Armut ist ein brennend Hemd - Annegret Held - E-Book

Armut ist ein brennend Hemd E-Book

Annegret Held

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Beschreibung

Der Westerwald im 19. Jahrhundert: Finchen und ihr Mann Konrad sind tüchtige Leute. Und dennoch leiden sie und ihre sieben Kinder Not - wie die gesamte Region, in der viele Menschen vor Hunger sterben. Erste Mütter geben ihre Kinder reisenden Händlern mit, um ihr Überleben zu sichern. Bald muss auch Finchen entscheiden, wie sie ihre Familie durchbringen will ... Annegret Held erzählt zutiefst berührend von der Geschichte der "deutschen Sklaven" und von einer von tiefster Armut geprägten Welt.

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Über die Autorin

Annegret Held, 1962 im Westerwald geboren, arbeitete u.a. als Polizistin, Sekretärin, Altenpflegerin und Luftsicherheitsassistentin – und ist erfolgreiche Autorin. Sie bekam den Berliner Kunstpreis der Akademie und den Glaser-Förderpreis, ist PEN-Mitglied und lebt im Westerwald und in Frankfurt.

ANNEGRET HELD

ARMUTIST EINBRENNENDHEMD

ROMAN

EICHBORN

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

Eichborn Verlag in der Bastei Lübbe AG

Originalausgabe

Copyright © 2015 by Bastei Lübbe AG, Köln

Textredaktion: Doris Engelke, Frankfurt

Umschlaggestaltung: CU1berlin /Patrizia Di Stefano

Einband-/Umschlagmotiv: © akg-images

Satz und E-Book-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7325-9504-4

www.eichborn.de

www.luebbe.de

www.lesejury.de

Inhalt

CoverÜber die AutorinTitelImpressumWidmungEinleitung180618151833184718481849185318561871

Für Pottum, meine Heimat,

und für all diejenigen, die ihre Heimat verlieren,

dass man ihnen hilft, wie man den Unsrigen geholfen hat,

Meine Urgroßmutter Charlotte lebte in Scholmerbach, so wie meine Mutter und meine Ururgroßmutter Bettchen und deren Mutter Finchen und meine Oma Apollonia, alles immer Scholmerbach.

Man musste sich fragen, warum immer Scholmerbach und führte denn da kein Weg hinaus? Aber wenn man wie ich in diesem Dorf geboren war, dann wusste man, dass schwerlich etwas Besseres kommen konnte. Na gut, Ellingen oder Hellersberg gingen womöglich auch noch.

Apollonia, Charlotte, Bettchen, Fine, Anna, Margarete, ihre Namen sind aufgeschrieben im Kirchenbuch, sonst nirgends. Ihre Geschichten hat keiner erzählt, und keiner kann sich recht an sie erinnern, man hat sie auf dem Kirchhof vergraben und sich nichts, aber auch gar nichts von ihnen behalten. Sie waren ja bloß von Scholmerbach, bloß von Scholmerbach mit seinen dreihundertsiebzehn Seelen. Vielleicht wurde auch im neunzehnten Jahrhundert derart viel gestorben, dass der Kirchhof unentwegt blühte vor frischen Gräbern, und unter den blühenden Hügeln wurden die Gebeine samt ihren Lebensgeschichten so schnell als möglich der Verrottung anheimgegeben. Da blieb nichts mehr übrig, als hätte der Kirchhof das ganze Jahrhundert aufgefressen.

Gott, hier war doch nichts, sagten die alten Leute, nur Armetei, wir waren nichts, wir hatten nichts, da gab es nichts, gar nichts.

Es war eine ewige Litanei: Es gab nichts, wir hatten nichts, gar nichts, nur Not und kein Gebot, sie starben wie die Fliegen. Sie sangen es, als seien sie irgendwie auch noch stolz darauf, sie konnten in Rage geraten dabei und die Fäuste schwingen, wir hatten gar-nichts, gar-nichts, gar-nichts!!!

Und über allem lag das schwarze Hungertuch des Westerwaldes.

Da mein Dorf nichts wissen wollte von jenem Jahrhundert und nur etwas von schauerlichem Verderben murmelte, konnte ich mir rein gar nichts vorstellen. Mir war also immer, als seien wir in Scholmerbach alle aus einem dunklen Loch hervorgekrochen, meine ganze Verwandtschaft, alle Dorfleute, alle aus einem finsteren Abgrund emporgestiegen.

Aber wenn man doch wissen will, was hier mal war – auf den Wegen zwischen dem Honiels und der Waldeslust oder von den Weidehecken über die Brennnesselfelder bis zum Haselbacher Feld? Da muss man die Brennnesseln selber fragen oder das verschüttete Bier beim Honiels, sogar die Bäume vom Urles oder der Kappes vom Kappesgarten konnten sich besser erinnern als meine Oma Apollonia oder etwa Tante Hedwig vom Zimmerplatz.

– Hier war nichts und naut! Frag nicht so blöd.

Während ich über das schauerliche Garnichts nachdachte und meine Vorfahren mir wie schwebende Schatten vor einer schwarzen Wand vorkamen, erschienen mir eines Tages wundersamerweise ganz plötzlich meine Urgroßmütter im Geiste und spazierten fröhlich vor mir her, Finchen, Bettchen und Charlotte.

Sie waren ein Trugbild. Aber ich sah sie ganz deutlich und sie waren alle gleich alt, und obwohl sie doch nacheinander geboren waren und die eine aus dem Schoß der anderen hervorgekommen war, standen sie nun beieinander, wie in einem schwesterlichen Reigen. Waren sie aus ihren Gräbern gesprungen, oder hatten sie in Wahrheit die Gräber nie berührt und sich zuvor in eine andere Welt verdünnisiert? Nein, es war mein Tagtraum, in dem die Gestalten besonders bunt tanzten, das war nicht schwer, tanzten sie doch praktisch vor der schwarzen Gedächtnislücke meines Dorfes herum.

Aber ich glaubte an meine Träume ebenso, wie ich daran glaubte, dass meine Urgroßmütter aus einer anderen Welt in meine hineinspazieren konnten, während ich einen Kaffee trank und aus dem Fenster sah.

Sie wirkten alle drei nicht sonderlich traurig oder vom Leben entkräftet, sie schienen eher erfrischt und geschwätzig. Meine Urgroßmütter waren lauter Lumpenliesen, in staubige, schwarze und blaue Röcke gekleidet und mit verschossenen Leibchen über einem einfachen Hemd, das sie zuvor schon in der Nacht getragen hatten. Ich sah auch ihre Füße, und Finchen lief barfuß, Bettchen hatte die feinsten Schuhe, und Charlottes Schuhe trugen dicke Nägel, die immer wieder aus den Sohlen fielen. Warum hatte Bettchen denn so feine Schuhe mit Schleifen? Sowas gab es nicht im Westerwald.

Doch je mehr ich mir die Füße betrachtete, umso deutlicher sah ich die Wege, die sie gelaufen waren, in den alten Tagen, wo Scholmerbach nur drei Dutzend Häuser hatte und im Dorf noch die Linde stand und mittendurch ein sprudelnder Bach floss von Ellingen herunter in Richtung Wällershofen.

Ich sah ein altes Lehmhaus mit schönem Fachwerk, das verwittert und schon ein wenig verzogen war. Es hatte gebogene Balken und mittendrin den wilden Mann, mit seinen Beinen aus Holz und den Armen, die er zum Himmel reckte, und gleichzeitig blieb der wilde Mann, wie alle anderen Figuren, für immer in den Lehmgefachen stecken. Er war schwer zu zimmern, also musste es vielleicht das Haus vom alten Kaspar sein, von anno dunnemals. Die Balken waren sauber ineinander verkantet, und das Tannenholz war mit Ochsenblut gestrichen, Zimmerleute müssen immer die schönsten Häuser haben. Aber das vom alten Kaspar hatte nur einen Stock, und innen drin schienen sich zwanzig Leute um einen Tisch herumzudrücken und einer fluchte: Kreuzsakrament nochemol. Da wusste ich: Es mussten meine Vorfahren sein, mein Fleisch und Blut, das schon so lange vertrocknet und zerfallen war auf dem schönen Kirchhof von Scholmerbach.

1806

Die Wege staubten im Sonnenlicht und die Gräser und Kamillen vor den Lattenzäunen waren so geschossen, dass sie Finchen um die Röcke rankten.

Finchen schleppte den kränklichen Heinrich mit seiner Schmalzhaube auf der Hüfte, und an der anderen Hand hatte sie noch die kleine Hanne, die dauernd hinfiel und ihren honiggefüllten Lutschzipfel im Dreck verlor.

– Hör off dich zu jucke, Heinrich! Davon wird dat net besser!

