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Kaum ans Revier im vermeintlich beschaulichen Ostseestädtchen Kappeln versetzt, wird der 34-jährige Dienststellenleiter Volker Theissen mit einem schaurigen Fall konfrontiert. Zunächst entdecken die Fischer der „Seeadler“ aus Maasholm eine unbekleidete weibliche Leiche im Fangnetz. Kurz darauf verschwinden drei Frauen spurlos aus dem Ort, eine von ihnen wird tot und seltsam kostümiert im Wartehäuschen einer Bushaltestelle gefunden. Theissen muss vielen Spuren folgen, ehe er schließlich auf die Mitglieder einer verschwiegenen Clique stößt, die sich 15 Jahre nach ihrer letzten Begegnung zum Wiedersehen in Kappeln verabredet hat. Die Urlauberin Martina Schüppel, eine junge Kriminalpolizistin aus Heidelberg, wird für Theissen in diesem Labyrinth zur wertvollen Hilfe und dann zur Belastung.
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Veröffentlichungsjahr: 2025
Inhaltsverzeichnis
Zum Buch
Handelnde Personen
Frühsommer
Ein Tag im August
Mittwoch, 8. August
Donnerstag, 9. August
Freitag, 10. August
Sonnabend, 11. August
Sonntag, 12. August
Montag, 13. August
Dienstag, 14. August
Polizeirevier Kappeln
Mittwoch, 15. August
Donnerstag, 16. August
Freitag, 17. August
Sonnabend, 18. August
Der Autor Olaf Wegermann
Kappeln – Mörderische Jagd
Arnis – Tödliche Dämonen
Sparkys Edition
Kaum ans Revier im vermeintlich beschaulichen Ostseestädtchen Kappeln versetzt, wird der 34-jährige Dienststellenleiter Volker Theissen mit einem schaurigen Fall konfrontiert. Zunächst entdecken die Fischer der „Seeadler“ aus Maasholm eine unbekleidete weibliche Leiche im Fangnetz. Kurz darauf verschwinden drei Frauen spurlos aus dem Ort, eine von ihnen wird tot und seltsam kostümiert im Wartehäuschen einer Bushaltestelle gefunden.
Theissen muss vielen Spuren folgen, ehe er schließlich auf die Mitglieder einer verschwiegenen Clique stößt, die sich 15 Jahre nach ihrer letzten Begegnung zum Wiedersehen in Kappeln verabredet hat. Die Urlauberin Martina Schüppel, eine junge Kriminalpolizistin aus Heidelberg, wird für Theissen in diesem Labyrinth zur wertvollen Hilfe und dann zur Belastung.
Alle Rechte unterliegen dem Urheberrecht.
Verwendung und Vervielfältigung von Text und Bild nur mit ausdrücklicher Genehmigung des Verlages.
Alle Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden Personen, Geschehnissen oder Institutionen sind reiner Zufall.
E-Mail: [email protected]
Lektorat: Kai-Axel Aanderud Coverfoto: Frauke Dembny Umschlaggestaltung: Fred Münzmaier
2. Auflage März 2025
© 2025 Sparkys Edition
Herstellung und Verlag: Sparkys Edition,
Zu den Schafhofäckern 134, 73230 Kirchheim/Teck
Druck: Stückle Druck Ettenheim
Das Werk, einschließlich seiner Teile, ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwertung ist ohne Zustimmung des Verlages und des Autors unzulässig. Dies gilt insbesondere für die elektronische oder sonstige Vervielfältigung, Übersetzung, Verbreitung und öffentliche Zugänglichmachung.
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie.
ISBN Softcover: 978-3-949768-39-2
Für meine liebe Frau Bettina
Herzlichen Dank an Steffi und alle Helfer
Volker Theissen – Dienststellenleiter der Kappelner Polizei Dr. Andrea Mayer – Rechtsmedizinerin in Flensburg Werner Müller – Dienstältester Kriminalbeamte in Kappeln
Martina Schüppel – Kriminalbeamtin und Urlauberin in Olpenitz
Jens Schüppel – Martinas Ehemann
Jochen „Mojo“ Marxer (Moped-Jochen) – Architekt aus Arnis
Anna Hansen – Versicherungsexpertin und Martinas beste Freundin
Achim von Dassow – Adliger aus Hessen
Dr. Justus Heinz – Polizeidirektor der Schleswig-Holsteinischen Polizei
Dr. Mechthild Kaminski – Staatsanwältin in Flensburg Bente Wertke – Mitarbeiterin Bauamt in Kappeln Karin Bock – Dozentin in Kiel
Natalie Alt – Bankkauffrau in Kappeln
Dominik Traber – Mitarbeiterin Vermarktungsgesellschaft in Kappeln
In die Weite ausgeflogen,
die Vöglein auseinander stoben. Die Herzen in der Ferne schwer, Heimweh nagte sehr.
Dem Zugvogel gleich, aus allen Teilen,
zieht‘s sie zurück, möchten wieder hier verweilen. Bauen Nester, brüten Eier,
sehen sich zur Jubiläumsfeier. Federchen im Raume liegen, vom Lieben, nicht vom Fliegen. Streifen ab die alten Fesseln,
Versprechungen wurden ganz vergessen. Danach vereinten sich die Modelle, schmoren manche heute in der Hölle.
Fast auf den Tag genau 15 Jahre waren vergangen, seit die neun Mitglieder der Clique einander im altem Gruppenraum ihr Wiedersehen in die Hand versprochen hatten. Strengste Geheimhaltung über diesen Plan hatten sie einander damals gelobt und die Teilnahme möglicher Partnerinnen und Partner ausgeschlossen. Kalendarisch wäre das Treffen eigentlich auf einen Werktag gefallen, doch da die alten Freunde genügend Zeit haben wollten, die vergangenen anderthalb Jahrzehnte Revue passieren und die alten Erinnerungen wieder aufleben zu lassen, hatten sie ihre Zusammenkunft auf ein Wochenende gelegt. Jeder von ihnen war präzise instruiert, jedes Detail minutiös geplant, nichts dem Zufall überlassen worden. Nicht nur Ort und Zeit, auch die Art der Anreise und die Ausgestaltung des Treffens selbst hatten sie festgelegt. Jeder Teilnehmer wusste, was er mitzubringen hatte. Die Teilnahme war verpflichtend, es sei denn, ein Mitglied wäre verstorben oder hätte eine noch triftigere Entschuldigung.
Um Punkt 19.00 Uhr standen sieben der einst neun Freunde vor dem alten Fachwerkhaus. Wie aus dem Nichts waren sie zeitgleich aufgetaucht, ohne dass sie jemand hätte kommen sehen. Ein Mitglied der alten Clique war verstorben, über die Todesumstände vermochte jedoch keiner der Anwesenden etwas zu sagen. Auch ihre einstige Galionsfigur fehlte. Damals hatte er sie alle überstrahlt, heute dagegen glänzte er zur allgemeinen Verwunderung durch Abwesenheit. Dabei war er jüngst in der Gegend gesehen worden. Zufällig waren die Freunde einander in den vergangenen 15 Jahren durchaus mal über den Weg gelaufen, zwei, drei von ihnen hatten sich auch hin und wieder auf ein Gläschen verabredet, doch so annähernd vollzählig wie heute Abend waren die sieben Freunde seit damals nicht zusammengekommen. Heute war Premiere. Damals hatte das alte Fachwerkhaus einen vergessenen, geradezu verwunschenen Eindruck auf sie gemacht. Heute dagegen wirkte es weitaus weniger abgelegen, Neubauten reichten bis auf wenige hundert Meter an das Anwesen heran. Das Äußere des Hauses machte einen sehr gepflegten Eindruck, die Räume waren renoviert, die früheren abgewetzten Stoffsofas und durchgesessenen Sessel durch gemütliche Lounge-Möbel ersetzt. Durchgängig bewohnt war das Anwesen jedoch nicht, dafür war es zu schlecht angebunden. Die Gemeinde hatte bislang wenig Interesse gezeigt, den holprigen Feldweg durch eine asphaltierte Straße zu ersetzen.
Mieten aber konnte man die Räumlichkeiten. Nach Online-Reservierung und Zahlungseingang beim Vermieter hatte einer der Freunde den Zugangscode für einen Schlüsselsafe erhalten und dort Haustürschlüssel und WiFi-Passwort vorgefunden. Die Kühlschränke hatte der Vermieter bereits eingeschaltet, und die wurden nun auch gebraucht: Die Cliquenmitglieder hatten sämtliche Marken ihres damals konsumierten Alkohols eingekauft, und das in rauen Mengen.
Die Begrüßung schwankte zwischen Unsicherheit und Neugier. Hatten sie einander nach anderthalb Jahrzehnten überhaupt noch etwas zu sagen? Oder waren sie sich nach so vielen Jahren fremd geworden? Schon damals war die Frage, wer sich zu wem besonders hingezogen fühlte, nicht einfach zu beantworten gewesen, und heute fiel die Antwort angesichts des kleineren Kreises und der ungeraden Teilnehmerzahl nicht eben leichter. Doch die Skepsis erwies sich als unbegründet, bereits nach kurzem anfänglichem Zögern und gegenseitigem Abtasten legten die ersten Anwesenden ihre Scheu ab und ließen ihrer Neugier aufeinander freien Lauf. Der in Strömen fließende Alkohol löste letzte Hemmungen. Dieser Abend sollte unvergesslich bleiben und unabsehbare Folgen haben.
