"Arschtritt" - Holger Senzel - E-Book

"Arschtritt" E-Book

Holger Senzel

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  • Herausgeber: Südwest
  • Kategorie: Ratgeber
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2011
Beschreibung

Wie Holger Senzel sein Leben in den Griff bekam

„Sie sind auch liebenswert, wenn Sie schwach sind!“ hörte der Journalist Holger Senzel immer wieder von seinen Therapeuten. Aber sie halfen ihm nicht stark zu werden. Fünfmal begab der Autor sich auf die Reise ins eigene Ich – und bekam sein Leben trotzdem nicht in den Griff. Auch wenn er seine Fehler erkannte und lernte, was schief lief, und wie er es besser machen könnte. Aber was nützt alle Erkenntnis, wenn die Kraft zur Veränderung fehlt. Irgendwann gab er die Seelenbeschau auf und trat sich einfach mal für vier Wochen selbst in den Hintern. Sport, Theater, Museen, Bücher, Aufräumen, Kochen, Steuererklärung machen, nicht trinken, nicht fernsehen... Große Lebensfragen ignorieren und sich nur ums Machbare kümmern. 28 Tage so vollpacken, dass zum Grübeln keine Zeit bleibt; ein konkreter Plan statt guter Vorsätze. Irgendetwas tun, statt immer nur um sich selbst zu kreisen. Weil es im Leben nicht nur darum geht, wie Dinge sich anfühlen – sondern dass sie eben gemacht werden müssen. Einfach mal vier Wochen sich selbst besiegen und stark sein. Vier Wochen, die das Leben des Autors nachhaltiger veränderten als zehn Jahre Therapie.

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Seitenzahl: 259

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Inhaltsverzeichnis

WidmungVorwortBestandsaufnahmeVorspielMeine Therapie-KarriereOrdnung schaffenVier Wochen: Kurz und schmerzhaft!Ego und Arbeit oder Arbeit am EgoWeiter im PlanKrieg und andere ProblemeNachspielCopyright

Allen, die mir halfen, an meinen Fehlern zu wachsen – statt daran zu zerbrechen

Vorwort

Das erste Morgengrau zeigt sich am Nachthimmel, als der Wecker klingelt. 5.00 Uhr. Wie verlockend es wäre, dem Erwachen des neuen Tages zuzusehen – vom Bett aus mit einer Tasse Kaffee. Und wie widerwärtig die Vorstellung ist, im gechlorten Schwimmbad mit Rentnern Bahnen zu ziehen und müde Muskeln mit Geräten und Gewichten zu martern. Wie bin ich bloß auf diese Schwachsinnsidee gekommen?

»STEH AUF, DU FAULER SACK!«, brüllt mein innerer Drillsergeant. Vier Wochen lang habe ich das Kommando an ihn abgegeben. Ich habe meinen inneren Schweinehund in ein militärisches Trainingscamp geschickt, wo ihm dieser üble Schleifer für vier Wochen Beine machen soll. Jeden Morgen dieselbe Brüllerei in meinem Kopf: Der innere Schweinehund will sich drücken – und hat die kuschelwarme Bettdecke zur Verbündeten. Sport – gut und schön, aber ich könnte es doch genauso gut abends tun, und die Welt wird kaum untergehen, wenn ich es heute mal ganz sein lasse. Einfach nur noch ein Stündchen liegen bleiben … Aber der Drillsergeant lässt nicht mit sich diskutieren. Ich hätte einen Vertrag mit mir selbst unterschrieben, und daran solle ich mich gefälligst halten. Es ist ein ständiger Kampf in meiner Fantasie – so wie in dem Sketch des Kabarettisten Horst Evers. Der inszeniert das Bemühen um Veränderung als Fußballspiel in seinem Hirn: FC »Nun reiß dich mal zusammen« gegen Fortuna »Morgen ist auch noch ein Tag«.

Ich habe in Therapien zehn Jahre lang die Lösung für alle Probleme und Konflikte in meinem Inneren gesucht. Jetzt probiere ich es von außen. Ignoriere für vier Wochen meine Seele völlig – und kümmere mich nur um das Machbare. Meinen Körper fit machen, meinen Geist beschäftigen, den Schreibtisch aufräumen, zerrissene Schnürsenkel ersetzen. Knöpfe annähen gegen die Depression klingt schräg. Aber besser kleine Aufgaben erledigen als große liegen lassen. Es summiert sich zu einem knallharten Programm. Randvoll gepackt mit lauter Sachen, die mein Verstand für sinnvoll befunden hat. Und das alles unbetäubt – ohne Alkohol, Fernsehen oder Shoppen. 28 Tage vom Aufstehen bis Schlafen minutiös verplant. Ich muss da jetzt nicht mehr drüber nachdenken, sondern nur noch stumpf Punkt für Punkt von meinem Plan abarbeiten. Was heißt »nur« – es ist trotzdem üble Schinderei und mein Widerwille geradezu brechreiz-erregend. Aber dem fiesen Schleifer ist das egal. Ob ich murre, jammere, stöhne, fluche und wie »es« sich anfühlt für mich. Wie fühlt »es« sich an? Das haben meine Therapeuten immer gefragt. Es ist völlig uninteressant, wie sich das hier anfühlt – es muss einfach gemacht werden!