Sie schob ihm die Haube wieder zurecht und betrachtete ärgerlich, wie sich darauf ein weiterer kleiner Blutstropfen ausbreitete.

– Guckt mol, da vorne spielt gleich die Musik, vielleicht kauft uns die Mutter en Zuckerstang!

Von der Kirche von Scholmerbach schepperte die gesprungene Glocke im hölzernen Turm herüber und von überall her kamen die Leute verzagt und missmutig in ihrer guten Tracht, die Frauen trugen ihre festlichen Brusttücher in das Mieder gestopft und die Männer Kniehosen mit Strümpfen und den weiten, blauen Leinenkittel. Ihre Schritte waren schwer und breitbeinig, die Schultern waren gebeugt und manchmal verzogen, der ein oder andere hatte ein lahmes Bein oder ein krummes Kreuz, nur die jungen Leute kamen aufrecht und unbekümmert daher, als ob ihnen niemals etwas geschehen könnte.

Finchens Großvater war schon losgehumpelt, weil er länger brauchte; der Vater sprach mit Jakob über eine neue Mistgabel, und die Mutter lief hinterher mit der kleinen Veronika auf dem Arm, die Tante saß bereits in der Kirche, ganz vorne, in der dritten Bank.

Die Kirche hatte überhaupt nur elf morsche Bänke, und die Mäuse kletterten in den Turm hinauf, der alte Hanjokeb behauptete, dass eine Eule darin wohnte. Während die Glocke von Scholmerbach verstummte, hörte man in der Ferne noch die Glocken von Linnen und Hellersberg, von Ellingen, von Wällershofen, Pfeifensterz und Wennerode.

Sie läuteten schon in der Frühe um sechs, und sie hatten gestern geläutet und am Mittag und am Abend läuteten sie wieder, und in Wällershofen wurde Salut geschossen und der alte Hanjokeb hatte ein paar Böller, die er beim Schultheiß krachen ließ, und vor Schreck brachen überall die Kühe durch. Beim Mattheskobes, bei Paulinchens und beim Müllerkarl hatten sie liederlich gewundene Fichtenkränze an die Hauswand gehängt, und in die Zäune hatten sie einige Margeriten, Blaublumen und Himmelsschlüssel gestopft, das ganze Dorf war leidlich geschmückt, und beim Schultheiß wehte ab heute eine Fahne in Blau-Weiß-Rot.

Es war der 15. August 1806. Napoleon hatte Geburtstag und Namenstag in einem und Scholmerbach war über Nacht französisch geworden.

Auf Anordnung Seiner kaiserlichen Majestät mussten Feierlichkeiten im ganzen Land durchgeführt werden, und der Gendarm stand vor der Kirchentür und passte auf, dass auch jeder erschien, aus allen siebenundfünfzig Häusern von Scholmerbach: der Schultheiß Backesse Dick, Pfarrer Vinzenz, Honiel, der Wirt, der Schulmeister, der Krämer, der Schreiner, die Zimmerer, der Schuster, die Schneiderin, der Kuhhirt, der Schweinehirt, der Schäfer, die Tagelöhner und die Bauern.

Von nun an kämpften alle im Rheinbund an der Seite des großen Franzosen für Freiheit, Gleichheit und Brüderlichkeit.

Finchen war elf Jahre alt und trug ihr Festtagskleid, mit einer neuen Borte, und heute morgen hatte sie die Zöpfe schön fest geflochten, die ihr nun bis auf die Kirchenbank hingen und an denen Hanne zog, als wären es Glockenseile. Der Boden war kalt, und sie musste die Füße abwechselnd hochziehen oder auf die Kniebank stellen, sie ärgerte sich, wie kurz der Rock schon geworden war und dass sie nur ein neues Brusttuch bekommen hatte und die Borte für den Hals und den Saum. Heinrich kratzte sich wieder am Kopf, und Hanna wollte nicht stillsitzen und riss Finchen Löcher in die Zöpfe.

– Jetzt hört off!, zischte Finche. – Dat nächste Mal stopf eysch euch in den Ziegenstall!

Sie sah sich um, ob die älteren Leute ihr ärgerliche Blicke zuwarfen, aber die hatten die Köpfe gesenkt, drehten still und missmutig den Rosenkranz in den Händen und beteten. Den Franzosen untertan! Wer von Scholmerbach wollte den Franzosen untertan sein? Keiner hier konnte vergessen, wie die Soldaten in 1796 Reyhe so verwüstet hatten, das arme Reyhe, sie hatten dort die Gäule in die Kirche gestellt und an die Wände gepisst, alles Vieh weggenommen und die Häuser ausgeplündert und die Ernte zerstört, alle sind fortgerannt mit weinenden Augen.

Nur der alte Christ stand ganz hinten in der Kapelle und dachte sich seinen Teil, er war selbst Soldat gewesen und hatte in Lothringen das Bajonett gebraucht, sie wollten Franzosenblut spritzen sehen, so hatten sie gesungen, und dann waren sie in die Dörfer eingefallen, da waren die Bauern von Longwy fortgerannt mit weinenden Augen.

Wenn Napoleon einfach den Grafen von Wällershofen aus dem Schloss gejagt hätte mit all seinen goldenen Schüsseln und seidenen Wandteppichen, dann wäre es gut und die Leibeigenen vom Graf von Wällershofen wären endlich frei! Dann könnte man ein wenig Gleichheit und Brüderlichkeit auch im Westerwald spüren.

Aber Napoleon wollte eigentlich nur Soldaten, zwei von Scholmerbach und drei von Hellersberg, drei von Ellingen und einen von Linnen, sieben von Wällershofen und einen von Pfeifensterz und fünf von Wennerode.

Man konnte bloß beten, man musste ununterbrochen beten, es konnte immer noch schlimmer kommen und niemand kannte die Wege des Herrn und schon gar nicht die der Franzosen und ihrer Grande Armée.

Tante Helmine saß eine Bank hinter Finchen und machte wieder dieses Gesicht, so leidensergeben und selig, und dachte womöglich darüber nach, wie sie unter Schmerzen ins Himmelreich gelangte. In diesen immerwährenden Schmerzen des Daseins hatte sie Finchen heute Morgen schon eine verpasst, als diese ihr auf dem Weg zur Waschschüssel in die Quere gekommen war. Finchen war es gewöhnt, eine überzukriegen und machte sich nichts draus, aber Tante Helmine hatte so dürre Arme, die sie wie alte Knochen niedersausen ließ, ihr fauliger Zahn kam zum Vorschein und im wonnigen Eifer des Schlagens zuckte sie und rollte aufgeregt die Augen. Wenn die Tante am Abend ihren Dotz aufmachte, fiel ein verknickter, muffeliger Zopf vor Finchens Nase. Es war ein furchtbarer Tag gewesen, als der Vater Kaspar beschlossen hatte, dass Finchen nun bei Helmine schlafen musste und diese die gelblichen Beine unter ihren Strohsack steckte. Das war eine Fügung des Herrn, der Finchen sich nicht unterwerfen mochte, und sobald die Tante im Stall war oder vor dem Haus, begann Finchen mit ihrem Vater zu streiten. Sie könnte doch mit Heinrich und Hanne im Bett schlafen, oder Heinrich und Hanne konnten bei der Tante schlafen, und Jakob und der Großvater konnten in der Stube liegen und die Mutter und der Vater blieben weiterhin im Himmelbett hinter dem Ern, dem Hausflur. Die kleine Veronika war schon bald zu groß für die Bank und dann konnte die bei Finchen schlafen, überhaupt sollten sich alle anders verteilen in den drei Betten, jeder konnte woanders schlafen, aber bloß nicht sie bei der Tante Helmine.

Finchen beschwerte sich so lange, bis Kaspar ihr auch eine drüberhaute und Finchen sich den Kopf halten musste, aber sie machte sich nichts daraus. Tante Helmine war einmal in Stellung gewesen in Metternich, und darauf war sie sehr stolz, denn sie hatte die Welt schon gesehen, nur dass man sie dort hinausgeworfen hatte, weil sie die goldenen Kerzenleuchter der Herrin eingesteckt hatte, darüber sprach sie kein Wort.

Das schwere Kreuz mit seinem unsichtbaren Herrgott hing über den Leuten von Scholmerbach, und sie knieten nieder und beteten das Kyrie Eleison. Der Herrgott wachte über sie alle, aber er wachte auch über Frankreich, über Österreich, Spanien, die Russen und die Preußen. Warum aber sollte er eigentlich über Franzosen wachen, wenn die doch in die Kirchen pissten? Warum sollten die jungen Männer von Scholmerbach mit Napoleon gehen, wenn seine Leute Reyhe so drangsaliert und verwüstetet hatten?

