Das elfte Gesicht - Annegret Held - E-Book

Das elfte Gesicht E-Book

Annegret Held

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Beschreibung

Wo bitte finde ich hier Erleuchtung?

Josefas Leben als Assistentin in einem grauen Vertriebsbüro kann ziemlich trist sein. Dank ihrer Freundin Kristina findet sie Ablenkung, denn beide teilen die Faszination zu funkelnden Kristallen und Orakeln; so versuchen sie auch die Absichten des geheimnisvollen Albert zu ergründen, den Josefa nicht vergessen kann.

Josefas Begeisterung geht so weit, dass sie sich schließlich in einer Gruppe spiritueller Menschen wiederfindet, die jedoch plötzlich immer weiter abdriften: Was als Ablehnung von Masken und Impfungen während der Corona-Krise beginnt, steigert sich schließlich sogar bis zur Verteidigung von Verschwörungstheorien. Das geht zu weit! Doch wie kommt man aus dieser Szene wieder raus?

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EPUB
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Seitenzahl: 396

Veröffentlichungsjahr: 2025

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INHALT

 

CoverÜber das BuchÜber die AutorinTitelImpressumWidmung

ÜBER DAS BUCH

 

Wo bitte finde ich hier Erleuchtung?

Josefas Leben als Assistentin in einem grauen Vertriebsbüro kann ziemlich trist sein. Dank ihrer Freundin Kristina findet sie Ablenkung, denn beide teilen die Faszination zu funkelnden Kristallen und Orakeln; so versuchen sie auch die Absichten des geheimnisvollen Albert zu ergründen, den Josefa nicht vergessen kann.

Josefas Begeisterung geht so weit, dass sie sich schließlich in einer Gruppe spiritueller Menschen wiederfindet, die jedoch plötzlich immer weiter abdriften: Was als Ablehnung von Masken und Impfungen während der Corona-Krise beginnt, steigert sich schließlich sogar bis zur Verteidigung von Verschwörungstheorien. Das geht zu weit! Doch wie kommt man aus dieser Szene wieder raus?

ÜBER DIE AUTORIN

 

Annegret Held, 1962 im Westerwald geboren, arbeitete u.a. als Polizistin, Sekretärin, Altenpflegerin und Luftsicherheitsassistentin – und ist erfolgreiche Autorin. Sie bekam den BERLINER KUNSTPREIS der Akademie und den ROSWITHA-Preis, ist PEN-Mitglied und lebt im Westerwald und in Frankfurt. Zuletzt erschien im Eichborn Verlag neben ihrer Westerwald-Trilogie ihr Roman DAS VERKEHRTE UND DAS RICHTIGE.

Annegret Held

DAS ELFTEGESICHT

Vollständige eBook-Ausgabe

des in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes

 

Originalausgabe

Copyright © 2025 Annegret Held

Copyright © 2025 by Bastei Lübbe AG,Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln, Deutschland

Vervielfältigungen dieses Werkes für das

Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.

Die Verwendung des Werkes oder Teilen davon zum Training

künstlicher Intelligenz-Technologien oder -Systeme ist untersagt.

Textredaktion: Doris Engelke, Frankfurt

Umschlaggestaltung: Barbara Thoben, Köln

Umschlagmotiv: © Anders Olov Forss

eBook-Produktion: Dörlemann Satz, Lemförde

ISBN 978-3-7517-7447-5

eichborn.de

luebbe.de

lesejury.de

… dem verborgenen Zauber von Deutschland …

Madame Ruxandra auf der Dippemess half auch nichts.

Zwanzig Euro waren schonmal weg.

Die Wahrsagerin hatte sich an der Zukunft sattgesehen.

Josefa starrte sie an, hoffte, noch irgendwas herauszukriegen aus dieser Gestalt mit dem langen Haar und langen Armen und langen Ketten unter ihrem Sternenhimmel in der Jahrmarktsbude. Etwas Schönes, Funkelndes, Gütiges. Sie hätte mehr als zwanzig Euro ausgegeben, wenn ihr die Madame Ruxandra nur etwas vorgelogen hätte, nur ein klein wenig geflunkert, eine kleine hübsche Prophezeiung hätte aufleuchten lassen. Eine liebe, kleine Lüge, ein Lügelein.

Doch im Dunkel ihres Wohnwagens glitzerten nur die fadenziehenden Sterne, die Kristalle, die Glut des Räucherstäbchens und der angelaufene silberne Aschenbecher. Madame Ruxandra funkelte, aber sie flunkerte nicht. Diese Wahrsagerin sagte die Wahrheit.

»Du fährst viel mit dem Auto hin und her.«

Madame hatte so viele Tarotkarten, abgewetzt und schäbig, da waren schon alle Schicksale herausgelesen und jegliche Zukunft, für Josefa blieb keine mehr übrig.

»Wat haste dann, Schätzelein? Wenn ich nichts mehr sehe, heißt dat ja, et is auch kein Unglück für dich dabei. Sei doch froh!«

Josefa seufzte.

»Haste noch wat auf dem Herzen?«

Madame hatte offenbar einen schweren Arbeitstag hinter sich, schob ihre knochigen Arme hinter den Kopf und schielte nach der Zigarettenschachtel.

»Ich … ich habe liebeslanges Lebensleid.«

»…??«

»Lebenslanges Liebesleid.«

Madame Ruxandra kniff die Augen zusammen und musterte Josefa.

»Schätzelein, wie alt bist du denn?«

»Dreiundvierzig. Ist da nicht … in Ihren Karten, wenn Sie nochmal gucken … ein Herzbube? Oder … ein Brief oder ein Ringlein oder … ein fremder Herr? Ich meine, Sie haben doch auch noch eine Zauberkugel!«

Madame lehnte sich zurück und seufzte.

»Ich kann et nun mal nicht beschwören. Weißte, ich hab auch en Schicksal; danach fragt kein Mensch.«

Ein Stern schien sich vom Polyesterhimmel zu lösen und baumelte an zwei Fäden über ihr.

Es war wohl besser, die mäßig magische Welt dieses Wohnwagens zu verlassen. Josefa stand auf und duckte sich, um sich am Ausgang nicht den Kopf zu stoßen.

»Moment, da kommt noch was, ich denke, du kriegst morgen Besuch vom Chef. Besser, du räumst dein Büro auf, sonst gibt’s Ärger! Dann noch en schönen Tach! Wird schon!«, rief Madame ihr hinterher.

Josefa taumelte aus der sternengeschmückten Dunkelheit in das grelle Jahrmarktspektakel mit Autoscooter und Freefall-Tower, betrunkenen Japanern und Jungesellinnenabschiedsfeiern mit Zuckerwatte und Fläschlein mit rosarotem Erdbeerlikör.

»Wäre ich doch in die Geisterbahn gegangen«, sagte Josefa. Da wurde man auf ehrliche Weise erschreckt und nicht, wie bei der Wahrsagerin, durch ehrliche Worte betrogen.

Am nächsten Morgen war der Himmel so grau wie der Schwarm von Businessanzügen, der sich auf der schmutzigen Rolltreppe zur S-Bahn hinaufwälzte. Josefa ertrank in elfenbeinfarbenen Schlaufenblusen, hatte fremde Schlipse vor der Nase, wurde gestreift von taillenbetonten Kurzblazern und Sakkos mit schwarzen T-Shirts, geblendet von tollkühnem Glitzerprint unter Nadelstreifen.

Ist doch alles von H&M, dachte Josefa. Die H&M-Business Collection.

Beinahe wäre sie auch heute in Jeans und Turnschuhen gekommen, wie die Jungens von der IT. Aber dann waren ihr plötzlich die Worte der Wahrsagerin wieder eingefallen. Der Chef käme heute! Das konnte unmöglich sein, der Chef war auf der IFA 2019 in Berlin und wollte danach auf eine Tagung. Er sollte erst nächste Woche wieder da sein.

Trotzdem hatte sie mal lieber die Hemdbluse angezogen, die höheren Schuhe und das keksfarbene Haar in einen Dutt gewurstelt. Man wusste ja nie.

Madame Ruxandra!