Ich habe vier Psychotherapien hinter mir und einen Zusammenbruch mit anschließender psychosomatischer Klinik. Ich habe meine Seele bis auf ihren schwärzesten Grund ausgeleuchtet, mich meinen Ängsten gestellt und getrauert um diesen bedürftigen kleinen Jungen in mir. Immer wieder versucht, meinen Gefühlen nah zu sein. Ich habe eine Menge gelernt in meinen Therapien – aber der Erkenntnis sind keine Taten gefolgt …

… vielleicht geht es ja umgekehrt und den Taten folgt die Erkenntnis. Ich baue ein solides Haus für meine Seele und hoffe, dass sie darin von ganz alleine gesund wird. Ich trete mich gewaltig in den Hintern! Statt ständig über mich selbst nachzugrübeln und mich zu fragen, was falsch läuft – und warum. Und wieso ich diesen Fehler gemacht und jene Chance nicht ergriffen habe und was ich will im Leben. Das alles ist kein Thema mehr. Natürlich kann ich in einem Monat nicht mein Leben komplett ändern, aber ich kann zumindest mal damit anfangen. Bin ich in der Lage zu tun, was ich mir vorgenommen habe? – Das ist die Frage.

Eine entscheidende Lektion

Eine halbe Stunde später stehe ich mit meiner Sporttasche auf einem U-Bahnhof. Es ist frisch heute früh, und ich bin zu dünn angezogen. Ich fröstele und bin übermüdet, der Zug kommt nicht. Fünfzehn Minuten Verspätung kündigt der Lautsprecher an. »Das wird doch alles viel zu knapp und hektisch«, frohlockt mein innerer Schweinehund, »geh nach Hause und leg dich wieder hin. Morgen ist auch noch ein Tag …« Natürlich bin ich zum Sport gefahren. Wieder ein kleiner Sieg, der mich stolz macht. Ein Erfolgserlebnis wie jede nicht gerauchte Zigarette, jedes nicht getrunkene Glas Rotwein. So ein Abend ohne Entspannungsdrink, ohne Fernsehen – der kann ja verdammt still und leer sein. Es gab üble Nächte, in denen die Gespenster und Ängste der Vergangenheit mich überfielen. Und es gibt Tage, an denen ich es nicht nur mit mir aushalte, sondern meine eigene Gesellschaft sehr genieße. Momente voller Klarheit, Frieden und Heiterkeit …

… und massenweise Rückfälle. Im Bürostress eine Zigarette geraucht, bei einer Party Wein getrunken, dem Kaffeeduft aus der Bäckerei erlegen … Das war’s dann also mit der tollen »Arschtritt«-Offensive. Von wegen Durchhalten, was du dir vorgenommen hast. Nicht mal vier Wochen stark bleiben kannst du Schwächling …

Von wegen! Ich fang einfach noch mal von vorne an. Wenn ich an irgendeinem Punkt scheitere – beginnt »Arschtritt« von Neuem. Die vollen vier Wochen. Das habe ich so festgelegt, weil ich wusste, dass ich schwach werden kann – aber weil es letztlich keine Rolle spielt, wie viele Anläufe ich für ein Ziel brauche. Solange ich es nicht aus den Augen verliere. Es bringt mich selten weiter, um Niederlagen zu kreisen. Gestern war ich schwach – warum, ist unwichtig. Aber heute werde ich stark sein. So habe ich es mir vorgenommen, quasi der letzte Rettungsversuch eines Verzweifelten in einer neu aufkeimenden Depression. Eines Menschen, der alles hat, aber sich das Leben mit Hadern, Sinnkrisen und kräftezehrenden Beziehungsdramen zur Hölle macht. Ich setze große Hoffnungen in meinen »Arschtritt«, aber wie drastisch und grundlegend sich mein Leben am Ende tatsächlich verändern wird – das ahne ich nicht an diesem Morgen um 5.30 Uhr.

Um Niederlagen zu kreisen, bringt mich selten weiter.Es spielt auch keine Rolle, warum ich gestern schwach war.Heute werde ich stark sein!

Bestandsaufnahme

Rückblende: verzagt und resigniert

4. Juli 2006 – London: Ich erinnere mich genau an diesen 47. Geburtstag in London. Die untergehende Sonne taucht das Häusermeer in blutrotes Licht. Ich sitze auf meiner Dachterrasse in Hampstead und halte ein Glas Sekt in der Hand. Ich sehe in der Ferne die Kuppel der St. Paul’s Cathedral und das Riesenrad von London Eye, höre den Lärm der pulsierenden Großstadt und fühle mich ausgeschlossen und furchtbar allein. Selten hat sich mein Leben so falsch angefühlt. Als sich die Dunkelheit über London senkt, beginnt eine weitere finstere Nacht.

