Arsène Lupin gegen Herlock Sholmes - Leblanc Maurice - E-Book

Arsène Lupin gegen Herlock Sholmes E-Book

Leblanc Maurice

0,0

Beschreibung

Arsène Lupin gegen Herlock Sholmes enthält zwei ungewöhnlich heitere Geschichten über den trickreichen Meisterdieb und seinen scharfsinnigen englischen Gegenspieler. Maurice Leblanc festigte mit den beiden erstmals 1906/07 erschienenen Fortsetzungsromanen seinen Ruhm als französischer Conan Doyle. Schon fünf Jahre später wurden sie in Deutschland als Stummfilmserie in fünf Teilen verfilmt. In der ersten Geschichte stiehlt Lupin einen antiken Schreibtisch, in dem sich, wie sich später herausstellt, das Gewinnerlos einer Lotterie befand. Den Gewinn teilt sich der Meisterdieb mit dem alten Besitzer, denn das Los war nicht der Gegenstand, hinter dem er her war. Als eine geheimnisvolle blonde Dame ins Spiel kommt, und ein weiteres Verbrechen begangen wird, geraten die Dinge außer Kontrolle. Sholmes, dem die Enthüllung der Identität der Dame und Lupins Beteiligung an den Verbrechen gelingt, wird schließlich in eine Falle gelockt.

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 296

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



MAURICE LEBLANC

Arsène Lupin gegen Herlock Sholmes

Aus dem Französischen von Erika Gebühr

Inhaltsverzeichnis

DIE BLONDE DAME

1 Los Nummer 514 – Serie 23

2 Der blaue Diamant

3 Herlock Sholmes eröffnet den Feldzug

4 Etwas Licht in der Dunkelheit

5 Eine Entführung

6 Arsène Lupins zweite Verhaftung

DER JÜDISCHE LEUCHTER

Erstes Kapitel

Zweites Kapitel

DIE BLONDE DAME

1

LOS NUMMER 514 – SERIE 23

Am 8. Dezember des letzten Jahres stöberte Monsieur Gerbois, Mathematiklehrer am Gymnasium von Versailles, im Durcheinander eines Trödlers einen kleinen Mahagonischreibtisch auf, der ihm wegen seiner vielen Schubladen gefiel.

Das ist genau das, was ich für Suzannes Geburtstag brauche, dachte er.

Er hatte sich den Kopf zerbrochen, wie er seiner Tochter mit seinen bescheidenen Mitteln eine Freude machen könnte, und so feilschte er um den Preis und bezahlte schließlich fünfundsechzig Francs.

Als er gerade die Adresse angab, bemerkte ein junger, elegant gekleideter Mann, der schon überall herumgewühlt hatte, das Möbelstück und fragte:

»Wie viel?«

»Es ist verkauft«, erwiderte der Trödler.

»Oh! Dem Herrn hier vielleicht?«

Monsieur Gerbois verabschiedete sich, und glücklich darüber, dass er ein Möbelstück, das einem anderen ebenfalls gefiel, gekauft hatte, verließ er den Laden.

Er war jedoch noch keine zehn Schritte gegangen, als der junge Mann ihn einholte, den Hut zog und sehr höflich sagte:

»Ich bitte Sie vielmals um Verzeihung, Monsieur … ich möchte Ihnen eine indiskrete Frage stellen. Haben Sie gerade nach diesem Schreibtisch gesucht?«

»Nein. Ich war auf der Suche nach einer gebrauchten Waage für physikalische Experimente.«

»Also legen Sie keinen allzu großen Wert darauf?«

»Doch.«

»Vielleicht, weil er alt ist?«

»Weil er praktisch ist.«

»Würden Sie in diesem Fall einwilligen, ihn gegen einen ebenso praktischen, aber besser erhaltenen Schreibtisch umzutauschen?«

»Dieser ist gut erhalten. Ein Tausch scheint mir unnötig.«

»Und dennoch … «

Monsieur Gerbois war ein argwöhnischer, leicht reizbarer Mann. Er erwiderte kurz angebunden:

»Ich bitte Sie, Monsieur, bestehen Sie nicht weiter darauf.«

Der Unbekannte vertrat ihm den Weg.