Da trat der Pfarrer Vinzenz vor die Gemeinde, blickte zum Gendarmen an der Kirchentür und verkündete schließlich, dass wir nun für den Kaiser der Franzosen mit all unserer inbrünstigen Glut des Herzens beten wollen, und das von nun an jeden Sonntag … auf Beschluss des Präfekten.

Ganz Scholmerbach musste also niederknien, und auch Finchen zwang Heinrich und Hanne hernieder, sie bekreuzigten sich und beteten im Namen des Herrn:

»Für Napoleon, den Knecht, Kaiser und König Gottes, damit Du alle seine gemeinnützigen Unternehmen mit Erfolg krönen wollest und wir Unterthanen ein stilles Leben unter seiner Herrschaft führen mögen. Amen.«

Der Heens August stand auf der Treppe zur Wirtschaft und fiedelte zaghaft das Lied vom Waldblümelein, vorm Haus hatte der Honiels Tische und Bänke aufgestellt, und in der Scheune stand der Schanktisch mit Schnapskrügen und dem Bierfass an der Seite.

Die Kirchentore öffneten sich, und die Leute strömten in die Sonne mit gesenkten Köpfen und nahten heran in ihren blauschwarzen Trachten wie eine Bußprozession auf dem Weg zum Besäufnis. Es dauerte bis zum ersten Branntwein, da wandelte sich alles in ein lethargisches »Leck mich« und irgendwann in ein allgemeines »Gottes Namen Amen«; sie lamentierten und schwätzten daher und stießen an mit schwappenden Krügen.

Nur der Gendarm von Wennerode stand stramm unter der Fahne vom Schultheiß, er kniff die Augen zusammen und musterte die struppigen und schäbigen Kränze voller Luftlöcher, die an den Häuserwänden hingen.

– Das hätte man doch auch schöner machen können!, sagte er und der Schultheiß Backesse Dick nickte stumm und fragte sich, was nun aus ihm werden sollte; unter dem Regiment der Franzosen, da waren womöglich seine Tage gezählt. Wurde er nun zum ›Maire‹ oder wurde er von den Franzosen zum ›Allgemeinstrottel gemacht?

Der Honiel ließ sich nichts anmerken und das Bier floss in die Krüge und er dachte sich, egal, was kommt, gesoffen wird immer.

– Mir können’s doch auch nicht ändern, meinte er, und die goldgelbe Brühe lief ihm über die Hände.

– Dou hast jo recht, nickte der Hanjokeb, – et nützt ja naut, … aber eysch fange jetzt nicht an und schwetze auch noch Französisch!

– Eysch nennen unsern Hund jetzt Fronswaa!, rief der Paulinchens.

– Dann seyn eysch jetzt die Mademoaselle Helmine! rief Tante Helmine albern, und der Kartoffelschnaps war ihr schon zu Kopf gestiegen und kühlte außerdem ihre wehen Zähne.

Das Bier war so viel teurer als der Schnaps, und doch floss es reichlich. Nach den schweren Tagen der Heuernte in der stickigen Hitze hatte man doch Durst, und wenn man Napoleon zwar nicht feiern wollte, so konnten man aber erst recht saufen, der Branntwein aus der Frühe hatte seine Kraft verloren, nur den Klumpen Haferplatz von heute Morgen hatten sie noch im Leib, da konnten sie getrost noch einen Schnaps draufschütten, es tranken Männer wie Weiber, und auch Finchen bekam einen ordentlichen Schluck aus dem Bierkrug, damit sie kräftig blieb.

Finchen hatte es nun satt, auf Heinrich und Hanne aufzupassen, Hanne hing ihr immer am Rock, und der jammernde Heinrich rieb seinen Grindkopf an ihrer Schürze, und sein schmutziges Häubchen mit den festgetrockneten bräunlichen Flecken roch abscheulich.

Da kam ihr Lina gerade recht, sie war von den Minschens herübergesprungen, die sich gerade erst an den Tisch vorm Scheunentor unter den Fichtenkranz gesetzt hatten. Lina war schon zwölf, und ihr Kleid war so kurz, dass die dürren Stelzen darunter hervorkamen, und die Schleife um ihr Hemd war so schütter, dass sie immerzu zitterte an dem fleckigen Hals, das dünne Haar hielt kaum in dem mageren Dotz.

– Lass dey Kinder doch einfach hey sitzen!, flüsterte Lina. – Dey können mal allein spielen … dat merken die Alten nicht … komm, mir danzen!!

– Ich will ja … aber die Mutter hat gesagt …

– Wo ist dann dei Mutter?

– Daheim, koche!

– Ach, dey sieht das doch nicht … mir sind ja nicht weit weg … mir sehen die doch, mir lassen die hey an der Lindenbank. Hier, Hanne … sieh mal die schöne Blümcher … und hier, Heinrich … haste ein Stöckchen …

– Mir sind gleich wieder da!, rief Finchen, noch ein wenig unschlüssig, aber Lina packte sie an der Hand und schon rannten sie kichernd davon, über den Dorfplatz zu Honiels Wirtschaft, wo der junge Heens August auf den Stufen stand und lächelnd auf der Fiedel spielte.

– Dou spielst jo allein!, rief Lina ihm zu. – Wo ist denn die Bassgeige?? Und die Quetschkommode??

– Ja, dey müssen doch heute überall spielen! In Linnen und Ellingen und überall … da ist einer hier und einer da …

– Dou spielst auch alleine schön!, rief Lina und wurde ein wenig rot.

August spielte nun den Hopser und Lina und Finchen fassten sich an den Händen und drehten sich ausgelassen im Kreis, bis die Zöpfe flogen, und die dürre Lina keuchte bald und holte vor lauter Lachen in schnellen Stößen rückwärts Luft. Der alte Schloss tanzte auch schon mit seiner Grete und Paul tanzte mit Pauline, die anderen blieben trotzig sitzen und meinten, sie müssten für die Franzosen nicht auch noch rundherum springen.

Als dem August der Schweiß herunterlief und sein weites weißes Hemd tränkte, nahm er den Hut von seinem pechschwarzen Haar, setzte die Fiedel ab und musste ein Bier trinken gehen.

Lina und Finchen liefen zum Krämer-Franz, der zur Feier des Tages all seine Herrlichkeiten auf Tischen ausgebreitet hatte, von denen ein wunderbarer Duft von Zimt und Kardamon herüberwehte. Er hatte Kaffee in bedruckten Dosen mit aufgemalten Mohren in Pluderhosen, Haarspangen, die glänzten wie Silber, schön geschwungene Öllämpchen, duftende Seifen, Schwämme, Heringe, Heiligenbildchen und feinste Kuchenbäckerware mit Zuckersteinen.

– Hey riecht et besser als bei uns im Säustall, sagte Lina.

– Wenn mer doch nur en par Kreuzer hätte oder wenigstens einen!, sagte Finchen.

– Unser Vater seyt immer, er hat Löcher in den Taschen, da fällt alles raus!

Lina lachte mit hoher Stimme, und gleichzeitig schielte sie zum Scheunentor, wo der Minsch am Tisch saß, natürlich, von da war es immer am kürzesten zum Bierfass. Er schwadronierte, und sein Halstuch hatte er schon heruntergerissen, und was dem alten Minsch heute aus der Tasche fiel, das landete auf jeden Fall beim Honiels. Eben winkte er herüber und mit all dem Schnaps zwischen seinen dürren Rippen fiel er vom eigenen Winken hinterrücks von der Bank und sie mussten ihm aufhelfen, da hatte die Glocke noch keinen Mittag geschlagen. Lina kicherte nervös und drehte sich fort, als der Vater herüberrief:

– Linachen, Liensche, komm doch mol herbei!

– Mein Vater ist wieder der Vollste!, flüsterte Lina und tat, als ob sie ihn nicht hörte, doch der besoffene Minsch war wieder auf den Beinen und kam herübergeschwankt, stützte sich auf Linas schmächtige Schultern und rief:

– Dat hey es mein Linache, mein Linache … dat wird mal dat schönste Mensch von Scholmerbach … dat schönste … weit und breit … dey Mädchen von Scholmerbach … sein die schönsten überhaupt … viel schöner wie dey von Pfeifensterz … oder Böllersbach …

– Vater!, zischte Lina. – Dou kannst jo nicht mol mehr stehen!

– Hehee!, lachte der Minsch. – Aber dat Finchen wird auch einmal ganz hübsch … hat schöne, dicke Zöpf, ganz hell, schön … wat wollt Ihr denn haben, wollt ihr wat vom Krämer-Franz? Ihr dürft euch wat aussuchen!

Am Tisch vorm Scheunentor sah die Frau vom Minsch herüber und schrie:

– Hör doch off, dou Dolles, mir müssen heut noch was übrig behalten!