Pling! Sie warf einen Blick auf ihr Mobiltelefon und las die eingegangene Textnachricht. Die Telefonnummer kannte sie nicht, die hatte sie auch nicht gespeichert. Wer mochte der Absender sein? „Kurzer Umtrunk um 11.30 Uhr? Oder gleich Lunch?“ Wer sollte sich während ihres Urlaubs mit ihr treffen wollen? Sie stutzte einen Moment, als sie den Absender erkannte, mit dieser SMS hatte sie nicht gerechnet. Doch schließlich verwarf sie die aufsteigenden Bedenken. Ein wenig Abwechslung würde ihr guttun. Der vorgeschlagene Treffpunkt sagte ihr nichts, von dem Restaurant hatte sie noch nie gehört. Sie beugte sich über den auf dem Wohnzimmertisch ihrer Ferienwohnung liegenden Stadtplan: Um in einer halben Stunde an der Strandpromenade auf der anderen Seite des Hafens zu sein, musste sie sich beeilen. „OK“, tippte sie daher nur kurz und knapp in ihr Smart Phone. Bei der Hitze verspürte sie keine Lust, sich besonders zurechtzumachen oder gar zu schminken. Flüchtig packte sie ihren kleinen Rucksack, verließ in leichter Sommergarderobe die Wohnung und radelte auf ihrem neuen Fahrrad zum vereinbarten Treffpunkt. Sie traf einige Minuten zu früh ein, das Restaurant war noch geschlossen, ihr Gesprächspartner noch nicht erschienen. Sie wählte einen im Halbschatten stehenden Tisch in einer Ecke der Terrasse mit Ausblick auf den idyllischen Hafen. „Willkommen im Paradies“, las sie amüsiert auf der Speisekarte. Da sie erst vor Kurzem gefrühstückt hatte, wandte sie sich gleich den Getränken zu. Deren Auswahl war in der Tat paradiesisch. Der inzwischen eingetroffene Kellner wies sie höflich auf die Öffnungszeiten hin, nahm ihren Getränkewunsch aber dennoch entgegen. In Urlaubsstimmung und frei von Verpflichtungen, bestellte sie ein Glas Grauburgunder und eine kleine Flasche Wasser, während sie ihren Rucksack nach dem Smart Phone durchsuchte, um ein Foto vom Hafen zu machen. Ärgerlich, sie hatte es beim eiligen Aufbruch offenbar in der Wohnung vergessen.
Vielleicht war es die Speisekarte, die so klebte. Sie warf sich den Rucksack über die Schulter, um sich auf der Damentoilette die Hände zu waschen. Auf dem Rückweg griff sie sich die Tageszeitung vom Tresen und hatte gerade wieder an ihrem Tisch Platz genommen, als der Kellner ihr auch schon die Getränke servierte. Während sie im Lokalteil der Zeitung blätterte, nippte sie gedankenverloren am Weinglas und verzog jäh das Gesicht. Grauburgunder kannte sie als leichten, säurearmen Sommerwein, dieser Pinot Grigio aber schmeckte seltsam faulig und bitter. Während sie ansetzte, den abstoßenden Geschmack mit einem kräftigen Schluck Wasser zu neutralisieren, steuerte ihre Lunchverabredung direkt auf ihren Tisch zu, begrüßte sie überraschend knapp und setzte sich. Große Erwartungen an diese Begegnung hatte sie nicht, sie empfand es als höfliche Geste, sich überhaupt auf diesen Lunch eingelassen zu haben. Warum hatte ihr Gesprächspartner eigentlich um dieses Treffen gebeten?
Nach einigen belanglosen Floskeln über die hochsommerlichen Temperaturen schlug ihr Gegenüber unvermittelt einen gänzlich anderen, unerwartet aggressiven Ton an. Egoismus, Intoleranz und Undankbarkeit musste sie sich nun vorhalten lassen. Sie wurde mit einer Fülle von Namen, Jahreszahlen und Fragen traktiert, ohne jedoch auf die massive Kritik antworten zu dürfen. Sie war völlig perplex, mit einem solchen Gesprächsverlauf hatte sie nicht gerechnet. Die Lebensplanung zerstört? Was hatte sie heute, nach so vielen Jahren, noch mit der Sache zu tun? Vergeblich versuchte sie, den pausenlosen Redeschwall zu stoppen und sich Gehör zu verschaffen, was die Situation jedoch eher noch verschlimmerte. Hilfesuchend blickte sie sich um, doch außer ihnen war kein Gast im Restaurant zu sehen, und der Kellner schien wie vom Erdboden verschluckt. Diese Begegnung und dieses Gespräch würde sie restlos aus ihrem Gedächtnis streichen! Hastig leerte sie ihr Glas und stand auf, um die Toilette aufzusuchen, drinnen ihre Rechnung zu begleichen und das Lokal durch den Hinterausgang zu verlassen. Doch das Aufstehen bereitete ihr unerwartete Mühe, ihre Knie begannen zu zittern. War es die Hitze, die Wut über diese abscheuliche Person oder beides? Ihre Beine gehorchten ihr nicht, auf dem Weg zur Toilette musste sie sich mehrfach an Tischen und Stühlen abstützen. Einige der inzwischen eingetroffenen Gäste betrachteten sie gleichermaßen belustigt und besorgt, doch auf die Idee, sie anzusprechen und ihr Hilfe anzubieten, kam keiner von ihnen.
Nur mühsam und schleppend erreichte sie schließlich ihr Ziel. Ein Glas Wein konnte sie doch unmöglich derart aus der Bahn werfen! Ungläubig starrte sie in den Spiegel, in dem sie ihr Gesicht nur verschwommen wahrnahm. Angst stieg in ihr auf. Sie drehte den Wasserhahn auf, schöpfte das kalte Wasser mit den Händen und tauchte ihr Gesicht hinein. Als sie sich wieder aufrichtete, um ihren Nacken zu kühlen, meinte sie, weitere Gesichter im Spiegel zu sehen. War sie nicht eben in eine menschenleere Toilette gekommen? Der Raum begann sich zu drehen. Taumelnd suchte sie Halt am Waschbecken, als ein dumpfer Schmerz ihren linken Arm durchfuhr. Sie wollte aufschreien, doch ihre Stimme versagte, ihre Zunge war wie am Gaumen festgeklebt. Schlagartig wurde es dunkel.
Als sie allmählich zu sich kam, war sie unfähig, sich zu bewegen. Wie angewachsen saß sie kerzengerade auf einem harten Holzstuhl. In den Handgelenken verspürte sie einen stechenden Schmerz, ihre Arme waren mit einem Kabelbinder hinter ihrem Rücken gefesselt. Um sie herum war es stockdunkel, über Kopf und Schultern hatte ihr jemand einen nahezu lichtundurchlässigen Leinensack gestülpt. Ihr Mund war mit Klebeband verschlossen, mit der Zunge ertastete sie einen fürchterlich bitter schmeckenden Lappen, den man ihr in den Mund gestopft hatte. Während sie mit den Fingern der rechten Hand ihr linkes Handgelenk abtastete, spürte sie, dass auch ihre Beine gefesselt waren. Sie schienen fest mit dem Stuhl verwachsen. Das muss ein böser Traum sein, schoss es ihr durch den Kopf. Im Halbschlaf vernahm sie eine weinerliche, leise Stimme: „Seid ihr es? Ich bin hier drüben. Könnt ihr mich nicht hören? Ich habe Schmerzen und kann mich nicht bewegen. Helft mir doch endlich, das ist kein Spaß mehr! Ich kann nicht mehr, Hilfe! Hilfe!“ Schlagartig wurde es still.
Nun war ihre Müdigkeit jäh verflogen, sie hielt den Atem an und horchte in die Stille, doch die Rufe wiederholten sich nicht. Angestrengt überlegte sie, wer sie an diesen Ort gebracht haben könnte. Zu wem hatte sie zuletzt Kontakt gehabt? So sehr sie auch grübelte, sie konnte sich nicht erinnern. Weitgehend unbekleidet, begann sie zu frösteln. Ein sonderbarer süßlich-muffiger Geruch lag in der Luft, es roch nach Fäulnis und Verwesung. Vergeblich bemühte sie sich, etwas durch den Sack hindurch zu erkennen, lediglich ein schwaches unregelmäßiges Flackern konnte sie erahnen. Panik machte sich in ihr breit: War sie Opfer eines Menschenhändlers geworden? Drohte ihr das Los der Prostitution oder schlimmer noch das Schicksal eines menschlichen Ersatzteillagers? Würden ihre Entführer sie ausschlachten und Organ für Organ an reiche Patienten verkaufen?
Erschöpft von ihren panischen Phantasien, dämmerte sie vor sich hin, bis ein Geräusch in unmittelbarer Nähe sie abermals aufschreckte. Sie traute sich kaum zu atmen. Mit leicht geneigtem Kopf lauschte sie in ihr dunkles Gefängnis hinein und vernahm ein leises Kratzen, Scharren – vielleicht knabberten bereits Ratten an ihren Beinen? Oder spielte ihre Wahrnehmung ihr einen Streich? Das Flackern des Streifens wurde heller, an ihren gefesselten Beinen spürte sie eine leichte Brise, doch kam sie gegen die bleierne Müdigkeit nicht an und schlief erneut ein.
Alles drehte sich im Kreis, und sie begann, von schlecht schmeckenden Cocktails zu träumen, von verschwommenen Gestalten, einer dicken Beule am Hinterkopf und ihrem ersten festen Freund. Sie träumte von einer verschlossenen Kinderzimmertür, vom obligatorischen Mittagsschlaf, von Hausaufgaben und Strafarbeiten, von ihrer ersten Lehrerin Stefanie, dem Sportunterricht und den Hänseleien der Mitschüler wegen ihrer Leibesfülle. Sie träumte von Kommilitonen, die ihr nachstellten und vor denen sie sich verstecken musste, und von seltsam entstellten Freunden und Freundinnen: Die männlichen Freunde hatten viel zu hohe Stimmen, die weiblichen gar keine.