»Ich kenne zwar nicht den Preis, den Sie dafür bezahlt haben, Monsieur, aber ich biete Ihnen das Doppelte.«

»Nein.«

»Das Dreifache?«

»Oh, hören Sie schon auf«, rief der Lehrer ungeduldig, »er steht nicht zum Verkauf.«

Der junge Mann fixierte ihn mit einem Ausdruck, den Monsieur Gerbois nicht vergessen sollte; dann drehte er sich wortlos auf dem Absatz um und entfernte sich.

Eine Stunde später brachte man das Möbelstück in das Häuschen, das der Lehrer an der Straße nach Viroflay bewohnte. Er rief seine Tochter.

»Der ist für dich, Suzanne, wenn er dir gefällt.«

Suzanne war ein hübsches, lebensfrohes und glückliches Mädchen. Sie warf sich ihrem Vater an den Hals und umarmte ihn so überschwänglich, als hätte er ihr ein königliches Geschenk gemacht.

Noch am selben Abend stellte sie den Tisch mit Hilfe des Hausmädchens Hortense in ihr Zimmer, säuberte die Schubladen und legte sorgfältig ihre Papiere, das Briefpapier, ihre Briefe und gesammelten Ansichtskarten sowie einige heimliche Schätze hinein, die sie zur Erinnerung an ihren Vetter Philippe aufbewahrte.

Am nächsten Morgen ging Monsieur Gerbois um halb acht Uhr ins Gymnasium. Um zehn Uhr erwartete ihn Suzanne wie alle Tage am Ausgang; für ihn war es immer eine große Freude, am Gitter auf dem gegenüberliegenden Gehweg ihre grazile Erscheinung mit dem Kinderlächeln zu entdecken.

Gemeinsam kehrten sie nach Hause zurück.

»Und dein Schreibtisch?«

»Ein wahres Wunder! Hortense und ich haben die Messingbeschläge geputzt. Man könnte meinen, sie wären aus Gold.«

»Du bist also zufrieden?«

»Und wie! Ich weiß nicht, wie ich bisher ohne ihn auskommen konnte.«

Sie durchquerten den Garten vor dem Haus. Monsieur Gerbois schlug vor:

»Wir könnten ihn vor dem Essen noch ansehen.«

»Oh, ja, das ist eine gute Idee.«

Sie stieg vor ihm die Treppe hinauf; aber als sie auf der Schwelle ihres Zimmers stand, stieß sie einen entsetzten Schrei aus.

»Was ist denn?«, stammelte Monsieur Gerbois.

Er trat ins Zimmer. Der Schreibtisch war verschwunden.

Den Untersuchungsrichter wunderte die verblüffende Einfachheit, mit der der Diebstahl durchgeführt worden war. Während Suzanne ausgegangen war und das Hausmädchen Besorgungen machte, hatte ein Spediteur – Nachbarn hatten das Schild gesehen – mit seinem Wagen vor dem Garten gehalten und zweimal geklingelt. Da die Nachbarn nicht wussten, dass das Hausmädchen unterwegs war, schöpften sie keinen Verdacht, sodass der Kerl seine Arbeit vollkommen ungestört verrichten konnte.

Erstaunlich dabei war, dass kein Schrank aufgebrochen, keine Uhr verschoben worden war. Und nicht nur das, nein, auch Suzannes Portemonnaie, das sie auf der Schreibtischplatte liegen lassen hatte, wurde mit allen seinen Goldstücken auf dem im Zimmer befindlichen Tisch wiedergefunden. Die Absicht des Einbruchs war eindeutig, aber sie machte ihn noch unerklärlicher, denn warum begab sich jemand für eine so geringe Beute in so große Gefahr?

Als einzigen Hinweis konnte der Lehrer den Vorfall des Vortags angeben.

»Bei meiner Weigerung drückte das Gesicht des jungen Mannes sofort lebhaften Ärger aus, und ich hatte die sehr deutliche Empfindung, dass er mich mit einer Drohung verließ.«

Das war sehr vage. Der Trödler wurde verhört. Er kannte weder den einen noch den anderen der beiden Herren. Das Möbelstück hatte er für vierzig Francs in Chevreuse bei einer Versteigerung nach einem Todesfall erworben, und er glaubte wohl, es zu einem angemessenen Wert weiterverkauft zu haben. Die folgende Untersuchung ergab nichts Neues.

