine waren. Da war noch eine weitere Person bei ihnen. Es war Jörn, wie ich bei genauerem Hinsehen erkannte, und alle drei traten sie auf jemanden ein, der bereits am Boden lag. Ich blieb stehen, starrte mit großen Augen auf das Schauspiel, das sich mir bot und spürte, wie eine unheimliche Wut sich den Weg nach oben bahnte. Dass diese Jungen es lustig fanden, mich für meine Bücherliebe zu schikanieren, war die eine Sache. Dass sie aber handgreiflich wurden, das ging zu weit. Ohne, dass ich wirklich darüber nachdachte, bewegten sich meine Beine auf die drei Jungen zu.

»Hey!«, rief ich, sobald ich näher war, und für einen kurzen Augenblick hörten sie auf zu treten und schauten mich an. Angst kroch meinen Hals hoch und ich verkrampfte die Hände zu Fäusten.

»Na, wen haben wir denn da? Rina Bücherfreak!«, riefen sie und lachten über ihren eigenen Witz. »Was hast du vor? Willst du uns mit deinem magischen Schwert zum Kampf herausfordern?«

»Nein! Ich will, dass ihr aufhört, auf andere Leute einzuprügeln!«, antwortete ich, so laut ich konnte. Es war nicht so ausdrucksstark, wie ich gehofft hatte.

»Und wenn wir nicht wollen?«, fragte Marco und grinste mich an.

»Dann wird das Konsequenzen haben«, entgegnete ich, spürte jedoch, wie mein Fünkchen Mut langsam in sich zusammenfiel. Weit und breit war niemand zu sehen, der mich in irgendeiner Weise hätte unterstützen können. Während sich die drei Jungen in einer Reihe vor mir aufbauten, begann ich, meinen Einsatz zu bereuen. Ich hätte einfach sofort jemanden holen sollen.

»Hör zu, Rina, am besten gehst du nach Hause und liest weiter deine Bücher und wir bringen zu Ende, was wir angefangen haben, okay?«, fragte Jörn und sorgte somit dafür, dass neue Wut in mir aufkochte.

»Nein!«, sagte ich und erntete ein abfälliges Lachen der drei Jungen. »Hört auf damit!«

»Wir haben aber keine Lust!«, antwortete Marco und trat erneut auf den Jungen am Boden, der gerade versucht hatte sich aufzurichten. Sein linkes Auge war bereits zugeschwollen und blau, seine Nase begann zu bluten.

»Hört auf, oder ich rufe die Polizei!«, entgegnete ich nun wieder. Sie lachten erneut.

Okay, ihr habt es nicht anders gewollt, dachte ich daraufhin und kramte mein Handy aus der Tasche. Mit pochendem Herzen tippte ich die Nummer der Polizei hinein.

»Das würde ich lassen«, hörte ich da die Stimme von Luis, der angriffslustig auf mich zukam. Meine Finger zitterten und ich traute mich nicht, den grünen Hörer zu drücken. Stattdessen presste ich die Augen zusammen und wartete auf den Schlag. Er kam nicht.

Dafür hörte ich eine Stimme, die mein Herz wieder in seinen normalen Rhythmus lenkte.

»Hey, lasst sie aus dem Spiel!« Ich öffnete meine Augen und sah den Jungen an, der auf dem Boden gelegen hatte. Es war der, den ich umgerannt hatte, und er packte Luis am erhobenen Arm.

»Lass mich los, du Freak«, maulte Luis und versuchte, sich zu befreien.

»Lasst sie in Frieden und verschwindet von hier, wir wollen alle keinen Ärger«, entgegnete der fremde Junge ruhig. Es war absurd, aber ich hatte das Gefühl, so etwas wie plötzlich aufkommende Angst in den Augen von Luis, Marco und Jörn zu erkennen. Als würde sie die raue Stimme des Fremden einschüchtern, während sie mich beruhigte. Der Junge ließ Luis los und die drei rannten fort. Anschließend wischte er sich mit dem Ärmel das Blut von der Nase.

»Bist du okay?«, wandte er sich nun unsicher an mich und ich schaffte es, zu nicken. Seine Nase hörte bereits auf zu bluten. »Mach das bitte nicht noch einmal, okay? Ich hatte echt Angst, dass sie dir wehtun.«

Ich blickte verwundert auf. »Was? Aber … die haben auf dich eingetreten, ich wollte … das muss man doch melden!«, stotterte ich.

