Arnis - Tödliche Dämonen - Olaf Wegermann - E-Book

Arnis - Tödliche Dämonen E-Book

Olaf Wegermann

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Beschreibung

Nach einer Nacht am Liebesstrand wird das junge Paar Jule Lehmann und Simon Berger vermisst. Kurz danach präsentiert das LKA Kiel den zurückgebliebenen Alexander Rieber als geständigen Täter, Zweifel bleiben. Sechs Jahre nach dessen Verurteilung beginnt das Wiederaufnahmeverfahren gegen ihn und versetzt Kappeln und die Region in Aufruhr. Hinzu kommen ausgerechnet kurz vor Weihnachten Anschläge von Klima-Terroristen auf die Infrastruktur. In dem entstehenden Chaos aus alten und neuen Mordfällen, Stromausfällen und Anfeindungen aus der Bevölkerung müssen Volker Theissen und sein Team tief in der Vergangenheit wühlen, um dem Verantwortlichen auf die Spur zu kommen - und der zögert nicht, auch die Polizei selbst zu attackieren, um sein Geheimnis zu bewahren.

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Veröffentlichungsjahr: 2025

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Inhaltsverzeichnis

Zum Buch

Handelnde Personen

Prolog

16. Juni

Anfang Oktober

Dienstag, 19. Dezember

Mittwoch, 20. Dezember

Schlei-Nachrichten – Online-Sonderausgabe

Freitag, 22. Dezember

Sonnabend, 23. Dezember

Heiligabend

Erster Weihnachtsfeiertag

Mittwoch, 27. Dezember

Donnerstag, 28. Dezember

Silvester

Dienstag, 02. Januar

Mittwoch, 03. Januar

Donnerstag, 04. Januar

Hansestadt Hamburg

Freitag, 05. Januar

Sonnabend, 06. Januar

Sonntag, 07. Januar

Montag, 08. Januar

Dienstag, 09. Januar

Mittwoch, 10. Januar

Donnerstag, 11. Januar

Freitag, 12. Januar

Montag, 15. Januar

Frühling

Dienstag, 07. Mai

Mittwoch, 08. Mai

Donnerstag, 09. Mai

Freitag, 10. Mai

Sonntag, 12. Mai

Montag, 13. Mai

Dienstag, 14. Mai

Donnerstag, 16. Mai

Freitag, 17. Mai

Montag, 20. Mai

Der Autor Olaf Wegermann

Olaf Wegermann Scheimünde – Mord am Meer

Olaf Wegermann Kappeln – Mörderische Jagd

Sparkys Edition

Zum Buch

Nach einer Nacht am Liebesstrand wird das junge Paar Jule Lehmann und Simon Berger vermisst. Kurz danach präsentiert das LKA Kiel den zurückgebliebenen Alexander Rieber als geständigen Täter, Zweifel bleiben. Sechs Jahre nach dessen Verurteilung beginnt das Wiederaufnahmeverfahren gegen ihn und versetzt Kappeln und die Region in Aufruhr. Hinzu kommen ausgerechnet kurz vor Weihnachten Anschläge von Klima-Terroristen auf die Infrastruktur. In dem entstehenden Chaos aus alten und neuen Mordfällen, Stromausfällen und Anfeindungen aus der Bevölkerung müssen Volker Theissen und sein Team tief in der Vergangenheit wühlen, um dem Verantwortlichen auf die Spur zu kommen und diese zögern nicht, auch die Polizei selbst zu attackieren, um ihr Geheimnis zu bewahren.

Alle Rechte unterliegen dem Urheberrecht.

Verwendung und Vervielfältigung von Text und Bild nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.

E-Mail: [email protected]

Lektorat: David Engels, Lektorat Rohlmann und Engels Korrektorat: David Engels, Lektorat Rohlmann und Engels Coverfoto: Ralf Urbschat

Umschlaggestaltung: Fred Münzmaier

© 2025 Sparkys Edition

Herstellung und Verlag: Sparkys Edition,

Zu den Schafhofäckern 134, 73230 Kirchheim/Teck Druck: Stückle Druck Ettenheim

Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.

Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie;

detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über

http://dnb.d-nb.de abrufbar. ISBN: 978-3-949768-33-0

Olaf Wegermann

Arnis

Tödliche Dämonen

Theissens 3. Fall

Krimi

Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Geschehnissen oder Institutionen sind reiner Zufall.

Handelnde Personen

Volker Theissen – Dienststellenleiter der Kappelner Polizei

Dr. Andrea Mayer – Rechtsmedizinerin und Theissens Freundin

Werner Müller – Dienstältester Kriminalbeamte in Kappeln Martina Schüppel – Kriminalbeamtin in Kappeln

Jochen „Mojo“ Marxer (Moped-Jochen) – Architekt und Martinas Freund

Anna Hansen – Versicherungsexpertin und Martinas beste Freundin

Jule Lehmann – Vermisste Schülerin

Simon Berger – Vermisster Schüler und Jules Freund

Dr. Justus Heinz – Polizeidirektor der Schleswig-Holsteinischen Polizei

Alexander Rieber – Verurteilter Gewaltverbrecher Regina Rieber – Alexanders Mutter

Roland „Birke“ Birkholz – Riebers Nachbar

Daniela Wittmann – geb. Rieber, Psychologin, Psychiaterin und Reginas Schwester

Robert Wittmann – Daniela Wittmanns Sohn Marvin Jager – Psychologe aus Kiel

Albert Henke – Streetworker in Kiel

Jörg Sönnichsen – Innenminister Schleswig-Holstein Dr. Mechthild Kaminski – Staatsanwältin in Flensburg

Man soll die Dinge so nehmen, wie sie kommen. Aber man sollte auch dafür sorgen, dass die Dinge so kommen, wie man sie nehmen möchte.

Curt Goetz

Für meine Leserinnen und Leser

Herzlichen Dank an Hubert, Miriam, Sabine, Volker, Fred, Ralf, allen Freunden und Helfern

Herzlichen Dank an Herrn Ledwina Herzlichen Dank an Herrn Engels vom Lektorat

Rohlmann & Engels

Prolog

Im

Im Gedächtnis steht geschrieben immer und für alle Zeit Erinnerungen die geblieben

und die für alle Ewigkeit Erinnerungen sind nicht löschbar nur schlechte die zerbröseln sich die guten sind in Stein gemeißelt und halten sicher ewiglich

Das Gedächtnis prägt dein Leben führt dich durch die ganze Zeit mit den Höhen und den Tiefen gehst du durch die Wirklichkeit

© Gerhard Ledwina (*1949)

16. Juni

Strand („Liebesstrand“) am Ellenberger Holz

„Wir müssen weiter nach links, hinter dem hohen Gras ist ein besonders romanisches Plätzchen“, flüsterte sie ihm ins Ohr, blieb kurz stehen, drehte sich zur Seite, lächelte und winkte. Dann zog sie ihr Gegenüber wieder näher heran. „Hier sind noch zu viele Menschen. Gleich ist es dunkel, die letzten verlassen dann den Strand und wir werden von der Nacht verschluckt. Niemand wird uns stören.“ Der Junge umklammerte sie und lachte vergnügt. Schnell drückte sie ihre Hand auf seinen Mund.

„Du musst leise sein, sonst erregen wir zu viel Aufmerksamkeit und Neugierige folgen uns. Wir sind gleich da“, hauchte sie ihm zärtlich zu und zog ihn hinter sich her.

Vorsichtig drückte sie mit der freien Hand das hohe Schilfrohr beiseite und tastete sich voran. Ein aufgebrachtes Entenpaar schimpfte über die abendliche Störung und rannte durch den nun niedrigeren Bewuchs zum Wasser. Plötzlich erreichten sie einen winzigen Strand mit hellem feinem Sand. Nur ein paar Meter breit und von dichter Flora umgeben.

Gut versteckt begannen sie sich zu entblößen und gaben sich ihrer Liebe hin. Gleichmäßig plätscherte das Wasser der Schlei ans Ufer. Leise stöhnte sie auf, warme Schauer durchzuckten ihren Körper. Ihre Beine umschlangen sein Becken und zogen ihn zu ihr.

Ihr Freund keuchte über ihr, in der Ferne vernahmen sie ein Kinderlied. Das Rascheln der am Ufer stehenden Laubbäume übertönte den dumpfen, harten Schlag. Im Nu war seine Körperspannung verflogen.

„Was ist los, mein Schatz, kannst du nicht mehr?“ Ihre Hände wanderten seinen Rücken hinauf und spürten eine warme Flüssigkeit. Irritiert betrachtete sie ihre blutverschmierten Finger. Fast zeitgleich glitt er benommen von ihr, rollte zur Seite und blieb liegen.

Bevor sie schreien konnte, stürzte sich eine dunkel gekleidete Person auf die junge Frau. Mit Mühe wehrte sie den ersten Angriff ab, rammte dem Angreifer das Knie in den Unterleib, sprang auf und lief zum Wasser. Die dunkle Gestalt versperrte ihr alle anderen Fluchtwege und holte sie mühelos ein, zerrte sie aus der Schlei und machte Anstalten, sein Werk zu vollenden.

Anfang Oktober

Justizvollzugsanstalt Flensburg

Nur wenige Erinnerungen an Kindheit und Jugend waren geblieben. Die Gedanken an längst vergangene Zeiten verschwammen zu einem undurchdringlichen Dickicht. Immer seltener entführten ihn seine Illusionen ins Reich der Vergangenheit, immer matter wurden die Gedanken an Familie, Freunde und Nachbarn.

Doch ein Traum beschäftigte ihn seit Jahren. Die in unregelmäßigen Abständen wiederkehrenden Visionen begannen mit unerträglichen, abendlichen Kopfschmerzen. Fieberschübe vernebelten seine Gedanken, eine bleierne Müdigkeit zog ihn ins Reich der Phantasien. Er kannte die Anzeichen bereits und stemmte sich mit ganzer Kraft dagegen. Er fing an, in seinen alten, vergilbten Comics zu blättern. Trotz seiner Einschränkungen kannte er sie auswendig und somit sorgten sie nicht für die nötige Zerstreuung.

Nach dutzenden Liegestützen und Kniebeugen gab er schließlich auf: Jegliche Gegenwehr war zwecklos, das Pochen des Pulses im Ohr wurde lauter und raubte ihm die Kraft zur Gegenwehr. Er legte sich aufs Bett, löschte das Licht und ergab sich seinem Schicksal. Er rollte sich fest in die Bettdecke und zog sie bis unter das Kinn. Allmählich driftete er ab.