Aber Finchen wusste nicht, was ihr besser gefiel, die glänzende Haarspange oder das rot schimmernde Band für ihren Hals, doch schließlich fiel ihr Blick auf ein Bildchen von der Heiligen Elisabeth, mit etwas eckiger Nase und einer unförmigen Krone, die ungelenk einen Korb im Arm trug mit Brot und grob geschnitzten Rosen.

– Dey will ich!, rief sie angstvoll und hoffte, dass nicht die Frau vom Minsch herüberkam und ihren Alten wegzerrte, bevor er bezahlt hatte.

Lina schüttelte stumm den Kopf und wollte nichts haben, aber der Minsch griff nach der schimmernden Haarspange und stopfte sie Lina so in den Kopf, dass sie aufschrie.

– Hey, Franz, wat schulde eysch dir!?

– Zwei Kreuzer, Minsch, sagte der Franz sorgenvoll und sah zu Minschens Frau hinüber.

– Och wott, dann geb eysch dir die, dou musst jo auch leben, hehe.

Minsch zahlte und schwenkte großzügig so den Arm, dass der weite Ärmel seines Blaukittels herunterrutschte.

– Danke, schrie Finchen, dankeschön! Sowat Schönes, sowat Schönes hab eysch überhaupt noch nie gehabt!!

Sie war außer sich und küsste das Bildchen und der Minsch war so gerührt, dass er nun auch Finchen in den Arm nahm und er sagte:

– Seyhst dou, Lina, so muss mer sich freuen. So wie dat Finche. Dou freust dich jo gar nicht. Warum freust dou dich nicht??

Der Krämer flüsterte Lina zu:

– Kannst dou umtauschen … dann geb eysch der Mutter Öl oder Heringe dafür …

– Dumm Geschwätz!, rief der dürre Minsch und sein Maul stand offen und die Gesichtsknochen traten unter der bläulichen Haut hervor.

– Krämer, wat is denn, willst dou mein Geld nicht, he? Und dou, Lina, weißt dou net, wie man sich bedankt? Eysch kann dey Spang auch der Kuh an den dreckigen Schwanz mache, dou dummes Weibsmensch.

Er wurde so wütend, dass er drohte, auf Lina draufzufallen, doch die duckte sich und lief davon, und Finchen presste das Heilgenbild ganz fest an ihre Brust, während die Minsch herbeikam und ihn aufs Kreuz schlug und schrie:

– Mir gehen jetzt heim, dou besoffene Sau!

Finchen wollte Lina hinterhereilen, um Honiels Scheune herum, aber da kam auf einmal vom Brunnen her Tante Helmine und schleifte erbost die Kinder hinter sich her.

– Finche!, schrie sie. – Finche! Bleib stehen!

Heinrich sah schrecklich aus, seine Haube hing verrutscht um den Hals, und er blutete am ganzen Kopf, Hanne war hingefallen und hing jammernd an Helmines unbarmherzigem Arm.

– Finche!, schrie Tante Helmine. – Sey doch, der Heinrich! Hat sich de ganze Kopp aufgekratzt! Wat fällt dir dann ein, dou solltest deysch doch um den kümmern, läufst einfach fort, nur Fratze im Kopp, und der arme Heinrich, wie der aussieht, jetzt könne mer sofort heimgehen!

Finchen betrachtete bestürzt Heinrichs blutenden Grindkopf und dann die heulende Hanne, deren nasse Lumpen unter dem Kleid heraushingen, und dann Tante Helmine mit dem krummen Zahn, die umso heftiger schimpfte, je undeutlicher ihr die Worte aus dem Munde kamen. Am liebsten hätte Finchen sich umgedreht und wäre mit Lina fortgelaufen bis weit über die Linner Höhe, über den Urles, die Leh und das Haselbacher Feld, irgendwohin in die Weidehecken, wo einen niemand fand und niemand einen plagte.

Aber sie blieb stehen und suchte in der Schürze nach einem Lumpen, mit dem sie Heinrich den Kopf abwischen könnte, und hörte die Tante sagen:

– Dou bist so eine dumme Gans! Sich einfach nicht zu kümmern!

– Dou kannst deysch jo auch mal kümmern!, rief Finchen mit einem Mal. – Dou hast nur da gesessen und Schnaps gesoffen!

– Watt?? Watt sagst dou da???

Helmine konnte vor Empörung nicht mehr gehen und packte die Kinder so fest, dass nun Heinrich jämmerlich zu weinen anfing und Hanne nach ihr schlug.

– Gottachgott, rief Dellersch Pauline herüber, – hab doch Erbarmen.

– Et ist der Sünden Schuld!, schrie Müllerkarls alte Gretel. – Wat dey Alten verbrochen haben, dat straft der Herrgott noch und noch!

– Dat ist doch dumm Zeuch, sagte Pauline, – wat sollen dey dann verbrochen haben.

Helmine schrie:

– Wat geht euch dat an, dey Kinder seyn frech wie Dreck! Der Heinrich hat sich bloß aufgekratzt! Aber dou, Finchen, dou seyst ein freches Gesicht! So frech zu sein! Frech wie Dreck! Dou kommst in die Hölle! Wart, wenn der Vater kommt! Dann hat der Arsch Kirmes!

Finchen senkte bockig den Kopf und besah sich Heinrich mit seinem unglücklichen Gesicht und den besudelten Fingerchen.

– Wat solle mir denn nur einmal machen mit dem armen Heinrich …

– Wat solle mer mache, wat solle mer mache … erst muss man aufpassen, dat der sich nicht juckt! Dat muss zuheilen! Und dann braucht man Krötenpulver! rief Helmine.

– Krötenpulver … dat haben wir aber nicht.

– Ja hier in Scholmerbach, da gibt et … gar nichts. Krötenpulver gibt et in Metternich überall, beim Bader, beim Barbier, beim Doktor … aber hey es doch nichts, nichts, gar nichts!!

Finchen nahm Hanne und Heinrich an die Hand, und beide drückten sich in ihre Schürze.

– Dann geh doch wieder nach Metternich!, schrie sie.

Diesmal hatte die Tante genug und ließ ihren trockenen Knochen von einem Arm auf Finchen niederdonnern, und die sagte aua und dachte sich, das war es wert, und schob sich den Zopf zurecht. Helmine aber drehte sich um, das gesamte Kindergesindel war ihr unerträglich, einen Schnaps noch und eine lange Klage bei Kaspar, ihrem Bruder, dem war wohl alles egal, wie ließ er diese Dreistigkeit zu, da stand er in der Scheune beim Müllerkarl und stellte sich taub. Wie konnte er zulassen, dass seine eigene Schwester vor allen Leuten angeschrien wurde, sie musste ihm beibringen, das Kind zu züchtigen, mit dem Stecken und mit dem Ochsenziemer, das freche Miststück.

Finchen aber zerrte den armen Heinrich und die greinende Hanne am Bach entlang durch Müllerkarls Garten nach Hause und setzte sie im leeren Stall auf einen Heuhaufen.

– Hey setzt euch mal schön hin … eysch bleibe jetzt bei euch, eysch laufe nicht mehr weg. Gleich mache ich euch sauber, dir, Heinrich, dat Köppche und dir, Hanne, den Bobbes.

Dabei zog sie noch einmal das Heiligenbildchen aus dem Leibchen, Elisabeth, die in ihren feinen Händen die Rosen hielt und so lieblich schaute. So schöne Hände hatte niemand in Scholmerbach, alle hatten nur grobe, schmutzgegerbte, verstochene und aufgekratzte Finger. Man musste wohl die Hände immerzu in Brunnenwasser halten und sie mit Schmalz einreiben, damit sie so zart wurden wie die von der Heiligen Elisabeth. Seufzend suchte sie nach einem sauberen Lumpen und begann Heinrichs wehen Kopf damit abzutupfen. Heinrich wollte sich ihren Händen entziehen und schlug nach ihr, aber Finchen klemmte ihn fest zwischen ihre Schenkel.

– Ja, Heinrich … jetzt halt still, eysch will dir doch nur helfen! Dir fliegen ja dey Bröckchen vom Kopp, schöne Bescherung … wie dat aussieht, halt still! Aber dat Häubchen kannst dou net mie anziehen … guck mal, hier können mir schön sitzen, die Kuh ist draußen und geht spaziere und frisst.

Aus dem Ern hörte sie die Mutter Margarete. Sie kam in den Stall und hatte die kleine Veronika auf dem Arm.

– Finche! Dou bist jo schon da, wat macht Ihr denn im Stall?

– Eysch will dat Hanne sauber mache … und der Heinrich ist offgekratzt.

– Ach schon wieder … et ist ja furchtbar, wat solle mir denn noch mit dir mache! Dey Kräuter vom Sanne haben gar net geholfe, man kann dir ja auch net de ganze Tag auf de Kopp gucke.