»Ach was, ist nicht der Rede wert!«

»Nicht der Rede wert? Hallo? Das ist nicht witzig, sowas. Dagegen muss man sich wehren. Für die drei wird das Konsequenzen haben, das kannst du mir glauben! Ich ruf die Polizei an, je eher, desto besser!« Energisch tippte ich erneut die Nummer in mein Handy.

»Nein!«, hörte ich seine Stimme. Ich blickte wieder zu ihm auf.

»Nein?«, fragte ich nach, als hätte ich ihn nicht richtig verstanden. »Wieso nein?«

»Ich … bitte, wenn mein Vater hiervon erfährt, dann bin ich geliefert. Ich würde einfach nicht so gerne Aufmerksamkeit erregen, weißt du.«

Sein Blick ging unruhig hin und her.

»Aber, wir können die doch nicht einfach so davonlaufen lassen«, antwortete ich erklärend, die Hand noch immer an meinem Handy. »Die machen das doch weiter, wenn die damit durchkommen.«

»Bitte!«, sagte der Junge, drehte sich um und verschwand. Ich sah ihm fassungslos hinterher. Was ist denn hier gerade passiert, dachte ich verwundert und starrte auf das Handy in meiner Hand. Mein Verstand arbeitete auf Hochtouren, um das Geschehene zu verarbeiten. Trotzdem brauchte ich einige Zeit, bis ich realisierte, dass das linke Auge des Jungen nicht mehr geschwollen gewesen war, als er ging.

Auf dem Rückweg ließ mich der Vorfall jedoch nicht los und als ich endlich zu Hause ankam, griff ich sogleich nach dem Telefon und informierte dennoch anonym die Polizei. Ich erzählte, was ich gesehen und getan hatte. Ich erwähnte, dass ich den Jungen, der angegriff en worden war, nicht kannte und er einfach verschwunden war. Und ich nannte die Namen von Marco, Luis und Jörn. Es gab mir ein besseres Gefühl, etwas getan zu haben, auch wenn die bisherigen Informationen nicht ausreichten, um ernsthaft polizeilich einschreiten zu können. Warum der Junge sich geweigert hatte zur Polizei zu gehen und anschließend verschwunden war, wurde mir jedoch auch nach einer ganzen Weile nicht klar.

Die Tage wurden länger und wärmer und unsere Schultage immer kürzer. Dann kamen die Osterferien und mit ihnen die letzten zwei Wochen, um das nötige Wissen in unsere Köpfe zu bekommen. Meine letzten Ferien hatte ich mir anders vorgestellt. An den Vormittagen wurde gelernt, gegen Mittag machte ich mit Spyke einen Abstecher zum Seeberg und danach setzte ich mich wieder an meine Notizen. Ich konnte es kaum erwarten, die Prüfungen hinter mich zu bringen und endlich wieder ein gutes Buch lesen zu dürfen. Zwischen all den Zahlen und Wörtern vermisste ich die Drachen und fremden Wesen, die mir so vertraut waren.

Das einzig Gute in dieser Zeit war, dass man Jörn, Marco und Luis tatsächlich erwischt hatte. Ich las in der Zeitung, dass es vermehrte Anschuldigungen gegen die Drei gegeben hatte, bis sie vor den Augen eines Polizisten in Zivil handgreifl ich geworden waren. Der Vorfall am See wurde nicht explizit erwähnt, somit hatten der Junge und ich nichts mit der Sache zu tun.

»Noch zehn Minuten«, hörte ich die leise Stimme meines Lehrers in die Klasse sagen und setzte den letzten Punkt hinter meinen Text. Die erste Klausur war also geschaff t. Nachdem ich alles erneut gelesen und schließlich abgegeben hatte, fiel mir ein kleiner Stein vom Herzen. Das war gar nicht mal so schlecht gelaufen. So schnell ich konnte, ging ich nach draußen und überquerte zügig den Schulhof, bevor die Prüfungszeit offiziell vorbei war und alle Schüler hinauseilen würden. Ich hatte keine Lust, den Anderen zu begegnen, mit ihnen über die Klausur zu reden und somit unnötige Panik aufzubauen. Was geschrieben war, konnten wir nun nicht mehr ändern. Ich setzte meinen Weg durch den Park Richtung Seeberg fort, um mich dort endlich wieder meinem neuen Buch widmen zu können. Als ich jedoch fast angekommen war, sah ich wenige Meter vor mir den fremden Jungen auf dem Weg zum Strand. Mir blieb das Herz fast stehen und ich flüchtete mich hinter den nächsten Baum, den Rücken fest an die Rinde gepresst.