Noch während sie sich im Halbschlaf fragte, wie sie nur solch einen Unsinn träumen konnte, warnte sie eine innere Stimme. Denn die ihren Körper abtastenden Hände schienen real zu sein, sie griffen ihr ins Gesicht, strichen ihr über den Kopf, wanderten zu ihren Brüsten und öffneten ihre Bluse. Jemand zog offensichtlich an ihren Fesseln, ein leises heiseres Lachen drang an ihr Ohr. Was für ein anstrengender Traum, dachte sie bei sich. Sie beschloss, sich sicherheitshalber schlafend zu stellen, denn an Nacken und Schulter nahm sie warmen Atem wahr, sie spürte ihn ganz nah an ihrer Wange. Plötzlich riss ihr jemand blitzschnell den Sack vom Kopf und leuchtete ihr unvermittelt mit einer Taschenlampe ins Gesicht. Ebenso plötzlich ging das Licht wieder aus. Das Herz schlug ihr bis zum Hals, sie hatte Angst, ihre Entführer könnten dessen lautes Pochen hören. Reglos rechnete sie damit, ein weiteres Mal mit einem Lichtstrahl traktiert zu werden, doch die Lampe blieb aus. Sie traute sich nicht, ihre Augen auch nur einen Spalt weit zu öffnen. Ihre Nackenhaare hatten sich aufgestellt, doch zwang sie sich, so gleichmäßig wie möglich zu atmen. Sie nahm einen leichten Windzug wahr. Hatte jemand den Raum verlassen, oder war es nur eine Finte, um eben dies vorzutäuschen? Sie hatte weder Schritte noch das Öffnen und Schließen einer Tür gehört. Wie vielen Peinigern mochte sie hier ausgesetzt sein? Erneut hörte sie leises Wimmern, es schien ganz aus der Nähe zu kommen und klang wie das Weinen eines Kindes. Dann klopfte es unregelmäßig. Angst schnürte ihr die Kehle zu. Sollte sie auf die Geräusche reagieren? Wollte ihr jemand eine Falle stellen?
Während das Wimmern verstummte, drangen aus der anderen Ecke des Raumes sonderbare fremde Laute an ihr Ohr. Erschöpft fiel sie in tiefen Schlaf, bis ein lauter Knall sie jäh aufschreckte. Wie lange mochte sie geschlafen haben? Sie hatte jegliches Zeitgefühl verloren.
Das näherziehende Gewitter überlagerte nach und nach alle übrigen Geräusche. Rasch kam es näher, das Flackern unter der Tür wurde unregelmäßiger. Die lauter werdenden Donnerschläge rissen sie aus ihrer Lethargie. Sie war hundemüde und hätte am liebsten weitergeschlafen, doch musste sie wach bleiben, um sich zu befreien. Ihre Lage war prekär, das erkannte sie wohl. Panik stieg in ihr auf. Um fliehen zu können, musste sie sich zunächst vom Stuhl befreien. In rhythmischen Bewegungen schob sie ihr Gesäß vor und zurück, lehnte ihren Oberkörper so weit wie möglich nach vorn, kippte samt Stuhl nach einigen Versuchen vornüber und stand auf ihren Fußballen. Nun hingen die Hinterbeine des Stuhles und ihre Fersen in der Luft. Um nicht vornüber zu fallen, presste sie die Zehenspitzen gegen den Boden und streckte sich. Schließlich sprang sie mit ganzer Kraft nach oben, warf sich zur Seite und landete unsanft auf dem kalten Betonboden. Ihr Rücken schmerzte. Sie hielt inne und lauschte. Das Gewitter und der auf das Dach prasselnde Regen hatten ihren Lärm glücklicherweise überlagert.
Die Rückenlehne des Stuhles hatte sie mit ihrem Sturz zerbrechen können, sodass sie ihre Arme trotz der Fessel um die Handgelenke etwas besser bewegen konnte. Ihre Beine aber waren unverändert fest an den Stuhl gefesselt. Auf der Seite liegend, gelang es ihr trotz starker Rückenschmerzen, nach einer gefühlten Ewigkeit die Fußfesseln abzustreifen und den Stuhl mit den Füßen wegzuschieben. Doch sich mit den auf dem Rücken gefesselten Armen aufzurichten, gelang ihr nicht. Zentimeter für Zentimeter robbte sie daher zur nächstgelegenen Wand, setzte sich auf, presste ihre Schultern dagegen und drückte schließlich die Beine vorsichtig durch. Trotz der Schmerzen ging sie seitwärts Schritt für Schritt auf die mutmaßliche Tür zu. Auf der Suche nach etwas Scharfkantigem zum Durchtrennen des Kabelbinders tastete sie ein Wandregal ab, näherte sich einer Werkbank und spürte an deren Ende einen Schraubstock. Verzweifelt spreizte sie die Finger und scheuerte den Kabelbinder an der Innenseite einer der Schraubstockbacken hin und her, vergeblich. Sie tastete sich weiter vor und stieß etwas tiefer auf eine mit einer kühlen Kunststoffauflage bezogene Pritsche. Erschöpft setzte sie sich darauf, um neue Kräfte zu sammeln, und berührte dabei mit ihren Händen etwas Weiches. Reflexhaft sprang sie auf und ging einen Schritt nach vorn. Was war das? Behutsam trat sie erneut rückwärts an die Bank, ertastete nochmals etwas Warmes, Weiches und hielt schließlich volles Haar in den Händen. Sie erstarrte, ihr Puls schlug ihr bis zum Hals, und nur mit Mühe konnte sie einen impulsiven Schrei unterdrücken.
Sie hastete zur Tür, verfing sich in einem Schlauch und konnte nur knapp einem rollenden Gestell ausweichen; mit den auf dem Rücken gefesselten Armen hätte sie nur äußerst mühsam wieder aufstehen können. Notausgangstüren schlagen in Fluchtrichtung auf, erinnerte sie sich, also drückte sie das rechte Knie gegen die Tür, doch die rührte sich nicht, und deren Klinke war für ihre gefesselten Hände unerreichbar hoch angebracht. Sie trat einen Schritt zurück, legte ihre Schläfe auf die Klinke und drückte diese fest nach unten, während sie gleichzeitig versuchte, die Tür aufzudrücken. Ein ums andere Mal rutschte ihre Schläfe ab, doch sie gab nicht auf, bis die unverschlossene Tür endlich nachgab und sie einen Fuß in den sich öffnenden Spalt schieben konnte. Kühle Luft schlug ihr entgegen, offensichtlich führte dieser Weg ins Freie. Das Klebeband unverändert vor dem Mund, inhalierte sie die frische Luft tief durch die Nase. Regungslos blickte sie sich um. Es dämmerte, das Gewitter lag genau über ihr, es goss in Strömen. Gegenüber stand ein altes, etwas heruntergekommenes Häuschen. Licht konnte sie dort keines erkennen. Rechts von ihr befand sich eine Garage, linker Hand mündete die Einfahrt des Grundstücks offenbar in eine Straße. Es schien ein abgelegenes Grundstück zu sein, denn weitere Häuser sah sie nicht.
Vorsichtig öffnete sie die Tür und wand sich durch den Spalt ins Freie, als der Bewegungsmelder sie erfasste und sie abrupt vom grellen Licht des Strahlers geblendet wurde. Unwillkürlich kniff sie die Augen zusammen und rannte nach links auf die dort vermutete Straße zu. Sie hatte das Ende der Hofeinfahrt noch nicht erreicht, als ihr ein gellender Schrei das Blut in den Adern gefrieren ließ: „Komm sofort wieder rein, du Miststück!“ befahl ihr eine herrische Stimme. Sie dachte jedoch nicht im Traum daran, sondern rannte, so schnell es mit ihren gefesselten Armen ging, davon. Das Grollen des Donners übertönte das wütende Gebrüll, doch allein die Bruchstücke, die sie wahrnahm, versetzten sie in Todesangst. „Zurück, oder ich knall dich ab!“ Nun rannte sie buchstäblich um ihr Leben. Atemlos, über dem Mund unverändert das Klebeband ihrer Peiniger, erreichte sie einen asphaltierten Weg, dem sie instinktiv einen Hügel hinab folgte. Allmählich wurden die Drohungen leiser und verstummten schließlich gänzlich. Blendend grelle Blitze zerrissen die Dunkelheit, Donnerschläge knallten ihr in den Ohren, und der auf sie herabprasselnde Regen erschwerte ihr zusätzlich die Flucht. Leider endete der Asphalt alsbald und ging in einen Schotterweg über, dessen spitze Steine sich in ihre Fußsohlen bohrten. Mit schmerzverzerrtem Gesicht rannte sie weiter, konzentriert darauf bedacht, bloß nicht zu stolpern.
Mit der Zeit gewöhnten sich ihre Augen an das Wechsellicht aus grellen Blitzen und tiefer Dunkelheit. In der Ferne waren Lichter zu erkennen. Links blinkte irgendetwas in gleichbleibenden Intervallen. Auf dieses Licht lief sie nun zu, über eine frischgemähte Wiese, deren harten, kurzen Grasstoppeln sich in ihre blutenden Füße drückten. In das Grollen des Donners mischte sich plötzlich Hundegebell. Deutlich war mehr als ein Hund zu hören. Sie schienen ihr eine Meute auf den Hals zu hetzen. Panische Angst erfasste sie, die Hunde würden schneller und ausdauernder sein als sie. Sie forcierte ihr Tempo, stolperte, verfing sich in diversen Zäunen und verlor dadurch wertvollen Vorsprung. Nach einer gefühlten Ewigkeit erreichte sie einen kleinen Wald und lief geradewegs hinein, wohlwissend, dass die Bäume ihr keinen Schutz vor der Hundemeute bieten würden. Im Gegenteil, die herausstehenden Wurzeln erwiesen sich als wahre Stolperfallen, und die ihr ins Gesicht schlagenden Äste hinterließen tiefe Striemen. Kurz darauf verließ sie den Wald wieder, das Gewitter zog langsam weiter. Doch der Weg durchs Unterholz hatte Zeit gekostet, das Hundegebell kam stetig näher. Um nicht im Kreis oder ihren Verfolgern direkt in die Arme zu laufen, orientierte sie sich nun am salzigen Geruch der See, der mit jedem ihrer Schritte kräftiger wurde. Das Meer würde ihre Rettung sein! Selbst mit verbundenen Händen wäre sie in der Lage, auf dem Rücken liegend zu schwimmen. Nur wenige hundert Meter entfernt sah sie das regelmäßige Blinken. Es musste vom gut 14 Meter hohen Leuchtturm Schleimünde stammen, da war sie sich ziemlich sicher; in den vergangenen Tagen hatte sie sich eingehend mit der hiesigen Gegend beschäftigt. Draußen auf der Ostsee erblickte sie nun kleine Boote, doch selbst ohne Fesseln waren die kaum zu erreichen. Deutlich näher unter der Küste lag dagegen ein Fischerboot. Sie begann, Hoffnung zu schöpfen, und betete, das Boot möge den kleinen Hafen anlaufen und ihr so den Fluchtweg weisen. Am Hafen waren Menschen, und Menschen bedeuteten Rettung.