Ein dichter, grauer Nebel versperrte ihm die Sicht. Zögernd ging er auf die Schwaden zu und versuchte sie mit den Händen beiseitezuschieben. Seine Arme wurden von der dunklen Masse regelrecht verschluckt. Unsicher tastete er nach Halt. Er hatte Angst, in ein Loch zu fallen, und blieb stehen. Ein starkes Gewitter kündigte sich an. Doch die Hitze der ersten Blitze verbrannte den dichten Schleier. Nach und nach wurde es klarer. Ein letztes Flimmern, dann öffnete sich der Vorhang. In einer kargen Wohnküche stand ein kleiner, weißer Tisch, drei mit rotem Kunstleder bezogene Stühle und eine gleichfarbige Eckbank. Die schlichte Küchenzeile stammte aus längst vergangenen Zeiten, die orange Tapete verlieh dem Raum Wärme. Über dem Esstisch hing eine schwach leuchtende Lampe und konzentrierte die wenigen Strahlen auf einen fast vertrockneten Blumenstrauß

Ein Junge saß in einem Kinderstühlchen und löffelte zufrieden seinen Brei. Als er satt war, klatschte er in die Hände. Eine laute, tiefe Stimme befahl ihm, endlich aufzuessen. Der Junge spielte mit den Löffelchen im Brei und schob den Teller von der im Stuhl integrierten Tischplatte. Zusammen mit dem Inhalt landete es auf dem Fußboden. Das Kind lachte nur kurz, dann schrie ihn eine Stimme an. Ängstlich hielt sich der Kleine die Hände vors Gesicht und begann zu weinen. Ein verstohlener Blick nach draußen, die ockerfarbenen Vorhänge hinter der Eckbank wurden zugezogen. Der erste Schlag warf den Stuhl fast zu Boden. Hilfloses Kreischen des Knaben folgte. Jemand zerrte das Kind aus dem Stuhl und verließ mit ihm den Raum, dann wurde es still. Kurz darauf kehrte die Stimme in die Küche zurück und betätigte eine Spieluhr. Es folgte ein bekanntes Kinderlied, sofort veränderten sich Schauplatz und Szenerie.

In der Ferne stand eine Gestalt mit einem Messer in der Hand. Wer war es? Im Stakkato folgten Bilder mit blutverschmierter Kleidung, blutgetränkten Händen und frischen, roten Schuhabdrücken.

Sein Kopf drohte zu platzen. Mit den Fäusten hämmerte er gegen seine Schläfen und hoffte, so die Bilder zu vertreiben. Dann wurde ihm mehrere Sekunden schwarz vor den Augen. Neuerlicher Nebel zog auf. Luftig hell und viel freundlicher, der zweite Teil des Traumes folgte. Mühelos blies er diesmal den Nebel weg und offenbarte so dieses junge, attraktive Mädchen vor ihm, das lachte. So hübsch, sie konnte nicht von dieser Welt sein. Aus einer fernen Galaxie kommend, musste sie sich im Planeten geirrt haben und versehentlich auf der Erde gelandet sein. Er wollte sich ihr nähern, sie berühren und trat vorsichtig auf sie zu. Obwohl sie direkt vor ihm stand griff er ins Leere. Sie bestand nicht aus Fleisch und Blut – eine Fata Morgana? So nah und doch unerreichbar.

Dumpf vernahm er seine Fragen. Lächelnd kam sie näher und flüsterte ihm Unverständliches ins Ohr. Ihr Haar und ihre Haut rochen zart nach Mandelblüten, so einzigartig, auch mit verbundenen Augen hätte er sie unter tausenden am Geruch wiedererkannt. Sie drehte sich um und winkte zum Abschied, dann war sie verschwunden.

Panisch begann er, sie zu suchen. Bei ihr zu Hause, in der Schule, an geläufigen und auch fremden Orten. Bekanntes und Fiktives begannen zu verschmelzen. Eine Gruppe Jugendlicher stand auf dem begrünten Vorplatz eines dunklen Gebäudes. Schwer atmend erreichte er die Schüler und erkundigte sich nach ihrem Verbleib. Ungläubig starrten sie ihn an, beschimpften ihn und drohten ihm. Resigniert schüttelten sie ihre Köpfe, begannen zu weinen und trösteten sich gegenseitig. Alle wussten Bescheid. Er konnte nicht fassen, was er erfuhr, und suchte weiter. Im Hintergrund türmten sich neue Gewitterwolken auf.

Erleichtert fand er sie an einem kleinen, ihm wohlvertrauten Strand. Trotz der Dämmerung war es mild. Ein großgewachsener, gutaussehender Junge küsste sie und schmiegte sich an ihren liebreizenden Körper. Eifersucht stieg in ihm auf. Er wollte sie warnen und erntete ein mildes Lächeln. Umschlungen entfernte sich das Paar, dieses Mal winkte sie nicht zum Abschied. Am Ende des Strandes verschwanden sie im hohen Gras und wähnten sich unbeobachtet.

Mit schlechtem Gewissen folgte er ihnen. Anderen nachzustellen und sie heimlich zu beobachten, gehörte sich nicht, doch die Neugier überwog. Hinter ihm war der Mond aufgegangen, er erschrak vor seinem eigenen langen Schatten im Sand und duckte sich. Vorsichtig blinzelte er durch die Vegetation. Sie hatte ihr T-Shirt ausgezogen und öffnete langsam ihren BH. Der beinahe nackte Junge begann sie zu küssen. Nicht nur Mond und Sterne wurden Zeuge ihrer Liebe.

Erfolglos wollte er sich nähern. Je mehr er sich jedoch anstrengte, desto unklarer wurden die Bilder. Krampfhaft versuchte er den Traum festzuhalten, er wollte ihr helfen. Der Nebel wurde wieder dichter. Als er sein Ziel endlich erreichte, waren sie weg.

Auf der plattgedrückten Vegetation und im Sand fand sich Blut, zu viel Blut. Kniend suchte er mit den Händen im hohen Gras. In so kurzer Zeit konnten sie unmöglich verschwinden. Hektisch sprang er auf, lief zum Wasser und im Zickzack wieder zurück. An seiner Hose und den Händen klebte Blut. Die Szenerie stand im krassen Gegensatz zur eben erlebten Harmonie des sich liebenden, jungen Paares.

Leise vernahm er die Melodie einer Spieluhr. Bruder Jakob, Bruder Jakob, schläfst du noch? Schläfst du noch? Hörst du nicht die Glocken, hörst du nicht die Glocken? Ding, dang, dong, ding, dang, dong.

Bei der Wiederholung des Kinderliedes fiel er in einen sich immer schneller drehenden Trichter, bis er völlig die Orientierung verlor. Krampfhaft suchte er Halt, immer wieder griffen seine Hände ins Leere. Bevor er das Bewusstsein verlor, bremste starker Gegenwind seinen Fall. Mit einem Ruck drehte er seinen Körper und landete schließlich sanft auf seinen Füßen.

Die letzte Erinnerung zeigte ein schiefes Fachwerkhaus mit verwitterndem gelbem Klinker. Dieser Traum unterschied sich erheblich von den letzten, viel vageren Eingebungen. Erschöpft und schweißgebadet wachte er auf, trank aus der Plastikflasche und machte Licht. Minutenlang hielt er die Hände vors Gesicht und kämpfte mit seinen Gefühlen. Der Traum hatte alte Wunden aufgerissen. Er öffnete die schlichte Schublade der Nachttischkonsole, entnahm das dünne Ringbuch und den Kugelschreiber und blätterte bis zur nächsten freien Seite. Sorgfältig hielt er die spirituelle Reise fest, obwohl ihm das Schreiben Mühe bereitete.

Als er fertig war zählte er die Anzahl der Wörter seiner großen und klobigen Schrift, auf zwei DIN-A4-Seite hatte er Traum und Gedanken notiert. Lange zurückliegende Aufzeichnungen waren deutlich kürzer. Die wiederkehrende Vision gewann an Genauigkeit. Seine ganzen Erinnerungen hatte er in diesem einen Heft niedergeschrieben. Wie armselig, sein ganzes Leben passte auf ein paar Seiten! Fein säuberlich wickelte er das Büchlein in das vergilbte Zeitungspapier und legte es behutsam unter seine Comics.

Am Morgen bat er, telefonieren zu dürfen, und hatte Glück. Nicht alle Wärter waren gegen ihn und peinigten seine geschundene Seele. Es dauerte eine Weile, bis ihm ein kurzes Telefonat gestattet wurde. Zwei Aufseher der humanen Sorte brachten ihn in zum Telefonraum, ermahnten ihn zur Eile und ließen ihn allein.

„Hallo, Mutter, schön, dass ich dich erreiche. Wann kommst du mich besuchen? Meine Träume werden immer klarer und bringen mich der Wahrheit näher. Ich habe so viele Fragen, du erinnerst dich bestimmt viel besser an früher und weißt meine Träume zu deuten. So lange warte ich schon auf dich.“

„Mein Liebling, wir kämpfen für deine Freiheit. Vertraue mir und unseren Freunden. In den kommenden Tagen schaffe ich Klarheit und befreie die Vergangenheit aus ihrem Dornröschenschlaf. Danach melde ich mich bei der Gefängnisleitung und komme dich besuchen. Wir brechen mit dem alten Leben, lassen es hinter uns und beginnen ein neues.“ Ohne seine Antwort abzuwarten, legte die Frauenstimme auf.

„Ende der Veranstaltung!“ Ein Wärter riss ihn aus seiner Lethargie und brachte ihn wieder in seine Zelle.

Die Träume wiederholen sich, die Lügen auch, dachte er und legte sich auf die schmale Pritsche.

Dienstag, 19. Dezember

Flensburg, 08.00 Uhr

Regina Rieber und Roland Birkholz, Nachbar und einziger Freund ihres Sohnes, besuchten Alexander ein letztes Mal in der Flensburger Justizvollzugsanstalt. Der Kieler Rechtsanwalt Dr. Gerber wartete bereits vor dem Gefängnis auf seine Mandantin. Nach einer raschen, förmlichen Begrüßung bat er sie um eine Unterredung unter vier Augen. Roland Birkholz setzte sich derweil auf eine kalte Bank in einigen Metern Entfernung und begann zu rauchen.

„Guten Morgen, schön, Sie zu sehen. Ich habe alle nötigen Unterlagen bei mir, wir sind vorbereitet. Drinnen werden Sie die Sonnenbrille abnehmen müssen, die Beamten sind streng.“ Dr. Gerber wunderte sich über ihr verändertes Aussehen, interessierte sich aber nicht weiter dafür.