Am nächsten Morgen ist mein Kopf wattig und schwer, das Sodbrennen mörderisch. Die strahlende Julisonne verhöhnt mich. Zwei Flaschen Sekt habe ich an diesem einsamen Geburtstag heruntergekippt. Die dritte ist umgefallen und hat eine dunkle Lache auf Tisch und Parkett hinterlassen. Es stinkt nach abgestandenem Alkohol und kaltem Rauch. Ich zünde die erste Zigarette des Tages an und muss heftig husten. Aus dem Badezimmerspiegel blickt mir ein bleiches, teigiges Gesicht entgegen. Dunkle Augenringe und bittere Falten um die Mundwinkel. Über dem Unterhosenbund wölbt sich eine unansehnliche Wampe. Ich fühle mich müde, kraftlos und unendlich alt, bin verzagt und resigniert, wenn ich an den langen Tag denke, der vor mir liegt.

Vor fast genau einem Jahr sind in London vier Bomben explodiert. 55 Menschen starben in der U-Bahn und in einem Doppeldeckerbus. Eine zweite Anschlagswelle konnte vereitelt werden. Die Polizei erschoss einen Unschuldigen als vermeintlichen Selbstmordattentäter. Ich war nicht nur Reporter – sondern auch Teil dieser Stadt. So schockiert und gelähmt wie alle anderen. Die U-Bahn prägt das Leben in London. Jeder hasst sie, weil sie verrottet und unzuverlässig und für den Transport von Menschen eigentlich ungeeignet ist. Aber sie ist die Lebensader dieser Stadt, deren Bewohner nie in die Höhe gebaut haben und die sich deshalb so unendlich weit ausdehnt. In der das ganze Leben permanent um die Frage kreist, wie man von A nach B kommt. Viele Stunden in jeder Woche verbringe ich zusammengepfercht mit wildfremden Menschen in stickigen U-Bahn-Waggons. Im Sommer wird es bis zu 60 Grad heiß – der Schweiß meines Nachbarn tränkt mein Hemd. Manchmal bleibt der Zug für unbestimmte Zeit im Tunnel stecken. Oder wird umgeleitet auf eine andere Strecke. Oder die ganze Linie wegen Bauarbeiten gleich ganz eingestellt für Stunden, Tage – manchmal Wochen. Ich habe schon Tränen vergossen wegen London Underground. Sie haben die Macht, meine Pläne zu zerstören. Sie bestimmen mein Leben. Einen Großteil des Tages verbringe ich unter der Erde. Eine der Bomben hätte genauso gut mich treffen können … Ich berichte wie am Fließband – aber ich empfinde es nicht als Last, weil es mir wichtig ist, all das zu erzählen. Die Gelassenheit, mit der die Menschen hier auf den Terror reagieren: Wir alle – Christen, Moslems, Hindus, Weiße, Schwarze, Asiaten – sind Londoner und widerstehen gemeinsam der Bedrohung. »Ihr könnt uns unsere Lebensart nicht kaputtbomben«, sagt die Queen, und ich bin stolz und voller Bewunderung für sie und möchte, dass es alle erfahren, was in dieser tief getroffenen, aber ungebrochenen Stadt vor sich geht.

Zwei Wochen lang habe ich beinahe rund um die Uhr berichtet. Fast 400 Mal war ich mit Reportagen und Live-Gesprächen auf Sendung. Es deprimiert mich, wenn ich zurückdenke an diese hektische, aufreibende, adrenalinschwangere Zeit und mit wie viel Energie, Souveränität und professionellem Stolz ich meinen Job gemacht habe. Weil es gerade mal ein Jahr her ist und doch so unendlich weit weg und irreal scheint. Heute bin ich nur noch kraftlos und unsicher. Wo ist sie geblieben – die Euphorie, mit der ich nach London kam? Mein Traumjob, seit ich als junger Lokalreporter im Nordhessischen über Kaninchenzüchter berichtete. Die Neugier auf dieses Land und seine Leute, die ich so liebe? Zurzeit wurstele mich so durch, mit lustloser Routine. Bin froh, dass mich niemand sieht, wenn ich zuweilen unrasiert und mit verquollenen Augen vor dem Mikro sitze. Ich habe Albträume, in denen der Premier zurücktritt oder Prinz Harry wieder Unfug anstellt und ich als Reporter peinlich versage. Mich live im Radio blamiere. Ich bin fahrig und unkonzentriert, und meine Gedanken verlieren sich ziellos im Nichts. Wenn das Telefon klingelt, erschrecke ich. Ich zehre von dem Kapital, das ich aufgebaut habe, als ich »Holger Senzel – London« zur Marke etablierte. Wann wird es aufgebraucht sein? Wann werde ich einen kapitalen Fehler machen? Es ist brütend heiß draußen, aber mir schlottern die Glieder. Mir ist schlecht. Ich weiß nicht, wovor ich mehr Angst habe: dass alles mit einem großen Knall zusammenbricht – oder dass es jetzt einfach immer so weitergeht …

Einsam ist uncool

Meiner Freundin erzähle ich nichts davon. Ich schäme mich. Britta lebt in Hamburg, und wir sehen uns etwa alle zwei Wochen. Inzwischen strengt mich das furchtbar an. Mich präsentabel herrichten, Blumen, Essen, Kino – das volle Programm. Den aufmerksamen Liebhaber geben statt mit dem Sixpack Bier vor dem Fernseher abhängen und den Sonntag im Bett verdösen. Wenn wir uns Montagmorgen verabschieden, fällt eine Last von mir ab. Der unbeschwerte Zauber der Verliebtheit ist bedrückendem Schweigen gewichen. Wir belauern uns, ich bin auf der Hut, wenn sie mich anspricht. Spüre den Groll, der sich auf Nebenkriegsschauplätzen entzündet. Britta vermisst die gemeinsame Perspektive, das ständige Pendeln zwischen Hamburg und London zermürbt sie. Mir ist es eigentlich ganz lieb so, aber das sage ich nicht. Ich weiche aus, drücke mich um Klarheit, fühle mich deshalb schuldig und nehme ihr das übel. Aber solange ich eine Freundin habe, muss ich mir wenigstens nicht eingestehen, wie einsam ich bin.