Es blinkte überall.
Doch ihre Hoffnung schwand, als sie die Verfolger ihren Namen rufen hörte. Kein Zweifel, die Rufe kamen nun von mehreren Seiten, von hinten, aber auch vom Strand. Sie erschauderte, als ihr schlagartig bewusst wurde, eingekesselt zu sein. Zu den Rufen gesellten sich nun näherkommende Motorengeräusche, ein Motorrad hörte sie deutlich heraus. Dieses verdammte Motorrad! Steckte er dahinter? Mein Gott, wie hatte sie sich nur so täuschen können? Sie saß in der Falle. Rechts hinderte sie ein tiefer Entwässerungsgraben am Weiterkommen, links verstellten ihr Feldhecke und Stacheldrahtzaun unüberwindlich den Weg. Jeden Augenblick würde die Meute sie eingeholt haben, sie konnte bereits deren Hecheln hören. Sie schrak zusammen, als plötzlich Schüsse die Luft zerrissen, und zitterte nun am ganzen Leib. Hatte man sie als Trophäe einer Gesellschaftsjagd ausgewählt? Was um Himmels Willen hatte sie verbrochen? Nein, hier musste eine Verwechslung vorliegen! War alles nur ein böser Traum? Sie fühlte sich viel zu jung für ein solches Ende. Hoffnungslos und entkräftet ergab sie sich in ihr Schicksal und blieb einfach stehen. Die Jagd war zu Ende, die Hunde waren nur noch wenige Meter entfernt. Während das Gewitter donnergrollend weiterzog, fiel der nächste Schuss. Den Knall hörte sie bereits nicht mehr. Nur wenige Meter vom Meer entfernt, sackte sie in den nassen Sand, das Gebell verstummte.
Am vergangenen Sonntag gegen 7.00 Uhr morgens holten die Fischer der „Seeadler“ aus Maasholm einen schaurigen Beifang ein. In ihren Fangnetzen entdeckten sie eine fast unbekleidete weibliche Leiche; nach dem Öffnen des großen Netzes lag sie inmitten des Fangs an Deck. Sichtlich geschockt nahm die Crew die Tote kurz in Augenschein, ehe sie Kapitän Jörn Petersen über Funk auf der Brücke informierte. Petersen verständigte sofort die Polizei, die unverzüglich das kürzlich nach Olpenitz verlegte Flaggschiff der Küstenwache, die „Staberhuk“ der Wasserschutzpolizei, in Marsch setzte und die Mannschaft der „Seeadler“ anwies, sofort zu stoppen, die Position zu halten und sämtliche Aktivitäten einzustellen. Zwei Stunden später machte die „Staberhuk“ längsseits der „Seeadler“ fest und übernahm die Leiche. Wo die Tote den Fischern genau ins Netz gegangen war, konnte noch nicht ermittelt werden. Die „Seeadler“ hatte Maasholm am Montagabend um 21.00 Uhr verlassen, gegen Mitternacht das Fanggebiet erreicht und danach die Netze ausgelegt. In großen Schleifen hatte die Crew mehrere Stunden lang gefischt und gegen 7.00 Uhr die Netze wieder eingeholt.
„Seit 50 Jahren fahre ich nun zur See, und wenige Monate vor der Pension so etwas“, sagte Kapitän Petersen. „So ziemlich alles, was Menschen der Umwelt antun können, haben wir aus der See gefischt. Weltkriegsmunition, versunkene Schätze, aber hauptsächlich Müll. Unmengen von Müll! Der Mensch gleicht einem Schwein. Mit dem Unterschied, dass Schweine kein Plastik und anderen Unrat produzieren, den sie danach ins Meer werfen.“
Die Identität der Toten sei ungeklärt, erklärte Werner Müller, in Urlaubsvertretung Dienststellenleiter und Polizeisprecher in Personalunion, gegenüber den „Schlei-Nachrichten“. Die Tote sei fast unbekleidet gewesen und habe daher keinerlei persönliche Gegenstände bei sich getragen. Das Alter der Toten könne nur geschätzt werden. Vermutlich habe sie einen der gekennzeichneten Badestrände verlassen, die Strömung unterschätzt und sei dann aufs offene Meer hinausgezogen worden, so Müller weiter. Auch ein Schiffsunglück auf hoher See könne momentan nicht ausgeschlossen werden. Gleiches gelte für die vielen derzeit stattfindenden Regatten. Möglicherweise habe die Verstorbene an einer dieser Wettfahrten teilgenommen. Die Polizei wolle zunächst den Obduktionsbericht der Flensburger Gerichtsmedizin abwarten und sich nicht an Spekulationen beteiligen. Das gelte auch für die von der Presse aufgeworfene Frage, ob die Tote möglicherweise Opfer eines Gewaltverbrechens geworden sei. Im Übrigen habe die Staatsanwaltschaft Flensburg bereits Ermittlungen aufgenommen und eine Soko „Schlei“ ins Leben gerufen. Diese werde von Kappeln aus vom neuen Dienststellenleiter Volker Theissen geleitet. Da dieser sich im wohlverdienten Urlaub befinde, leite nun er das Amt kommissarisch, erklärte Müller im Gespräch mit den „Schlei-Nachrichten“. Die Soko suche nun nach Zeugen, die ungewöhnliche Beobachtungen gemacht hätten. Abschließend bat Müller die Zeitung um die Veröffentlichung eines Aufrufes. Neben den Einheimischen sollten vor allem die vielen Sommergäste und Segler in der Region gebeten werden, Beobachtungen, und seien sie vermeintlich noch so nebensächlich, der Polizei über eine eigens hierfür geschaltete Hotline zu melden. Ferner wies Müller sein Team an, sämtliche Tourismusverbände, einheimischen Hotels und Campingplätze mit der Bitte anzuschreiben, ihren Gästen per Mail einen Fragenkatalog zukommen zu lassen; dies schloss bereits abgereiste Gäste ein. „Die Schlei-Nachrichten bleiben auch in diesem außergewöhnlichen Fall am Ball und halten Sie selbstverständlich auf dem Laufenden“, schrieb die in Kappeln, Angeln und Schwansen verbreitete Zeitung. „Auch wir stehen Ihnen telefonisch zur Verfügung und bitten ebenfalls um Ihre Mithilfe. Scheuen Sie sich nicht, uns zu kontaktieren. Falls gewünscht, reichen wir Ihre Hinweise auch anonymisiert an die Polizei weiter. Machen Sie sich keine Sorgen, Ihre Aussagen sind bei uns in besten Händen.“ Dass Staatsanwaltschaft und Polizei die Bevölkerung über die Medien zur Mithilfe aufriefen, deutete auf ein Verbrechen hin.
Das Gurgeln der betagten Kaffeemaschine wetteiferte mit der sonoren Stimme des Nachrichtensprechers im Frühstücksfernsehen. Das frühe Aufstehen war unchristlich, doch so blieb ihr ausreichend Zeit, um vor der Arbeit in Ruhe zu duschen, dachte Anna bei sich und hielt kurz inne, als der Sprecher den Wetterbericht verlas. Die warmen Nächte hatten in diesem Sommer keinerlei Abkühlung gebracht, und an den kommenden Tagen sollte es sehr heiß werden. 32 Grad Celsius waren selten in Hamburg. Ich muss hier raus, murmelte Anna gedankenversunken vor sich hin. Ihr letzter Urlaub lag lange zurück, sie konnte sich kaum noch an ihn erinnern. Mit der Kaffeetasse in der Hand verschwand sie im Badezimmer, streifte ihr schneeweißes Nachthemd ab und musterte ihre nackten 175 Zentimeter im Spiegel. Mit ihrem festen Bindegewebe, ihren vollen Brüsten und den ellenlangen Beinen war sie hochzufrieden, ihr regelmäßiger Sport zeigte durchaus Wirkung. Ihr Po erschien ihr zu flach, doch in den richtigen Hosen verstand sie es, diesen Umstand geschickt zu kaschieren. Sie trank ihren Kaffee aus, putzte sich die Zähne und stieg in die Dusche. „30 Jahr, dunkles Haar“, trällerte sie vor sich hin. Anna liebte ausgiebiges Duschen, doch heute wartete im Büro viel Arbeit auf sie, daher fiel die Körperpflege kurz aus. Während sie sich abtrocknete, strukturierte sie in Gedanken den vor ihr liegenden Tag und stellte ihre heutige Garderobe zusammen. 32 Grad Celsius, das sprach für eine dünne Bluse, einen kurzen Rock und bequeme Ballerinas.
Seit Anna das Single-Leben für sich entdeckt hatte, lebte sie in Hamburg-Mitte und ging bei trockenem Wetter zu Fuß ins Büro; 20 Minuten brauchte sie bis in die HafenCity. Schneller ging es mit der U-Bahn auch nicht. Die Option, sich in volle öffentliche Verkehrsmittel zu zwängen, blieb ihr bei Schmuddelwetter schließlich immer noch. Ein eigenes Auto fand Anna angesichts der raren Parkplätze in der Hansestadt nur hinderlich. Um jedoch nicht gänzlich auf mobile Bequemlichkeit verzichten zu müssen, teilte sich Anna einen älteren VW Golf mit einem Nachbarn. Der Glückspilz war bereits im Urlaub, und so hatte Anna das Auto für sich. Gegen 7.00 Uhr trat sie vor die Tür und ging zügigen Schrittes Richtung Hafen. Vor den zu dieser frühen Stunde noch dunklen Schaufenstern ihres Friseursalons blieb sie kurz stehen und musterte ihr Spiegelbild. Ihr schulterlanges, dunkles Haar sah etwas zerzaust aus, vor allem die Haarspitzen hatten unter ihren seltener gewordenen Friseurbesuchen etwas gelitten, nun drohte Spliss.