Josefa musste wohl oder übel ohne ihren prophetischen Hoffnungszauber in die S-Bahn steigen, um von Frankfurt in die Bürostadt zu fahren. Die Office-Managerinnen, Team-Assistenten, Sales-Accountants, Vertriebsingenieure und ITler baumelten an den Halteschlaufen und schwangen in den Kurven kollektiv durch die Runde. Endlich hielt die Bahn vor einem hässlichen breiten Hochhaus gegenüber von einem großen Edeka-Supermarkt. Josefa stieg aus.

Das Hochhaus war einladend wie ein Parkhaus aus den Siebzigern. Vereinzelt hingen sterbende Grünpflanzen die Fassade herunter, Hundertwasser für Arme. Wie war sie nur hierhergeraten? Sie hatte doch nie vorgehabt, in einem Großraumbüro zu landen, einem Vertrieb mit Blick auf einen Edeka-Parkplatz!

Schließlich war Josefa Malerin! Sie versuchte, alte europäische Mythen in einer Symbiose mit chinesischer Tuschekunst darzustellen. Kann sein, sie hatte sich vergaloppiert. Drei Wochen lang hatte sie ihre Bilder in der Buchhandlung Mayersdorf aufhängen dürfen und eines über dem Geldautomaten der Sparkasse in der Berkersheimer Straße. Dann hatte sie eine künstlerische Flaute.

Das Arbeitsamt hörte nur, dass Josefa gut Englisch sprach und sich für chinesische Kunst interessierte. Also landete sie bei der koreanischen Firma Huiwan Leuchtmonitore.

General Assistant hieß das. Mädchen für alles. Tesa und Büroklammern bestellen, den Drucker auffüllen, Telefondienst, die Reisekosten abrechnen, der Buchhaltung zuarbeiten, bei Konferenzen eindecken, Hotels buchen, alles. Als Josefa zur Tür hereinkam, lag vor ihr ein Meer von lichtgrauen Schreibtischen, lichtgrauen Rollcontainern und lichtgrauen Stellwänden. Monitore über Monitore. Dazwischen ein wenig Blau und Orange, die Farben der Corporate Identity. Blattpflanzen.

Heute wartete im Flur die neue Lieferung Druckerpatronen, und irgendeiner hatte einen leeren Wasserkasten hingestellt, dazu leere Kartons von Amazon, zerschlissene Aktenordner, und quer über allem lag ein Schirm. Wenn nun heute der Chef käme? Unmöglich. Josefa hatte ihm das »Motel One« gebucht für fünf Arbeitstage. Trotzdem. Den Krempel konnte man ja schon mal wegschaffen. Sie ließ den Chip für die Arbeitszeiterfassung piepsen, grüßte in die Runde, fuhr den Computer hoch und begann, das Büro aufzuräumen.

»Lass doch liegen«, sagten die Kollegen. »Wir machen das später.«

Josefa ließ sich nicht beirren. Sie räumte schmutzige Kaffeetassen weg, spülte den Kram in der Teeküche und stellte alle Stühle im Konferenzraum in Reih und Glied. So. Dann setzte sie sich an die Reisekostenabrechnung.

Koreaner sind höflich. Sie lärmen nicht, wenn sie zur Tür hereinkommen. Schon gar nicht Min-Joon Choi, der Sales Director Huiwan Frankfurt. Um zehn Uhr betrat er unerwartet die Filiale, hängte seine Jacke an die Garderobe und sah sich dann ungläubig um. Mi-Suk und Sofie probierten gerade ein Ballspiel aus – Werbegeschenk von Phillips –, Günther hatte die Füße auf dem Tisch, Elfi studierte Angebote für Thailand, und Dae-Seong spielte Counterstrike auf Rang elf.

Nur Josefa saß ordentlich am Tisch, sie hatte bereits die Unterschriftenmappe vorbereitet und tackerte soeben die Belege für Kundenbewirtung an Günthers Travel Expenses.

Madame Ruxandra hatte wahr gesprochen. Sie hatte im Dunkel ihres Zauberwagens den Chef im Lichte des heutigen Morgens erblickt. Wie konnte sie das wissen? Josefa war wie vom Donner gerührt. Die Hälfte von Madames Aussagen waren unbrauchbar, aber was war mit der anderen Hälfte? War es doch möglich, in die Zukunft zu schauen? Zumindest in Bruchstücken? Woher hatte die Wahrsagerin überhaupt gewusst, dass sie in einem Büro arbeitete? Sie hätte ja ebenso gut Krankenschwester sein können oder Fleischereifachverkäuferin. Ein Faszinosum! Von den zwanzig Euro hatten sich dann vielleicht doch etwa sieben Euro gelohnt.

Sie holte sich eine Tasse Kaffee und lehnte sich genüsslich in ihrem Bürostuhl zurück.

Im Grunde war es sehr schwer für Josefa, eine General Assistant bei Huiwan zu sein. Es fehlte ihr praktisch an allem: dem Interesse an Leuchtmonitoren, der Freude an lichtgrauen Büromöbeln, der Überzeugung, im Global Business mit aller Gewalt an der unternehmerischen Weltspitze herumeiern zu müssen.

Sie hätte längst schon zum Arbeitsamt gehen und sich einen anderen Job suchen sollen. Vielleicht hätte sie längst ein neues Kunstwerk mit ihrer Tuschefeder geschaffen und in die Eisdiele hängen dürfen. Sie hätte längst allen Ketchup dieser Welt auf ihren Businessblusen verteilt oder die Leuchtmonitore aus dem Fenster geworfen, hätte sie nicht ihre Schublade gehabt.

Diese Schublade.

Sobald Josefa die Lade unter dem Schreibtisch öffnete, leuchteten ihr bunte Edelsteine und Kristalle entgegen, Rosenquarz, Jade und Lapislazuli. Außerdem lag hier ein Bildchen der Mutter Maria aus ihrer Kindheit und dort ein Döschen Duftwachs mit Vetiver, es gab schwungvoll bemalte Karten mit Sprüchen wie »Wer wagt, durch das Reich der Träume zu gehen, gelangt zur Wahrheit« von E. T. A. Hoffmann. Oder »All that we see or seem is but a dream within a dream« von Edgar Allan Poe. Ein schön geschmückter Elefantengott. Eine Tuschefeder. Ein Tagebuch. Eine Landschaft mit den Traumpfaden der Aborigines. Ein Glückskeks vom Chinesen: »Unverhofftes Glück wird dir zuteil!«

Die Schublade barg alle Geheimnisse und eine größere Farbenpracht, als das Großraumbüro sie jemals haben könnte. Sie duftete wie bei der Wahrsagerin von der Dippemess und verströmte ihren Zauber. Sie hatte die ungeheure Kraft, die Nüchternheit des Vertriebsbüros zu neutralisieren und um Josefas künstlerische Seele ein Fluidum zu bilden, einen transparenten, schützenden Kokon. Wie immer waren die Geheimnisse stärker als jegliche Realität.

Der Blumenladen lag an der Alt-Bretzenhainer-Straße, nur eine S-Bahn-Station von Huiwan entfernt, und doch verwandelte sich hier die seelenlose Bürostadt in ein uraltes Frankfurter Viertel mit hohen Backsteinhäusern und engen Gassen. Zwischen türkischem Handyshop und Schlüsselladen wuchsen plötzlich Buchsbaum, Wacholder- und Eukalyptussträucher scheinbar aus den Mauern heraus, und unter einem Fenster standen Töpfe mit Jasmin und Hortensien, Wicken und Levkojen; sie strahlten vor den dunklen Steinen in ihrer leuchtenden Pracht.

Josefa ging die drei Stufen hinauf in den Laden und sah sich erstmal um. Zwischen all den Rosen, Topfpflanzen und gebundenen Sträußen funkelte hier und da ein Kristall, eine bunte Karaffe, ein Glockenspiel. Es sah ein wenig aus wie in Josefas Schublade bei Huiwan.

»Wie kann ich Ihnen helfen?«, sagte die Blumenverkäuferin im Blumenkleid mit dicker Strickjacke; sie hatte ein Lächeln wie das Keramikengelchen auf dem Tresen.