Okay, Rina, ganz ruhig bleiben. Er hat dich nicht gesehen, warte einfach einen Moment hier, bis er am Strand ist, und dann lauf so schnell du kannst nach oben. Es ist alles in Ordnung, er müsste jeden Moment weg … »Hey«, unterbrach eine warme Stimme meinen panischen Gedankengang.

Oh, Mist, Mist, Mist, was mache ich denn jetzt? Ganz ruhig, bleib ganz ruhig und lächle einfach, beim Lächeln kann nicht viel passieren, versuchte ich mir einzureden und löste meinen Rücken langsam von der Baumrinde.

»Hey«, quiekte ich.

Er stand nun direkt vor mir, sein braunes Haar schimmerte in der Sonne leicht rötlich, die sonnengebräunte und von Muskelsträngen durchzeichnete Haut, brachte das weiße T-Shirt darüber zum Strahlen. Seine orangefarbenen Augen musterten mich belustigt.

»Ich wollte mich noch einmal für neulich bedanken. Dass du mir geholfen hast. Ich hoffe, die Drei haben dir keinen Ärger gemacht?«, begann er ein Gespräch. Ich schüttelte verneinend den Kopf.

»Na ja, jedenfalls war es sehr mutig von dir, einzugreifen. Danke also dafür.« Ich starrte ihn weiterhin einfach nur stumm an. Sag was, Rina! Los komm! Irgendwas!, versuchte ich meine Gedanken auf Trab zu bringen, doch es blieb gähnende Leere.

»Tja … also … ich geh dann auch mal wieder. Du musst bestimmt noch irgendwohin. Schönen Tag also.« Er drehte sich bereits um, als aus meinem Mund ein undefinierbarer Laut ertönte.

»Wie bitte?«, fragte er höflich und mein Gesicht begann zu glühen.

»Ich … also, eigentlich muss ich nirgendwo hin. Ich wollte fragen, ob du etwas trinken gehen magst. Alleine. Also mit mir. Vielleicht«, stammelte ich und wünschte mich selbst an einen Ort ganz weit weg.

»Gerne«, antwortete er lächelnd. »Ich würde sehr gerne etwas trinken gehen. Mit dir.«

»Wirklich?«, fragte ich verdattert, hatte ich doch mit einer Abfuhr gerechnet.

»Wirklich!«, versicherte der Junge lachend. »Heute Abend? Sieben Uhr? Ich warte am Brunnen auf dich.«

Ich konnte bloß nicken, so unwirklich erschien mir dieser Moment. Nachdem der Junge bereits gegangen war, starrte ich noch immer eine Weile vor mich hin, bis auch ich mich umdrehte und nach Hause ging. Das musste ich sofort Line erzählen.

DER KLEINE SPRUNG ÜBER DEN GROßEN SCHATTEN

Weißt du denn schon, was du nachher an-» ziehst?«, fragte Line und zog den Lockenstab aus meinen Haaren.

»Nein. Doch. Ich weiß nicht. Ich dachte, vielleicht die dunkle Jeans mit der weißen langen Bluse, die wir letztens gekauft haben. Ich habe doch noch diese braune Lederimitatjacke. Oder meinst du nicht?«, antwortete ich unsicher.

»Klingt perfekt, dann fl echte ich dir ein paar kleine Strähnen in die Locken, das sieht super aus mit deinem blonden Haar. Deine Mutter hat doch noch diese braunen Stiefelletten, kannst du die anziehen?«

»Ja, ich glaub, die habe ich unten stehen sehen. Oh Mann, Line, ich bin so aufgeregt. Was ist, wenn wir uns nichts zu sagen haben?«

»Ach Quatsch, du wirst sehen, das geht von ganz allein. Wie heißt er denn eigentlich?« Ich stutzte. Danach hatte ich ihn gar nicht gefragt. Ich starrte Line mit großen Augen an.