Sobald der alte Stockfisch ihren Urlaubsantrag genehmigt hatte, würde sie sich hier mal wieder stylen lassen. Um Punkt 7.20 Uhr betrat sie ihr altehrwürdiges Versicherungsbüro in der HafenCity. Der alte Speicher war vor einigen Jahren als einer der ersten renoviert worden, Anna gefiel die Kombination aus alter Hülle und modernem Interieur. Sie fuhr ihren PC hoch und fragte zunächst ihre Mails ab. Das Sommerloch schlug sich auch in ihrem Maileingang nieder, Schadensregulierungen waren Anfang August eher selten. Wenn das nicht der richtige Zeitpunkt war, um Urlaub zu machen! Da Anna keine Lust verspürte, den Antragsbogen in der Firmendatenbank zu suchen, rief sie kurzerhand in der Personalabteilung an und bat darum, ihr einen auszudrucken. Kurz darauf holte sie sich das Formular dort ab, trug mutig zwölf Urlaubstage ein, setzte Datum und Unterschrift darunter und machte sich auf den Weg zum Chef. Der war inzwischen bestimmt im Büro, denn auch er war ein Frühaufsteher.
Im Vorzimmer des Chefs residierte Fräulein Neumann. Sie gehörte quasi zum Inventar und hielt mit ihren knapp 60 Jahren unverdrossen am „Fräulein“ fest. So antiquiert wie die Anrede war ihr Äußeres; Anna erinnerte sie an die 1970er-Jahre. Kurz bevor sie eintrat, öffnete Anna einen weiteren Knopf ihrer Bluse. „Guten Morgen, Fräulein Neumann, neues Kleid?“ strahlte sie die Chefsekretärin an. „Ist der Chef zu sprechen? Ich bin in Eile!“ Fräulein Neumann ließ sich nicht aus der Ruhe bringen. „Guten Morgen, Frau Hansen! Sollten Sie unseren geschätzten Geschäftsführer meinen, sehe ich gerne einmal nach.“ Umständlich begann sie, in dessen papiernem Terminkalender zu blättern. „Genau den meine ich“, erwiderte Anna mit gespielter Freundlichkeit.
„Sie haben keinen Termin?“ fragte die Sekretärin scheinbar verwundert. „Geschäftsführer Hagen ist immer sehr beschäftigt. Es würde an ein Wunder grenzen, wenn er… Moment mal, halt, Stopp!“ Anna wollte nicht warten, sie hatte Fräulein Neumanns Schreibtisch bereits umrundet und die Hand nach Hagens Tür ausgestreckt. Mit ausgebreiteten Armen stellte sich Fräulein Neumann nun abwehrend davor. „Ich habe doch gesagt, ich sehe nach. Wollen Sie etwa in diesem Aufzug zur Geschäftsleitung?“ Missbilligend betrachtete sie Annas kurzen Rock. „In welcher Angelegenheit möchten Sie bei Herrn Geschäftsführer Hagen eigentlich vorsprechen?“ Anna hatte keine Lust zu diskutieren: „Überstunden, Resturlaub, Burnout“, antwortete sie schnippisch. „Ich werde nachsehen, was sich machen lässt.“ Kopfschüttelnd betrat Fräulein Neumann das Büro des Chefs und schloss demonstrativ hinter sich die Tür. Die blöde Kuh spielt sich aber wieder mal mächtig auf, dachte Anna.
„Herr Hagen, hier ist Frau Hansen“, kündigte Fräulein Neumann sie an und hielt Anna die Tür zum Büro des Chefs auf. „Wie immer unpassend gekleidet und natürlich unangemeldet!“ giftete sie. „Sexuell gefrustete alte Jungfer“, revanchierte sich Anna im Vorbeigehen zischend. Binnen Sekunden wich Fräulein Neumanns vornehme Blässe dunkelroter Zornesröte, hinter Anna warf sie wortlos die Tür zu. Anders als seine Chefsekretärin nahm Herr Hagen keinen Anstoß an Annas knappem Outfit. Erst als sie sich setzte, wanderte sein lüsterner Blick langsam nach oben. Denk‘ an deinen Blutdruck, dachte Anna. Du bist nicht mehr der Jüngste! Hagens angebotenen Kaffee lehnte Anna dankend ab. Sie wollte es mit Fräulein Neumann nicht auf die Spitze treiben und sich von ihr auch noch bedienen lassen. Mit wem sie denn in den Urlaub fahre, wollte Hagen wissen. Und wohin die Reise denn führe. Anna verbat sich höflich derart indiskrete Fragen und verließ zügig das Büro, nachdem ihr Chef schließlich murrend den Urlaubsantrag abgezeichnet hatte. „Bitte schicken Sie Fräulein Neumann zu mir“, rief Hagen ihr hinterher.
„Und bleiben Sie erreichbar! Schönen Urlaub!“
„Der alte Herr wünscht Sie zu sprechen“, gab Anna Hagens Bitte weiter. „Ihre Manieren lassen gehörig zu wünschen übrig“, erwiderte Fräulein Neumann unverändert wütend, erhob sich vom Schreibtisch und suchte Hagens Büro auf. Sie drehte das an der Tür hängende Schild „Besprechung, bitte nicht stören!“ um, verschwand im Büro und verriegelte die Tür von innen. Anna stutzte. Soso, der Stockfisch und das ehrenwerte Fräulein unter vier Augen hinter verschlossener Tür! Sie hatte sich offenbar geirrt, Fräulein Neumann war also gar keine sexuell gefrustete alte Jungfer, und der Stockfisch hatte bei Annas Anblick offensichtlich Appetit bekommen. Interessant! Mit dieser Information ließe sich bei passender Gelegenheit durchaus sanfter Druck ausüben. Man wusste nie, wann und bei welcher Gelegenheit Insiderwissen hilfreich werden würde.
Zurück im eigenen Büro, verfasste Anna in ihrem Mailprogramm eine Abwesenheitsnotiz, fuhr den Rechner runter und verließ geräuschlos ihren Arbeitsplatz. Ohne Termin musste sie beim Friseur ein wenig warten. Einige der Mitarbeiterinnen hatten frei. Im Wartebereich blätterte sie wahllos in den ausgelegten Magazinen und blieb an einer Urlaubsillustrierten hängen. Das großformatige, doppelseitige Foto mit grellgelbem Raps vor dunkelblauem Meer war fast schon kitschig, und doch zog es Anna in die Reisereportage hinein. In einem Ortsteil von Kappeln sollte ein großes Gebiet rund um einen alten Hafen neu erschlossen und zum OstseeResort Olpenitz ausgebaut werden. Von der Region rund um die Schlei hatte sie zwar schon gehört, dort gewesen aber war sie noch nie. Besonders gut gefiel ihr die Lage der Wohnungen auf der Nordseite der sogenannten Marina Lounge. Die meisten Wohnungen waren bereits fertig. Sie hatte das passende Reiseziel gefunden! Partys hatte sie in Hamburg genug, im Urlaub konnte es durchaus ruhiger zugehen. Während die Friseurin die Haarspitzen flachdrückte, sie zwischen Mittel- und Zeigefinger nahm und zwei Zentimeter abschnitt, durchsuchte Anna auf ihrem Smart Phone die einschlägigen Urlaubsportale nach freien Ferienwohnungen. Es war wie verhext, sie schienen sämtlich belegt zu sein. Kurzerhand rief sie einige Reisebüros an und gab ihre Daten durch: Doppelzimmer, Anreise morgen oder übermorgen, mindestens eine Woche mit Option auf eine Verlängerungswoche, Meerblick, Terrasse oder Balkon, bezahlbar. Erst vor wenigen Tagen hatte sich ihre Jugendfreundin Martina bei ihr gemeldet. Nach dem gemeinsamen Jurastudium war sie von Hamburg nach Heidelberg gezogen, wo sie bei der Kriminalpolizei tätig geworden war und ihren Ehemann Jens kennen und lieben gelernt hatte. Während Jens im August arbeiten musste, hatte Martina frei. Eine gemeinsame Urlaubswoche an der Ostsee würde die langjährige Freundschaft der beiden jungen Frauen neu beleben. Während Anna nach dem sündhaft teuren Friseurbesuch einen Kaffee im Bistro gegenüber genoss, trafen die ersten Rückmeldungen der Reisebüros ein. Lediglich eines von ihnen bot ihr vom darauffolgenden Tag an ein Feriendomizil an. Anna überflog die Nachricht und guckte sich die traumhaft schönen Fotos dazu an. Die erst vor wenigen Tagen fertiggestellte Wohnung hieß vielversprechend „Brandung“ und lag offenbar direkt am Meer. Ein Schnäppchen war das Angebot nicht, aber das konnte sie in der Haupturlaubszeit ja auch kaum erwarten. Anna verliebte sich sofort in die Wohnung, buchte sie samt zweier Mountainbikes verbindlich und recherchierte nun nach einem Flug für Martina. Da zwischen Stuttgart und Hamburg sämtliche Flüge ausgebucht waren, wich sie auf Verbindungen ab Frankfurt aus und buchte lediglich einen Hinflug für den Fall, dass sie sich für eine Verlängerungswoche entscheiden sollten.
Auf dem Mobiltelefon konnte Anna ihre Freundin ebenso wenig erreichen wie auf deren Festnetzanschluss, also hinterließ sie Martina eine Mitteilung auf deren Heidelberger Anrufbeantworter: „Hi, ich bin es, Anna. Morgen um 10.15 Uhr fliegst du in deine alte Heimat Hamburg. Ich habe ein schönes Domizil an der Schlei bzw. Ostsee für uns gefunden. Dein Ticket habe ich dir als PDF per Mail geschickt. Ich hole dich am Airport ab. Außer Badesachen und guter Laune brauchst du nicht viel. Bettwäsche und Handtücher sind vorhanden. Bekommst du deine Nachrichten eigentlich aufs Handy? Dann hättest du das Flugticket bereits auf dem Telefon. Sonst drucke es dir bitte aus. Ich habe heute Abend noch Termine. Sollte ich nichts mehr von dir hören, gehe ich davon aus, dass alles klappt.