»Ja, also ich brauche ein Gesteck für ein Firmenjubiläum, am besten in den Farben unseres Firmenlogos, also Orange, Blau und Grün.«

»Ah, okay, wie viel darf es denn kosten?«

»So um die fünfzig Euro.«

»Soll auch eine Schleife drauf?«

»Sieht das dann nicht aus wie für eine Beerdigung?«

»Nein, nein, man kann da so ein Schildchen dranmachen, sieht hübsch aus.«

Josefa zögerte. Solche Fragen musste sie immer alleine entscheiden.

»Naja, ›Für Günther. Zum 25-jährigen Jubiläum‹ oder so. Witzig wäre ja, wenn man das auf Koreanisch schreiben könnte. Also, die haben ja so Schriftzeichen …«

Josefa zückte ihr Handy und zeigte der Blumenfrau die Homepage.

»Das da heißt zum Beispiel ›Huiwan‹. Und das heißt ›Danke‹.«

»Ah«, sagte sie. »Mal probieren!«

Die Blumenhändlerin war sehr flink. Sie griff nach einem Stift und zeichnete flugs die koreanischen Buchstaben von dem Handy auf Einwickelpapier.

»Wow!«, sagte Josefa. »Perfekt! Echt gut! Ich male ja auch gerne mit Tusche!«

»Oh, was malen Sie denn so?«

»Naja, ich habe versucht, europäische Mythen zu malen, aber mit chinesischen Einflüssen!«

Josefa nahm der Blumenhändlerin den Stift aus der Hand und kritzelte eine »Europa auf dem Stier« mit auslaufenden Konturen auf das Papier.

»Toll!«, sagte die Frau. »Auf so eine Idee muss man ja erstmal kommen! Wirklich ausgefallen! Ich male ja auch gern. Sehen Sie mal, die Säulen hier habe ich selbstgemacht!«

Mitten im Raum ragten zwei Säulen bis zur Decke, an denen sich Spiralen in Weiß und Gold und grünem Muster emporrankten.

»Das ist wirklich großartig!«, sagte Josefa. »Überhaupt, der ganze Laden ist so … so zauberhaft! Warum steht da ein goldener Buddha an der Kasse?«

Die Blumenfrau kicherte, nahm den Buddha in der Schneekugel, schüttelte ihn, und sofort stoben goldene Münzen um ihn herum.

»Ja, der soll mir doch Glück bringen! Damit die Kasse klingelt!«

»Haha!«, lachte Josefa. »An sowas glaube ich auch! So magische Anziehung und so!«

Die Blumenfrau begann, orange Petunien herauszusuchen, und hielt sie neben ein paar Gerbera.

»Ja«, sagte Josefa. »Zu Günther passt das.«

Man sah der Blumenfrau an, dass sie ein halbes Leben in dem Laden verbracht hatte. Ihre Hände waren rot und nass, ihre Füße waren offenbar so viel hin- und hergewetzt, dass der Fahrtwind jedes Gramm von ihrem Leib heruntergezehrt hatte, und die glatten braunen Haare wehten hinterher. Doch ihr Lächeln trug sie wie eine Tulpe am Stiel.

»Bis heute Abend wird das leider nicht mehr fertig«, sagte sie. »Die Schleifen muss ich drucken lassen …«

»Ja, kein Problem, das Jubiläum ist erst übermorgen.«

»Ich kann das Gesteck auch bringen lassen!«

»Nein«, sagte Josefa schnell. »Ich komme gerne wieder!«

»Morgen Mittag ist es fertig!«

»Danke!«

Die Tür war umrankt von Efeu, und ein sanftes Glöckchenspiel erklang, als Josefa hinaustrat und sich im Schatten der dunklen Backsteinhäuser wiederfand. Ihre Tasche unterm Arm war klobig ausgebeult von einem blechernen Kasten. Josefa hatte die Portokasse mitgenommen, in der Hoffnung, der Schlüsseldienst neben dem Blumenladen könnte ihn öffnen. Irgendwo hatte sie die zwei Schlüsselchen hingeschmissen und fand sie nicht mehr. Sie hatte den ganzen Betrieb auf allen vieren durchsucht, sämtliche Schubladen und Papierkörbe. Weg.

Aus der Portokasse musste sie schließlich Günthers Jubiläumsblumen bezahlen und natürlich auch den neuen Schlüssel. Unter keinen Umständen sollten der Chef oder die Kollegen von dem Verlust erfahren. Josefa hatte schon öfter was verloren, und sie wollte nicht unbedingt ihren Ruf als Betriebsschussel weiterhin festigen.

Der Mann hinterm Tresen in seinem grauen Kittel, der eben einen Absatz schleifte, sah irgendwann zu ihr herüber und hob fragend die Augenbrauen.

»Guten Morgen! Kann man irgendwie diese Geldkassette aufbrechen?«

Der Mann runzelte die Stirn.

»Darf man mal fragen, woher die Kassette kommt? Ich kann doch nicht irgendeine Geldkassette aufbrechen, das kommt mir sehr verdächtig vor!«

»Nein«, sagte Josefa. »Die ist aus der Firma!«

»Umso schlimmer! Nee, sowas mache ich nicht. Ich kann Ihnen eine neue Portokasse verkaufen, aber ich breche nichts auf, und Ersatzschlüssel gibt es dafür auch nicht.«

»Ich kann keine neue Portokasse kaufen, das Geld dafür ist ja hier drin. Ich bin Teamassistentin und zuständig für …«

»Das kann jede sagen! Nee, ich mache das nicht. Grundsätzlich.«

Mürrisch drehte er sich um und beschäftigte sich wieder mit seinem Schuhabsatz.

»Okay.«

Betreten packte Josefa die Kassette wieder ein und verließ den Laden. Wie sollte sie denn nun morgen die Blumen bezahlen? Am besten, sie ging zurück ins Büro. Vielleicht konnte Günther selbst die Kassette aufbrechen, er hatte gewisse handwerkliche Fähigkeiten. Mist. Mit der Portokasse unterm Arm ging sie zum Tchibo, kaufte zum Trost einen Cappuccino und setzte sich wieder in die S-Bahn. Bis morgen musste sie eine Lösung finden.

Das grüne Velourssofa war auch nicht mehr das neueste. Die Kissen verrutschten andauernd und verknäulten sich unbequem unter Josefas Kopf, doch ihr Körper war zu träge, um eine bequemere Position zu suchen. Es war schon elf, die Weinflasche halb leer, und ihre Hand klebte noch immer am Handy. Ein endloser Strom an Reels reiste durch Josefas Gemüt, tanzende Großmütter, stürzende Katzen, wirbelnde Street-Köche, umgestylte Obdachlose … Jeden Abend machte Instagram Budenzauber in Josefas Gehirn.

Schließlich wechselte Josefa zu YouTube, um zu sehen, was in anderer Leute Leben geschah, und bloß nicht an ihr eigenes zu denken. YouTube, um ein gewisses Gefühl zu unterdrücken, das immer wieder in ihr hochkam: dass sie Zeit vertrödelte, Unordnung duldete, ihr Leben in Schräglage brachte, nein, es in vorhandener Schräglage weiter abrutschen ließ, es insgesamt verwirtschaftete und verwirkte.

Irgendwo brauchte sie Zuspruch. Überall die Influencer mit gestählten Muskeln und klarer Haut und grünem Smoothie in der Hand, schöne Menschen mit lang wehendem Haar an den Stränden von Hawaii. Sie strömten eine gewisse Überfrische aus, eine beseelte Überlegenheit, und erklärten Josefa, wie sie sich mithilfe von Manifestationstechniken, Atemübungen und täglicher Fitness ihr Traumleben erschaffen hatten. Die Influencer schrappten ungefähr achtundzwanzig Meter an Josefas Realität vorbei und verstärkten ihren Verdruss umso mehr.

»Prost!«, sagte Josefa und klickte weiter. Plötzlich erschien dazwischen ein kleines Video, das sich offenbar in die Welt der Gesunden und Schönen verirrt hatte. Eine etwas robuste Frau in mittleren Jahren saß auf einem Hocker in einem Raum, der wie eine verschönerte Garage wirkte. Leichter Fernfahrerinnen-Charme. Die Jeans etwas zu weit, der Bauch fiel drüber, die Haare lang und rötlich, hatte sie die Arme auf die Knie gestemmt, als wäre sie als Nächste dran beim Kegeln. Ein sehr angenehmer Kontrast.