„Ja, natürlich, diese schreckliche Migräne macht mich lichtempfindlich und die dunklen Brillengläser helfen ein wenig. Mir ist hundeelend zumute.“ In ihrer Handtasche suchte sie nach Kopfschmerztabletten.

Dr. Gerber sah zu Roland Birkholz hinüber. „Frau Rieber, ich hatte nur für uns beide die Besuchserlaubnis beantragt. Trotz seiner Verdienste können wir Herrn Birkholz nicht zum Gespräch mitnehmen, damit gefährden wir die Unterredung mit Ihrem Sohn. Wieso haben Sie ihn überhaupt mitgebracht?“ Der Anwalt war über Birkholz’ Erscheinen irritiert.

„Das ist ja vollkommen klar. Wegen meiner hässlichen Migräne hat er sich als Chauffeur angeboten. Er kennt die Gefängnisstatuten und geduldet sich noch die wenigen Tage bis zu Alexanders Freilassung. Kommen Sie, wir werden erwartet.“ Regina Rieber hatte es plötzlich eilig.

Gerber klingelte an der Pforte und meldete sich an.

Das schwere, in dicken Betonmauern eingelassene, mit Stacheldraht gesicherte Stahltor wurde zur Seite geschoben und gab den Weg zum Innenhof der Justizvollzugsanstalt frei. Fast geräuschlos fiel das Tor hinter den beiden wieder ins Schloss. Eine rotblinkende Wandleuchte wies den Weg zum Besuchereingang.

„Moin! Bitte zeigen Sie mir Ihre Ausweise und legen Sie alle Gegenstände in die Schublade. Handy, Schlüsselbund, Portemonnaie – und nehmen Sie bitte auch die Gürtel ab. Das Mitbringen von Speisen und Getränken ist untersagt, Sie haben jedoch die Möglichkeit, am Automaten Getränke und Snacks zu erwerben und in den Besprechungsraum mitzunehmen. Mitgebrachte Sachen können Sie bei mir zwischenlagern.“ Der Vollzugsbeamte zeigte mit der Hand in das geöffnete Fach unter der dicken Glasscheibe. „Frau Rieber, Ihr letzter Aufenthalt bei uns ist lange her. Ich hoffe, Ihnen geht es gut.“ Er protokollierte ihren Besuch im Tagebuch und begleitete die Besucher zum Inhaftierten ins Besprechungszimmer.

Ruhelos rutschte Alexander auf seinem Stuhl hin und her und wartete auf seine Mutter. Die zuckenden Augenlider verrieten seine Anspannung. Gab es endlich den erhofften Durchbruch oder wurde er erneut enttäuscht? Anwälte, Gutachter und wechselnde Ermittler hatte er über sich ergehen lassen müssen und immer wieder die gleichen Fragen zu beantworten. Weiter gekommen waren sie nicht.

Dr. Gerber gönnte den beiden ein paar Minuten für sich und bereitete sich darauf vor, mit seinem Mandanten die letzten Formalitäten zu klären.

„Hallo, mein Junge, wie geht es dir? Erkennst du mich?“ Frau Rieber hatte ein schlechtes Gewissen. Alexander hatte sich verändert, abgenommen und mit dem Krafttraining begonnen. Mit seinen kürzeren Haaren wirkte er reifer als bei ihrem letzten Treffen.

„Natürlich erkenne ich dich, du bist meine Mutter. Seit wann trägst du die Haare blond? Es macht dich jünger und steht dir ausgezeichnet!“ Während er sprach, hatte sich seine Mutter umgesehen und ihn angeblinzelt.

„Alexander, bald bist du frei. Wir haben es fast geschafft. Selbst die Staatsanwaltschaft glaubt inzwischen an deine Unschuld, doch nur wir beide kennen die Wahrheit und schweigen wie ein Grab!“ Alexander hielt sich den Zeigefinger senkrecht vor den Mund und tat, als kratzte er sich die Nase. Dr. Gerber stand unvermittelt neben ihnen, blickte zur Uhr und bat darum zu übernehmen. „Wie darf ich das verstehen?

Nur Sie kennen die Wahrheit, ich etwa nicht?“

„Herr Dr. Gerber, die Kopfschmerzen werden immer stärker. Bitte regeln Sie den Rest ohne mich, herzlichen Dank. Tschüss, mein äh – Liebling.“ Ohne weitere Erklärungen verließ sie das Besprechungszimmer und die Justizvollzugsanstalt. Draußen wartete Roland und blickte Regina fragend an. „In ein paar Tagen kommt er frei, vielen Dank für deine Hilfe!“ Glücklich fielen sie sich in die Arme und rasten davon.

Nach einer kurzen Pause setzte sich Dr. Gerber zu seinem Mandanten. Für die Entlassung aus der Justizanstalt waren weitere Schriftstücke zu unterschreiben und das Leben in Freiheit zu organisieren. „Alexander, Sie wissen, warum ich hier bin? Es gibt neue Beweise und das Gericht zweifelt die Rechtmäßigkeit der damaligen Vernehmungsmethoden an. Damit ist die Gültigkeit Ihres Geständnisses infrage gestellt. Sie haben jetzt die Möglichkeit, zu widerrufen und einen Antrag auf Wiederaufnahme des Verfahrens zu stellen. Ihre Mutter hatte mich beauftragt, ein solches Verfahren zu erwirken. Ich denke, wir haben mit dem Antrag gute Chancen. Trotzdem müssen Sie mir noch mal ein paar Fragen beantworten.“

Alexander nickte bereitwillig.

„Wie war Ihr Verhältnis zu Jule Neumann?“ - „Es gab leider keins,“ antwortete Alexander Rieber.

„Hätten Sie gerne eines gehabt? Wie waren Ihre Gefühle zu ihr?“

„Ich habe sie geliebt.“ Rieber kannte die Fragen und Gerber die Antworten auswendig. „Stellten Sie ihr nach und töteten sie, war unerfüllte Liebe das Motiv?“ In Dr. Gerber rumorte es, doch er blieb professionell.

„Nein, ich tue niemandem etwas und möchte nur meine Ruhe.“

„Warum haben Sie den Doppelmord an dem jungen Paar dann gestanden?“

Rieber schüttelte den Kopf. „Über Stunden wurde mir jedes Wort im Mund umgedreht und so lange eingehämmert, ich sei der Mörder sei, bis ich es selbst geglaubt habe.“

„Wer hatte Sie befragt, erinnern Sie sich an Namen? War es das Landeskriminalamt?“

Rieber zuckte die Schultern. „Macht es einen Unterschied? Landespolizei oder LKA, die haben sich nicht vorgestellt.“

„Die damaligen Suggestivfragen reichen für ein Wiederaufnahmeverfahren allein nicht aus. Ermittlungsbehörden und Justiz geben nicht gern Missstände zu und werden auf Ihr damaliges Geständnis beharren. Wir konnten der Staatsanwaltschaft neue Beweise vorgelegen und von der Richtigkeit des neuerlichen Verfahrens überzeugen. Ich habe die nötigen Dokumente unterschriftsbereit dabei. Hiermit bevollmächtigen Sie mich das Wiederaufnahmeverfahren zu beantragen und zu unterschreiben.“ Dr. Gerber reichte ihm das erste Schriftstück und den Kugelschreiber. Nach Alexanders Unterschrift legte er ihm ein weiteres Dokument vor.

„Damit widerrufen Sie alle vorigen Aussagen, vor allem das Geständnis.“ Dr. Gerber tippte mit dem Finger auf das Unterschriftsfeld. Ungelenk unterzeichnete Alexander Rieber den Antrag, lehnte sich zurück und fragte: „Sie glauben, das Ganze bringt etwas?“

„Wenn Sie nicht der Mörder sind, wird die Wahrheit siegen. Apropos, was meinte Ihre Mutter damit, dass nur Sie beide die Wahrheit kennen würden?“

„Da müssen Sie sich gründlich verhört und etwas missverstanden haben.“ Alexander zuckte die Schultern. „Sie meinte bestimmt, die Wahrheit kommt ans Licht und ich bald frei. Mütter sind so emotional!“

Dr. Gerber hatte leise Zweifel, bedankte sich für die Unterschriften, verließ die Justizvollzugsanstalt und fuhr zum Oberlandesgericht. Auf dem Rückweg spielten seine Gedanken verrückt. Das ganze Wiederaufnahmeverfahren stand auf tönernen Füßen. Wurde er zum Opfer seiner Gutgläubigkeit und systematisch von den Riebers für ihre Zwecke missbraucht? An die Konsequenzen traute er sich kaum zu denken! Nicht auszumalen, welchen enormen Imageschaden die Kanzlei, vor allem aber er persönlich, zu verkraften hätten.

Verworfene und widerlegt geglaubte Theorien traten wieder hervor. Hatten ihn alle getäuscht, wurde er Opfer einer Verschwörung? Es sei denn …

Mittwoch, 20. Dezember

Glücksburg. 9.00 Uhr

Wenige Kilometer von der Flensburger Justizvollzugsanstalt entfernt, freuten sich Dienstellenleiter Volker Theissen und die Rechtsmedizinerin Dr. Andrea Mayer auf ruhige Weihnachten und ungestörte Zweisamkeit. Während des Frühstücks planten sie ihre Freizeitgestaltung und suchten im Netz nach Konzerten und Ausstellungen in ihrer Nähe. Ein stressiges Jahr ging zu Ende und nun galt es, die letzten vorweihnachtlichen Hürden zu meistern. Kosmopolitisch hatte das Flensburger Klinikum für 14.00 Uhr zur Winterzauberfeier geladen, die Kieler Polizeidirektion eine Stunde später zur Adventsfeier. Neben den Dienststellenleitern und weiteren leitenden Beamten waren auch Gäste des öffentlichen Lebens geladen.

Andrea nahm sich vor, die freie Zeit bis zur Feier zu nutzen und in der Stadt nach Weihnachtsgeschenken zu stöbern. Volker war einen Schritt weiter und wollte die bestellte Halskette in der Kieler Innenstadt abholen.

Die 32-jährige drahtige Ärztin stammte aus der nördlichsten Stadt Deutschlands, lebte seit Jahren in Glücksburg-Sandwig und hatte vor wenigen Jahren die Leitung der Flensburger Rechtsmedizin übernommen. Fast zeitgleich wurde dem 36-jährigen Volker Theissen die Leitung des Kappelner Polizeireviers angeboten. Kurzentschlossen sagte er zu und zog ins knapp 15 Kilometer entfernte Gelting.