Monsieur Gerbois war jedoch überzeugt, dass er einen großen Verlust erlitten hatte. In dem doppelten Boden einer Schublade musste ein Vermögen versteckt liegen; deswegen hatte der junge Mann, der das Versteck kannte, mit so großer Entschiedenheit gehandelt.

»Mein armer Vater, was hätten wir mit einem solchen Vermögen anfangen sollen?«, beruhigte ihn Suzanne.

»Wie kannst du fragen! Mit einer derartigen Mitgift könntest du die besten Partien machen.«

Suzanne, die ihre Absichten auf ihren Vetter Philippe beschränkte, der eine armselige Partie war, seufzte bitter. Und in dem Häuschen in Versailles ging das Leben weiter, weniger fröhlich, weniger unbekümmert, durch Klagen und Niedergeschlagenheit verdüstert.

Zwei Monate vergingen. Und dann, plötzlich und unerwartet, erfolgten Schlag auf Schlag einschneidende Ereignisse, eine unvorhergesehene Folge von glücklichen Zufällen und Katastrophen!

Am 1. Februar machte es sich Monsieur Gerbois, der gerade nach Hause gekommen war, um halb sechs Uhr mit einer Abendzeitung bequem, setzte sich die Brille auf und begann zu lesen. Da ihn Politik nicht interessierte, blätterte er die Seite um. Im gleichen Augenblick erregte ein Artikel unter folgender Überschrift seine Aufmerksamkeit:

»Dritte Ziehung der Lotterie der Pressegesellschaften.

Die Nummer 514 der Serie 23 gewinnt eine Million … «

Die Zeitung glitt ihm aus den Händen. Die Mauern schwankten vor seinen Augen, und sein Herz hörte auf zu schlagen. Die Nummer 514 der Serie 23 war seine Nummer! Er hatte das Los nur gekauft, um einem seiner Freunde einen Gefallen zu tun, denn er glaubte kaum an die Gunst des Schicksals, und jetzt gewann er!

Schnell zog er sein Notizbuch aus der Tasche. Nummer 514 der Serie 23 hatte er zur Erinnerung auf dem Schutzblatt notiert. Aber das Los?

Er stürzte in sein Arbeitszimmer, um das Kästchen mit den Briefumschlägen zu suchen, zwischen die er das kostbare Los gesteckt hatte; aber kaum hatte er den Raum betreten, erstarrte er, wankend und mit flatterndem Herzen: Das Kästchen stand nicht dort, und mit Entsetzen wurde ihm jäh klar, dass es schon seit Wochen nicht mehr da war! Seit Wochen hatte er es nicht mehr vor sich stehen sehen, wenn er die Hausaufgaben seiner Schüler korrigierte.

Er hörte Schritte auf dem Kies im Garten. Er rief:

»Suzanne! Suzanne!«

Sie eilte herbei, stürzte die Treppe hinauf. Erstickt stammelte er:

»Suzanne, das Kästchen … das Kästchen mit den Briefumschlägen?«

»Welches?«

»Das aus dem Louvre … das ich einmal an einem Donnerstag mitgebracht habe … es stand hier an der Tischkante … «

»Aber erinnere dich doch, Vater … wir haben es zusammen weggeräumt.«

»Wann?«

»An dem Abend … du weißt schon, am Abend jenes Tages … «

»Aber wohin? Antworte … Ich muss es wissen … «

»Wohin? In den Schreibtisch.«

»In den gestohlenen Schreibtisch?«

»Ja.«

»In den gestohlenen Schreibtisch!«

Ganz leise wiederholte er diese Worte, schreckensstarr. Dann ergriff er ihre Hand, und noch leiser sagte er:

»Er enthielt eine Million, mein Kind … «

»Oh! Vater, warum hast du es mir nicht gesagt?«, murmelte sie in kindlicher Naivität.