Es sei sehr schwer für sie, das Video zu machen, sagte die Frau. Doch schon in ihrer Jugend habe sie geistige Wesen wahrgenommen, die sich ihr mitteilten, und seit einer Nahtoderfahrung habe das noch zugenommen. Besonders Hieronymus, eine hohe geistige Wesenheit, wünsche heute, durch sie zu sprechen.

Josefa drückte auf »Stopp« und las den Untertitel des Videos:

»Botschaften von Hieronymus von Danny Krämer. Trans-Channel, Medium.«

Danny Krämer wirkte nicht esoterisch. Mehr so wie: Ich glaube nur, was ich sehe, und schmiere mir jetzt ein Leberwurstbrot.

Josefa drückte auf »Weiter«.

Danny räusperte sich, legte die Hände auf die Knie, atmete tief ein, schloss die Augen und wurde ganz ruhig. Offenbar geriet sie in eine tiefe Versenkung, bis sie plötzlich auffuhr und den Kopf in den Nacken warf, als hätte sie einen mittleren Stromstoß bekommen. Ihr Mund öffnete sich, und sie sprach drauflos: »Liebe Erdenbewohner, ich kehre zu euch zurück, willkommen! Ich bin ein nichtphysisches Wesen mit Namen Hieronymus und spreche durch dieses Medium zu euch.

Das Bewusstsein der Menschen entwickelt sich weiter, und noch wehrt sich in euch vieles dagegen. Ihr habt gelernt, was für euch richtig ist, und verteidigt eure Überzeugungen. Es ist jedoch unsere Aufgabe, euer Bewusstsein zu heben, damit ihr in eine höhere Schwingung kommt, die euch neue und schönere Erlebnisse beschert.«

Interessant. Josefas Bewusstsein war zugegebenermaßen nicht sonderlich erhöht. Ganze Gehirnteile waren deaktiviert. Unbequem wie das zerknäulte Kissen unter ihrem Kopf drängte sich ein Gefühl aus dem Bauch herauf, ein Gefühl, das sie vermeiden wollte, irgendwas von Zeit fürs Bett oder Hausaufgaben nicht gemacht. Das Leben versiebt. Es war so unangenehm, als hätte sie eine Art mumifizierten Käse im Leib, dessen schimmelige Ausdünstungen ihr bis in die Augen stiegen.

»It sucks to be an Erdenbewohner!«, sagte Josefa zu dem Geist Hieronymus.

Das YouTube-Medium sprach unverdrossen weiter: »Das Bewusstsein in eurer westlichen Welt hat nur eine kümmerliche Ausbildung erfahren. Ihr seid hochspezialisiert in vielerlei Hinsicht, das geistige Training ist jedoch armselig. Ihr leidet unnötig, und wir sehen das Potential, das ihr habt. Wir möchten euch unterrichten, damit ihr euch besser verwirklichen könnt, wir möchten gerne mit euch kommunizieren. Denn in Wahrheit seid ihr schöpferische, göttliche Wesen mit grenzenloser Freiheit.«

Wow! Da redete so ein Geist aus dem Universum direkt in ihr Wohnzimmer hinein. Vielleicht aber auch etwas zu viel des Guten. Vielleicht ein andermal.

Josefa klickte zurück zu den Influencern und ihren grünen Smoothies mit Himalayasalz.

Manifestieren. Sie hatte sich geschworen, ein besseres Leben zu manifestieren. Es gab tausend Anleitungen im Netz dazu: die Eigenschaften eines ersehnten Mannes aufzuschreiben und ihn bildlich vor sich zu sehen, jedes Detail, ihn zu schmecken und zu fühlen und zu sehen. Dann die Vision in eine Seifenblase hüllen und in das Universum schicken.

Man sollte jeden Tag Affirmationen für Glück und Reichtum formulieren. Sie konnte nicht weiter Zeit vertrödeln als Single, mit überzogenem Konto, in einem Büro für Leuchtmonitore.

»Ich bin erfolgreich. Ich bin ein Magnet des Glücks. Ich bin erfüllt vom Reichtum des Universums.«

Josefa legte den Kopf auf das Kissen und ließ sich einlullen von sanften Flöten, leise rauschendem Wasser, vereinzelten Klaviertönen und Glöckchen, YouTube begleitete sie in den Schlaf, und die Worte sanken geheimnisvoll in das unergründliche Unbewusste, Worte für die ewige Liebe, unendlichen Reichtum, paradiesisches Glück … und selbst die Worte von Hieronymus schwebten noch einmal vorbei am Horizont. So löste sich das unangenehme Gefühl im Magen, der alte, schwärende Käse … und Wundersames zog in ihr Gemüt. Sie schlief ein, von höheren Sphären getragen, und versank in einer weichen Wolke voller himmlischem Zauber.

Günthers Firmenjubiläum!

Josefas erster Gedanke am Morgen ließ sie senkrecht aus den Kissen fahren. Das Firmenjubiläum war wichtig! Alles musste vorbereitet sein, und es lag allein an ihr, Josefa! Stimmte alles mit dem Catering? Die verdammte Portokasse! War der Konferenzraum bereit? Konnte sie den Besuch vom Büromöbelvertreter noch verschieben?

Josefa beeilte sich im Bad, zog ihr sandfarbenes Leinenkostüm an und preschte los, mit dem Kaffee in der Hand.

Min-Joon Choi, der Sales Director Huiwan, legte Wert auf gewisse Rituale im Betrieb, wie zum Beispiel die Begrüßung eines neuen Mitarbeiters im Kreis mit einem Blumenstrauß, die Anwesenheit aller bei einer Beerdigung oder das gemeinschaftliche Aufstellen des deutschen Weihnachtsbaums.

Günthers fünfundzwanzig Jahre aber waren einmalig, ein Zeichen, dass man einen deutschen Angestellten auf diesem fremden Kontinent so lange beschäftigen konnte, ein Zeichen dass Huiwan sich in Europa etabliert hatte, ein Beweis, dass tausende und Millionen von Menschen ihre Arbeit oder Videospiele auf einem Huiwan-Leuchtmonitor anschauten – aus irgendeinem Grund waren die Koreaner ganz verrückt nach Günthers fünfundzwanzig Jahren bei der Firma.

Bibimbap, Kimchi und Reiscracker waren bestellt, der Konferenztisch war geschmückt mit der Firmentischdecke, und jeder erhielt ein neues T-Shirt mit dem Firmenlogo, dem Namen Huiwan auf Koreanisch und der Aufschrift »We are a team«.

Nun musste Josefa nur noch das Blumengesteck abholen, und die Portokasse war immer noch verriegelt und verbeult und die Schlüssel unauffindbar. Die Zeit drängte. Sollte sie sich Günther offenbaren? Er war ja sehr unangenehm berührt von dem ganzen Aufwand und hätte sich lieber gedrückt; vielleicht war er froh über diese Ablenkung und würde ihr helfen. Aber dann würde er überall Witze über sie machen, und darauf hatte sie einfach keine Lust.

Josefa packte die Portokasse und verließ die Firma, um wieder in die Alt-Bretzenhainer-Straße zu fahren. Sie musste mit der Blumenhändlerin sprechen oder notfalls den Betrag vorlegen, bis sie einen Portokassenknacker gefunden hatte.

Die Glöckchen erklangen wie ein Harfenspiel, als Josefa den Laden betrat.

»Ja, hallo!«, lächelte die Blumenhändlerin, als sei sie das Glück der Welt, das ihren Laden erhellte. Josefa hingegen schaute ihrerseits sehr unglücklich aus der Wäsche.

»Das Gesteck ist sehr schön geworden. Ist Ihnen nicht gut?«

»Ich äh … ich muss Ihnen ein Geständnis machen: Ich arbeite ja bei Huiwan und verwalte die Portokasse, und ich habe den Schlüssel verloren; jetzt kriege ich die nicht auf, und damit muss ich Sie doch bezahlen!«

Josefa holte die Kasse aus der Leinentasche und hielt sie ihr hin.

»Ich weiß nicht mehr, was ich machen soll!«

Die Blumenhändlerin kicherte. »Au wei! Haha! Ich dachte, sowas passiert nur mir!«

Sie nahm den Buddha in der Schneekugel, schüttelte ihn und ließ die Münzen herumtanzen. »Mal sehen, ob das hilft!«

Josefa musste lachen.