»Egal, das wirst du heute schon erfahren. Du ziehst dich jetzt an, nimmst deine Tasche und fährst dorthin. Zur Not sagst du so was wie ›Du hast mir deinen Namen noch gar nicht verraten.‹ Und wenn du wieder zu Hause bist, rufst du mich an, okay?«

»Okay«, sagte ich leise.

Um zehn vor sieben erreichte ich den Marktplatz und sah schon von weitem den Jungen am Brunnen sitzen. Sofort fühlte ich mein Herz in der Brust schneller schlagen. Als er mich sah, stand er auf.

»Hey«, sagte er sanft und kam auf mich zu. »Schön, dich zu sehen.«

Er stand jetzt direkt vor mir und musterte mich mit seinen ungewöhnlichen Augen, die mir sogleich das Gefühl von Wärme und Geborgenheit gaben. Ich spürte, wie die Anspannung in mir nachließ, als unsere Blicke sich trafen.

»Hey«, antwortete ich und grinste.

»Was hältst du von dem Café hier vorne? Es sieht gemütlich aus«, fragte er und zeigte auf das Oreon. Ich nickte und folgte ihm hinein.

»Du … wir … Also, ich weiß deinen Namen noch gar nicht«, fing ich das Gespräch vorsichtig an, sobald wir es uns auf einer Eckbank bequem gemacht hatten.

»Stimmt«, erwiderte er lachend und schlug sich mit der flachen Hand leicht gegen die Stirn. »Wie kann man so was vergessen! Tut mir leid, also ich bin Criff . Du bist Rina, oder?« Ich nickte stumm.

»Wohnst du schon lange hier?«, fragte er weiter, und ich war ihm dankbar dafür, dass er das Gespräch begann, denn so hatte ich Zeit, meine Gedanken zu ordnen.

»Mein ganzes Leben, um genau zu sein. Ich bin hier auf die Welt gekommen und hatte bisher auch noch nicht das Bedürfnis, woanders leben zu wollen. Die nächste Stadt ist nur 30 Minuten mit dem Fahrrad entfernt und hier ist es so still und friedlich, ganz anders als in den lauten und hektischen Großstädten. Und weil unser Dorf so klein ist, findet man sich auch schnell zurecht. Und du? Was führt dich hierher?«

Wo kamen denn jetzt die ganzen Worte plötzlich her? Ohne stottern!, dachte ich erstaunt über meine Antwort.

»Bisher gefällt es mir sehr gut. Abgesehen von diesen Jungs am See sind die Menschen hier wirklich unglaublich freundlich und offen. Na ja, und hingezogen bin ich mit meinem Ziehvater Magnum. Wir haben vorher in einem großen Haus ziemlich weit abseits von einer Stadt gewohnt. Als Magnum mir gesagt hat, dass wir umziehen, habe ich darauf bestanden, dorthin zu gehen, wo mehr Menschen sind. Es kann ganz schön einsam sein in einem großen Haus ohne Besucher. Viele Menschen sind hier zwar auch nicht, aber immerhin für den Angang ist es sicher lich nicht schlecht.«

»Ach so, apropos Jungs am See, ich muss gestehen, dass ich an dem Abend doch noch die Polizei informiert habe. Ich konnte die Drei einfach nicht damit durchkommen lassen«, begann ich leise auf den Nachmittag einzugehen und betrachtete meine Fingerspitzen. »Aber keine Sorge, ich habe gesagt, dass ich dich nicht kenne und nicht weiß, wie du aussiehst und so. Jedenfalls habe ich in der Zeitung gelesen, dass sie erwischt wurden, als sie es weitere Male bei Leuten gemacht haben. Wir wurden aber gar nicht erwähnt. Ich hoffe, du bekommst jetzt keinen Ärger oder so.«

»Nein«, antwortete Criff und lächelte mich schief an. »Das war wirklich mutig von dir, einzuschreiten und dann auch noch die Polizei zu benachrichtigen. Ehrlich. Ich glaube, ich hatte an diesem Nachmittag einfach einen kleinen Schock. Aber das ist ja jetzt vorbei. Also lass uns über etwas anderes reden. Wie sieht’s aus, was kann man hier so unternehmen?«