Ja, ich bin einsam in London. Jetzt ist es raus. Ich mag das normalerweise nicht zugeben, nicht mal mir selbst gegenüber – weil »einsam« das allerletzte Loserwort ist. Du kannst unglücklich, überfordert, depressiv sein – aber bitte nicht einsam.

Ich bin einsam! Jetzt ist es raus. Ich würde das normalerweise nie zugeben, nicht mal mir selbst gegenüber – weil »einsam« das allerletzte Loserwort ist. Du kannst unglücklich, überfordert, depressiv sein – aber bitte nicht einsam.

Ich telefoniere auch kaum noch mit meinen Freunden in Deutschland. Anfangs habe ich es genossen, wie sie mich um mein Leben in London beneideten. Swinging London – wo die Post abgeht und der Beat und das Leben toben und sich alle köstlich amüsieren. Alle – außer mir. Und dann sagen sie, dass sie jetzt leider auflegen müssen, weil am Elbestrand eine Grillparty steigt. Und Holger geht mit Tränen in den Augen zum Kühlschrank und holt sich ein Bier. Prost! Es ist nicht so, dass ich allein in der Bude hocken müsste. Es gibt schon Kollegen, mit denen ich ab und zu ausgehe. Ein paar Bier im Pub, Gespräche über Job, Land, Politik und Wetter – aber nichts Persönliches. Ich kann das im Moment nicht. Ich brauche nicht noch eine Theaterkulisse …

Ich setze mich mit meinem eiskalten Bier auf den Balkon. Auf dem eisernen Gartentisch liegt der Vorabdruck der Robbie-Williams-Biografie Feel. Am Montag werden Scharen kreischender Teenies die Buchläden stürmen, und ich werde darüber berichten müssen. Und deshalb muss ich diesen Schwachsinn lesen. Damit ich den Hörern der Popsender schon vor dem Erscheinen verraten kann, was drinsteht. Er hat halt eine Menge Frauen flachgelegt und Musik gemacht, war süchtig nach Applaus, nahm Drogen – und wusste deshalb selbst nicht, wer er war. Das Übliche: Geld und Ruhm machen auch nicht glücklich, wenn man sich selbst nicht findet. Elton John hat ihm das Leben gerettet und ihn zum Entzug gebracht. Der umjubelte Star schreibt von Selbstzweifeln, Sucht nach Anerkennung, finsterer Leere und schwarzer Traurigkeit. Aber statt mich ihm näher zu fühlen, macht es mich wütend. Soll er doch aidskranke Kinder in indischen Waisenhäusern pflegen, wenn ihm denn partout ein Sinn im Leben fehlt! Aber das ist natürlich nicht so schick, wie sich von Elton John in die Entziehungsklinik bringen zu lassen. Zum ersten Mal an diesem Tag muss ich herzlich lachen. Als ob ich wirklich Grund hätte, am Leben zu leiden.

Unendliche Mühsal

Vielleicht bin ich auch bloß neidisch. Weil ich meiner lähmenden Schwermut nicht nachgeben darf. Mich maßlos überfordert fühle vom Leben und mir selbst. Mir die Bettdecke über den Kopf ziehen und mich verkriechen möchte, aber irgendwie doch funktionieren muss, damit es nicht auffällt. Ich kann mir keine zweite Krise leisten. Weil sich natürlich jeder sofort wieder an meinen Zusammenbruch vor sechs Jahren erinnern würde. Ja, ich weiß, psychische Probleme sind keine Schande und genauso ernst zu nehmen wie körperliche Verletzungen. Ich habe genug Therapien gemacht, um das zu verinnerlichen. Ich habe diesen Zusammenbruch als Teil meines Lebens akzeptiert, habe nichts verdrängt. Nicht pechschwarz und finster fühlte sich die Depression an, sondern bleigrau und konturlos. Kein tiefes Loch, sondern eine endlose Ebene dumpfer Resignation und Niedergeschlagenheit. Den Tod meiner Mutter oder die Diagnose Krebs hätte ich damals achselzuckend zur Kenntnis genommen, aber über den kaputten Fernseher habe ich bittere Tränen vergossen. Dabei war nur der Stecker rausgezogen – aber so weit konnte ich nicht mehr denken. Schon das Aufstehen bereitete mir unendlich quälende Mühsal – bedrohlich breitete sich der Tag vor mir aus. Beim Betreten des Funkhauses bekam ich Schweißausbrüche. Versteckte mich im Büro, ignorierte das Telefon – glasklar sah ich die Katastrophe kommen. Zu Hause türmte sich ungeöffnete Post; Telefon-, Strom- und andere Rechnungen oder Mahnungen. Vermutlich würde ich bald im Dunkeln sitzen, aber es überstieg meine Kraft, ein paar Überweisungen auszufüllen. Als wäre sämtliche Energie aus mir herausgesaugt. Wie in einem dieser Albträume, in denen du laufen willst und deine Füße tonnenschwer am Boden kleben …

Den Tod meiner Mutter oder die Diagnose Krebs hätte ich damals achselzuckend zur Kenntnis genommen, aber über den kaputten Fernseher habe ich bittere Tränen vergossen. Dabei war nur der Stecker rausgezogen – aber so weit konnte ich nicht mehr denken.