Als Heinrich die Mutter sah, kroch er auf sie zu und wollte Suppe haben, aber Margarete sagte:

– Heinrich, eysch muss kochen, bleib schön beim Finchen … heiliger Gott, dein Kopp … dat stinkt richtig. Eysch kann et nicht mehr sehen.

– Vielleicht müsse mir Krötenpulver holen, in Wennerode oder in Wällershofen, manchmal kommt ja ein Mäckes vorbei und hat so wat.

– Wer sagt dat dann? Krötenpulver … ?

– Die Tante.

– Ach, wat dey schon sagt … mir müssen beten zou unserem Herrgott am Kreuz, dat der hilft.

Die Mutter drückte Finchen die kleine Veronika in den Arm.

– Hey sieh mal, dat Roni hat in die Bux geschissen, mach dat mal sauber. Eysch machen jetzt mal dat Essen fertig, und dann kannst dou mir helfen, den Großvater runterzuholen.

– Wat gibt et dann? Mir haben doch einen neuen Kaiser! Gibt et dann Braten und Eier und Speck?

Margarete lachte kurz und verscheuchte eine Fliege.

– Bist dou verrückt? Als ob mir auch noch en Sau schlachten für dey Franzosen! … Franzosen, Franzosen … wenn man dey schon sieht, dat sind gar keine richtigen Männer, haben für alles ein Tüchelchen und riechen nach Parfüm!

Dann verschwand sie wieder, und Finchen seufzte. Sie nahm Veronikas schmutzige Tücher weg, warf sie in die Stallecke, rieb ihr die Beinchen und den Popo mit Heu und Stroh sauber und tauchte dann die Hand in den Vieheimer, um die Reste mit Wasser abzuwaschen. Es gab gar nicht genug Lumpen auf dieser Welt, um Heinrichs Kopf sauber zu tupfen und Hannes Bobbes und Veronikas winzigen Leib sauber zu halten und einzuwickeln.

Heinrich saß in der Ecke und jammerte vor sich hin.

– Dat wird schon, Heinrich. Eysch holen Krötenpulver. Vom Händler. Gleich gibt et Suppe, da müsst ihr essen und alle groß und stark werden. Sonst kriegt ihr bloß Nervenfieber. Oder Schwindsucht. Wie dat Hännesje und wie dat Magda … dey waren noch keine fünf! Dey liegen jetzt unter einem Hügelchen auf dem Kirchhof! Bei den Engelsgräbern. Wenn ihr nicht esst, passiert euch dat auch! Gleich gibt euch die Mutter einen Zipfel zum Lutschen, mit Honig … oder Zuckerschnaps oder Zwetschgenkraut … dat hilft!

Draußen vor dem Stallfenster aber hörte Finchen die Mittagsglocke läuten und dahinter noch immer die schöne Fiedel vom Heens August. Heens August wollte sie all die Tänze lehren, den Hopser, das Didlumdei und den Baaschlenkertanz. Ungeduldig stapfte sie mit den Kindern in den Ern zurück und rührte im Kochtopf den Gerstenbrei um. Sie wünschte sich, dass alle möglichst schnell zum Mittagessen nach Hause kamen und alles aufaßen und tranken, das Räucherfleisch und die saure Milch und etwas Pflaumenmus, danach noch einen richtigen Kaffee vom Kolonialwarenhändler. Sie wickelte sich heimlich noch ein paar Lumpen unter den Rock, denn wenn der Vater Kaspar kam, dann musste er sie bestrafen und verdrosch ihr womöglich den Hintern wegen ihrer Frechheiten gegen Tante Helmine. Mit den Lumpen tat es gar nicht weh und Kaspar schlug sowieso nicht fest, denn er konnte Helmine nicht leiden.

Vielleicht kriegte sie sogar hinterher heimlich einen Kreuzer von ihm zugesteckt und mit dem Kreuzer konnte sie wieder auf die Feier gehen und mit Lina herumtanzen und singen: »Feinsliebchen, du sollst mir nicht barfuß gehen!«

Der neue Kaiser hatte schließlich Geburtstag, und in den geschmückten Dörfern wehten überall die blauweißroten Fahnen und die Glocken läuteten den ganzen Tag. Es war ein Festtag überall im ganzen Land, und sie trauerten um den guten Herzog von Weilburg und sie fürchteten sich vor den Franzosen und sie jubelten, weil es dem Grafen Wällershofen an den Kragen ging und manch einer überlegte sich, wie es sei, mit der großen Armee von Napoleon zu marschieren und allen Völkern Freiheit und Brüderlichkeit zu bringen.

Wenn sie dabei nur kein Dorf niederbrannten, wie das arme Reyhe, wo sie alle fortliefen mit ihren weinenden Augen.

Am nächsten Tag waren die Kränze an den Häuserwänden vom Paulinchens und vom Müllerkarl verschwunden und die Blumen von den Zäunen hatten sie den Ziegen hingeworfen, die Fahne war eingerollt und der Gendarm saß wieder in Wennerode in seiner Stube. Aber von nun war der Schultheiß kein Schultheiß mehr, sondern er war jetzt ein »Maire« und sofort nannten ihn alle Leute Maria. Wennerode nannte sich »Canton Wennerode« und sie alle waren nun im »Arrondissement Dillenburg«.

Der Code Civil aber lag von nun an in allen Amtstuben und auch in Wällershofen beim Buchbinder Käsethal gab es einen auf der Bank zwischen der Bibel und dem Till Eulenspiegel. Aber wer wollte ihn schon lesen? Es konnte sowieso nicht jeder lesen. Wenn etwas bekannt gemacht wurde, dann schrie es der Gemeindediener durch das Dorf oder der Pfarrer verkündete es in der Kirche, oder ein Ellinger Mäckes mit dem Geschirr in der Kiepe erzählte es auf dem Dorfplatz.

Die Mäckesser wussten schließlich immer etwas zu berichten, denn sie kamen überall herum und je mehr sie den Leuten weißmachen konnten, umso mehr verkauften sie von ihrer schweren, blau bemalten Westerwälder Irdenware. Die Händler vom Heckengrund aber waren abgezehrt und zerlumpt, sie kamen barfuß und schliffen die Scheren oder flickten die Kessel und flochten Drahthenkel und Weidekörbe.

Tante Helmine gab ihnen manchmal ein Stück Brot, weil sie ja ein Christenmensch war, aber dann war es ihr auch recht, wenn die weiterzogen, denn dieses Bettelpack wurde man ja nicht mehr los, und dann lagerten sie im Hof und auf dem Weg, bloß weil man ein guter Mensch sein wollte. Am besten, man drückte ihnen etwas in die Hand und machte dann gleich die Haustür zu und die Stalltür auch. Man wusste ja nicht, was einem in den Sinn kam, der nichts zu reißen und zu beißen hatte; erst unlängst hatten sie einen aus dem Hickengrund im Straßengraben gefunden, der hatte in seinem zerbrochenen Geschirr gelegen und war krepiert an der Auszehrung mit hohlen Wangen und eingefallenen Augen.

Umso erstaunter waren die Leute, als an einem schönen Spätsommertag ein feiner Herr mit grün schimmerndem Jackett und Zylinder auf seinem leicht beladenen Wagen durch Scholmerbach gefahren kam und am Brunnen hielt, um sein glänzendes braunes Pferd trinken zu lassen.

– Dat es doch ein Ellinger Mäckes!, rief der alte Hanjokeb, und bei Schlossens und Müllerkarls kamen sie aus den Häusern und sperrten Augen und Ohren auf.

– Wenn eysch dir dat sage, dat ist ein Ellinger Mäckes und der ist hier rumgezogen mit dem Geschirr in der Kiez und hat sich auf jeder Kirmes von Linnen bis Hellersberg gekloppt, dass die Schwarte kracht!

– Ist doch nicht möglich … woher hat der denn einen Gaul? Und so eine feine Jacke …

– Dat hat der doch geklaut … oder en Kutsch überfallen, der lag doch unterwegs mit den Vagabunden im Wald … mit dem Gesindel und dem Räuberpack …

Man konnte sich nicht einig werden, hatte der Mäckes einen Schatz gefunden oder einen reichen Handelsmann ausgeplündert, oder war er tatsächlich durch seinen Wagemut und seine Geschicklichkeit als Kaufmann so wohlhabend geworden?

Der Hanjokeb steckte seine Mistgabel in den Haufen und näherte sich dem eleganten Mäckes, dem der Schatten seines Zylinders auf die Nase fiel und der nun sein seidenes Halstuch aufknöpfte und das lange, schüttere Haar schüttelte.

– Hee!, sagte der Hanjokeb. – Hee, Matthes, dou bist doch ein Ellinger Mäckes … weißt dou noch, wie mir uns an der Kirmes in Linnen so gekloppt haben … ? Dou hattest einen ganz schönen Schlag!