Während seines ersten Falls in Kappeln hatten die beiden einander kennengelernt. Die Rechtsmedizinerin hatte eine in der Ostsee gefundene Leiche untersucht und der Polizei bei der Aufklärung des schaurigen Falls geholfen. Der neue Dienststellenleiter war für jede Hilfe dankbar. Während des zweiten gemeinsamen Kriminalfall waren sie sich einander nähergekommen, und seit sieben Monaten ein Paar. Bis zu den Weihnachtsfeiern bummelten die beiden Überstunden ab und genossen die Gelegenheit für ein gemeinsames Frühstück.

Üblicherweise führte Volkers morgendlicher Arbeitsweg zuerst zu Walthers Kiosk kurz vor Kappeln. Die Fahrt nach Kiel würde ihn auch heute durch das pittoreske Städtchen führen. Doch der morgendliche Kaffee und der kurze Austausch mit Walther würden die nächsten Wochen ausfallen, im Winter zog es den Kioskbesitzer in den Süden. Die kalte Jahreszeit verbrachte er bei Freunden auf Gran Canaria und seine Bude blieb geschlossen.

Theissen freute sich, im Warmen Kaffee trinken zu können, saß in der Küche und las die Online-Nachrichten. Nach den Informationen aus aller Welt überflog er den Lokalteil, bis er über eine Schlagzeile stolperte. Neugierig begann er einen Artikel der Schlei-Nachrichten zu lesen.

Schlei-Nachrichten – Online-Sonderausgabe

Justizskandal erschüttert die Region

Bis heute schlägt der Fall hohe Wellen. Alexander R. aus Kappeln war im Jahr 2018 in einem spektakulären Prozess zu neun Jahren Haft wegen Totschlags an der damals 17-jährigen Jule Lehmann und dem 18-jährigen Simon Berger verurteilt worden.

Trotz des Verbrechens hat der Strand am Ellenberger Holz, für manche auch einfach nur der „Liebesstrand“, nichts an Beliebtheit eingebüßt. Junge Leute treffen sich dort zum Feiern und Frischverliebte freuen sich über dessen Abgeschiedenheit.

In der Nacht des 16. auf den 17. Juni 2017 wurde der Strand jedoch zum Schauplatz eines unvorstellbaren Gewaltverbrechens. Am Morgen des 17. Juni hatten Angehörige die beiden Schüler aus Kappeln vermisst gemeldet und später am Tag sichergestellte Kleidungsstücke identifiziert. Die DNA konnte eindeutig den Opfern zugeordnet werden. Vor allem das Fehlen der Minderjährigen Jule Lehmann beschleunigte die Suche durch Polizei, Feuerwehr und das Technische Hilfswerk. Mitglieder der Kirchengemeinden, Vereine und etliche private Helfer schlossen sich der erfolglosen Suche nach den Jugendlichen an.

Das zuständige Revier in Kappeln übernahm die Ermittlungen, doch der Fall landete ungewöhnlich schnell beim LKA in Kiel. Sofort geriet Alexander R., wohnhaft auf Dothmark, einem Viertel auf der Angeliter Seite der Stadt, in den Fokus der Ermittlungen und wurde bereits einen Tag nach dem Verschwinden der Jugendlichen verhaftet.

In seinem Zimmer fanden die Ermittler Unterwäsche und weitere persönliche Gegenstände der vermissten Jule Lehmann. Am Strand sichergestellte Schuhabdrücke konnten dem Verdächtigen zugeordnet werden. Bilder in allen Größen wurden sichergestellt, aus denen hervorging, dass er die Vermisste über Monate gestalkt und heimlich fotografiert hatte. Noch schwerer wiegten die Drohungen gegen Jules männlichen Freundeskreis. Laut Zeugen hatte er der jungen Frau nachgestellt und ihre Nähe gesucht. Diese zeigte kein romantisches Interesse an Alexander R. und versuchte eine platonische Freundschaft aufzubauen.

Nach der Festnahme ordnete der zuständige Ermittlungsrichter des Amtsgerichtes Flensburg die Untersuchungshaft gegen den damals 18 Jahre alten Verdächtigen wegen des dringenden Tatverdachtes, das junge Paar getötet zu haben, an. Der Antrag auf Aussetzung des Haftbefehls wurde abgelehnt, der Richter stellte neben der Schwere des Deliktes Verdunklungs- und Fluchtgefahr fest und wollte die Anwesenheit des Beschuldigten im Strafverfahren sicherstellen. Wohin sich der Angeklagte ohne gültige Fahrerlaubnis hätte absetzen sollen, blieb offen. Die Verhältnismäßigkeit der U-Haft wurde dennoch festgestellt. Der heute 25-jährige Alexander Rieber arbeitete bis zu seiner Inhaftierung in einer überregionalen Einrichtung in Kappeln und lebte noch bei seiner Mutter.

Trotz der vielen Indizien blieben Fragen nach dem genauen Tathergang und Verbleib der Jugendlichen offen. Ungeachtet der Ungereimtheiten gestand der Angeklagte den Mord am jungen Paar, auf Anraten seines Anwaltes widerrief er dies allerdings vor Kurzem. Der vom Gericht eingesetzte Gutachter bescheinigte Alexander Rieber einen verminderten Intelligenzquotienten und hohe Gewaltbereitschaft.

Laut Statistik stammen die meisten Tatverdächtigen aus festen Beziehungen, Partnerschaften, Familien oder dem Freundeskreis. In welchem Umfang die Angehörigen und das soziale Umfeld der Opfer geladen und durch die Ermittler vernommen wurden, blieb bis zuletzt unklar.

Nach der dreimonatigen Untersuchungshaft begann der Strafprozess und nach lediglich 30 Verhandlungstagen sah das Gericht die Schuld des Angeklagten als erwiesen an und verurteilte ihn zu einer neunjährigen Haftstrafe wegen Totschlags. Die Zweifel an seinem Geständnis blieben, die Leichen der Jugendlichen wurden nie gefunden.

Das Verfahren wurde inzwischen wieder aufgenommen, Hinweise auf eine suggestive Befragung verdichteten sich. Wurden dem Angeklagten vor der Vernehmung seine Rechte vorgelesen und hatte er diese ohne anwaltlichen Beistand tatsächlich verstanden? Erkannte der Beschuldigte, der schlecht lesen und schreiben konnte, die Tragweite seiner Aussage?

Damalige Zeugenaussagen erwiesen sich als nicht belastbar und durch weitere DNA-Extraktionen konnte zusätzliches Erbgut sichergestellt werden. Die neue Beweislage könnte zum Freispruch führen.

Für die Staatsanwaltschaft muss ein Geständnis plausibel sein und zwingend Täterwissen beinhalten. Beides fehlte Mechthild Kaminski, der aktuellen Staatsanwältin, in Riebers Aussagen. Zum Verbleib der Jugendlichen konnte der Angeklagte keine Angaben machen. Kaminski erreichte beim zuständigen Gericht ein Wiederaufnahmeverfahren und die zeitnahe Freilassung des Verurteilten.

Volker Theissen hatte den aufsehenerregenden Prozess nur aus der Distanz verfolgt, seine damalige Wirkungsstätte an der Westküste war nicht involviert gewesen und der Fall nicht Mittelpunkt seines Interesses. Ohne weiterreichende Ermittlungserkenntnisse konnte er die Haftentlassung und die neuerliche Beweisaufnahme im Fall Alexander Rieber nicht beurteilen. Dennoch machte er sich Sorgen. Wie würde die Bevölkerung auf dessen Freilassung reagieren? Hatte er noch Angehörige in Kappeln? Theissen durchsuchte diverse Polizeiprogramme und fand Regina Rieber, Alexanders Mutter. Er musste dringend mit ihr telefonieren.

Nach dem Lokalteil und einer weiteren Tasse Kaffee ging er nach oben und fand seine Freundin im Bad. „Andrea, ich muss dann auch langsam los, habe noch so einiges vor.“

„Natürlich, was gibt es denn so Wichtiges zu erledigen?“, erkundigte sich Andrea neugierig.

„Kein Kommentar, ich schweige wie ein Grab.“ Theissen hielt sich demonstrativ die Hand vor den Mund. „Berufsbedingt weiß ein Kommissar Geheimnisse zu hüten. Viel Spaß bei deiner Feier, grüß mir bitte deine Kollegen. Ich freue mich auf unseren Abend, gegen 21.00 Uhr sollte ich wieder hier sein.“ Volker küsste sie sanft auf die Wange und gab ihr einen Klaps auf den Po.

Vor Wochen hatte Volker in der Kieler Holstenstraße hübschen Schmuck entdeckt, heimlich Andreas Ketten vermessen und eine mit Perlen beim Juwelier bestellt. Zu ihren schulterlangen braunen Haaren und dunkelbraunen Augen sollte das helle Perlmutt perfekt passen.

Von unterwegs wählte er Regina Riebers Nummer. „Rieber?“ - „Guten Tag, Frau Rieber, Volker Theissen, Dienststellenleiter der Kappelner Polizei am Apparat.“ Regina Rieber war irritiert. „Moin, erscheint die Polizei nicht mehr persönlich und ruft stattdessen einfach an?“

Theissen fühlte sich ertappt und beschwichtigte: „Sie haben vollkommen recht, können wir eine Ausnahme machen? Sie rufen die Kappelner Dienststelle an und lassen sich zu mir durchstellen?“ Eine Minute später wurden sie verbunden.

„Moin, Frau Rieber, danke für den Rückruf. Ich möchte mich gerne über Ihren Sohn Alexander unterhalten, haben Sie ein paar Minuten?“

Regina Rieber atmete schwer, zögerte lange, willigte aber ein. „Gut, fangen Sie an.“ Ruhig begann er zu fragen. „Frau Rieber, die Zeitungen berichten über Alexanders Freilassung und das Wiederaufnahmeverfahren. Wurde er bereits entlassen und wo wird er künftig wohnen?“

Alexanders Mutter ließ sich Zeit. Mit fester Stimme und Bedacht antwortete sie: „Morgen oder am Freitag wird er entlassen und nach Kappeln gebracht. Bis er eine eigene Wohnung gefunden hat, bleibt er bei mir. Sein Kinderzimmer ist noch komplett möbliert. Trotzdem habe ich das Gericht gebeten, ihn ein, zwei Tage nach dem Beschluss zu entlassen, ich habe noch so viele Vorbereitungen zu treffen.“

Theissen war mit dem Gesprächsverlauf zufrieden, Frau Rieber war kooperativ. „Hat er bereits etwas in Aussicht? In Kappeln gibt es so gut wie nichts Bezahlbares.“

„Leider nein, mal sehen, wie lange er bei mir bleiben muss. Mit Mitte zwanzig braucht er natürlich eine eigene Bleibe. Wissen Sie, unser Verhältnis war nicht immer ungetrübt. Ich hoffe, wir verstehen uns heute, nach all den Jahren, besser. Ich war ihm keine gute Mutter und konnte ihn nicht ausreichend schützen, all die spirituellen Sitzungen und die Gewalt.“ - „Von welcher Gewalt sprechen Sie?“ Theissen hatte ein ungutes Gefühl.