Ich freu‘ mich. Anna.“ Sicherheitshalber schickte sie Martina eine SMS gleichlautenden Inhalts hinterher, bestellte noch einen Cappuccino und dazu ein Nusshörnchen. Auf dem Heimweg klapperte Anna systematisch ihre Lieblingsläden ab – sie hatte buchstäblich nichts anzuziehen. So kostenbewusst sie in der Versicherung war, so großzügig konnte sie im privaten Umgang mit Geld sein. Mit einem halben Dutzend Papiertüten kam Anna nach mehreren Shopping-Stunden gegen 18 Uhr völlig erschlagen zu Hause an und begann, ihren Koffer zu packen. Zufrieden mit ihrem Tagwerk, schenkte sie sich am Abend ein Glas Weißwein ein und rief ein weiteres Mal bei Martina an. Vergeblich. Anna sprach ihr erneut aufs Band, ehe sie begann, im Internet ihre Feriendestination zu erkunden. Viele Sehenswürdigkeiten und Veranstaltungen schien es in der Gegend nicht zu geben. Doch Meer, Ruhe und Strand gab es im Überfluss. Voller Vorfreude knipste Anna gegen 0.30 Uhr ihre Nachttischlampe aus.
An Werktagen pflegte Martina früh schlafen zu gehen und früh aufzustehen. Doch gestern hatte sie das Kofferpacken aus ihrem Biorhythmus gebracht. Erst gegen 23.00 Uhr war sie schließlich zur Ruhe gekommen. Die heutige Nacht war eindeutig zu kurz gewesen. Schlaftrunken suchte sie ihr Mobiltelefon. Um dessen Weckfunktion nicht vom Bett aus ausschalten zu können und dann womöglich zu verschlafen, variierte Martina regelmäßig die Verstecke. Heute fand sie das Mobiltelefon in einem ihrer Sportschuhe. In Windeseile zog sie sich aus und sprang unter die Dusche. Annas Organisationstalent hatte sie überrumpelt. Aufs Haarewaschen verzichtete sie. Jetzt musste es schnell gehen. Zehn Minuten später war sie abreisebereit. Eines wollte Martina zuvor jedoch noch regeln.
Ihre Ehe mit Jens war bereits seit längerem zerrüttet, auch die vergangene Nacht hatte er nicht zu Hause verbracht. Dabei hatte es vor fünf Jahren so liebe- und temperamentvoll begonnen. Sie hatten einander bei einem Vortrag über präventive Strategien der Polizei im 21. Jahrhundert in München kennengelernt, am ersten Abend an der Hotelbar intensiv miteinander geflirtet und am zweiten bereits das Bett geteilt. Nicht nur dort hatte Jens sie beeindruckt. Er war ein attraktiver, großer Mann, ein wortgewandter Charmeur mit geistreichem Humor. Doch auf ihrer Beziehung lag von Anfang an ein Schatten: Jens war verheiratet. Ein Jahr lang hielten die beiden ihre Liaison geheim und spielten ein Katz-und-Maus-Spiel, bis Jens seine Ehefrau schließlich aus der gemeinsamen Wohnung warf, diese verkaufte und zu Martina in deren Haus einzog; Martinas Vater hatte es seiner Tochter als Kapitalanlage geschenkt. Drei Monate nach Jens‘ Scheidung heirateten die beiden, doch das Glück währte nicht lange. Im Haushalt rührte Jens keinen Finger, von Familienplanung wollte er zu Martinas großem Kummer nichts wissen, und seine starke berufliche Beanspruchung erwies sich als bloßes Alibi für seine zahllosen sexuellen Eskapaden.
Jens jetzt zu begegnen, wollte Martina unter allen Umständen vermeiden, er konnte jeden Moment eintreffen. Ihren Rucksack und den neuen giftgrünen Koffer reisefertig neben der Haustür, schrieb sie Jens einen letzten Brief: Nachdem er in Heidelberg und Umgebung kaum ein Bett ausgelassen habe, möge er während ihres Urlaubs bitte seine sieben Sachen packen und zu einem seiner jungen Flittchen ziehen. Die eine oder andere junge Gespielin werde ihm sicherlich Unterschlupf gewähren. Dort könne er sich in aller Ruhe für die richtige Frau entscheiden, mit der Kinder kriegen und vielleicht wenigstens in der Beziehung treu sein. Oder er könne weiterhin seine Polygamie ausleben und eines Tages mit einem Messer im Rücken in einem fremden Bett krepieren, falls er nicht bei den Mormonen in Salt Lake City die dort legale Vielweiberei praktizieren wolle. Sie habe ein für alle Mal genug von ihm und seinen Eskapaden. Er solle nicht auf die Idee kommen, sie anzurufen und von einem Ausrutscher zu faseln wie beim jüngsten Mal. Sie werde bei seinem Anruf nicht ans Telefon gehen. Martina schloss den Brief mit dem Hinweis, sie habe ein Hotel mit Meerblick in Westerland auf Sylt gebucht und freue sich auf ein paar Tage Ruhe. Zufrieden faltete Martina den Zettel und legte ihn auf den Esstisch.
Martina fiel noch etwas ein. Ihre wichtigen Dokumente
wollte sie mitnehmen. Sie holte Geburts- und Eheurkunde aus der alten Holzkiste im Wohnzimmerregal und verstaute sie im Koffer. Ihre EC- und Kreditkarte sowie die Versichertenkarte ihrer Krankenkasse hatte sie immer im Portmonee. Für ihr Girokonto hatte Jens keine Vollmacht, wohl aber für das Sparbuch. Das musste sie im Gespräch mit der Bank ändern, doch jetzt fehlte ihr dafür die Zeit. Möglicherweise würde Jens nach dem Sparbuch suchen und aus Wut über sie das Geld abheben. Ihr Versteck hielt Martina für perfekt: Bereits vor Monaten hatte sie es in Alufolie gewickelt und zwischen Dunstabzugshaube und Wand geklemmt. Jens hatte noch nie Geld vom Sparbuch abgehoben, vielleicht nur, weil er nicht wusste, wo es sich befand. Seine jungen Damen kosteten viel Geld, doch nach dem Sparbuch zu fragen, hatte er sich noch nie getraut. Noch klemmte es an Ort und Stelle.
Schließlich verstaute Martina die Tageszeitung, das nagelneue Tablet und ein wenig Obst im Rucksack, steckte zwei kleine Wasserflaschen in die offenen Seitenfächer rechts und links des Hauptfaches und machte sich auf den Weg zum Heidelberger Hauptbahnhof. Ein älterer Herr half ihr beim Einsteigen und hievte den schweren Koffer in den Waggon. Bereits kurz darauf hatte sie einen freien Fensterplatz gefunden und fuhr erleichtert Richtung Frankfurt. Martina freute sich auf ihre alte Freundin Anna, auf Sonne, Sand und Meer. Über Jens hatte sie sich in letzter Zeit genug geärgert. Sie war noch jung und knackig und öffnete sich allmählich für Veränderungen.
Im ICE startete sie ihr neues Tablet und installierte diverse Programme, darunter eines zum Senden und Empfangen von Emails. Erst vor wenigen Tagen hatte sie sich das Gesamtpaket mit neuem Tablet, neuem Mobiltelefon und neu er Nummer und Email-Adresse zugelegt. Sie überspielte die Kontakte vom alten auf das neue Telefon, synchronisierte Tablet mit Handy und rief die ersten Test-Mails ab. Schließlich überprüfte sie die Funktionalität des Mobiltelefons und rief bei Anna an. Nach dem ersten Klingeln legte sie jedoch auf. Vielleicht schlief ihre Freundin ja noch. Hoffentlich habe ich sie nicht geweckt, dachte sich Martina. Zu guter Letzt aktivierte sie die Anrufweiterleitung vom alten auf das neue Telefon und schaltete das alte Gerät danach aus. Bis alle ihre neue Nummer hatten, würde die Rufumleitung gute Dienste leisten.
Glücklicherweise hatte sich Anna um das Flugticket gekümmert. Da die Schalter am Frankfurter Flughafen gut besetzt waren, verlief die Gepäckaufgabe zügiger als Martina befürchtet hatte. Natürlich war ihr Koffer wieder einmal zu schwer. Also holte sie ihre Wanderschuhe raus, legte stattdessen die leichten Sommerschlappen hinein und blickte fragend zur Waage. Na bitte! Die Bordkarte zwischen den Zähnen, bahnte sie sich den Weg zur Sicherheitskontrolle. Mit ihrem kurzen Kleidchen und den klobigen Wanderschuhen war sie der Hingucker. Schweißgebadet erreichte sie die Sicherheitskontrolle und nach weiteren 13 Minuten Fußmarsch schließlich Gate B 32. Die Viertelstunde bis zum Boarding nutzte sie, um eine kleine Flasche Wasser und ein Mitbringsel für Anna zu besorgen. Dann war Flug LH 4736 nach Hamburg zum Einsteigen bereit. Martina freute sich über ihren Fensterplatz, direkt am Notausgang. Sogar an genügend Beinfreiheit hatte die gute Anna also gedacht. Doch statt nun wie erhofft in Ruhe etwas Schlaf nachholen zu können, wurde sie von ihrem Sitznachbarn angesprochen. Der ölige Mittdreißiger hatte sie bereits seit dem Einsteigen unentwegt taxiert. Ob denn ihre Reise in die große, weite Welt oder lediglich nach Hamburg führen solle, wollte er wissen, und warum eine so attraktive junge Dame alleine verreise. Ob es zuträfe, dass Männer sich scheuten, attraktive Frauen anzusprechen, weil sie eine Abfuhr fürchteten. Und ob nun auch er, nicht gerade schlank und mit schütterer Haarpracht, ein Risiko eingegangen sei, das Gespräch mit ihr zu suchen. Seine lebenserfahrene Mutter habe ihm sehr geholfen, sich zu öffnen. Wie seine Vorfahren, so sei auch er ein emotionaler Spätzünder und immer noch unverheiratet und kinderlos. Ein Adliger wie er habe es heutzutage ohnehin nicht leicht, fügte er seufzend hinzu und stellte sich Martina als Achim von und zu vor. Seine Mutter habe bereits Adelshäuser in ganz Europa kontaktiert, um ihn unter die Haube zu bekommen. Doch der internationale Markt an heiratswilligen Prinzessinnen sei wie leergefegt. Sollte sich in absehbarer Zeit keine standesgemäße Partie abzeichnen, sei er wohl gezwungen, eine deutsche Cousine zweiten oder dritten Grades zu ehelichen. Sie, Martina, sei nicht zufällig blaublütig? Hatten sie nicht dasselbe Reiseziel?