Nachdem wir bei einer netten Kellnerin einen Kaff ee und einen heißen Tee bestellt hatten, unterhielten wir uns noch eine ganze Weile. Es war unglaublich, wie viel ich plötzlich reden konnte. Ich erzählte ihm von mir, meinen Eltern und Line. Wir machten Späße und lachten über unsinnige Sachen. Er verriet mir, dass sein Ziehvater Magnum ihn mit sechs Jahren aufgenommen hatte und wie einsam er sich als Kind oft gefühlt hatte. Ich erfuhr, dass er diese Zeit sehr viel mit Lesen gefüllt hatte und wir hatten viele Bücher gemeinsam, die uns gefielen. Er schaff te es, dass ich mich im Laufe dieses Abends so fühlte, als würde ich ihn bereits mein Leben lang kennen.

»Entschuldigung, aber wir schließen gleich«, unterbrach uns schließlich die schüchterne Stimme der Kellnerin. Ich hatte gar nicht gemerkt, wie schnell die Zeit verflogen war.

Criff zahlte für uns beide und half mir anschließend in meine Jacke.

»Es ist schon dunkel draußen. Darf ich dich begleiten? Mir wäre wohler dabei zu wissen, dass du sicher zu Hause angekommen bist«, fragte er vorsichtig und ich nickte.

»Trägst du eigentlich Kontaktlinsen?«, konnte ich mir die Frage unterwegs nicht verkneifen.

»Wieso?«, kam die Antwort, und mit klopfendem Herzen sagte ich: »Deine Augen sind so … also die Farbe. Ich habe noch nie solche Augen bei einem Menschen gesehen und auch noch nicht davon gehört. Ich frage mich das schon die ganze Zeit, tut mir leid.«

Er lachte auf. »Nein, ich trage keine Kontaktlinsen. Das ist alles echt. Die Menschen reagieren manchmal etwas verwirrt, aber da muss man dann eben durch, nicht wahr?«

»Ich finde sie schön«, sagte ich leise und spürte ihn neben mir lächeln.

Als ich am nächsten Tag meine zweite Abschlussklausur geschrieben hatte und erleichtert auf den Schulhof trat, sah ich Criff bereits am Schultor lehnen. Er grinste mich breit an und kam schnellen Schrittes auf mich zu.

»Woher wusstest du, dass ich heute eine Prüfung habe?«, fragte ich ihn, sobald ich nah genug war.

»Du hast es gestern erzählt, also dachte ich, ich warte hier auf dich. Vielleicht hast du Lust, an den Strand zu gehen. Nur, wenn du magst.« Er klang unsicher, als würde er daran zweifeln, ob ich mich ein weiteres Mal mit ihm treff en wollte.

»Stimmt, habe ich. So viel wie ich geredet habe wundert es mich allerdings, dass du es noch weißt. Aber Strand klingt gut. Ein bisschen Ablenkung kann nicht schaden«, antwortete ich und schob mein Fahrrad neben ihm her.

Das kalte Meer umfl oss unsere Füße und kribbelte auf der Haut, während der Wind mein Haar immer wieder in mein Gesicht wehte. Aufgrund der vielen schnellen Kopfbewegungen meinerseits, um das Haar wieder aus meinem Blickfeld zu entfernen, übersah ich das Loch im Sand und landete prompt der Länge nach im Wasser. Sofort war ich von oben bis unten nass. Noch ehe ich darüber nach denken konnte, was mir da gerade Peinliches passiert war, half mir Criff wieder hoch und reichte mir seinen Pulli. Unsicher nahm ich ihn an und war froh, das nasse T-Shirt darunter ausziehen zu können. Der Pulli war groß und warm und er roch nach ihm. Ein herber, angenehmer Geruch.

Von einer Mauer aus beobachteten wir noch eine Weile den Wellengang und unterhielten uns lachend, ehe wir auf die Uhr schauten und merkten, wie lange wir schon unterwegs waren. Die Zeit mit ihm verging wie im Fluge und viel zu schnell war unsere gemeinsame Zeit wieder vorbei. Als wir uns schließlich verabschiedeten, wollte ich ihm seinen Pulli wiedergeben, doch er lehnte ab.