Regina Rieber wiegelte ab. „Merkwürdige Dinge geschahen, geheime Treffen, Drohungen und Schläge. Ich habe vage Vermutungen, aber kaum Beweise. Wir sollten uns mal treffen, am Telefon möchte ich nicht darüber sprechen. Im neuen Jahr? Die ersten Tage möchte ich mit meinem Sohn verbringen.“

Theissen hatte auf ein früheres Gespräch gehofft, akzeptierte jedoch Riebers Anliegen. „Melden Sie sich bitte bald, dann komme ich gerne zu Ihnen und wir besprechen alles in Ruhe. Das Wiederaufnahmeverfahren und die erneute Beweisaufnahme bringen natürlich weitere Befragungen mit sich. Die neuen Ermittler müssen Alexander erneut vorladen und vernehmen, aber vorher tauschen wir uns aus. Schöne Feiertage!“ Theissen beendete das Gespräch und hatte das Gefühl, die Riebers nach Alexanders Entlassung vor der Öffentlichkeit schützen zu müssen. Er gönnte den beiden das gemeinsame Weihnachtsfest und hoffte auf ein friedliches.

Er erreichte Kiel und ging zum Juwelier. Die Verkäuferin erwartete ihn bereits, zeigte ihm die Kette und lobte seinen exquisiten Geschmack. Der hatte natürlich seinen Preis. Theissens Gehalt und seine Ersparnisse boten ihm eine komfortable finanzielle Unabhängigkeit. Ohne hohe monatliche Belastungen konnte er es sich leisten, Andrea großzügig zu beschenken. Zufrieden mit sich und seiner Auswahl verließ er das Geschäft und fuhr zur Weihnachtsfeier.

Beide hatten schon lustigere Betriebsfeiern erlebt. Die Chef-etage nutzte die Gelegenheit zum Jahresrückblick und der Vorausschau. Die Sparmaßnahmen und der drohende Personalabbau lasteten auf der Klinik und trübten die Stimmung. Andrea entschuldigte sich unter einem Vorwand und verschwand.

In Kiel war es nicht besser, die Selbstdarstellung des Schleswig-Holsteinischen Polizeidirektors Dr. Heinz verhagelte den Beamten die Feierlaune. Zum Dank erhielten diese eine persönlich überreichte Polizei-Umhängetasche mit Weihnachtsgrüßen, Schreibblock und Lebkuchen.

Als Theissen an der Reihe war, flüsterte Dr. Heinz: „Herr Theissen, für Sie habe ich eine besondere Überraschung, bitte sehen Sie sich den Inhalt des Beutels heute oder morgen mal genauer an.“

Theissen hatte nach dem offiziellen Teil die Gelegenheit genutzt und die Flucht ergriffen. Die geladenen Gäste aus Politik, Wirtschaft und Sport durften sich auch ohne Fußvolk amüsieren und weiterfeiern. Dr. Heinz’ Ausführungen würden bis zum Ende der Veranstaltung dauern. Spätestens nach der ersten Stunde Selbstbeweihräucherung hatten auch die restlichen Polizeibeamte die Feier verlassen.

Früher als gedacht verbrachten die frisch Verliebten einen romantischen Abend mit Rotwein und leisem Jazz vor dem Kamin.

Freitag, 22. Dezember

Morgens in Schleswig-Holstein

Justitia, der Inbegriff von Prinzipien stand für Gerechtigkeit, Unparteilichkeit und Neutralität als Künstlernamen zur Wahl. Auch Dominique hatte es für die Verwirklichung des himmlischen Projektes in die engere Auswahl geschafft: dem Herrn zugehörig.

Angel wurde es schließlich. Nicht in Form der körperlosen und unsterblichen Gesandten, sondern als realer Bote mit Kontakt zu Menschen, der half und Weisungen erteilte. Keiner der frommen Erzengel, nicht im Namen des Herren und ohne Verkündung der frohen Botschaft. Ein Racheengel! Angel verstand sich als letzte Instanz. Die Bezeichnung wusste die wahre Identität zu verbergen.

Angel hatte die Organisation ins Leben gerufen und deren Ziele definiert. Angel war Kläger, Richter und Henker in einem und entschied über das Schicksal seiner Feinde. Niemand kannte das Geschlecht, das Alter, den Wohnort oder den richtigen Namen. Im bürgerlichen Leben stand Angel in der Mitte der Gesellschaft und hatte es beruflich mit unterschiedlichen Charakteren zu tun.

Noch wurde Angels Bewegung in der Öffentlichkeit kaum wahrgenommen. Angel benötigte keine zusätzliche Maskerade, der Beruf und die temporäre Zurückgezogenheit waren Tarnung genug und ließen keine Rückschlüsse auf das Doppelleben zu. Jahrelange Pein und Demütigungen verlangten Rache und Sühne. Angel hatte ein eigenes Reich geschaffen und hielt sich mit zunehmender Größe der Vereinigung für unantastbar.

Verunsicherte, von Minderwertigkeitskomplexen geplagte Menschen gab es in Hülle und Fülle, man musste sie nur finden, für sich gewinnen und für die eigenen Zwecke missbrauchen. Vor Monaten hatte Angel mit der Rekrutierung begonnen. Hilflose Kreaturen suchten den Sinn des Lebens. Familie und Freunde boten nicht immer Liebe und Halt. Viele wurden von ihren Liebsten vielmehr ausgegrenzt und ausgenutzt. Allzu oft waren es doch die am nächsten stehenden Personen, die einem das Leben versauten. Einmal in den Fängen der Organisation, schafften es die wenigsten wieder, zu entkommen. Die Anzahl an Schöffen oder auch Jüngern, wie Angel die armen Kreaturen nannte, stieg stetig.

Angel bot den gepeinigten Seelen Frieden, versprach Gerechtigkeit, beherrschte die Kraft des Wortes und bestritt ungewöhnliche Kommunikationswege. Neuerungen, welche es erlaubten, einzelne Mitglieder der Gruppe direkt zu kontaktieren oder auch zu separieren. Die Namen der Mitglieder dagegen waren Schall und Rauch, die Eingliederung begann mit Buchstaben und Ziffern. Der Zutritt zu den Sitzungen war anonym, private oder berufliche Vergangenheit besaßen wenig Einfluss auf das neue, vermeintlich so viel bessere Leben. Neuankömmlinge wurden gleichgeschaltet, waren weder frei in ihren Gedanken, noch in der Lage, heraufziehende Gefahren zu erkennen. Sie hatten sich unterzuordnen und kannten einander nicht. Kritische Fragen und Widersprüche wurden nicht geduldet. Manche Neuankömmlinge überboten sich im Aktionismus, missachteten Angels Anweisungen und wurden wieder aussortiert. Die ersten Aktionen misslangen, die Gruppen waren zu groß und zu heterogen. Überarbeitete Konzepte brachten schließlich den gewünschten Erfolg.

Handwerkliches und organisatorisches Geschick waren gefragt, die Truppe nahm Gestalt an. Den Probanden wurden Aufgaben übertragen, eine Art Gesellenstück. Den Meisterbrief mussten sie sich hart erarbeiten, dafür stiegen sie durch gute Leistungen in Angels Gunst. Innerhalb der Gruppe gab es keine Hierarchie, lediglich Trainee durfte Angel im kleinen Rahmen unterstützen und notfalls auch vertreten. Angel war dennoch weit davon entfernt, ihn in alles einzubinden, er war Helfer, Opfer und Alibi zugleich. Müsste er untertauchen, würde Angel seine rechte Hand als Drahtzieher der Aktionen diskreditieren und jede Verantwortung weit von sich weisen.

Angel analysierte die eigenen beruflichen Qualifikationen, erkannte psychologische und technische Defizite und belegte Fernstudiengänge bei diversen Universitäten. Sukzessive erweitere sich das Wissen. Aus einem Rohdiamanten wurde ein geschliffener, makelloser Diamant.

Die Finanzierung der Organisation und des kostspieligen Lebensstiles waren gesichert. Neuankömmlinge wurden zum Erwerb eines völlig überteuerten Starterpaketes, bestehend aus Prepaid-Handy und einfachem Laptop verpflichtet. Mit dem Kauf wurde eine Verschwiegenheitserklärung abgeschlossen. Verstöße waren sündhaft teuer und schreckten vor Verrat ab. Für ein wenig Anerkennung und das Gefühl, gebraucht zu werden, wurden Unsummen ausgegeben. Auch platonische Liebe hatte ihren Preis. Gesetzeskonflikte und deren juristische Folgen wurden ausgeblendet, Angels Befehle wurden unterwürfig ausgeführt.

Angel hatte Zugriff auf die elektronischen Geräte der Mitglieder, sendete ihnen Arbeitsanweisungen und formte diese zu kompatiblen Mitspielern. Erst danach stellte Angel die Teams zusammen und kommunizierte neben den Anschlagszielen und Zeitplänen auch mögliche Fluchtwege. Unmittelbar nach den Aktionen wurden die Daten auf den Rechnern und Mobiltelefonen gelöscht. Die Spuren zum Auftraggeber waren nicht verfolgbar. Angel war manipulierender Künstler und Superhirn in einem, die Jünger der verlängerte Arm.

Große Ereignisse warfen ihre Schatten voraus. Immer komplexer und risikobereiter wurden die Attentate, für die Geschädigten vor allem aber teuer. Irgendwann würden die verursachten Schadenssummen die monatliche Apanage in Bitcoin bei Weitem übersteigen. Noch war es nicht so weit, ein langer Atem, eine minutiöse Planung und Ausarbeitung winziger Details waren Voraussetzung für eine spätere finanzielle Unabhängigkeit und ein sorgenfreies Leben unter Palmen.