Ich habe kein Problem, darüber offen zu reden. Ich bin stolz darauf, dass ich mich zurück ins Leben gekämpft habe. Letztlich ist es eine Erfolgsgeschichte, für die ich Respekt erfahren habe. Aber wenn einem so etwas zum zweiten Mal passiert, stellt sich die Frage nach der Belastbarkeit – da sollte man sich nichts vormachen.

Was wäre denn so schlimm daran?

Was wäre denn so schlimm daran, eine andere Arbeit zu haben? Ich höre förmlich meinen Therapeuten in der Klinik. Mein Leben war ein Trümmerfeld, die Zukunft ein schwarzes Loch, und Dr. B. sagte mir, persönliches Glück müsse ich unabhängig von meiner beruflichen Position finden. Also überspitzt formuliert auch dann Zufriedenheit finden, wenn ich beim NDR den Hof kehre. Doch so sehr ich dem Hofkehrer wünsche, dass er mit sich im Reinen ist – ich wäre es nicht mit seinem Job. Das ist keine Geringschätzung, ich bewundere Leute, die zufrieden damit sind, ihren Achtstundenjob abzureißen, und ihre Energie in ein erfülltes Privatleben stecken. Aber Beruf war für mich immer mehr als Broterwerb. Ein wesentlicher Grundpfeiler von Lebenszufriedenheit. Ich bin Journalist – das ist nicht nur eine Jobbeschreibung, sondern ein Stück Identität.

Depression und reale Probleme

Ich hatte nach meinem Zusammenbruch nicht die geringste Ahnung, wie es weitergehen sollte. Zunächst war ich dankbar für den Schutz, den die Klinik bot. Vor Fragen, Auseinandersetzungen und sonstigen Problemen aller Art. »Narzisstische Depression«, das war die Diagnose, die mich mit meinen Mitpatienten verband.

Dr. B. eröffnete unsere Therapiestunde jedes Mal mit derselben Frage: »Wie fühlen Sie sich?«

»Erschöpft – müde – am liebsten wäre ich heute Morgen im Bett geblieben…«

»Hm – warum haben Sie’s dann nicht getan?«

»Weil ich um 9.15 Uhr einen Termin bei Ihnen habe.«

»Sie meinen, weil es von Ihnen erwartet wurde? Nicht weil es Ihnen ein Bedürfnis war, mit mir zu sprechen?«

»Nein, weil es für mich selbstverständlich ist, dass ich Termine, die ich selbst vereinbart habe, verlässlich einhalte. Mit Lust oder Bedürfnissen hat das nichts zu tun.«

»Dann beantworten Sie doch meine Frage: Warum sind Sie nicht liegen geblieben, wenn es ihr Bedürfnis war?«

»Ich sagte Ihnen bereits …«

»Nein, Sie haben von Verlässlichkeit gesprochen, das kann ich verstehen. Aber Sie hätten die Schwester bitten können, den Termin abzusagen.«

»Herr Dr. B., ich habe mich aus freien Stücken zu dieser Therapie entschieden – weil ich etwas ändern will und nicht im Bett liegen.«

»Aber möglicherweise wäre es Ihnen besser gegangen damit, im Bett zu bleiben – und genau darum geht es doch hier. Ausschließlich um Sie. Und nicht darum, dass ich auf Sie warte…«

Vorspiel

»Ich mache jetzt eine Therapie!«

Das verkündete ich einst stolz. Fest entschlossen zur Veränderung. Bereit, den Dingen auf den Grund zu gehen. Ein Glaubensbekenntnis. Therapie als Ersatzreligion unserer Zeit – nur dass wir nicht Gott suchen, sondern uns selbst. Ich war jahrelang treuer Jünger. Immer, wenn mein Leben an einen toten Punkt gelangte, machte ich eine Therapie. Wenn eine Liebe zerbrach, die mit so viel Hoffnung begonnen hatte. Wenn berufliche Probleme mir über den Kopf wuchsen. Wenn alles öde, mühselig und sinnlos erschien, wenn ich mich leer, ausgebrannt und niedergeschlagen fühlte, dann suchte ich immer wieder Rettung in der Therapie.