»Dein T-Shirt ist doch noch nass. Behalt ihn und gib ihn mir zurück, wenn wir uns wiedersehen, okay?« Seine Worte machten mich glücklich, er wollte mich wirklich wieder treffen. Ich schlief an diesem Abend besser als je zuvor, die Nase tief in seinem Pulli vergraben.

Bereits beim nächsten Treffen gab ich ihm seinen Pulli zurück. Ich brauchte ihn auch nicht mehr, denn von nun an trafen wir uns fast täglich. Meist blieben wir bis in den Abend hinein am Strand und beobachteten die Sonne bei ihrem Tauchgang im Meer. Die Mauer wurde dabei schnell zu unserem Stammplatz. Die Tage wurden heller, die Nächte kürzer und auch die Luft wurde von Mal zu Mal lauer. Auch an diesem Nachmittag trafen wir uns wieder an der Mauer und starteten zu einem Spaziergang. Wir liefen anfangs eine Weile nebeneinander her, bis er irgendwann zurückfiel. Kurz darauf landete ein Schwall Meerwasser in meinem Rücken. Erschrocken drehte ich mich um und sah ein breites Grinsen auf seinem Gesicht.

Mit gespielter Empörung plusterte ich meine Wangen auf und fragte: »Hast du mich gerade nass gemacht?«

Er schaute unschuldig in den Himmel, während er antwortete: »Ich glaube … schon …«

»Na warte!«, rief ich, bückte mich und spritzte ihm eine riesige Ladung Salzwasser ins Gesicht. Die Wasserschlacht begann und wir hörten erst auf, als wir beide keine einzige trockene Stelle mehr an unserem Körper hatten und uns erschöpft in den Sand fallen ließen. Keuchend lag ich neben ihm auf dem Rücken und schaute in den dunkler werdenden blauen Himmel hinauf.

»Du bist unglaublich, Rina«, sagte er irgendwann, drehte seinen Kopf zu mir und sah mit seinen warmen Augen tief in meine. Sein Blick ließ mein aufgeregt schlagendes Herz wieder ruhiger werden und ich fragte mich, wie jedes Mal, wie er das machte. Doch meine Gedanken wurden unterbrochen von einer Bewegung seinerseits. Zögernd kam sein Gesicht näher an meines, bis irgendwann seine Lippen auf meine trafen. Ganz sanft und vorsichtig, um mich nicht zu überrumpeln. Erst als ich liegenblieb und meine Lippen leicht gegen seine schmiegte, wurde sein Druck stärker. Es war atemberaubend. Wie bei einem Feuerwerk schienen alle negativen Gedanken und Gefühle, die bis dahin noch in meinem Kopf gewesen waren, plötzlich aus meinem Körper zu springen, zu zerplatzen und den positiven Dingen somit Platz zu machen. Ich fühlte eine Wärme in meiner Brust, von der ich nicht geglaubt hatte, dass ich sie jemals würde spüren können. Noch nie hatte sich etwas so gut angefühlt.

Es war wirklich passiert. Mit 18 Jahren hatte auch ich endlich das Glück in der Liebe gefunden. An diesem Morgen wollte ich Criff zu Hause überraschen und bei ihm vorbeischauen. Er hatte am Abend vorher erzählt, dass er seinem Vater noch bei etwas helfen musste und ich beschloss, vorbeizugehen und auch meine Hilfe anzubieten. Ich kam von hinten an das Haus heran und konnte durch die Gartentür aus Glas in das dunkle Wohnzimmer des Hauses sehen. Es war leer und wirkte, als wäre niemand da.

Komisch, dachte ich. Vielleicht mussten sie weg?