Grundsätzlich hatte Martina nichts gegen einen Flirt, doch dieser Typ war ihr zu eindimensional. Ja, sie hatten wohl dasselbe Reiseziel, beschied sie ihren Sitznachbarn abweisend. Es bestehe ja wohl wenig Hoffnung, dass er vorzeitig aus dem Flugzeug springen werde. Während sich Achim von und zu nun tief gekränkt seiner Lektüre widmete, stellte Martina ihren Sitz zurück und schloss die Augen. Etwas frisches Blut hätte Achim von der Vogelweides Dynastie vermutlich tatsächlich nicht geschadet, dachte sie. Der Name war zwar nicht ganz korrekt, aber eine gute Eselsbrücke. Und mit einem Esel hatte sie es hier schließlich zu tun.
Die unsanfte Landung auf dem „Hamburg Airport Helmut Schmidt“ riss Martina jäh aus ihrem leichten Schlaf. Saß heute ein Flugschüler am Steuerknüppel dieses Lufthansa-Airbus? Mit halb verschlossenen Augen schielte sie zu ihrem Nachbarn herüber. Der las ruhig in seiner Broschüre und würdigte sie keines Blickes. Kaum hatte das Flugzeug jedoch seine endgültige Parkposition erreicht, war es mit dessen Ruhe vorbei. Während sich von der Vogelweide mit den Mitreisenden nach vorne drängelte, blieb Martina lachend sitzen. Erst nachdem auch die letzten Passagiere die Kabi ne verlassen hatten, stand sie auf und holte ihr Handgepäck aus der Ablage. Spätestens an der Gepäckausgabe würde sie die Drängler alle wiedersehen. Gut gelaunt verabschiedete sie sich von der Crew, schlenderte zum Ausgang und zog ihr neues Handy aus dem Rucksack, um nachzusehen, ob Anna sich gemeldet hatte. Nein, ihre Freundin war vermutlich bereits am Flughafen, Martinas Flug war pünktlich gelandet. Am Belt G traf sie ihre Mitreisenden erwartungsgemäß wieder, auch ihr aristokratischer Sitznachbar wartete dort mit finsterer Miene auf sein Gepäck. Er war unverkennbar immer noch wütend. Sollte sie auf ihn zugehen, um sich bei ihm zu entschuldigen? Der Zufall nahm Martina die Entscheidung ab, ihr Koffer lag als einer der ersten auf dem Band.
Sie zog ihn an sich, verschwand mit ihm im nächstgelegenen Wickelraum und tauschte die klobigen Wanderschuhe gegen die sommerlichen Ballerinas aus. Routiniert zog sie den Lippenstift nach und ging, ohne sich noch einmal umzusehen, zum Exit – Freiheit und Urlaub warteten.
Trotz der chronisch überlasteten Zufahrtsstraßen kam Anna gut durch den Hamburger Verkehr und traf viel zu früh am Airport ein. Um nicht lange suchen oder in der großen Schleife ein zweites Mal um den Airport fahren zu müssen, steuerte sie das erstbeste Parkhaus an, fand dort schneller als erwartet einen freien Stellplatz und fotografierte ihn sicherheitshalber, um ihr Auto nachher rascher wiederzufinden. In der riesigen Ankunftshalle ging sie zunächst zielstrebig auf die Anzeigetafel zu. On Time: Martinas Flieger schien pünktlich gelandet zu sein. Da Anna ohne Frühstück zu Hause aufgebrochen war, kaufte sie zwei belegte Brötchen, einen Kaffee zum Mitnehmen, den „stern“ und ein unlängst aktualisiertes Reisemagazin „Ostseeküste, Schleswig-Holstein“ mit Reiseatlas und Insider-Tipps. Langsam schlenderte sie zum Ankunftsgate, setzte sich dort auf eine freie Bank und fiel heißhungrig über ihre Brötchen her. Zunächst blätterte sie etwas lustlos in der Reiseillustrierten, bis sie auf einen achtseitigen Artikel über die Schlei stieß. Mit wachsendem Interesse las Anna vom Naturschutzgebiet Oehe-Schleimünde, vom alten Lotsenhaus auf der Lotseninsel und vom OstseeResort Olpenitz auf dem Gelände eines früheren Marinestützpunktes. Hunderte von Ferienwohnungen sollten hier entstehen, die Infrastruktur hinke zwar noch etwas hinterher, hieß es im Artikel, doch werde der Gast durch den Blick auf Hafen, Schlei und Meer für diese Unzulänglichkeiten mehr als entschädigt. Mit fünf Sternen waren die Wohnungen auf den Buchungsportalen bewertet, und die großformatigen Luftaufnahmen vermittelten einen imposanten Überblick über das Areal. Wie schön, dass ich dort etwas gefunden habe, dachte sie.
Anna postierte sich am Ausgang des Ankunftsterminals, um Martina nicht zu verpassen. Braungebrannte, leicht bekleidete Urlaubsrückkehrer und ernst dreinblickende Geschäftsreisende im feinen Zwirn strömten an ihr vorbei. Nach und nach lichteten sich die Reihen der Wartenden. Irritiert ging Anna zurück zur Anzeigetafel. Die Maschine aus Frankfurt war bereits vor einer halben Stunde gelandet! Wo blieb Martina nur? „Was ist denn das für eine Begrüßung?“ flüsterte ihr jemand ins Ohr. „Hallo, Anna!“ Martina stand unmittelbar neben ihr. „Hast du Tomaten auf den Augen? Hier bin ich.“ Freudig fielen die Freundinnen einander in die Arme. „Hallo, Martina! Ich habe dich nicht gesehen. Lass dich ansehen! Gut siehst du aus. Schön, dass du da bist!“ Anna war erleichtert, Martina gefunden zu haben. „Danke für das Kompliment“, lachte Martina. „An dir gehen die Jahre ohnehin spurlos vorbei.“ Anna nahm Martinas Koffer und wunderte sich: „Was für eine ungesunde Farbe für einen Koffer“, sagte sie und fröstelte trotz der Hitze bei dessen Anblick. „Was ist mit der Farbe nicht in Ordnung?“ fragte Martina zurück. „Die meisten kaufen schwarze Koffer und stehen später grübelnd da, weil sie nicht erkennen können, welcher Koffer der ihre ist. Zwei Reisende im selben Flieger mit einem Koffer in meiner Farbe? Ausgeschlossen! Eine ähnlich eklige Farbe habe ich noch nie gesehen.“ Martina war sich sicher, ein Unikat zu besitzen. „So gesehen hast du Recht“, entgegnete Anna. „Du bist so praktisch veranlagt.“
„Hattest du einen angenehmen Flug?“ erkundigte sich Anna. „Ich kann dir sagen, Urlauber sind das Letzte“, antwortete Martina. „Die meisten von ihnen glauben, das Flugzeug binnen einer bestimmten Frist verlassen haben zu müssen, als ob ihnen sonst eine Nachzahlung drohe. Die sind alle irre! Aber bis auf die Hektik, den beknackten Achim von der Vogelweide und einen Anfänger im Cockpit gab es keine besonderen Vorkommnisse.“ Anna stutzte: „Achim wer?“
An Martinas Humor musste sie sich erst wieder gewöhnen.
„Achim von der Vogelweide. Keine Ahnung, wie der Trottel richtig heißt. Ein übergewichtiger Möchtegern-Aristokrat mit Halbglatze und Ödipuskomplex, er schwadronierte ununterbrochen von seiner Mutter und dem europäischen Hochadel.“ Anna hakte nach: „Hieß der nicht Walther von der Vogelweide? Ich dachte, der sei schon lange tot. Hört sich spannend an, was wollte er? Hast du ihn an seine Mutter erinnert? Wollte er dir an die Wäsche?“ Anna fand Gefallen an der Geschichte.
„Walther muss ein Vorfahre von ihm sein“, antwortete Martina lachend. „Nein, Quatsch, keine Ahnung, wie er richtig heißt. Eine Eselsbrücke halt. An seine Mutter habe ich ihn hoffentlich nicht erinnert. Sie muss eine ziemliche Schreckschraube sein. Er hat die ganze Zeit von ihr gequatscht und von seiner Suche nach verlorengegangenem Selbstvertrauen. Heirats- und Zeugungsbereitschaft signalisierte er im Übrigen auch. Allerdings hat er wohl Ladehemmungen!“ Anna setzte ein mitleidiges Gesicht auf: „Oh, Klein Achim spielt also nicht so richtig mit? Bedauernswert, der Arme! Konntest du ihm irgendwie helfen? Hast du ihm zu Potenzmitteln geraten?“ – „Ein hoffnungsloser Fall, nichts zu machen, nicht einmal für mich“, entgegnete Martina. „Da müssen Profis ans Werk.“ Sie wechselte das Thema: „Egal, sag mal, wo hast du eigentlich geparkt?“
Inflationäre 25 Euro mussten die beiden im Parkhaus 4 begleichen. Anhand der Fotos spürten sie Annas Wagen zügig auf. Martina warf ihr Gepäck in den Kofferraum, und Anna startete den Motor. Während sie vorsichtig aus dem engen Parkhaus fuhr, erkundigte sich Martina nach dem Zielort.