Und ich war jedes Mal wieder aus tiefstem Herzen davon überzeugt, dass ich sie fand. Weil ich endlich begriff, woher meine Ängste kamen und warum ich immer wieder dieselben Fehler machte. Welch unheilvolle Saat da in meiner Kindheit ausgelegt worden war, die mich hinderte glücklich zu sein. Meine Seele mit all ihren Verletzungen und Bedürfnissen öffnete sich vor mir und ließ wenig Zweifel daran, was sie brauchte, um zu gesunden. Es war so klar! So einfach! Die Erkenntnis erfüllte mich wie ein Rausch. Doch schon bald kam der Katzenjammer. Was ich mir unter zustimmendem Nicken meines Therapeuten so schön ausgemalt hatte, funktionierte im echten Leben einfach nicht. Die Welt mit ihren konkreten Problemen und Herausforderungen schert sich herzlich wenig um Bewusstseinsprozesse. Sehr bald hatte ich mich wieder in genau jenen Teufelskreis aus Lügen und Selbstbetrug verstrickt, dem ich durch die Therapie gehofft hatte zu entkommen.

»Was soll ich tun?«, fragte ich Therapeut Nummer zwei, drei und vier – und es kam jedes Mal die von eindringlich-anteilnehmendem Blick begleitete Gegenfrage: »Was glauben Sie denn, was Sie tun sollten?«

Ich kannte die Antwort! Und machte trotzdem immer wieder dieselben Fehler. Tat eine Menge Dinge, von denen ich schon vorher wusste, dass sie mir ganz und gar nicht guttun würden. Obwohl ich es besser wusste. Obwohl es sich schlecht anfühlte. Obwohl ich es anders wollte. Nicht an Erkenntnis mangelte es mir – sondern an der nötigen Kraft zur Veränderung.

»Sie sind auch liebenswert, wenn Sie schwach sind«, sagten meine Therapeuten. Sie hätten mir lieber einen Weg zeigen sollen, wie man stark wird.

Meine Therapie-Karriere

Arbeit an mir selbst?

Meine erste Therapie habe ich mit 32 gemacht. Ich hatte heftigen Liebeskummer, sah keinen Sinn mehr im Leben, und ein Freund schlug vor: »Vielleicht solltest du mal ’ne Therapie machen!« Eine Menge Leute aus meinem Bekanntenkreis machten eine Therapie. Es galt als mutig: Nicht mehr weglaufen, sondern sich den eigenen Schwächen stellen. Leute, die eine Therapie machten, fühlten sich den anderen überlegen, weil sie hinter die Dinge schauten. Mal ein bisschen genauer hinsahen bei sich selbst. Und so sprachen wir über meinen Liebeskummer in der ersten Therapiestunde. Ich glaubte, daran zu zerbrechen. Meine große Liebe hatte mich verlassen, nachdem ich sie nach Strich und Faden belogen und betrogen hatte. Ich begriff, dass dies alles sehr viel mehr mit mir als mit der Frau meines Herzens zu tun hatte.

Dennoch hinderte mich meine Erkenntnis nicht, solche kräftezehrenden Liebesdramen nebst therapeutischer Aufarbeitung im Laufe der kommenden zehn Jahre noch mehrfach zu inszenieren – mit gesteigerter Intensität, versteht sich. Und es wundert mich heute schon sehr, dass nicht eine oder einer meiner Therapeuten mal gesagt hat: »Finden Sie nicht, dass es langsam mal Zeit wäre, erwachsen zu werden?« Stattdessen haben wir nach den Ursachen meines selbstzerstörerischen Verhaltens geforscht. Haben in meiner Kindheit und frühen Jugend und in meinem Elternhaus gesucht – und sind fündig geworden. Ich lüge und betrüge, weil ich Liebe und Anerkennung suche – sehr verkürzt gesagt. Aber wir hatten ja damals auch 25 Therapiestunden Zeit.

Meine Freunde dagegen sagten es mir in aller Deutlichkeit: Dass ich unreif und rücksichtslos auf den Gefühlen anderer herumtrampelte und mich nicht wundern müsse, dafür die Quittung zu bekommen. Aber das wollte ich nicht hören. Ich war schon zu süchtig nach meinem wöchentlichen Seelenbad. Und so sehr es mich deprimierte, dass der einzige Mensch, der mich noch ernst nahm und mir zuhörte, dafür bezahlt wurde, so hatte ich gleichzeitig regelrechte Panik vor dem Moment, in dem meine Krankenversicherung keine weiteren Stunden mehr bezahlen würde.

Ich wäre eher aufgewacht, wenn Therapeuten mir klare Grenzen gezeigt hätten, mir nicht alles hätten durchgehen lassen. Wenn mal eine oder einer von ihnen gesagt hätte: »Es reicht, Herr Senzel!« So wie der englische Psychologe, der seine Patientin rauswarf, weil sie sich nicht scheiden ließ. In dieser Zuspitzung machte diese Geschichte Schlagzeilen in der Boulevardpresse. Dabei hat er im Grunde sehr verantwortlich gehandelt, als er sagte: »Sie wissen seit 20 Therapiestunden, dass Ihre kaputte Ehe Sie unglücklich macht. Wenn Sie keine Konsequenzen ziehen, kann ich Ihnen auch nicht helfen.« Immerhin hat er sich so selbst eine sichere Einkommensquelle verschlossen. Das hat mir imponiert.