Ich trat näher an die Hecke heran, die einige Lücken aufwies und den Blick in den Garten freiließ. An den restlichen Fenstern waren die Vorhänge zugezogen und die Rollläden heruntergelassen. Nicht die kleinste Bewegung war im Haus zu sehen. Ich wollte mich gerade abwenden und zurückgehen, als ich einen Schatten im Zimmer sah. Kurz darauf erschien erst der alte Mann von damals im Zimmer, es musste Magnum sein, und dann Criff. Anhand ihrer Bewegungen und Gesichtsausdrücke, die ich durch die Gartentüre sehen konnte, schienen die beiden sich über irgendetwas zu streiten. Mir fiel jedoch noch etwas anderes auf. Criffs muskulöser Oberkörper war frei, doch überall klebten kleine Elektroden auf seiner Haut, die meine Aufmerksamkeit auf sich zogen. Ich kannte sie aus dem Kranken haus, wo man sie bei einem EKG verwendete. Nach und nach zog er die runden Dinger ab, bis keines mehr übrig war. Noch immer war sein Körper angespannt vor Ärger. In diesem Moment drehte er sich ruckartig um und starrte nach draußen. Reflexartig ließ ich mich in die Hocke sinken. Hatte er mich gesehen? Nur einen Augenblick danach ertönte das Geräusch der sich öffnenden Gartentüre. So leise wie möglich zog ich mich um die nächste Ecke zurück, erst dann stand ich auf und rannte los. So schnell ich konnte, raste ich die Straße entlang zu mir nach Hause.

Hat er mich gesehen? Was denkt er von mir? Denkt er, ich spioniere ihm nach? Was sage ich ihm? Erzähle ich ihm davon, was ich gesehen habe? Vielleicht hat er mich gar nicht gesehen!

Die Gedanken jagten durch meinen Kopf, als wären sie ein reißender Gebirgsfluss. Keuchend kam ich zu Hause an, setzte mich auf mein Bett und versuchte, zu Atem zu kommen. Ich hatte ein furchtbar schlechtes Gewissen, obwohl ich ihn doch nur besuchen wollte. Mir war klar, dass ich etwas gesehen hatte, was nicht für anderer Leute Augen bestimmt gewesen war. Kurz darauf ging das Telefon. Mein Herz setzte einen Moment aus, als ich seine Stimme hörte.

»Hey, Schmetterling, ich bin es.« Normalerweise hätte mich seine warme Stimme zum Schmelzen gebracht, doch jetzt fühlte ich leichte Panik aufkommen. War es nur Zufall, dass er jetzt anrief, oder hatte er mich tatsächlich gesehen?

»Hey, Criff. Was gibt’s? Schon fertig mit allem?«, fragte ich betont beiläufig und hoffte, meine Unsicherheit würde er nicht bemerken.

»Ja, es hat doch nicht so lange gedauert, wie ich dachte. Sag mal, wieso bist du denn so außer Atem?« Der Kloß in meinem Hals wurde größer.

»Ich … war joggen!«

»Joggen? Ich dachte, du hasst joggen?«

»Ja … tue ich auch. Jetzt weiß ich auch wieder warum. Das ist einfach nicht mein Sport. Meine Lunge brennt, als hätte jemand mit Schmirgelpapier darüber gerieben.« Ich wählte diese Worte mit Bedacht, denn ich wollte so nah wie möglich an der Wahrheit bleiben.

»Ein gutes Argument. Pass auf, ich bin hier in etwa fünf Minuten fertig, was hältst du von einem Spaziergang am Strand?«

Der Kloß in meinem Hals wurde kleiner. Anscheinend hatte Criff nichts gemerkt.

»Klingt super, ich zieh mir eben etwas anderes an, dann komme ich«, schnaufte ich.

»Alles klar, ich warte auf dich, bis später!«

Erleichtert legte ich auf und ließ mich rücklings auf mein Bett fallen. Das war gerade noch einmal gutgegangen.

KENNENLERNEN

Es war sonnig und warm, als ich mir meine Schuhe anzog, um mit Spyke zum See zu gehen. Line und Criff kamen auch und gemeinsam wollten wir uns die Beine vertreten und die Sonne genießen. Ich hatte gerade die Leine in der Hand, als meine Mutter um die Ecke in den Flur schaute.

»Na, Socke, wo soll es denn hingehen?«, fragte sie und obwohl sie versuchte gleichgültig zu klingen, hörte ich eine gewisse Neugierde aus ihrer Stimme heraus.

»Ich wollte mit Criff und Line an den See und dachte, ich nehme Spyke mit. Wieso?«

Meine Mutter wurde leicht rosa im Gesicht.