»Also, bis jetzt ist die Kasse noch nicht auf! Und da sind bestimmt noch vierhundert Euro drin!«

»Moment!«, rief die Blumenfrau. Sie eilte ins Hinterzimmer, das voller nasser Rosenstiele, Wassereimer und Folienreste war, und kam zurück mit einem dicken Hammer und einem Brecheisen.

»Wozu braucht man denn in einem Blumenladen ein Brecheisen? Ich bin übrigens Josefa.«

»Kristina«, sagte die Frau. »Das Ding lag noch von dem Vorbesitzer im Keller, ich nehme es manchmal, um die Hoftür aufzuhalten.«

Kristina beugte sich vor, und ein Zettel fiel ihr aus der Hosentasche.

»Hyazinthen«, las Kristina. »Wofür waren die denn nochmal? Egal.«

Sie schlug mit dem dicken Hammer auf die Kiste, und Josefa steckte das Eisen in den entstandenen Schlitz; so hämmerten sie und hebelten und begannen zu kichern. Es dauerte fast eine halbe Stunde, schließlich brach die Verankerung vom Schloss, und die Münzen sprangen aus den kleinen Plastikfächern heraus.

»Oh mein Gott!«, rief Josefa. »Oh mein Gott, ich bin so erleichtert! Vielen, vielen Dank!«

Sie hätte Kristina beinahe umarmt. Nun konnte sie von dem Geld alles bezahlen und eine neue Portokasse im Internet bestellen, das merkte keiner.

»Darf ich Sie vielleicht zu einem Kaffee einladen? Bisschen Zeit habe ich noch!«

»Ähm, gerne … Ich kann gerade aus dem Laden nicht weg, aber wenn Sie beim Tchibo einen holen, dann hätte ich hier ein Eckchen, wo man gemütlich sitzt!«

»O.k.!«

Josefa rannte los und kaufte erleichtert zwei Cappuccino und auch noch Käsetörtchen, Streuseltaler und einen Donut. Kristina schien sich sehr zu freuen, ihr Lächeln funkelte bis in die Augenwinkel, und irgendwie empfand Josefa das als sehr wohltuend.

»Ich habe hier so ein Räumchen, da gehe ich manchmal hin, wenn mir alles zu viel wird, also, es ist ein bisschen Klunker drin, lauter so Sachen, die ich nicht verkauft habe.«

Josefa staunte. Neben der Werkbank voller Rosenbündel war noch ein kleines Zimmer, vielleicht früher eine Vorratskammer oder Besenraum. Ehemals orange Wände in Wischtechnik verblichen hinter orientalisch geschnitzten Holzregalen, überall standen goldbeschlagene Schatullen, Duftlampen, Engelfiguren, und ein glitzernd bestickter Teppich mit einem blühenden Lebensbaum hing an der Wand.

»Zauberhaft!«, sagte Josefa. »So schön! Also, es sieht ein wenig aus wie bei Madame Ruxandra auf der Dippemess!«

»Oh, da war ich auch schon mal!«, kicherte Kristina. »War gar nicht schlecht!«

»Naja, also – bei mir wusste sie gar nichts! Außer dass mein Chef am nächsten Tag vorbeikommt. Da war ich schon erstaunt. Aber in der Liebe: nichts. Null! Ich dachte schon, sie ist blind, sie sieht nichts, sie hat Burnout.«

»Äh …«, sagte Kristina, »also, wenn Sie wollen, ich habe da Lenormandkarten, so ähnlich wie Tarot. Ich könnte es mal probieren! Vielleicht sehe ich was? Ich habe sowas geerbt von meiner Oma, manchmal weiß ich einfach was, bevor es passiert!«

»Oh, wow!« Josefa war beeindruckt und wurde gleichzeitig nervös.

»Und wenn da wieder so lauter Mist kommt? Kann man vorher die schlechten Karten raustun? Hier – Tod und Teufel und all sowas?«

Kristina kicherte.

»Nee, keine Sorge, die Karten geben nur gute Hinweise darauf, wo das Leben hinführt und welchen Rat man befolgen soll. Hoffentlich kommt jetzt keine Kundschaft, irgend so eine alte Oma, die eine halbe Stunde braucht, um eine Rose zu kaufen.«

Josefa war einverstanden. Sie hatte nichts zu verlieren. Es kostete keine zwanzig Euro, die Blumenhändlerin war ihr zutiefst sympathisch, und sie fühlte sich so vollkommen wohl in dieser Zauberhöhle. Vielleicht konnte sie noch irgendwas kaufen für ihre magische Schublade. Einen kleinen Amethyst oder dieses Amulett oder die Kerze im Glas mit dem Heiligen Michael vorne drauf.

Kristina nahm die abgewetzten Karten und mischte sie gründlich, ihre schmalen Handgelenke ragten aus dicken Strickärmeln, die Hände tanzten, und in Windeseile breitete sie ein Kartendeck aus.

»Hm … was sehe ich denn da? Oh, ich sehe nicht nur einen Edelmann in der Nähe … da sind sogar … hm … drei! Du – kann ich du sagen? Also, du bist diese Herzdame hier. Von der Seite nähert sich ein feiner Herr. Er schaut zu dir hin, siehst du? Aber da, Moment, da sind Mäuse. Irgendetwas nagt an ihm. Er hat noch Zweifel, aber hier, sieh mal, da sind Blumen! Das ist ein gutes Zeichen. Also, viele Herzen in deinen Karten; könnte halt noch ein klein wenig dauern, bis einer von denen in dein Leben tritt, aber es steht in deinen Sternen!«

Augenblicklich hob sich Josefas Stimmung. Die Blumenfrau war viel besser als Madame Ruxandra! Josefa wollte nicht mal unbedingt glauben, dass sofort ein Mann um die Ecke kam, sie wollte einfach wieder Hoffnung haben. Sie war verzaubert in der Zauberhöhle.

Josefa überlegte. Am nächsten Ersten kam eine neue Mitarbeiterin aus Korea für die Produktassistenz. Dann würde sie wieder einen Blumenstrauß kaufen müssen.

Auf jeden Fall wollte sie wiederkommen.

»Danke! Tausend Dank! Au weia, ich muss gehen, ich muss ja noch nebenan eine neue Kasse kaufen! Aber das war super! Ich hole jetzt alles Firmenzeugs hier! Ich glaube, die Mutter von der Elfi stirbt bald, dann hole ich einen großen Kranz! Ach, und ich nehme die Kerze mit, die vom Michael.«

»Acht Euro. Und sie hilft wirklich. In den schlimmsten Zeiten bete ich zu Erzengel Michael, und augenblicklich bin ich beschützt und habe Kraft.«

Weder Josefa noch Kristina hatten die alte Dame in der lila Strickweste bemerkt, die mit der Geduld eines Gummibaums in der Ecke stand und hoffnungsfroh immer wieder das Wort »Hyazinthen« murmelte.

»Oh, ach, die!«, sagte Kristina. »Äh, ja.«

Josefa winkte nochmal und verzog sich. Mit einem schönen Gesteck in Grün, Blau und Orange, koreanischem Glückwunsch, geöffneter Portokasse, Erzengelkerze und neuer Hoffnung auf die Liebe verließ sie überreich beschenkt den Laden.

Günthers Jubiläum konnte beginnen!

Die großen Fenster der Schmalzfabrik leuchteten in der herbstlichen Abenddämmerung. Ein Kastanienbaum warf erste Kastanien auf das Pflaster, und drumherum mühten sich die Leute, noch ein Fahrrad und noch ein Fahrrad und einen Roller an den stählernen Baumschutzring zu schließen.

Josefa hatte es geschafft. Sie trug eine nostalgische Bluse, die alte Businesshose, die den Hüftspeck gnädig verbarg, dazu eine Wellenfrisur mit losem Dutt, denn sie wollte aussehen wie ein Stummfilmstar.