Zeitweise war die Sitzung beim Therapeuten der Höhepunkt meiner Woche. Sie brachte ein Stück Licht in das dunkle Chaos meines Lebens und vermittelte mir das Gefühl, doch eigentlich ganz in Ordnung zu sein, so, wie ich war. Dabei war ich ein Kind – ein fast 40-jähriges. Mogelte mich durchs Leben, entzog mich jeder Verantwortung und betrachtete die Welt als meinen Spielplatz. Manchmal machte ich ein Spielzeug kaputt – und dann heulte ich und tat mir leid. »Warum sind Sie eigentlich immer so gnadenlos zu sich selbst?!«, fragte eine meiner Therapeutinnen des Öfteren. Die Therapie trug mich auf dieser warmen Woge des Verstehens und Verstandenwerdens. Ich freute mich schon Tage vorher auf die Bühne, die sie mir bot, überlegte, was mir wichtig war, was ich unbedingt loswerden wollte – und wie ich es am geschicktesten in diese exakt 60 Minuten hineinpacken könnte. Und jedes Mal endete die Stunde mit dem Versprechen meines Therapeuten: »Ja – ich denke, das sollten wir nächstes Mal vertiefen …«

Tatsächlich hat mich die Therapie mehr und mehr geschwächt, das Wühlen in alten Wunden viel Kraft gekostet. Jede Niederlage und Enttäuschung wurde zum großen Lebensthema – statt einfach mal die Zähne zusammenzubeißen und es wegzustecken, weil Verletzungen und Niederlagen zum Leben nun mal dazugehören.

»Sie sind auch liebenswert, wenn Sie schwach sind«, sagten meine Therapeuten immer. Das mag sein. Aber es wäre mir lieber gewesen, sie hätten mir einen Weg gezeigt, wie man stark wird. Tatsächlich hat mich die Therapie mehr und mehr geschwächt, das Wuehlen in alten Wunden und vergangenen Niederlagen viel Kraft gekostet. Jede Niederlage und Enttäuschung wurde zum großen Lebensthema – statt einfach mal die Zähne zusammenzubeißen und es wegzustecken, weil Verletzungen und Niederlagen zum Leben nun mal dazugehören.

Immer tiefer in die Depression

Ich habe nie verstanden, was damals geschehen ist, als ich immer tiefer in die Depression gerutscht und irgendwann zusammengebrochen bin. Als habe jemand mein Hirn neu verschaltet. Plötzlich fand ich nicht mehr vom Funkhaus nach Hause. Irrte stundenlang mit wachsender Verzweiflung durch die Stadt, obwohl ich die Strecke seit Jahren jeden Tag fuhr. An der Supermarktkasse überfiel mich aus dem Nichts die große Panik, ich musste fliehen. Ich vergoss Tränen der Verzweiflung über einen kaputten Wasserkocher, mein Hirn fraß sich fest an dem Tee, den ich unbedingt kochen musste. Hörte nicht mehr auf zu Schluchzen, aber kam nicht auf die Idee, dass man Wasser auch in einem Topf auf dem Herd erhitzen kann. Essen war viel zu anstrengend, wo Bier doch auch sättigte. Am Ende wog ich noch 65 Kilo bei 1,88 Metern Körpergröße. Trotzdem funktionierte ich noch irgendwie. Quälte mich morgens aus dem Bett und zog mich mit unendlicher Mühe an, um einen weiteren trostlosen, rabenschwarzen Tag hinter mich zu bringen. Und danach eine end- und schlaflose Nacht …

Bis zu diesem einen Morgen als verantwortlicher Redakteur für die Frühsendung. Der wichtigsten Sendung des ganzen Tages fürs Radio. Mir war schlecht vor Panik und mir stand der Schweiß auf der Stirn. Wie im Matheunterricht, wenn ich an der Tafel stand und keine Ahnung hatte, was der Lehrer von mir wollte. Dieses Mal hatte ich keine Ahnung, welche Nachricht wichtig und wie sie zu platzieren war, weil ich seit Wochen schon weder Zeitungen las noch Nachrichten hörte. Ich hatte nächtelang kein Auge zugetan und sah die Welt wie durch einen Nebel. All die irritierten, fragenden, erwartungsvollen Blicke. Und niemand sprach mich auf meinen Zustand an. Die Kollegen haben mich einfach ignoriert für den Rest der Schicht und die Sendung ohne mich gemacht. Ich hätte in den Boden versinken können vor Scham. Mit tränenden Augen bin ich aus dem Funkhaus geflohen. Ich würde nicht fähig sein, je wieder einen Fuß hineinzusetzen, davon war ich überzeugt. Ich fühlte mich auf ganzer Linie geschlagen. Trostlos im Wortsinne. Denn da war niemand, dem ich mich anvertraut hätte. Die Scham war zu groß. Ich fühlte mich schuldig, als Versager. Zwei Wochen zuvor hatte mich meine Freundin verlassen – die ganz große Liebe, dachte ich. Ich marterte mich mit Selbstvorwürfen, weil ich in meinem Tunnel nicht gesehen habe, wie weit wir auseinanderdrifteten. Nach der fürchterlichen Konferenz wollte ich in ein Bordell fahren. Dabei war der Gedanke an Lust völlig abwegig. Keine Ahnung, was mich trieb und was ich suchte – in der kruden Logik, die damals Besitz von mir ergriff, mochte das alles schlüssig sein. Und ebenso folgerichtig wertete ich mein »Kneifen« als weiteren Beleg des absoluten Losertums. Nicht mal das traute ich mich … Ich habe mir dann ein Prepaid-Handy gekauft und mein Diensthandy ausgeschaltet – damit der NDR mich nicht orten kann. Mir war das bitterernst! Ich fühlte mich hilflos gefangen in einem riesigen, klebrigen Netz und wartete auf die Spinne.