Auch Angel hatte über die unerwartete Wendung im Fall Alexander Rieber gelesen. Plötzlich und unerwartet rückte dieser wieder in Angels Fokus. Jene jämmerliche Kreatur für sich zu gewinnen und nach den eigenen Vorstellungen zu manipulieren, wäre die Krönung des Schaffens und würde Angel nach vorne katapultieren. Sofort wurde einer der loyalsten Jünger auf ihn angesetzt. Angel würde das Spiel und auch den vor vielen Jahren ausgelobten Pokal gewinnen. Der Wetteinsatz war irrsinnig hoch und der Preis verlor von Jahr zu Jahr an Attraktivität. Macht und ungezügelte Gestaltungsmöglichkeit hatten die Versessenheit nach dem Siegerpokal längst abgelöst.

Angeln und Schwansen, 07.00 Uhr

Über Nacht war es kalt geworden und der Winter hatte Einzug gehalten. Pünktlich zum Ende der Adventszeit nährte der erste Schnee die Hoffnung auf weiße Weihnachten. Bis mittags versperrte dichter Nebel jegliche Sicht. Als er sich aufgelöst hatte, verzauberte Sonnenschein und der kalte Ostwind Kappeln und Umgebung in eine märchenhafte Winterwelt. Zu dieser Jahreszeit war es ruhig in der Stadt, nur wenige Feriengäste besuchten das an Schlei und Ostsee gelegene Städtchen vor den Feiertagen. Selbst in Olpenitz, dem zur Gemeinde gehörenden OstseeResort, ging es verhältnismäßig beschaulich zu. In ein paar Tagen, über Sylvester, herrschte dagegen Hauptsaison und ausgebuchte Ferienwohnungen sorgten für volle Restaurants und klingelnde Kassen in den Geschäften. Jene, die es sich erlauben konnten, waren bereits in den Weihnachtsurlaub aufgebrochen, die Berufstätigen auf dem Weg zur Arbeit und die Schüler erwarteten die Ferien. Andere trafen bereits Vorbereitungen fürs Fest der Liebe und manch einer freute sich sogar auf den weihnachtlichen Besuch der Verwandtschaft. Einzig am südlichen Ende der Schmiedestraße herrschte noch rege Betriebsamkeit.

Auf dem Platz zwischen Buchhandlung und Kirche wurden Weihnachtsbuden aufgebaut. Händler schraubten und hämmerten ab morgens um 7.00 Uhr und verstauten Getränke und Lebensmittel in den mit Tannenbäumen hübsch geschmückten Holzhäuschen. Ab 14.00 Uhr warteten nach Gewürzen duftender Glühwein, Bratwürste aus der Region und Nürnberger Lebkuchen auf die Gäste. Die Geschäfte hatten ihre Auslagen weihnachtlich dekoriert, deren Betreiber plauderten mit den Kunden und verschenkten stolz ihre selbstgebackenen Weihnachtsplätzchen. An den Schaufensterscheiben drückten sich die Kinder ihre Nasen platt und bestaunten die vielen Spielsachen.

Handwerksbetriebe, Ärzte und Stadtverwaltung schlossen früher und gaben ihren Mitarbeitern die Möglichkeit, den Weihnachtsmarkt zu besuchen. Einheimische und Gäste vermischten sich und feierten gemeinsam Advent.

Glücksburg, 07.20 Uhr

Während in Kappeln die Vorbereitungen auf Hochtouren liefen, verließ Dienststellenleiter Volker Theissen in Wintermantel, Schal und Strickmütze gehüllt Andreas Glücksburger Wohnung und fuhr nach Kappeln. Seine Freundin hatte bereits frei und konnte ausschlafen, der vorabendliche Rotwein sorgte bei ihr für anhaltende Bettschwere.

In der Stadt besuchte er den Bäcker, entdeckte im Fahrzeug die durch Dr. Heinz überreichte Umhängetasche und trug alles in sein Büro. Neugierig blickte er in den Beutel und zog neben einer kleinen Tüte Weihnachtsgebäck und einem Schoko-Weihnachtsmann zwei dünne Mappen heraus. Theissen wunderte sich, Schreibblöcke waren dies nicht. Eher aus Langeweile begann er darin zu blättern und fand in der ersten Akte eine handgeschriebene Notiz: Guten Tag Herr Theissen,

die offizielle Weitergabe des alten und durch das erneute Verfahren wieder ungelösten Falls im Zuge der Weihnachtsfeier hielt ich für unpassend. Die Staatsanwaltschaft überträgt Ihnen die Ermittlungen im Wiederaufnahmeverfahren Lehmann/Berger. Persönlich bitte ich Sie um die Ausarbeitung einer Ermittlungsstrategie bis Jahresanfang.

Das LKA wird den Fall nicht weiterbearbeiten und benötigt dringend Unterstützung. Sämtliche Kapazitäten des Landeskriminalamtes konzentrieren sich auf die Suche nach den Klimaaktivisten und deren Drahtziehern. Zu den Akten legen können wir den Fall natürlich nicht. Rieber ist wieder frei, die Suche beginnt von vorn. Riebers Unschuld ist damit nicht bewiesen. Sollte er schuldig sein, kann er jedoch nicht zu einer schwereren Strafe verurteilt werden, denn es gilt das Verbot der reformatio in peius, das Verböserungsverbot.

Mord verjährt nicht, Totschlag erst nach 20 Jahren. Neue Ermittlungsmethoden und moderne DNA-Auswertungen überführen immer wieder Täter. Vielleicht auch in diesem Fall. Zusätzliche gefundene DNA erweitert den Kreis möglicher Verdächtiger.

So landet der Fall doch noch bei der Kappelner Polizei. Die Verlinkung zu den elektronischen Unterlagen des LKA sende ich Ihnen per E-Mail. Bitte vereinbaren Sie Anfang Januar mit meiner Sekretärin einen Abstimmungstermin.

Ihnen und Ihren Lieben ein frohes Fest und einen guten Rutsch in ein gesundes und erfolgreiches neues Jahr.

Ihr Dr. Heinz

Bildlich gesprochen hatte ihm Dr. Heinz das Wiederaufnahmeverfahren der Causa Alexander Rieber unter den Weihnachtsbaum gelegt.

Theissen stand vor einer neuen Herausforderung. Das LKA hatte bei ihm etwas gut. Die beiden letzten Kapitalverbrechen in Kappeln hatte er nicht zuletzt mit Hilfe des Landeskriminalamtes lösen können. Wiederaufnahmeverfahren unterschieden sich fundamental von aktuellen Ermittlungen. Auf Martina Schüppels Expertise war er besonders gespannt.

Vor einigen Jahren hatte die junge, quirlige Polizistin mit ihrer Freundin Anna Hansen den Sommerurlaub im OstseeResort Olpenitz verbracht und war prompt in einen Kriminalfall gestolpert. Neben dem LKA hatten Martinas Kombinationsgabe, ihr heutiger Freund Jochen Marxer und Dr. Mayers kriminaltechnische Untersuchungen bei der Aufklärung geholfen. Neun Monate später hatte die gutaussehende 35-jährige, knapp 1,70 m große Polizistin mit halblangem, leicht gewelltem blondem Haar und ein paar frechen Sommersprossen in Kappeln angeheuert und war zu ihrem 37-jährigen Architekten Jochen gezogen. Alle Welt nannte ihn nur Mojo, für Moped-Jochen.

Martina ergänzte das Team perfekt und verstand sich mit der etwas jüngeren Michaela Steger blendend. Die kümmerte sich um eine reibungslose Organisation und galt als gute Seele des Präsidiums. Sein über 60-jähriger Stellvertreter Werner Müller und die Streifenpolizisten Ingo und Jo komplettierten die kleine Kappelner Mannschaft.

Dienststelle Kappeln, 07.10 Uhr

Müllers Bettflucht hatte ihn auch heute wieder früh ins Präsidium getrieben. Kurz nach 7.00 Uhr betätigte er die neue Kaffeemaschine. Dank Martina schmeckte der Kaffee ausgezeichnet. Sie hatte sich so lange für eine vernünftige Siebträgermaschine eingesetzt, bis Theissen keine andere Wahl mehr gehabt und eine bestellt hatte.

Gerade als er zufrieden mit seiner Tasse Kaffee sein Büro betrat, klingelte das Telefon. „Polizeidienststelle Kappeln, mein Name ist Müller, wie kann ich Ihnen helfen?“

Ein Hundebesitzer meldete einen toten Schwan am Schleiufer in Arnis. „Bistro und Schifferkirche rechts liegen lassen, kurz hinter der Offa-Quelle, direkt links am Alten Damm.“ Der Hund hatte verrückt gespielt und ihn ans Schleiufer gezogen. Dank der starken Taschenlampe habe er das tote Tier trotz Dunkelheit und dichtem Nebel entdeckt.

Müller kannte den älteren Herrn, ein Witwer mit viel Zeit und ausgeprägtem Mitteilungsbedürfnis. Tote Schwäne kamen schon mal vor, geköpfte aber doch eher selten. Tierverbiss schloss der Anrufer aus, zu glatt wurde der Kopf vom Rumpf getrennt und lag verdreht darüber.

„Können Sie ein paar Minuten vor Ort bleiben? Ich schicke die Streife zu Ihnen.“ Der Anrufer versprach, auf die Kollegen zu warten. Müller bedankte sich für die Information und rief seinen Kollegen Ingo Schachtmann an. „Moin, Ingo, fahr mal nach Arnis, hinter der Kirche wartet ein rüstiger Rentner mit Hund und totem Schwan. Ein paar Fotos, kurzer Plausch und Aufnahme der Personalien. Gib ihm das Gefühl, wichtig zu sein, sonst ruft der noch mal an.“

Ingo vermutete, dass ein Fuchs den Wasservogel gerissen und liegen gelassen hatte, verlor keine Zeit und machte sich auf den Weg. In Arnis bog er rechts in die Lange Straße und erreichte über die Parkstraße den Alten Damm. Auf dem schmalen Kiesweg passierte er die Kirche. Dank des reflektierenden Halsbandes entdeckte er schnell den Hund am Ende des kleinen Strandes. Sein Herrchen stand mit dem Gehstock winkend neben ihm. Ingo begrüßte den, wie er ihn nannte, wichtigen Zeugen und notierte sich seine Angaben. Zehn Minuten und zwölf Bilder später packte er den Schwan in eine Plastiktüte, verabschiedete sich und fuhr zum Veterinäramt nach Schleswig. Von unterwegs meldete er sich bei Theissen und entschuldigte seine Verspätung, das Veterinäramt öffnete erst um neun. Theissens Standardagenda hatte sich um die künftigen Ermittlungen im Mordfall Lehmann/Berger dramatisch erweitert. Routiniert führte er durch die Besprechung, das Wieder-

aufnahmeverfahren wollte er am Ende besprechen. Fortbildungen fürs neue Jahr wurden terminiert, Urlaubsanträge besprochen und Dienstpläne über die Feiertage abgeglichen. Das Kollegium hatte sich im Vorfeld abgestimmt und Theissen die Planung vereinfacht.