»Touché« hieß die Ausstellung der Fotokünstlerin Maria Graf, und »Touché« hatte Josefa an »Tusche« erinnert. Es war eine Aufforderung des Schicksals, sich wieder mal in künstlerische Gefilde zu begeben. Auch wenn ihr die eigene Kunst irgendwie minderwertig vorkam im Vergleich zu Maria Graf, die sich weit über die Stadt hinaus einen Ruf erworben hatte mit ihren schrägen Perspektiven, dem Lichtspiel und der Ästhetik ihrer Hochhausaufnahmen. Schwer genug, jetzt die Schwelle zu überschreiten und sich zwischen den ihrerseits wie Kunstwerke aufgetakelten Leuten zu bewegen. Auch wenn sie selbst aufgetakelt war, hielt sie doch die Takelage anderer Leute für viel kunstsinniger als ihre eigene. Allein die Lippenstifte! Allein die Filzbroschen und Filzhaarschmuck und Filzhandtaschen, die edlen Stoffe aus dem Secondhand, das gestochen scharfe Augen-Make-up mit malerischem Lidstrich. Dazwischen kunstvolle Verwahrlosung. Josefa bemühte sich, ihr Sektglas formschön in Schulterhöhe zu halten, während sie Maria Grafs Kunst studierte und aus den Augenwinkeln nach Bekannten Ausschau hielt.

Ah, da war Renée, hallo, Marisa, hallo, Steffen, hallo, Laila … Die Künstlerin selbst knabberte in der Ecke an einer Minibrezel.

»Na?«, sagte Marisa. »Schön, dich mal wieder zu sehen! Tolle Aufnahmen von Maria Graf, man weiß gar nicht, wie sie diesen Turm hier fotografiert hat. Als hätte sie sich von einem Fensterbrett abgeseilt!«

»Ja, stimmt. Das würde man ihr zutrauen.«

Josefa studierte die Schräge des Hochhauses und empfand … nichts. Keine Bewunderung, keine Freude, allenfalls Neid. Nicht, dass sie jemals sowas Langweiliges wie Hochhäuser hätte in Szene setzen wollen, aber sie neidete Maria Graf dieses natürliche Gleiten durch den Kunstbetrieb, den Anspruch auf diese Welt, dieses Zuhausesein unter Kulturredakteuren und Künstlern und Mäzenen. Niemals würde sie dazugehören. Nicht mit ihrem mangelnden künstlerischen Output, nicht mit ihrer mangelnden Hingabe, nicht … einfach überhaupt nicht. Es wurde ihr so schmerzlich bewusst, dass sie am liebsten gleich wieder gegangen wäre. Nur weil Kristina aus dem Blumenladen ihre Zeichnung auf dem Einwickelpapier so bewundert hatte, weil sie ihr so gute Tarotkarten gelegt hatte – und weil man sich um sein Weiterkommen kümmern musste, darum war sie hier!

Na, den Sekt nahm sie noch mit. Und da war auch Robbi, der selbst künstlerisch kein Stern am Himmel war, sich jedoch gut gelaunt herumtrieb von Feier zu Feier.

»Na Josefa, Dschosefina, wie schmeckt der Sekt? Am Fingerfood haben sie ja gespart!«

»Ja! Äh, habe ich noch gar nicht drauf geachtet. Der Sekt ist vom Aldi, würde ich sagen.«

»Oh mein Gott! Sekt vom Aldi? Hier?«

»Oh, die haben guten Sekt! Bei uns in der Firma zum Beispiel beim Firmenjubiläum, da …«

Josefa verstummte. Die Welt von Huiwan schwappte immer aus ihr heraus, sie war so voll von Huiwan und so leer an glanzvollen Bildern aus Kunstzeitschriften, so wenig gefüllt mit geistreichen Artikeln aus dem Feuilleton.

Ein Mann in kariertem Hemd und Cordjeans, mit Nickelbrille und wilden schwarzen Haaren sah sie an. Immerhin. Josefa hob ihren Stummfilmdutt und wünschte, sie hätte sich noch einen dramatischen Lippenstift aufgelegt, so dramatisch wie der von Maria Graf. Sie erwiderte den Augenkontakt und sah dann verlegen weg. Sosehr sie sich einen Flirt wünschte, so schwach waren ihre Nerven, wenn es galt, einen zu beginnen. Was immer er zu ihr sagen mochte, sie würde nur antworten mit einem Schwachsinn, wie zum Beispiel »Günthers Firmenjubiläum«. Dennoch musste sie unbedingt wissen, ob der Kerl nochmal zu ihr herüberschaute – und tatsächlich: Er schaute immer noch, in einer Mischung aus Wachheit, Neugierde und mit einem Lächeln, ja, hallo! Könnte ein Intellektueller sein. Es wäre gut, wenn Josefa die innere Selbstverdammung in den Griff kriegen könnte. Robbi tänzelte schon weiter. War es nun gut, dass sie alleine hier herumstand? Wie ein Ziel? Sollte sie rasch mit jemandem plaudern? Seit sie die Schmalzfabrik betreten hatte, war sie überfordert.

Am besten betrachtete sie jetzt artig Bild um Bild, auch wenn es noch so langweilig war, quatschte noch drei Sätze, haute dann ab und sah daheim »Queer Eye« auf Netflix mit der Wärmflasche auf dem Schoß.

Gerade als sie ihr Glas an der Bar abstellen wollte, tauchte der Mann im karierten Flanellhemd auf, und er gefiel Josefa auf der Stelle. Und wie!

»Na?«, lächelte er. »Sie wirken so ein klein wenig verloren …«

»Ich, ja, bin ich wohl irgendwie … Mir fehlt wohl ein bisschen der Background für so …«

»Aber warum? Sie wohnen hier?«

»Ja, in Frankfurt.«

»Na, dann sind Sie doch dauernd von Hochhäusern umgeben, dann sind Sie doch eine Expertin!«

»Ja, wenn man so will …« Josefa lachte und begann, sich zu entspannen. »Sie sehen so aus, als würden Sie was über die Ausstellung schreiben.«

»Ich nicht«, lächelte er, »aber …«. Er deutete vage zu einer blonden Frau mit gewaltigem Dutt, um die ein weites Kleid mit mehreren Volants herumschwang, ein Kleid, das tannenförmig nach unten hin Volant für Volant Fülle draufkloppte.

»Ah«, sagte Josefa enttäuscht. Immer kam sie zu spät.

Er neigte sich sanft zu ihr: »Ihre Frisur erinnert mich an Asta Nielsen, den Stummfilmstar.«

»Touché!«

»Ja, touché. Da darf man wohl keine Welle berühren, die sind ja fest wie aus der Kupferschmiede.«

»Naja, es ist nicht einfach, die Wellen zu legen; da muss man so Kämme quer versetzen und … also, meine Oma hat mir das noch beigebracht.«

»Chic!«

Josefa war verlegen. Er hatte so seltsame Kringel um die Pupillen, als wollte die Pupille aus einem Ei schlüpfen. Seine Haare waren durcheinander, und man wusste nicht: War es künstlerischer Ausdruck? Oder hatte er keinen Kamm zu Hause? Warum flirtete er mit ihr, wenn die Dicke in der Ecke stand? Man durfte nicht Dicke sagen. Schlimm.

»Sie sehen aus, als wären Sie selbst eine Künstlerin, was machen Sie?«

»Nun, ich arbeite mit Tusche, aber … das ist noch sehr experimentell.«

»Haben Sie ein Foto von einem Bild?«

Auf keinen Fall, nicht ums Verrecken würde sie ihm ein Bild zeigen von diesem dilettantischen Scheiß.

»Nein, leider nicht. Ich heiße Josefa.«

»Albert, also Albeeeert.«

»Französisch?«

»Meine Mutter hatte damals so einen Fimmel. Urlaub in der Bretagne. Jacques Brel und so.«

Die Schmalzfabrik hatte sich gefüllt, das Licht um die Bar herum wurde gedimmt, und einzelne Fotos wurden besonders angestrahlt. Sie bestellten einen Martini. Albert war so nahe, dass sie ihn förmlich riechen konnte; die Rippen unterm Hemd berührten sie fast, seine Flanellbrusttasche unter ihrem rechten Ohr, sie hätte den Ohrring hineinplumpsen lassen können. Sie hätte sich am liebsten mit dem Ohrring in seinem Flanellhemd verhakt, unabsichtlich, sie musste sich mit ihm verheddern, irgendwie, Gelächter erzeugen und Verwirrung, ein wenig Martini über sein Hemd schütten, ihm in den Arm beißen.