Ich war ziemlich neben der Spur. Irgendwann mischt ja auch der Körper in der Psyche mit und bildet keine stimmungsaufhellenden Hormone mehr. Und du kannst gar nicht anders, als alles nur noch grau und schwarz zu sehen. Aber bis dahin ist es ja ein langer Weg. Und vielleicht hätte irgendein noch so kleines Erfolgserlebnis in diesem Konglomerat aus Niederlagen, Scheitern und Versagensängsten die Abwärtsspirale stoppen können. Bevor ich regungslos unter dem Gerüst lag und ängstlich zuschaute, wie eine Strebe nach der anderen einknickte. Was war Ursache und was Wirkung? Waren berufliche Krise und Trennung Auslöser der psychischen Erkrankung oder Folge?

Als ich mir an diesem sonnigen Mai-Nachmittag den Lauf meines Jagdgewehres in den Mund steckte, fühlte ich mich erstmals seit Monaten wieder heiter und gelöst. Das erdrückende Gefühl der Machtlosigkeit war vorbei: Mit einem sanften Druck des großen Zehs auf den Abzug konnte ich das Elend beenden.

Was ist Ursache, was Wirkung? Waren berufliche und private Krisen Auslöser oder Folge meiner Depression?

Ich habe mich nicht erschossen. Ich habe eine Psychologin angerufen, bei der ich früher einmal in Therapie gewesen war. Ich bin nicht sicher, ob ich diesen Nachmittag überlebt hätte, wäre mein Hilferuf ins Leere gegangen. Oder ob ich nicht irgendwann doch den Zeh gekrümmt hätte in meiner Verzweiflung und meiner Angst vor dem nächsten Tag. Ich wollte nicht sterben, da bin ich ganz sicher. Ich hatte den Lauf im Mund und fragte mich, ob ich den Knall noch hören würde. Ob ich Schmerz spüren würde, wenn das Geschoss mein Gehirn zerfetzt. Wer mich wohl finden und was ich ihm mit meinem Anblick antun würde. Und dass mein Sohn sein Leben lang erzählen würde, dass sein Vater sich erschossen hat, als er fünf Jahre alt war. Ich wollte nicht sterben – aber ich wusste nicht mehr, wie ich weiterleben sollte. Ich bin überzeugt, dass es den meisten Selbstmördern so geht und die Frage von Leben oder Tod womöglich oft nur davon abhängt, ob jemand ans Telefon geht …

Manchmal hängt die Frage von Leben oder Tod vielleicht wirklich nur davon ab, ob jemand ans Telefon geht …

Ich fühlte mich außer Gefecht gesetzt. Sechs Wochen krankgeschrieben. Fürs Erste. Ich schluckte Antidepressiva, aß regelmäßig und nahm wieder zu. Dreimal wöchentlich ging ich zur Therapie, ansonsten hatte ich nichts zu tun und sehr viel Zeit, an der Rückeroberung meiner Ex zu arbeiten. Liebes-CD, Blumen, Briefe – das volle Programm. Nächtelang habe ich wie ein Besessener Seite um Seite mit Schwüren und Versprechungen gefüllt, von denen ich im selben Moment, da ich sie niederschrieb, ahnte, dass ich sie kaum würde erfüllen können.

Ich war bereit, mich bis zur Bruchlast zu verbiegen. Und dreimal wöchentlich sprach ich in meiner Therapie darüber, mich selbst zu finden. Zu mögen. Zu meinen Bedürfnissen und Schwächen zu stehen. Mich weniger abhängig zu machen von der Anerkennung anderer. Vormittags analysierte ich mein selbstzerstörerisches Treiben und nachmittags rief ich meine Ex bei ihrem neuen Freund an. Tief im Innern davon überzeugt, dass mein Leben wieder in Ordnung käme, wenn ich nur diese Frau zurückgewönne. Ich habe mich nicht mehr mit Freunden getroffen, keine Bücher mehr gelesen, meinen Sohn vernachlässigt. Außer ihr alles andere aus meinem Denken und Dasein verdrängt. Ich habe Stunden an Rückerobe-irungsstrategien gefeilt und sie ihren vermeintlichen Wünschen angepasst. Und die ganze Zeit über war ich in therapeutischer Behandlung.

Ja, ich weiß, dass ich selbst verantwortlich für den Erfolg einer Therapie bin. Oder Misserfolg, wenn ich den Therapeuten und damit mich selbst belüge oder mich nicht wirklich einlasse. So einfach sollte es sich einmal ein Chirurg machen: Wenn Ihr neues Hüftgelenk schmerzt, sind Sie selbst schuld …