Nach einer längeren Pause berichteten Werner Müller und der inzwischen eingetroffene Ingo Schachtmann vom Fund des toten Schwans in Arnis. Das Tier wurde mit einem scharfen Gegenstand enthauptet. Beide vermuteten Jugendliche hinter der Tat, es folgte der wichtigste Teil der Sitzung.

Theissen stellte den neuen Fall vor. „Zum letzten Punkt. Vorneweg, das Aufrollen alter Fälle ist auch für mich eine Herausforderung. Wurde einer von euch schon mal mit der Aufklärung vergangener Verbrechen betraut?“

Allgemeines Kopfschütteln, zu Theissens Enttäuschung hatte auch Martina darin keine Erfahrung.

„Unser allseits beliebter Dr. Heinz überreichte mir die Akten und bittet uns um die neuerliche Beweisaufnahme des alten Falles Lehmann/Berger. Ich habe die wichtigsten Daten zusammengefasst und möchte euch kurz informieren. Unsere Ermittlungen stehen ganz am Anfang und beginnen auch erst im neuen Jahr.

Am 16. spät abends oder am 17. Juni 2017 früh morgens verschwanden die 17-jährige Jule Lehmann und der ein Jahr ältere Simon Berger spurlos, seitdem gelten sie als vermisst. Damit beginnt einer der ungewöhnlichsten Kriminalfälle in Schleswig-Holstein der letzten Jahrzehnte. Ein Mord ohne Leiche ist immer sehr speziell und bringt uns Ermittler schnell an die Grenzen. Die jungen Leute waren erst seit wenigen Monaten zusammen, überaus attraktiv, beliebt und galten als Traumpaar. Schnell deuteten alle Spuren auf ein Verbrechen, bis heute gibt es keinen Hinweis auf den Verbleib des Paares. Ein vorsätzliches Untertauchen wurde kategorisch ausgeschlossen, weder verfügten sie über ausreichend finanzielle Mittel noch deuteten die Lebensumstände darauf hin. Mit ihren Bankkarten wurde kein Geld abgehoben, die Mobiltelefone konnten nie geortet werden und der wenige, aber teure Schmuck der jungen Frau wurde keinem seriösen Händler angeboten.

Am sogenannten Liebesstrand, einem kleinen Ufer auf der Schwansener Seite der Schlei, fand man große Mengen Blut zweier Personen. Der Blutverlust lässt kaum eine Möglichkeit zu, dass die Opfer überlebt haben. Vor Ort zurückgelassene Kleidungsstücke wurden von den Eltern identifiziert. Zum Zeitpunkt des Verschwindens hatten sie kaum noch etwas an. Der Grund dafür, sich dort zu treffen und sich zu entkleiden, ist uns allen klar. Irgendjemand hatte ganz entschieden etwas dagegen! Nach ein paar Tagen brachte der DNA-Abgleich Sicherheit, die Textilien gehörten den Vermissten.“ Theissen trank einen Schluck und blickte in die Runde.

Müller ergriff das Wort. „Ich erinnere mich gut. Die Eltern der Jugendlichen suchten ihre Kinder und meldeten sich bei uns. Sofort organisierten wir die Suche und begannen die Freunde zu befragen. Am Liebesstrand wurden wir fündig. Kaum hatten wir mit den Ermittlungen begonnen, da waren wir den Fall schon wieder los. Auf Anweisung von oben übernahm das LKA. Wir waren raus und gottfroh, uns nicht mit den bedauernswerten Angehörigen unterhalten zu müssen. Mord ist immer abscheulich und kommt glücklicherweise selten vor. Je jünger die Opfer sind, desto schlimmer die Untersuchungen. Der psychische Druck auf uns Polizisten ist unermesslich.

Obwohl alles gegen den geständigen Alexander Rieber sprach, kursierten die wildesten Theorien. Die Hobby-Kriminologen verrannten sich in abstruse Thesen und outeten sich als Besserwisser. Vom Liebesdrama bis zur Entführung war alles dabei. Simons Eltern wurde es zu viel, sie zogen nach Süddeutschland und wurden in der Region nicht mehr gesehen. Mit der Zeit verebbte das Gerede. Nach den Spekulationen folgte tiefe Trauer. Alexander Rieber war der Täter, mehr Informationen habe ich leider nicht.“ Müller bedauerte sich. Hätte er doch die Chance auf den Vorruhestand nicht ausgeschlagen! Seine Schwermut war förmlich greifbar, er kannte die Eltern der Jugendlichen. Theissen befreite ihn aus seiner Lethargie und fuhr fort.

„Werner, wir schaffen das! Glücklicherweise zählen wir zu den wenigen Bundesländern mit einer eigenständigen LKA-Abteilung für Cold-Cases und ungeklärte Tötungsdelikte. Die Kollegen verfolgen dabei unterschiedliche Ansätze. Bringen Ermittlungen nicht den gewünschten Erfolg und überführen keine Täter, versuchen Sonderermittler über einen langen Zeitraum, Vertrauen zum Kreis der Verdächtigen aufzubauen und nach und nach Täterwissen zu entlocken. Potentielle Mittäter werden zur Aussage animiert und ihnen dafür Strafminderung in Aussicht gestellt. Wir adaptieren diese

Methoden und passen sie unserem Fall an.

In Kappeln kennen sich die meisten, mit der Zeit bildet die Masse eine unverrückbare Meinung. Andersdenkende trauen sich nicht mehr, ihre Position zu vertreten, befürchten Repressalien oder haben Angst zum Kreis der Verdächtigen zu zählen. Diese Zweifler suchen wir, ohne zusätzliche Ermittler des Landeskriminalamtes. Wir nutzen das Schwarmwissen der Stadt und verknüpfen die Informationsenden miteinander. Auch nach Jahren erinnern sich Zeugen an Ungereimtheiten und bringen alte Aussagen ins Wanken.

Das LKA stellt uns einen elektronischen Zugang zur Akte Lehmann/Berger und den kompletten Ermittlungsergebnissen zur Verfügung. Im kommenden Jahr rollen wir den Fall neu auf. Ganz klassisch beginnen mit unseren Ermittlungsmethoden, parallel übernehmen wir eben beschriebene Ideen des LKA, und nach der Plausibilisierung wird es ein normaler Fall.“

Theissen sollte sich gewaltig irren.

Kappeln, 16.00 Uhr

Die letzte dienstliche Anweisung des Jahres erteilte der Dienststellenleiter kurz vor 16.00 Uhr. Theissen lud die gesamte Belegschaft mit Partnerinnen und Partnern zum Umtrunk auf den Adventsmarkt ein. Frau Müller glänzte durch Abwesenheit, auch Michaela Steger kam allein.

Theissen war froh, keine interne Weihnachtsfeier organisieren zu müssen, und freute sich auf ein paar Stunden Abwechslung.

Andrea Mayer fuhr zum Revier und ging mit den Beamten in die Fußgängerzone, die Freundinnen der Streifenpolizisten warteten bereits am Treffpunkt. Martinas Lebensgefährte Jochen, alias Mojo, verspätete sich um wenige Minuten. Mojo verzichtete aufs Auto und nahm den Bus. Die meisten kannten einander, freuten sich über das Wiedersehen und begrüßten sich herzlich. Theissen bestellte die erste Runde Getränke und genoss die ungezwungene Atmosphäre.

Michaela Steger näherte sich Theissen und fragte: „Herr Theissen? Vor Jahren hatten Sie mir das Du angeboten, gilt das noch?“ Bis zuletzt hatte sie Hemmungen, ihren Chefs zu duzen.

„Aber natürlich, Michaela.“ Theissen freute sich aufrichtig und flüsterte: „Was ist mit Werner? Wenn du ihn als Einzigen nicht duzt ist er vielleicht beleidigt.“

„Ja natürlich.“ Müller flößte ihr Respekt ein, bei ihm wusste sie nie, woran sie war. Eine Minute später umarmte Müller seine Kollegin und strahlte.

Die Stimmung steuerte auf ihren Höhepunkt zu, der Alkohol löste Anspannung und Zunge. Ungezwungene Gespräche, vorgetragene Anekdoten der Streifenpolizisten, fröhliches Gelächter und Adventsmusik sorgten für vorweihnachtliche Stimmung.

„Vom Glühweinstand da komm ich her und bring euch neuen Punsch daher“, trällerte Jo und lieh sich die Melodie von Martin Luthers Weihnachtsklassiker aus. Mit einer weiteren Runde Glühwein bog die Weihnachtsfeier auf die Zielgerade.

Die besinnliche Zeit hatte begonnen. Über die Feiertage hatte die Schleswig-Holsteinische Polizei eine übergeordnete Bereitschaft organisiert. Einzig Werner Müller war es bis Januar zu lang. Er würde auch am Heiligen Abend sowie zwischen Weihnachten und Neujahr nach dem Rechten sehen. Er zog die Büroarbeit der Gesellschaft der Familie seiner Frau vor. Auch Michaela Steger hatte sich im Dienstplan eingetragen. Jo und Ingo standen auf Abruf bereit.

Gerade begleiteten die beiden Streifenpolizisten lauthals die Kapelle bei Gloria in excelsis Deo, als das Licht unerwartet ausging. Die Kapelle spielte noch ein paar Takte, dann wurde es ruhig. Lichterketten, Schaufenster, Straßenbeleuchtung, alles aus. Es war stockdunkel. Tuschelnd und verunsichert standen die Menschen in der Fußgängerzone und warteten. Die Ersten aktivierten die Taschenlampe ihrer Smartphones, einige hatten herkömmliche Lampen dabei und kramten sie aus Jackentaschen und Rucksäcken. Mit etwas Licht kehrte das Stimmengewirr zurück, in gedämpfter Lautstärke wurde weitergefeiert.

Theissen griff zum Telefon, eine Textnachricht aus Kiel.

Stromversorgung in Angeln und Schwansen weitestgehend zusammengebrochen. Der Energieversorger meldet mehrere Defekte an der Infrastruktur.

Schließung des Weihnachtsmarktes und Räumung der Innenstadt. Augenmerk auf Verkehrssicherung und Aufrechterhaltung der öffentlichen Ordnung. Einsatzplanung obliegt der Zentrale.