Er drehte sich um und hob das Glas, um irgendwo im fernen Dunkel der schreibenden Frau zuzuprosten. Josefa kam nicht klar. Die winzigen Knötchen der Flanellfäden dicht vor der Nase, das Funkeln des Martinis zwischen ihnen, die Bartstoppeln auf seinem Kinn, ein Zauber mit Ernüchterung; verwirrt von seinem Heiratsschwindlercharme rang sie um ihre emotionale Hoheit.

»Ich, äh, ich weiß nicht, ob ich bleiben kann, ich müsste langsam mal …«

»Warum?«, fragte er. »Es gab ja noch nicht mal die Eröffnungsrede!«

»Oh, ja. Ja, stimmt, aber ich lese die ja dann in der Zeitung Ihrer Frau.«

»Nein, sie ist doch nicht meine Frau, nur … gewissermaßen, ich mag sie.«

»Das ist schön.« Josefa rutschte von ihrem Barhocker herunter, um seiner hypnotischen Astralwolke zu entkommen. Nur keine Enttäuschung in ihr Leben laden, nur sich nicht wieder demütigen vor einem vergebenen Mann; sie war zu verwundbar, das hatte man ja alles schon gehabt.

»Nun, Albert, ich gehe dann mal.«

»Hm, ja, wenn Sie meinen, Asta Nielsen? Dann kann ich nur verstummen.«

Sie lächelte. War drauf und dran, ihm zart auf den Arm zu klopfen wie einem schwachen Hund, als er den Kopf schief legte und sie anschaute durch die Nickelbrille, die den seltsamen Doppelkringel um seine Iris einmal mehr umrundete.

Dann machte er Anstalten, in das Dunkel zu verschwinden. Da überkam es Josefa.

War es die Wut auf die vergangenen Beziehungen, die Fehlversuche, das lange Alleinsein … war es der Martini oder weil er sie Asta Nielsen genannt hatte, sie konnte es nicht sagen. Doch es war Wut. Sie packte ihn am Kragen und zog ihn zu sich.

Albert wurde einen Augenblick starr, sein Nacken spannte sich, dann, zögerlich, gab er ein wenig nach, sie packte ihn fester, nahezu gewaltsam, zog ihn noch näher, sie raubte ihm einen Kuss, den er halbwegs erwiderte. Es fühlte sich großartig an. Sie hatte sich genommen, was ihr gefiel. Wie ein Kerl. Sie wunderte sich einen Augenblick über die Kraft ihrer Arme. Jetzt konnte sie nach Hause gehen.

Als der Galerist zur Treppe ging und seine Laudatio begann, hörte Josefa nur noch: »Metropolenkultur … die Ästhetik und Minimalistik des urbanen Zeitalters … bla …«

In Hochstimmung winkte sie noch einmal in die Runde, und schon war sie verschwunden, auf ihren Lippen der Glanz des Martinis und der von einem gestohlenen Kuss.

Huiwan war so nüchtern wie die gestrigen Hochhausbilder, Maria Graf hätte genauso die Lochstellwände und die Akustikdecke fotografieren können für eine weitere, aufsehenerregende Vernissage mit Ansprache des Kulturreferenten und einem Fotografen der Rundschau, und jeder hätte gedacht: Oh, welche Ästhetik! Welche Klarheit der Linien! Die Einsamkeit eines Stellwandloches repräsentiert die Einsamkeit des Individuums in der urbanen Gesellschaft! Oder so.

Wie unter Zwang zog Josefa ihre Schublade auf, um sich an dem Leuchten des Lapislazuli zu erfreuen, seinen winzigen Grüftchen, dem Geheimnis, der Unendlichkeit, seinem ewigen Gefunkel. Sie las ihre Sprüche, und einer sagte: »Das größte Mysterium ist im Menschen selbst verborgen« von Elias Rubenstein. Ja, jedes Mysterium und jedes unergründliche Rätsel war schöner als eine Lochstellwand mit Kabelkanal.

Sie musste an die Zauberhöhle im Blumenladen denken, wo man saß wie in ihrer Schublade. Von Engeln umgeben und leuchtendem Krimskrams, und es war so tröstlich. Einfach tröstlich. Das Gekicher der Blumenhändlerin war wie Vogelzwitschern und machte alles viel leichter. Am liebsten wäre Josefa einfach hinausspaziert und hätte Kristina besucht und den ganzen Tag in der Kristallhöhle gesessen. Nur so.

Stattdessen musste sie den Katalog öffnen und Büromaterial bestellen.

Das machte Josefa eigentlich sehr gerne, denn Min-Joon Choi hatte ihr keinerlei Grenzen gesetzt und war ungemein großzügig in diesen kleinen Dingen. Er unterschrieb alle Rechnungen, ohne sich darum zu scheren, ob sie nun einen sechseckigen Bleistift aus dem Sale bestellte oder einen kunstvollen Drehbleistift von Faber. Es gab so wunderschöne Stifte, in allen Farben und marmoriert und mit Verzierungen wie kostbare Federhalter, so glitten sie dahin, federleicht, und schrieben geheimnisvolle Dinge wie: »Huiwan erleuchtet deine Welt!«

Wenn man sich anstrengte, konnte man überall Geheimnisse finden, selbst in diesem schnöden Katalog des Office Depot. Karteikarten in den schönsten Farben mit Linien wie in ihrem ersten Schulheft; auf diese Karteikarten konnte Josefa Wünsche aufschreiben und sie in der Schublade verstecken, ein tröstliches Wort oder eine wundersame Begegnung.

Flanellhemd und Pupillenkringel, ein geraubter Kuss, das Rauben ein Glück.

Josefa bestellte kreuz und quer, was ihr gefiel. Sie ging zum Schrank und notierte die Bestände, fragte jeden, was ihm denn noch fehle, und die Wünsche waren mal bescheiden und mal uferlos.

»Einen neuen Kugelroller, einen Locher, einen Visitenkartensammler, einen Montblanc.«

»Okay.«

»Sechs Pakete Druckerpapier, fünfmal A4 und einmal A3. Sieben neue Leitz-Ordner. Neuen Toner und ein Headset für Mi-Suk.«

Das war’s. Josefa drückte auf »Bestellung absenden«.

Der Bildschirm antwortete: »Wir haben Ihren Auftrag entgegengenommen.«

Kaum hatte sie die Bestellbestätigung gesichert und gespeichert, drückte Josefa zur Belohnung auf YouTube. Alle waren auf der Vertriebskonferenz. Niemand würde sie sehen, sie musste nur hinterher den Verlauf löschen.

YouTube war ein herrlicher Gemischtwarenladen, und man konnte sich bedienen nach Herzenslust! Ihr fiel die Session mit Kristina wieder ein und wie schön die ihr die Karten gelegt hatte. Konnte sie nicht selbst so etwas lernen? Karten legen und geheimnisvolle Botschaften erhalten? Josefa gab ein: »Blick in die Zukunft«.

Schon tauchten Videos auf über berühmte Hellseher, Voraussagen durch AI, Ratschläge von indischen Gurus und Kartenleger mit vielen Halsketten, mit Engelbildern, indischen Göttern, übermäßigem Blumenschmuck und hohen Stimmchen, als habe sich deren Stimme bereits ins Jenseits verflüchtigt. Josefa wurde schon ganz schwül vom Hinsehen. Dazwischen plötzlich wieder das Fernfahrer-Medium mit seinem rustikalen Outfit, und wo andere Rosen und Räucherstäbchen hatten, stand bei ihr womöglich die Currywurst. Danny Krämer. Auch ihre Stimme war hoch vor Aufregung. Dieses Video zu machen, sich zur Schau zu stellen oder diese seltsame Performance zu machen, war offenbar nicht ihr Ding.