Aber der Mäckes antwortete nicht und stopfte sich geruhsam seine blau bemalte holländische Pfeife.

– Der schwätzt nicht mehr mit jedem, der es jetzt ganz vornehm.

In Ellingen kannten sie ihn schon so, und sie nannten ihn nur noch den Kiezenbaron. Der Kiezenbaron gehörte nun nicht mehr zum einfachen Volk und ließ seine Waren per Schiff und mit Pferden transportieren und alles aus dem Kannenbäckerland heranschaffen, um es in die Welt zu fahren.

– Der fährt immer nach Holland, da hat der sein Glück gemacht.

– Und dat alles mit unsern Westerwälder Töpfen, wo bei uns der Käse drin fault. Man meint nicht, das et möglich is.

Kaspar, Margarete und Tante Helmine schüttelten die Köpfe, sie konnten es einfach nicht glauben. Einer von hier war nach Holland gegangen und als reicher Mann zurückgekehrt und sah aus wie der Graf von Wällershofen. Holland musste ein Paradies sein.

Finchen aber sah die Gelegenheit gekommen, löste sich von ihren Eltern und rannte zum Brunnen, um den Kiezenbaron von nahem zu betrachten. Sie sah ihm von unten in zwei große schwarze Nasenlöcher und darunter einen gestutzten und mit Fett eingeschmierten Schnurrbart.

– Werter Mann!, fragte sie. – Habt Ihr auch Heilmittelchen? Eysch brauch Krötenpulver!

Der Kiezenbaron musterte sie von unten nach oben und wusste nicht, ob er belästigt oder belustigt war.

– Krötenpulver??, fragte er und zog an seiner Pfeife. – Wofür dat dann?

– Unsern Heinrich hat en Grindkopp.

– Ach. Soll eysch dir mal wat sagen, Krötenpulver, dat is nichts als zermahlene, trockene Frösche. Dat vermengt man mit Schmalz, dann alles auf den Kopp und sechs Woche eine Haube drauf. Aber so ein Pulver hab eysch net.

Finchen schielte zu dem Wagen, in dem unter der Kutschbank Kisten und Kasten mit schmiedeeisernen Ranken standen und dahinter große, verdeckte Ballen, deren Farben bunt unter verrutschten Fellen hervorschimmerten.

– Wat habt Ihr dann sonst?

Der Kiezenbaron betrachtete Finchen noch mal, dann stützte er einen Arm auf sein Pferd und begann dröhnend zu lachen und konnte nicht mehr aufhören. Er schlug die Decke über seinen Waren zurück, öffnete eine Kiste mit einem eisernen Schlüssel und sagte:

– Dann, gnädiges Fräulein, darf ich euch hier eine Auswahl meiner prächtigen Waren darbieten – hier feinstes Schmuckwerk mit indischen Perlen für die Damen, silberne Pfauen für das Halstuch ihres Kavaliers, ein hübsches Diadem für euer schönstes Ballkleid und zwei hübsche Rubine zur Zierde für eure niedlichen Ohren?

Der Baron hatte seine Schmuckstücke auf einem roten Samtkissen ausgebreitet, und so schnell, wie er sie Finchen gezeigt hatte, so schnell haute er den Deckel wieder zu und ließ die Kiste unter seinem Sitz verschwinden.

Finchen klappte der Mund auf und zu.

– Dat es ja wie für einen König und eine Königin! Sowat Schönes … sowat können mir doch gar nicht kaufen!

– Dat is auch nicht für euch … dat ist für die feinen Herrschaften, … von Wällershofen oder Hachenberge.

– Aber dey Herrschaften … dey sollen doch verjagt werden … von den Franzosen …

– Dey sind noch lang nicht weg, sagte der Kiezenbaron. – Feines Geschmeide wird man immer los …

Dann holte er sein Pferd vom Brunnen, dem noch das Wasser aus dem Maul troff, und Finchen sagte:

– So ein schönes Gäulchen, wo kommt dat dann her?

– Dat Gäulchen … ist auch von Holland … da hab eysch alles her … eysch bin ein Handelsmann! Wenn man wat werden will, muss man in die Welt! Nicht in Scholmerbach festsitzen!

Finchen zögerte, sie wollte den Kiezenbaron nicht gehen lassen, sie fasste heimlich an das kostbare lederne Pferdegeschirr und dem Pferd an den schwitzigen Hals. Der Mann stieg nun auf den Wagen, doch sie blieb einfach im Weg stehen.

– Aber wie kommt man dann von Scholmerbach nach Holland?

Der Kiezenbaron lachte.

– Wie dou nach Holland kommst? Dou bist doch ein Weibsmensch, dou kannst doch garnet hier fortgehen … wenn man fortwill, braucht man Schuhe! Dou hast doch gar keine Schuh’! Und man muss auch ein bisjen sauberer sein und sich ab und an mal waschen …

Finchen betrachtete ihr Kleid, das voller Spritzer war von der Stallarbeit und am Saum voll Straßendreck, auf der Brust waren grüner Gerstenbrei und ein Blutspritzer vom Heinrich. Sie fuhr sich mit dem Ärmel durchs Gesicht und spürte, wie sich der Rotz unter der Nase verteilte.

– Siehst dou, dat macht mer nicht, sagte der Kiezenbaron. – Man schnäuzt nicht in den Ärmel, und man spuckt nicht in die Stube.

Die Leute kamen an den Brunnen und wollten sich das Pferd besehen mit seiner hübschen schwarzen Mähne und die kostbare, schimmernde Jacke vom Kiezenbaron und ebenfalls mal einen Blick in den Wagen werfen.

Der Kiezenbaron wurde ungemütlich und rief:

– Lasst mich hier durch, ihr Bauern! Eysch will weiter!

– Ach watt, stell dich nicht so an!, sagte der Schreiner. – Mir haben doch noch an der Linner Kirmes einen gesoffen – und haben uns mit den Hellersbergern gekloppt, weißt dou dat nicht mehr?

Der Kiezenbaron antwortete nicht, sondern hob die Peitsche, zwinkerte Finchen nochmal zu und ließ dann die Peitsche niedersausen, dass der Braune beinahe durchging und den Wagen in einem Ruck an den Scholmerbachern vorbeizog.

– Dou Ellinger Mäckes!, schrie Margarete. – Dou seyst ein Mäckes und bleibst eine Mäckes! Mir wissen all noch, wie dou mit der Kiez durch den Wald gerannt bist!

Der Kiezenbaron fuhr ungerührt weiter, die Kisten auf seinem Wagen wackelten, und als seine Jacke von der Sonne getroffen wurde, leuchtete sie jäh auf.

– Wie unser Gockel auf dem Mist.

– Aff’ bleibt Aff’, wird er König oder Pfaff.

Finchen starrte ihm noch eine Weile hinterher und konnte nicht glauben, dass ihr gerade der Kiezenbaron Gold und Edelstein gezeigt hatte, ihr alleine. In einem einzigen Augenblick hatte sie die Schönheit und das Vermögen eines Herzogs gesehen, es hatte ihr in die Augen geblinkt und blinkte immer noch, als der Wagen schon längst Richtung Ellingen verschwunden war.

Das Funkeln von Perlen und Garfunkelstein hatte sich in ihr Herz gesetzt wie ein heimlicher Schatz, und sie wusste nun, wenn einer aus Ellingen kam und nach Holland ging, konnte er wiederkommen mit aller Herrlichkeit der Welt. Warum gingen nicht viel mehr Leute nach Holland und verkauften dort die blau bemalten und gebrannten Steinstöpfe aus dem Kannenbäckerland? Wenn es doch im Westerwald so gute Kannen gab und so fein verzierte Krüge, wieso schleppten nicht alle Leute sie nach Holland? Lieber hätte Finchen einen einzigen silbernen Reif besessen als die Tontöpfe voller Schmalz oder Sauerkraut. War denn eine Westerwälder Schüssel so viel wert wie die Perlen am weißen Hals der schönen Gräfin von Wällershofen?

Darüber musste Finchen nachdenken, und sie ärgerte sich, dass sie kein Junge war und keine Schuhe hatte, mit denen sie nach Holland laufen konnte, um all die Reichtümer einmal zu sehen und vielleicht den alten Schmalztopf loszuwerden, der vor der Haustür stand. In Holland musste es aussehen wie in einem Paradiese und tausenmal besser duften als Zimt und Kardamon vom Krämer-Franz. Während sie gedankenverloren nach Hause ging, trat sie in zwei schwarze angetrocknete Knödel, die die Schafe auf ihrem Weg zur Weide verloren hatten.

– Pfui der Deiwel! rief sie. Nun war sie noch schmutziger geworden, als ihr der Kiezenbaron eben vorgehalten hatte.