„Wann möchtest du mir eigentlich verraten, wohin es gehen soll?“ fragte sie neugierig. „Aber Martina, wie oft denn noch? Ins ORO!“ Anna konnte mit der Frage nichts anfangen. „Wohin?“ Martina verstand kein Wort. „Das ist die Abkürzung für das OstseeResort Olpenitz! Das habe ich dir doch auf deinen Anrufbeantworter gesprochen. Ist das nicht eine schreckliche Abkürzung? Irgendwie erinnert sie mich an Mundhygiene.“
Martina hatte schlagartig ein flaues Gefühl im Magen. „Du hast was? Du hast mir nur etwas von Urlaub am Meer aufs Band gesprochen. Ich solle mich bereithalten, und du würdest mich am Flughafen abholen. Ich kann mich nicht erinnern, dass du das Resort erwähnt hättest.“ Wortlos reichte Anna ihrer Freundin die Zeitschrift mit dem Bericht über das Resort herüber. Irritiert blickte Martina auf die Fotos. „Von Olpenitz hast du mir nichts verraten!“ Anna widersprach: „Doch! Bei meinem zweiten Anruf! Ist doch auch egal, Hauptsache, wir haben Urlaub und sind auf dem Weg dorthin.“
Martina spürte, wie ihr der Schweiß auf die Stirn trat. Hatte sie etwa vergessen, den Anrufbeantworter abzuhören und die Nachrichten zu löschen? Von einem zweiten Anruf wusste sie nichts. „Du hast ein zweites Mal angerufen? Wann?“ Martina wandte sich auf dem Beifahrersitz beunruhigt Anna zu.
„Warte mal, gestern, so gegen Mitternacht. Kurz bevor ich ins Bett gegangen bin, aber du warst nicht erreichbar. Hast du etwa schon geschlafen?“ Martina hatte es auf einmal sehr eilig und kramte ihr Handy aus der Handtasche hervor. „Ich muss dringend telefonieren.“ Mit zittrigen Fingern durchsuchte sie die Kontakte ihres Telefonbuches und wählte die gewünschte Nummer. „Hallo, Sabine! Gut, dass ich dich erreiche. Tu‘ mir einen Gefallen: Geh bitte in meine Wohnung rüber und lösche alle Nachrichten vom Anrufbeantworter. Falls du nicht weißt, wie das geht, pack das ganze Gerät ein und nimm es mit zu dir. Ja, von mir aus auch mit dem Telefon! Ja, ja, wenn es sein muss, mit der ganzen Wand! Im Ernst: Wirf das Ding von mir aus in die Mülltonne! Beeil dich bitte, und kein Wort zu Jens! Klingt komisch, ist aber so. Ich bin ein paar Tage unterwegs. Ich erkläre es dir später. Danke, vielen Dank!“ Anna blickte irritiert nach rechts. Martinas bewundernswerte Sicherheit war ins Wanken geraten. „Stimmt etwas nicht? Habt ihr dicke Luft zu Hause?“ fragte sie besorgt. „Zum Schneiden dicke Luft! Jens, der alte Hurenbock, vergreift sich neuerdings an 20-Jährigen!“ Martina war zerknirscht und haderte mit der Situation. „Und wer ist Sabine? Eine Freundin?“ Anna wurde neugierig. „Na ja, Freundin eher nicht. Nachbarin und bessere Bekannte. Ich glaube, sie steht auf Jens“, seufzte Martina. „Und Jens? Hat er ein neues Beuteschema?“ Nun wollte Anna es genauer wissen. „Mit Sabine?“ Martina stutzte. „Daran habe ich noch gar nicht gedacht. Das glaube ich aber nicht. Jens verführt alles, was sich nicht wehrt. Neben all den anderen billigen Weibern braucht er nun zusätzliche Abwechslung mit jungem Gemüse. Ich wusste ja schon länger, dass er nicht treu sein kann. Doch inzwischen ist es mir egal. Das habe ich ihm vor meiner Abreise auch geschrieben. Aber nun ist ja alles gut, Sabine löscht die Nachricht, und kein Mensch erfährt, wo wir sind.“ Martina wollte die Sache rasch abhaken.
„Hast du Angst, dass er uns hinterherfährt?“ fragte Anna beunruhigt. Jens wollte sie auf keinen Fall sehen, geschweige denn sprechen. „Sollte er den Anrufbeantworter vor Sabine abhören, ist das leider nicht auszuschließen. Kann gut sein, angeblich hat er von heute an oder spätestens Anfang kommender Woche ebenfalls Urlaub. Angeblich! Wie oft wollten wir schon miteinander verreisen! Angeblich kam immer etwas dazwischen. Aber ja, durchaus möglich, er ist ja immer gleich eingeschnappt und jähzornig. Vielleicht will er mich mal wieder zurechtweisen und sich über meine Wortwahl beschweren. Ich habe ihm wahrlich keine freundliche Nachricht hinterlassen. Wie gesagt, Sabine kümmert sich darum.“ Martina versuchte, mehr sich selbst als Anna zu beruhigen: „Lass ihn ruhig kommen, dem werden wir was erzählen. Mit dem werden wir allemal fertig. Glaub‘ mir, wir wackeln zweimal mit dem Po, und die Männerwelt in Kappeln wird uns beschützen!“ versprach Anna. Martina war sich nicht so sicher: „Ja, und danach werden wir von deren Frauen verhauen oder vergiftet.“ Sie versuchte, sich etwas zu entspannen. Anna hatte recht. Sie würde sich von Jens nichts mehr gefallen lassen. Voller Vorfreude auf die gemeinsamen Urlaubstage erreichten die Freundinnen die letzte Tankstelle vor der Auffahrt auf die A7. Anna musste tanken, und Martina wollte die Gelegenheit nutzen, sich mit Zigaretten und Alkohol einzudecken. „Was möchtest du trinken?“ fragte sie Anna.
„Fährst du die gesamte Strecke? Ungeübte dürfen so eine Luxuskarosse wegen des Versicherungsschutzes vermutlich gar nicht fahren.“ Martina verspürte auch wenig Lust dazu.
„Kann ich machen, warum fragst du?“ rief Anna ihr von der Zapfsäule aus zu. „Einen Kaffee bitte, ohne alles.“ Martina hatte die beschwerlichere und längere Anreise gehabt, Anna hatte nichts dagegen, zu fahren. „Ach, weißt du, wenn du unbedingt fahren möchtest, zwingst du mich ja praktisch zum Alkoholkonsum. Welche Zapfsäule? Die sieben?“ Martina kniff die Augen zusammen, um den Eurobetrag auf der Anzeige lesen zu können. „Ich bezahle die Tankfüllung gleich mit.“ Das Getränkesortiment war selbst für eine Tankstelle überschaubar. Martina war nicht wählerisch, ein Sixpack Bier und eine Flasche Sekt würden heute Abend reichen. Ihr Gepäck bestand zwar primär aus Getränken, Sekt aber hatte sie vergessen einzupacken. Mit dem Kaffee in der einen und einer Getränketüte in der anderen Hand kehrte sie nach einigen Minuten strahlend aus dem Laden zurück.
Die Fahrt nach Kappeln verging wie im Fluge, sie hatten einander viel zu erzählen, sprachen über die gemeinsame Zeit in Hamburg, über die alte Clique. Was mochte aus den ehemaligen Schul- und Studienfreunden geworden sein? Beide hatten kaum noch Kontakt zu ihnen. Als Martina schließlich erzählte, sie werde sich von Jens trennen, war Anna sichtlich überrascht. Das hatte sie nach so wenigen Jahren nicht erwartet. Sie hatte eine differenzierte Meinung über Jens. Auch sie hatte Erfahrungen mit ihm gesammelt, doch die hielt sie streng unter Verschluss. Martina war schließlich ihre beste Freundin, und das sollte sie auch bleiben. Noch schien es Anna zu früh, die unangenehmen Dinge zu beichten. Wenn nach der Trennung ganz offiziell Gras über die Sache gewachsen war, wäre schließlich noch genügend Zeit. „Anna, du bist so still. Ist irgendwas?“ Martina fuchtelte mit einer Flasche Bier vor Annas Nase herum. „Was soll schon sein?“
Anna fühlte sich ertappt. „Das wollte ich ja eben wissen, ist alles in Ordnung? Oder musst du dich bei den vielen Baustellen aufs Fahren konzentrieren?“ Tatsächlich reihte sich auf der A7 Baustelle an Baustelle, eine neue Überbauung hier, eine Brückensanierung da. Glücklicherweise hatte zu dieser Uhrzeit der Urlaubsverkehr noch nicht eingesetzt, und den Tagestouristen war es noch zu früh. Weder Annas Navigationssystem noch das Radio hatten Staus auf der Strecke gemeldet. „Nein, es ist alles in Ordnung, ich war gedanklich woanders“, antwortete Anna betont gleichgültig. „Die Autobahnarbeiten machen mir nichts aus.“ Martina fasste nach: „Und die Männer? Gibst du dein liederliches Single-Leben endlich auf? Hast du schon einen im Visier? Bei deinem Wesen und deiner Figur kannst du doch jeden haben.“
Für ihre beste Freundin wünschte sich Martina einen anständigen Mann. „Es gibt viele interessante Typen“, antwortete Anna sachlich. „Schwul, verheiratet, zu jung, zu alt oder schlichtweg desinteressiert. Nicht der Erstbeste, sondern der Richtige ist gefragt. Übrigens, das Singledasein ist perfekt. Niemand will mir Kinder andrehen und mir mit einer Schwangerschaft die Figur versauen, keiner faselt etwas von der großen Liebe und erzählt mir, er habe schon sein ganzes Leben lang auf mich gewartet. Spaß ja, Verpflichtungen nein.“ Während Anna sich auf die verbleibenden 100 Kilometer konzentrierte, widmete sich Martina dem Alkohol. „Okay, schwul sein ist ein Argument. Verheiratet zu sein, wie wir heute wieder gelernt haben, dagegen keins. Klammern wir das Thema Männer, zumindest vorübergehend, aus?“ Martina verspürte wenig Lust, Annas Liebesleben zu hinterfragen. Das blieb ihr ein Rätsel. Anna brachte doch alles mit. Welcher Mann würde sich nicht über ein Date oder eine Beziehung mit ihr freuen?