Beste Grüße, Dr. Justus Heinz

Andrea Mayer verabschiedete sich, sie wollte ins Flensburger Klinikum. Als Leiterin der Rechtsmedizin hatte sie sich entschlossen, mit gutem Beispiel vorangehen und durch den Stromausfall hervorgerufene Blessuren zu behandeln.

„Werner, lies mal! Bis die Stromversorgung wieder intakt ist, kann es dauern.“ Theissen gab seinem Kollegen das Telefon.

„Was ist denn los?“, erkundigte sich Martina ungeduldig.

„Blackout. Vermutlich ein defektes Kabel oder eine havarierte Stromleitung. Martina, du wartest noch, bis die Besucher die Fußgängerzone verlassen haben. Wenn sie nicht freiwillig gehen, hilfst du nach.

Sollte die Versorgung morgen früh um 11.00 Uhr noch immer unterbrochen sein, kommst du bitte ins Büro und löst Werner oder mich ab. Wir gehen sofort ins Präsidium und sehen nach, ob das Notstromaggregat angesprungen ist und wir erreichbar sind. Vorher informieren wir noch den Betreiber des Weihnachtsmarktes, der soll die Buden schließen lassen. Jo, du stellst dich an die Kreuzung oben auf der Schwansener, Ingo, du auf der Angeliter Seite vor der Brücke. Bis zum Eintreffen der mobilen akkubetriebenen Ampelanlagen, regeln wir keinen Verkehr, der dichte Nebel verschluckt alles, ihr werdet glatt überfahren. Bitte parkt neben der Fahrbahn, aktiviert Warnblickanlage und Blaulicht und seid ansprechbar. Mehr können wir momentan nicht tun. Wir warten auf die Hilfe des Bauamtes, die Kollegen anderer Reviere und den nächsten Lagebericht. Michaela, morgen früh um acht Uhr im Büro?“

Theissen und Müller machten sich gerade auf den Weg, als das Warnsystem Cell Broadcast sich bei den Handybesitzern meldete. Eine schrille, laute Warnung vor anhaltendem Stromausfall in Angeln und Schwansen. Die Nachricht löste allgemeines Bedauern aus, die Party war zu Ende, die allermeisten traten den Heimweg an.

Die Betreiber verriegelten ihre Verkaufsstände und verließen ebenfalls den Weihnachtsmarkt. Ruhig und gesittet gingen die Einheimischen im Stockdunkeln nach Hause, Urlaubsgäste fuhren mit Bus und Taxi nach Olpenitz ins Resort oder in die umliegenden Gemeinden.

Während sich die Streifenpolizisten positionierten und Theissen und Müller im Revier auf Neuigkeiten warteten, blieben Martina und Mojo, bis auch die Letzten den Weihnachtsmarkt verlassen hatten. Eine halbe Stunde nach der Havarie war die Fußgängerzone menschenleer.

Vorsichtig nahm das Paar den kürzesten Weg zum Südhafen. Einige Stellen der Gehwege und Nebenstraßen waren spiegelglatt und das trübe Licht der Taschenlampe erreichte kaum den Boden. Martina waren die fremden Geräusche im Dunkeln etwas unheimlich, mehrfach schreckte sie zurück. In der Nähe klapperte ein Gartenzauntor, weiter entfernt klopfte es dumpf. Andere Geräusche konnte sie nicht zuordnen. Dann hörte sie mehrere Stimmen. Als sich Mojo und Martina näherten, begannen sie zu flüstern, schließlich unterbrachen sie ihr Gespräch. In der Ferne schlug die Glocke der St. Nikolai Kirche sieben Mal.

Fröstelnd hakte sie sich bei Mojo ein und flüsterte ihm zu:

„Nichts wie nach Hause! Was stellen wir mit dem angebrochenen Abend an? Gefühlt ist es mitten in der Nacht, aber es ist noch früh am Abend. Wir sollten die Zeit vor Annas Weihnachtsbesuch sinnvoll nutzen.“ Martina hatte genaue Vorstellungen, sie schmiegte sich an Jochen und hauchte ihm Ideen der Abendgestaltung ins Ohr. Mojo hörte aufmerksam zu und bestärkte sie in ihrem Vorhaben: „Was gäbe es denn Schöneres? Kaminfeuer, einen trockenen roten Italiener, passende Musik und danach …“

Ein kurzer gellender Schrei in der Nähe der Tischlerei unterbrach Mojos aufkommende Phantasien. Jemand brüllte in Todesangst und wurde kurz darauf zum Schweigen gebracht. Dann wurde etwas Schweres über die Straße gezogen, in einem Auto verstaut und die Heckklappe geschlossen. Abrupt blieben die beiden stehen, hörten Türenknallen und ein startendes Fahrzeug.

Martina rief sofort: „Stehen bleiben, hier spricht die Polizei. Legen Sie sich auf den Boden und spreizen Sie die Beine.“ So schnell es ging, liefen die beiden die Straße zurück und wurden beinahe von dem unbeleuchteten Fahrzeug erfasst. Die Beamtin aktivierte die Standortfunktion ihres Handys, markierte die Koordinaten und suchte in der Dunkelheit nach möglichen Opfern. In der Arnisser Straße rührte sich nichts. Der Angstschrei hatte keine Nachbarn aus den Häusern gelockt. Im Gegenteil, Vorhänge wurden zugezogen und Rollladen heruntergelassen. Martina klingelte am ersten Haus und wartete ungeduldig.

„Wer stört?“ Der ältere Herr benutzte die Sprechanlage.

„Die Polizei, ist bei Ihnen alles in Ordnung? Haben Sie auch

den Schrei gehört?“

„Hier brüllt andauernd jemand, die bekloppten Jugendlichen erlauben sich wieder einen Spaß, gute Nacht!“ Weitere Nachbarn vermuteten ebenfalls den Jugendclub, machten sich keinerlei Sorgen und wimmelten Martina und Mojo ab.

Nach erfolgloser Suche griff Martina zum Telefon. „Volker, wir haben eben einen panischen Schrei in der Arnisser Straße gehört, konnten aber niemanden finden.“

„Ich stelle mal auf laut, Werner hört mit.“ - „Hallo Werner. Mojo und ich haben die Straße bis kurz vor dem Gewerbegebiet am Hafen genommen und vor zwanzig Minuten einen lauten Schrei gehört. Mojo glaubt, das Gekreische kam vom Ende der Arnisser Straße oder der Stettiner Straße. Ein viel zu schnelles Fahrzeug hat uns fast überfahren. Ich weiß nicht, was ich noch machen soll, die Straßen sind menschenleer.“ Martina hielt kurz inne und lauschte. „Ich glaube, wir werden gesucht, das Fahrzeug nähert sich wieder.“ Martina erkannte das merkwürdige Motorengeräusch und zerrte Mojo hinter sich her.

„Guckt, dass ihr dort wegkommt, unbewaffnet und allein machst du gar nichts. Das ist keine Bitte, sondern eine Anordnung!“ Theissen kannte Martinas Alleingänge. Ohne Dienstausrüstung und zusätzliche Verstärkung verbat er Martina, die Verfolgung aufzunehmen oder weitere Anlieger zu befragen. Er telefonierte mit der Zentrale, sofort machten sich zwei Streifenwagen auf den Weg nach Kappeln.

Auf Höhe der Tischlerei hielt das Fahrzeug an, der Fahrer stieg aus und rief. „Wo seid ihr, was hatten euch die Nachbarn denn so erzählt?“ Dann hörten die beiden leise näherkommende Schritte. Mojo zog Martina hinter eine Halle des Betriebes und hielt ihr die Hand vor den Mund. Trotz der Dunkelheit wurden sie gesucht. Oder gerade wegen ihr? Leise knirschte der trockene Schnee unter den Schuhen. Die Schritte wurden leiser, dann war nichts mehr zu hören. Wenige Meter neben ihnen begann ein starker Lichtkegel die Umgebung abzusuchen. Vorsichtig drückte Mojo seine Freundin hinter einen kleinen Vorsprung und hoffte auf Holzreste des Betriebes. Vorsichtig griff er nach einem Brett und machte sich auf einen Kampf mit dem unsichtbaren Gegner gefasst. Das Licht wurde vom Nebel verschluckt, wenige Zentimeter fehlten, um die beiden zu erfassen. Martina zitterte. Leise entfernten sich die Schritte, umkreisten die Tischlerei, kamen nach einer Minute wieder näher und verstummten erneut. Mojo traute sich nicht, um die Hallenecke zu schielen. Endlose Minuten geschah nichts, dann meldeten Sirenen den Streifenwagen an.

„Ich erwische euch noch, dann geht es euch an den Kragen“, zischte eine Stimme unmittelbar neben ihnen. Das erste Polizeiauto bog langsam in die Arnisser Straße. Die Stimme entfernte sich fluchend, stieg in einen Wagen und fuhr los.

Martina fror. „Komm, wir sprechen mit der Streife und dann ab nach Hause.“ Gelangweilt nahmen Martinas Kollegen ihre Aussage auf und amüsierten sich über Martinas Schilderungen. Vielleicht erlaubte sich doch jemand einen Spaß und wollte die Nachbarn in der Dunkelheit erschrecken.

„Dann verstehe ich aber nicht, dass wir verfolgt wurden.“ Martina hatte genug und wollte nach Hause. „Wenn wir hier Wurzeln schlagen, wird es nichts mit unserem romantischen Abend.“ Auf dem Weg zurück normalisierte sich ihr Puls. In Arnis entfachte Mojo das Kaminfeuer, stellte Kerzen und Gläser auf den Tisch und öffnete eine Flasche Barolo. Die Umsetzung von Martinas Absichten startete mit einer kurzen heißen Dusche und gipfelte vor dem Kamin.

Während Martina und Mojo das Leben in vollen Zügen genossen, rollte ein weiterer Streifenwagen der Süderbraruper Kollegen durch den Stadtteil Dothmark, hielt in der Arnisser Straße 264b und klingelte bei den Anwohnern. Trotz Stromausfall waren sie nicht zu Hause. Ein Notruf war nicht eingegangen.

Unterdessen lobten Theissen und Müller die Technik. Das Notstromaggregat lief tadellos, die Räume wurden nach deren Wichtigkeit versorgt. Theissens Büro, das Besprechungszimmer und der Serverraum mit all der Technik wurden vorrangig mit Elektrizität bedacht. Im Flur und Treppenhaus dämmerte hingegen die Notbeleuchtung.