Diesen Schafsdreck musste sie sofort loswerden und sie sprang an der Linde vorbei hinunter an den Bach.

Der Wind wehte von Linnen herüber und brachte den Geruch von warmen Heublumen über das Wasser, der Sauerampfer stach in ihren Fuß, den sie gestern an den Himbeersträuchern zerkratzt hatte, aber sie stand mitten im Bachbett, bis das das zart springende Wasser den Unrat mitgenommen hatte. Schließlich tauchte sie die Hände ein und wusch sich das Gesicht und die Arme und die Beine bis zum Knie. Aus den Weidehecken wurde ein Zweig zurückgeschoben und Lina erschien.

– Ei Finche! Eysch hat dich gesehen und da bin ich rasch gekommen!

– Lina! Hast dou mich erschreckt! Komm her!

Finchens Rocksaum war ganz nass und sie trocknete sich das Gesicht mit der Schürze ab, dann hockte sie sich mit der blassen Lina zwischen die breiten Bachblätter und sie kauten Sauerampfer und zupften süße Blüten aus dem Hahnenklee und saugten sie aus.

– Wo hast dou dann dein Haarspang vom Kaisers Geburtstag?

Lina zuckte die Achseln.

– Ach, dey haben wir dem Krämer wiedergebracht. Dey Mutter hat gemeint, mir müssen dem erstmal bezahlen wat mir noch schuldig sind … der Vater … trägt zuviel aus dem Haus …

Finchen ließ den Kopf sinken.

– Ach so … dann tät ich auch besser dat Heiligenbildchen zurückbringen …

Lina schüttelte den Kopf.

– Nä, behalt dir dat. Vielleicht kann uns ja die Heilige Elisabeth auch helfen, mir können ja mal zou der beten … wer weiß? Wenn mir ganz feste beten??

Finchen betrachtete die Schnüre an ihrem losen Leibchen. Dahinter hatte sie das Bildchen gesteckt und es war schon ein wenig verknittert. Sie trocknete sich die Hände ab und holte es andächtig heraus.

– Hey sieh mal … dat ist sie …

Sie starrten auf die Heilige mit dem eckigen Schleier und die dicken schwarzen Linien des Holzschnittes und glaubten, die Elisabeth könnte sie ansehen und vielleicht sogar hören.

– Wofür wollen mir dann beten? Dat dein Vater nicht mehr so säuft?

Gekränkt wandte Lina den Blick ab.

– Bete doch, dat deiner Tante die faulen Zähne ausfallen!

– Nä, dafür ist das Gebet zu schade … mir müssen uns was wünschen, wat uns wirklich … aus dem Herzen kommt … aus der Brust!

Ihre Füße im Wasser schimmerten und blitzten zwischen den bleich überspülten Gräsern, und sie setzten sich auf einen Stein, um den in schmalen Blättern das Laichkraut schwebte. Abseits vom fließenden Bach hatte sich ein müdes Teichlein gebildet, das vergessen ruhte und so staubig war, dass die Mücken darauf spazieren gingen.

– Eysch möchte gerne mal nach Holland fahren … und sehen, wat et da alles gibt! sagte Finchen.

– Dou bist doch nicht gescheit! Holland! Dat is am anderen Ende der Welt! Gefährlich is dat! Lauter Räuber und Vagabunden liegen da am Wegrand!

– Hm … dann wünsch eysch mir dat dey Heilige Elisabeth dat Gesindel von mir fernhält und eysch munter und fidel in Holland ankomme!

– Holland! Wie kommst dou dann dadrauf??

– Der Kiezenbaron hat mir gezeigt, dat et da Gold und Silber gibt, sogar für einfache Leut wie unsereiner.

– Kiezenbaron … wat soll dat dann wieder sein? Eysch wünschen mir einen Berg von süßen Kirschen oder einen Apfel oder eine Birne … dann dät eysch Tag und Nacht davon esse …

Finchen stocherte mit einem Weidenzweig im Wasser.

– Dat gibt et hey nicht. Äpfel wachsen nur oben bei Wennerode. Hier gibt et nur Kappes und Kartoffeln und Hafer und Rüben. Wenn der Krämer-Franz welche mitbringt, dann kannst dou die essen und mir machen noch Mus davon.

Lina seufzte und streckte sich aus, und ihre dürren Schulterblätter sanken in die feuchten Butterblumen.

– Dann bitten eysch die Heilige Elisabeth auf deinem Bildchen, dat der Krämer-Egon uns eine ganze Schüssel Äpfel und Birnen bringt und Kirschen!

– Und eysch wünschen mir … dat dem Heinrich sein Grindkopp weggeht!

– Man kann nur eines wünschen!

– Stimmt garnicht, eysch wünschen aber zwei!

– Dat geht bestimmt nicht, dann geht gar keines.

– Doch, Lina, mir müssen feste wünschen! Feste!!

Während sie sich noch hinter den großen Brennnesseln versteckten, damit sie die Mutter nicht fand, sah Finchen in dem sumpfenden Nass auf einmal einen dicken Frosch auf einem abgesoffenen Grasbüschel sitzen.

Sie streckte sanft ihren mückenzerstochenen Arm nach ihm aus und der Frosch blinzelte träge, hob ein Bein und kletterte ihr geradewegs in die Hand.

– Ha!, rief Finchen. – Dou gehörst mir! Lina! Lina! Dat es ein Zeichen! Dou musst mir helfen, mir brauchen Frösch!

– Wat willst dou dann mit Frösch??!!

– Eysch brauche ganz viele Frösch! Dann tun ich die in einen Eimer und dann müssen dey verrecken … und vertrocknen … und dann gehen eysch zum Konrad an die Mühl … und dann machen dey mir Krötenpulver drauß … Lina, fang en Frosch, mir tun dey in die Schürz!

Lina jammerte und stöhnte, und wollte sich gar nicht rühren, doch als sie endlich die Hände ausstreckte, schienen die Frösche ihre schmutzigen dünnen Finger geradewegs mit dem Unterholz zu verwechseln und krochen ihr vertrauensvoll entgegen, bis sie sie vom Boden klaubte und in Fines Schürze warf.

– Lieber Gott und Heilige Elisabeth, betete Finchen. – Eysch nehmen diese Frösche, dey dou oh Herr erschaffen hast, und mach, dat dey schnell verrecken! Eysch will ihnen kein Leides zufügen, aber mit dem Heinrich seinem Kopp geht dat so nicht weiter. Eysch danken inniglichst … und aus frommer Brust – Amen.

Lina schüttelte den Kopf.

– Wenn dat klappt mit den ekeligen Fröschen … dann heiße eysch August.

– Heens August!, rief Finchen und sie kicherten und lachten und fielen beinahe in den Bach.

– Wer weiß, wo der August jetzt ist, sagte Lina. – Vielleicht in Koblenz oder sogar in Köln?

– Überall kann der sein, überall, auf der ganzen Welt. Weil der so schön Fiedel spielt, auf jeder Hochzeit und auf jeder Kirmes … auf dem Schlachtfest …

Und sie wollten sich noch mehr erzählen vom Heens August, und welche Lieder sie am liebsten hörten, und wie sehr sie sich wünschten, dass er nur bald wieder da war.

Aber alles was sie hörten, war nur die alte Minsch, die nach Lina schrie, damit sie das Vieh hütete und es auf eine andere Wiese trieb. Da mussten sie sich trennen und Finchen nahm die sich zäh regenden Frösche in der Schürze mit und überlegte den ganzen Heimweg lang, wo sie sie am besten versteckte und wo sie am schnellsten umkamen.

Der Schulmeister wusste mal wieder gar nichts.

Am Kirchturm blühten schon die Schulblumen, kleine Astern mit ihren tausend winzigen violetten Blättlein und ihrem goldgelben Mund.

Zu Michaelis war der Sommer vorbei und wenn auch die Kinder die Schulblumen zertraten und zertrampelten, so wuchsen immer neue Blumen in der Nacht und es half es ihnen nichts. Im Backhaus wurde die Schulstube wieder geöffnet und die Winterschule begann.

Schulmeister Balthus saß also wieder in seiner alten Joppe am Ofen und hatte Weidenruten mitgebracht, um seine alten Körbe zu flicken, und wenn er einen übrig behielt, so sollte der auf dem Rücken der faulen und dummen Kinder tanzen. Noch aber saßen sie still zusammengedrückt in den sechs Bänken und wer keinen Platz gefunden hatte, musste auf der Fensterbank sitzen oder auf dem Boden, wo Balthus’ Kinder zu seinen Füßen hockten und nach dem alten Käse rochen, den die Mutter ihnen in die Schürze gepackt hatte.