Fasziniert beobachtete Josefa das Medium, in das nun wieder der Geist einfuhr. Bei YouTube gab es ja wirklich alles. Dannys Schultern hoben sich ruckartig, der Kopf fiel in den Nacken, dann normalisierte sich der Körper wieder, und die Stimme begann zu sprechen: »Aah, da sind wir wieder, ihr lieben Erdenmenschen, willkommen! Wenn sich euer Herz öffnet für inspirierende Botschaften, werdet ihr euch besser fühlen mit euch selbst, besser fühlen mit eurem Leben: Wenn ihr die Vibration dieser Botschaften spürt, bekommt ihr ein Gefühl für euer wahres Selbst. Denn wir sind mit euch verbunden. Und nur wenn ihr euch wirklich richtig gut fühlt – seid ihr, wer ihr wirklich seid. Hört also auf, Dinge zu tun, die euch Schmerzen bereiten, und die größte Sünde eures westlichen Bewusstseins ist die, euch selbst nicht zu lieben. Hört auf, alles zu verurteilen in eurem Leben! Euer Leben ist exakt so, wie es sein muss, um euch zu zeigen, wer ihr seid. Wie anders solltet ihr es transformieren?«

Die Tür ging auf, und Min-Joon kam aus dem Konferenzraum.

»Could you make us another green tea?«

»Yes, of course!«

Josefa stand auf. Mist. Sie hätte dem Fernfahrer-Medium gerne noch weiter zugehört, denn auch sie wollte sich besser fühlen mit sich selbst.

Als sie den Tee gekocht und in den Konferenzraum gebracht hatte, kehrte sie zum PC zurück und wollte weiterlauschen, aber das Video war schon vorbei, und YouTube präsentierte nun einen Kartenleger.

»Hier deine persönliche Botschaft des Tages. Stelle im Geist eine Frage, und ich ziehe für dich eine Karte!«

Josefa konnte nicht widerstehen. Innerhalb einer Woche war sie orakelsüchtig geworden.

»Was ist Albert für ein Mensch?«

Der aus Wut geküsste Mann. Er könnte ein Brandloch in der Backe haben, so feurig hatte sie geknutscht. Was würde dieser dürre Kerl wohl sagen, wenn er sie hier sehen könnte mit einer Bestellung für Radiergummis, Locher und Post-it-Würfel? Wo doch seine Lebensgefährtin oder Frau nicht nur auf Vernissagen ging, sondern auch noch die richtigen Worte fand, um diese zu beschreiben? Worüber sprachen sie denn beim Abendessen? Über die Bach-Kantate in h-Moll in der Alten Oper? Oder irgend so einen Kram?

Der esoterische Mensch mit seinem roten Schal und der brennenden Kerze sah aus wie von Astro-TV und hob eine Karte aus seinem Deck auf dem violett glänzenden Tuch: ein stolzer Held in mittelalterlicher Rüstung auf einem galoppierenden Pferd, das Schwert gen Himmel gereckt.

»Der Ritter der Schwerter: Er zeugt von leidenschaftlichem Denken und Zielstrebigkeit und kommt auf dich zu!«

War das Albeeert? Ein Ritter im schimmernden Harnisch und womöglich auf Angriff gebürstet? Ach komm, da hatte sie brachial einen Kerl geknutscht und war dann fortgelaufen, wie sollte der Astro-TV-Mensch auf dem Bildschirm von dem wissen? Der legte gerade dieselben Karten für vielleicht zwanzigtausend Follower, das konnte ja nicht stimmen. Immerhin, Josefas Laune hob sich, dafür waren die albernen Karten ja allemal gut. Sie schloss YouTube und lächelte: ein Ritter der Leidenschaft und sehr zielstrebig. Die Hoffnung starb zuletzt.

Es klingelte. Josefa war es leid, die Tür zu öffnen. Alle fünf Minuten DHL, der Hausmeister, ein Fahrradkurier, Elfi, die den Schlüssel vergessen hatte, wann endlich gab es den Knopf mit dem Summer für ihren Tisch? War sie eine Rezeptionistin? Blumen gießen, Klopapier auffüllen, Backup-Tapes am Server wechseln, man brummte ihr alles und alles auf. Missmutig ging sie an die Tür und öffnete.

Es traf sie wie der Blitz.

Der Ritter der Schwerter!

Albeeert!

Diesmal im gestreiften Hemd zur selben Cordhose wie gestern. Die Haare heute vielleicht von fünf Fingern durchfahren, er lächelte wie ein weiser alter Wahrsager. Die schwarzen schalkhaften Augen umgeben von Nickelringen.

»Hallo!« Seine Stimme war wirklich kein Bass. Für einen Mann etwas hoch, aber jedes Wort war schön gesprochen, also wenigstens das »Hallo«. Josefas Antwort konnte nur rau und rumpelig daherkommen, falls ihr je wieder ein Wort über die Lippen gelangen sollte.

»Ich wollte nur wissen, ob ich mir das gestern eingebildet habe.«

Josefa war fassungslos.

»Woher weißt du denn, wo ich …«

»Naja, Recherche gehört zu meinen Spezialgebieten. Habe ja gesehen, mit wem du dich unterhalten hast …«

»Oh weia«, sagte Josefa. Mein Gott, musste sie heute die blöde, spießige Bluse tragen, und warum hatte sie Haare wie Rhabarberblätter, der Scheiß-Festiger, und dann quoll ihr über den Bund eine schöne, dickliche Rolle Fett. Bodyshaming Masterclass.

»Ich, ähm, möchtest du reinkommen und einen Kaffee trinken?«

Wem wollte sie das erklären? Hier im Büro einen – was denn? – Freund zu bedienen?

»Nein, ich bin zwar sehr für die Erkundung moderner Arbeitswelten, aber mein Fahrrad steht im Parkverbot.«

»Ah.« Sie lachte. »Nun, das ist natürlich ein Problem. War die Ausstellung denn noch schön? Wie war die Rede vom Galeristen?«

»Naja.« Er zuckte die Schultern. »Das Übliche. Ziemliches Geschwurbel zum Wohle der lieben Graf.«

»Ah, ja, Geschwurbel …«, wiederholte Josefa.

»Bist du hier gefesselt? Oder darfst du einen Augenblick vor die Türe?«

»Oh, ich, ich kann jederzeit mal ne halbe Stunde verschwinden, ich sage einfach … Also, ich habe hier einen Chip, und dann logge ich mich aus … Habe ja genug Überstunden, ich muss nur Bescheid sagen, also kurz mal fragen … oh Gott, bist du wirklich in die Bürostadt gekommen, um eine Bürotussi …«

»Eine umwerfende Bürotussi jedenfalls, hat mich gestern vom Hocker gerangelt, sozusagen; dafür verdient sie jetzt eine Eiscreme.«

»Ja, wirklich?«

»Unbedingt!«

Josefa holte ihre Handtasche, sagte Elfi Bescheid und folgte ihm. Überrumpelt.

Der Ritter der Schwerter hatte sie eingeladen in ein Eiscafé in der Alt-Bretzenhainer-Straße, nicht weit vom Blumenladen, der einzigen Straße, die einen in diesem unwirtlichen Vorort mit Frankfurt versöhnte. Wenn man sich anstrengte und den Hals verdrehte, sah man sogar zwischen zwei Häuserwänden winzig und glitzernd den Main vorüberfließen. Auf dem Metalltisch standen eine verknickte Speisekarte mit einem verblassten Kiwibecher und eine Tulpe, doch die Tulpe sollte nicht alleine bleiben. Albert überreichte ihr lächelnd ein Sträußlein Maiglöckchen.

Josefa war überrumpelt, dann verzückt, hingerissen und rettungslos verloren. Jetzt schon. Der Übermut von gestern war verschwunden, von nun an galt jeder Moment dem Erhalt und der Verlängerung dieses romantischen Augenblicks. Mein Gott, es waren Maiglöckchen und keine dunkelroten Rosen. Doch die Maiglöckchen bedeuteten tausendmal mehr. Mehr als alle blühenden Blumenmeere im Laden nebenan. Womöglich. Josefas Nase versank in den winzigen, zitternden Kelchlein und der Duft war süßer als der ihres ersten Parfüms am dreizehnten Geburtstag; er stieg ihr zu Kopf wie der erste Schluck Wein im Sommer am See. Vor Süße und Schwindel musste sie beinahe husten. Albert lächelte überzärtlich. Unangebracht überzärtlich für diesen Moment, während Josefa unangebracht überverliebt in ihr Sträußchen starrte. Die Maiglöckchenwolke hatte ihr Hirn so schlagartig vernebelt, als hätte sie Klebstoff geschnüffelt.