»Ach, hat mich nur so interessiert. Vielleicht habt ihr drei ja Lust, nachher noch herzukommen. Papa wollte Crêpes mit Beeren machen.«

Ich wusste, worauf meine Mutter hinaus wollte. Sie und mein Vater hatten Criff bisher noch nicht kennengelernt und wollten nun wissen, mit wem ich meine Zeit verbrachte, wenn nicht mit meinen Büchern.

»Ich werde sie fragen, okay? Aber ich muss jetzt wirklich los, bis nachher, Mum«, antwortete ich und verschwand zur Tür hinaus.

»Hey, sagt mal, habt ihr vielleicht Lust, nachher mit zu mir zu kommen? Mein Vater macht Crêpes und lädt euch ein«, fragte ich Criff und Line nach einer Weile und warf den Stock für Spyke in den See.

»Oh ja, ich bin sofort dabei. Ich liebe es, wenn dein Vater kocht. Seine Crêpes sind himmlisch, du musst sie unbedingt probieren, Criff!«, rief Line sogleich euphorisch und grinste mich an. Ich grinste zurück, ehe ich Criff genau ansah.

»Was ist? Bist du dabei?«

»Klar, wieso nicht? Bin schon gespannt, wie du so wohnst. Und wenn die Crêpes so gut sind, wie Line sagt, dann sollte ich sie mir nicht entgehen lassen, oder?«

Also machten wir uns kurz darauf zu dritt auf den Weg zu mir nach Hause, wobei der nasse Spyke mit seinem Stock im Maul fröhlich hinter uns herhüpfte. Zögernd schloss ich die Türe auf und ließ meine Freunde in den Hausflur treten.

»Hallo, ich bin es!«, rief ich und hängte die Leine an den Haken.

»Hallo, Socke!«, rief die Stimme meines Vaters aus dem Garten zurück.

Ich sah, wie Criff anfing zu grinsen.

»Socke?«, fragte er stumm und hob die Augenbrauen.

»Frag nicht«, antwortete ich kopfschüttelnd und ging in den Garten, dicht gefolgt von Line und Criff.

»Hallo Manni, hallo Mara«, grüßte meine Freundin und setzte sich zu meinem Vater an den Tisch.

»Mum, Dad, darf ich euch jemanden vorstellen? Das ist Criff. Criff, das sind meine Eltern Manuel und Tamara«, stellte ich alle einander vor. Sobald ich den Namen meines Freundes ausgesprochen hatte, stoppte meine Mutter das Blumengießen und blickte auf.

»Hallo«, lächelte Criff und hob verlegen die Hand.

»Hey Criff, schön dich kennenzulernen«, grüßte mein Vater zurück. »Ich bin Manni. Wie sieht es aus, Leute. Lust auf ein paar Crêpes und Eis? Hab gerade Zitroneneis mit Brombeeren fertig.«

»Oh ja, bitte! Ich nehm auch das von den anderen, wenn es keiner will!«, rief Line und trommelte mit den Fingern auf den Tisch.

»So weit kommt es noch!«, lachte ich und zog Criff auf den Stuhl neben meinem.

Es wurde ein richtig schöner Nachmittag und wir aßen so viele Crêpes und Eis, dass ich noch eine ganze Weile danach das Gefühl hatte, ich würde platzen. Criff blieb noch etwas länger als Line, weil sie am nächsten Morgen früh bei ihrem Vater sein wollte. Erst am späten Abend verabschiedete sich auch Criff.

»Jetzt, wo du meine Eltern kennst, musst du mir Magnum aber auch bald vorstellen, okay?«, fragte ich leise und küsste ihn auf die Wange.

»Mach ich. Versprochen!«, antwortete er, ehe die dunkle Abenddämmerung ihn verschluckte.

»Guter Fang, Socke. Wo hast du den denn entdeckt?«, fragte meine Mutter, sobald ich zurück in der Küche war.

»Ich hab ihn umgerannt«, antwortete ich betont beiläufig und holte ein Glas aus dem Schrank.

»Du hast was?«, meine Mutter schaute meinen Vater alarmiert an.

»Ich hab ihn umgerannt. Versehentlich«, wiederholte ich mich.

»Das ist meine Tochter!«, sagte mein Vater und fing lauthals an zu lachen. Wie so oft konnte ich nicht anders und stieg in sein Lachen mit ein.