Finchen saß in der letzten Bank, bei den großen Kindern, denn im nächsten Jahr durfte sie die Schule verlassen, und sie hatte schon alles gelernt, was ihr der Schulmeister beibringen konnte. So wagte sie sich an diesem Morgen den Finger zu heben und fragte:

– Herr Schulmeister, wo es dann eigentlich Holland?

– Holland?, fragte der Schulmeister und schaute verständnislos unter seinem verkrempelten Dreispitz hervor.

– Dou willst wissen, wo Holland es??

Finchen nickte beharrlich. Denn Holland war das Paradies, wo es nach Zimt und Nelken duftete, wo die Frauen so schöne, glänzende Kleider trugen, wie sie unter den Decken auf dem Wagen des Kiezenbarons hervorgeleuchtet hatten, und es war der Ort, wo sich die Leute mit Schmuck behängten, wie es ihn nur beim Grafen von Wällershofen gab oder auf dem Weilburger Schloß.

– Ja … wo Holland es.

– Wie kommst dou dann do drauf??

– Eysch hab davon gehört, dat wär so schön.

Der Schulmeister ging zum Ofen und drehte die nassen Äste um, die er zum Trocknen mitgebracht hatte, und beißender Rauch stieg in seine Augen. Er hustete und zeigte dann zum Fenster:

– Ei nach Holland … da gehste oben über die Linner Höhe und dann e bisje linker Wegs, dann ein bisje rechter Wegs, am dicken Baum vorbei und immer geradeaus.

Finchen ärgerte sich. Der Schulmeister wusste mal wieder garnichts und machte sich auch noch lustig über sie. Er hatte sowieso noch nichts gesehen außer den Wiesen bis Hellersberg und Linnen und Pfeifensterz, jeder Mäckes wusste mehr als der Balthus. Dennoch wollte sie es noch einmal versuchen und beugte sich nach vorne.

– Wie sieht dat aus in Holland? Habe dey da alle Gold und Edelstein wie die Prinzessinne?

– Frag nicht so viel.

– Eysch will dat aber wissen.

– Dou brauchs nichts ze wissen, hey gebe ich dir watt zu tun, dann vergeht dir dat schon.

Und schon holte er Finchen nach vorne, nahm seine zwei Jüngsten und setzte sie ihr auf den Schoß. Sofort zogen die sie an den Zöpfen und traten ihr unsanft auf den Knien herum und wischten die Rotznase an ihr ab. Der Lina aber gab er die Flickwäsche und der Margarete einen Korb voll Kartoffeln zum schälen.

– Da, sagte er – meine Frau es krank, jetzt macht Ihr dat mal.

– Dey es aber auch immer krank.

– Die Westerwälder Mädcher sind ganz schön frech, sagte der Schulmeister und kratzte sich den Rücken, denn ihn juckte es ständig.

– Könnt Ihr uns naut von Holland erzählen?, fragte Finchen noch einmal.

– Dou musst nicht soviel wissen, wenn mer zuviel weiß, kriegt man nur Läuse und Flöhe off de Kopp. Weibsleute brauchen sowieso nicht soviel zu wissen, wenn ihr ein bisjen zählen könnt und ein Lied singen und die zehn Gebote, dann reicht dat. Sag mal die zehn Gebote, Lenche.

– Dou sollst net … stehle … net klaue, den Herrn deine Gott loben … net lügen … weiter weiß ich net.

– Dat is ja schonmal watt. Jetz singt ihr mal e Liedche …

– Wat solle mer dann singe?

– Ei dat mit dem Schäfer …

Lenchen sang:

– Schäfer, sag: wo willst du tanzen?

Drauß’ im Feld bei meinem Ranzen.

Finchen aber war nicht zufrieden. Die Lieder kannte sie alle und zählen konnte sie bis hundert und sie wusste auch, wieviel zwanzig weniger sieben waren. Sie konnte lesen und die zehn Gebote wusste sie besser aufzusagen als Lenchen, und nun wollte sie einmal etwas Neues erfahren. Aber vom Schulmeister war da nichts zu erwarten, der saß nur da, flickte an seinen verbogenen Körben herum, rieb sich den fleckigen Nacken, und dann stand er auf und spuckte auf den Boden.

– Man spuckt net off de Boden! sagte Finchen.

– Watt has dou gesagt??!! Nun wurde der Schulmeister langsam böse über dieses freche Mensch.

– Man soll net of den Boden spucke!

– Jetz reicht mir dat mit dir!!! Noch ein Wort und dann gibt et se mit dem Stecken hier!

Finchen aber sprang auf und ließ seine Kinder auf den Boden rutschen.

– Von so einem mit so einem schebben Maul muss eysch mir naut sagen lassen!!

Dann rannte sie zur Tür und stieß sie auf und der Schulmeister folgte ihr fluchend und stieß die Bänke um und konnte ihr doch nur noch drei heftige Rutenschläge verpassen, da war sie schon fort.

– Dou brauchst mir nicht mehr herzukomme! Dou kannst den ganze Winter daheimbleiben, dou böses Mensch! Deinen Vater treffe ich noch, dem sage eysch Bescheid, dann kannst dou dich off watt gefasst machen! Der haut dir den Arsch groin und bloo!

Es war ein Kreuz mit diesen Dorfkindern. Sie waren frech wie Dreck und dumm wie Bohnenstroh. Der Schulmeister war froh, wenn der Winter vorbei war und die Sonne wieder über die Felder schien, dann brauchte er sich nicht mehr abzuplagen mit anderer Leute Kinderpack. Frech, frech und nochmals frech.

Im Sommer dagegen war es still und friedlich und keine Sau und kein Eber, nicht mal die schlammigen Wege, die kahl gefressenen Wälder, die nassen Gewänder beim Gewitter und Hagelschlag machten ihm je so viel schlechte Gedanken wie diese Kinder mit ihrer Krätze und den Läusen und ihren schmutzigen Füßen.

Wenn die Sonne schien über die Weidehecken und es roch nach frischem Harz und aufgewühlter Erde, dann war er der glücklichste Mann auf Erden, seine Tiere gaben ihm keine Widerworte, sie ließen sich unter die Bäume treiben und über die Felder, er kannte ihre Krankheiten und wusste, wie man sie heilte. Ja er war ein geachteter Mann und die Leute gaben ihm die Schweine mit und noch eine Suppe oder ein Stück Brot und Speck dazu und wenn er ihre Säue wiederbrachte, und sie waren vollgefressen, rund und kräftig, dann lobten sie ihn über alle Maßen und gaben ihm noch einen Kartoffelschnaps. Da würde er endlich wieder auf ordentliche Weise sein Geld verdienen, er hatte was im Säckel und seine Frau konnte sich satt essen und kam wieder zu Kräften.

Im Winter vergaßen es die Leute und nannten ihn einen armseligen Schulmeister, dem man die Kinder schicken konnte, wenn man sonst nichts für sie zu tun hatte. Im Sommer aber war er wie durch ein Wunder angesehen und geehrt, wenn er mit seinen Schweinen durch das Dorf ging und alle grüßten ihn, denn der Schulmeister war in Wirklichkeit der Schweinehirt und das war allemal was Richtiges und ein durch und durch anständiger Beruf.

Auf dem Speicher dörrten die Pflaumen auf einem Brett, das Korn lag ausgebreitet auf dem Boden, der leere Backtrog stand an der Wand und im Mauerloch über dem Rauchfang, der Herb, hingen Speck und Fleisch und Blutwurst zum Räuchern aufgehängt. Finchen öffnete die Klappe und zerrte heimlich einen alten Eimer heraus, in den sie die Frösche gesteckt hatte, damit sie in dem Rauch unterm Dach rascher erstickten und vertrockneten. Als sie nun den Deckel öffnete, sahen ihr die erstarrten Leiber mit großen Augen entgegen und dann fielen sie ineinander wie verdorrte Zweiglein in einem schwärzlichen Nest.

– Hurr, sagte Finchen, Äxbäx.

Sie nahm den Eimer, rannte hinunter, wickelte sich ein paar Lappen um die Füße und steckte sie in die Holzpantinen, packte Heinrich und Hanne und nahm sie mit nach draußen.

– Dou kannst mal dat Veronika auch mitnehmen!, rief die Mutter Margarete. – Dat heult mir hier de Kopp voll!

Finchen ärgerte sich, wagte aber nicht zu widersprechen, denn wenn der Schulmeister kam, um sich über sie zu beklagen, dann war es besser, sie zeigte sich folgsam und artig. Sie nahm auch noch die quengelnde Veronika und packte sie in eine Decke und versteckte in der Schürze noch ein Töpfchen Schmalz.

– Heinrich, wenn eysch dat Veronika schleppe, dann müsst ihr mal zu Fuß gehen, aber schneller. Mir gehen jetzt zum Konrad, dey haben eine Kornmühle, dey mahlen uns jetzt dey Frösche klein!