»Eine Million!«, wiederholte er. »Es war die Gewinnnummer der Presselose.«

Der Schlag ihres Unglücks schien sie zu erdrücken; sie schwiegen lange, denn sie hatten nicht den Mut, die Stille zu unterbrechen. Schließlich sagte Suzanne:

»Aber Vater, man wird dich trotzdem auszahlen.«

»Warum? Wie soll ich meinen Anspruch beweisen?«

»Es sind also Beweise nötig?«

»Zum Teufel, ja.«

»Und du hast keine?«

»Doch, ich habe einen.«

»Na also?«

»Er ist in dem Kästchen.«

»In dem verschwundenen Kästchen?«

»Ja. Und der andere wird das Geld bekommen.«

»Aber das wäre abscheulich! Kannst du Einspruch erheben, Vater?«

»Weiß man’s! Weiß man’s! Dieser Mann muss sehr stark sein. Er verfügt über viele Mittel. Erinnere dich an die Sache mit dem Möbelstück … «

Mit plötzlich wiedergewonnener Energie sprang er auf und stampfte mit dem Fuß auf den Boden:

»Nein, nein und nochmals nein, er wird sie nicht bekommen, die Million, er wird sie nicht bekommen! Warum sollte er sie bekommen? So geschickt er auch sein mag, er kann schließlich genauso wenig unternehmen. Wenn er das Geld abholen will, wird er eingelocht! Oho! Das wollen wir doch mal sehen, mein Bester!«

»Du hast also eine Idee, Vater?«

»Die, unsere Rechte bis zum Ende zu verteidigen, was auch geschieht! Und es wird uns gelingen! Die Million gehört mir! Ich werde sie bekommen!«

Einige Minuten später gab er folgendes Telegramm auf:

»An den Direktor der Bodenkreditbank,Rue des Capucines, Paris

Bin Besitzer der Nummer 514 – Serie 23, erhebe mit allen gesetzlichen Mitteln Einspruch gegen jede fremde Reklamation. –

Gerbois.«

Fast zur gleichen Zeit traf das folgende Telegramm bei der Bank ein:

»Die Nummer 514 – Serie 23 ist in meinem Besitz. –

Arsène Lupin.«

Jedes Mal, wenn ich eines der unzähligen Abenteuer erzähle, aus denen Arsène Lupins Leben besteht, bin ich wirklich unsicher. Ich habe das Gefühl, dass auch das kleinste dieser Abenteuer allen denen, die mich lesen, längst bekannt ist. Tatsächlich gibt es doch keinen Schachzug unseres »Nationaldiebes«, wie man ihn so hübsch genannt hat, der nicht aufs lauteste verkündet, keine Kühnheit, die nicht unter allen Gesichtspunkten studiert, keine Handlung, die nicht mit jenem Überfluss an Einzelheiten, den man für gewöhnlich der Erzählung von Heldentaten widmet, kommentiert worden ist.

Wer zum Beispiel kennt nicht jene seltsame Geschichte der »Blonden Dame« mit den merkwürdigen Episoden, die die Reporter mit großen Buchstaben überschrieben: »Die Nummer 514 – Serie 23!« »Das Verbrechen in der Avenue Henri-Martin!« »Der blaue Diamant!« Welch Aufsehen durch das Eingreifen des berühmten englischen Detektivs Herlock Sholmes! Was für eine Aufregung nach jedem unerwarteten Ereignis im Laufe des Kampfes dieser beiden großen Könner! Und was für ein Lärm auf den Boulevards an dem Tag, als die Zeitungsjungen herausbrüllten: »Die Verhaftung des Arsène Lupin!«

Meine Entschuldigung ist die, dass ich Neuigkeiten berichte. Ich verrate die Lösung des Rätsels. Immer liegt ein Rest von Dunkelheit über seinen Abenteuern: Ich verscheuche sie. Ich wiederhole die gelesenen und wieder gelesenen Artikel, ich bringe alte Interviews. Aber das alles verbinde ich miteinander, ich systematisiere es, und zwar ausschließlich auf Grundlage der Tatsachen. Mein Mitarbeiter ist Arsène Lupin, dessen Liebenswürdigkeit mir gegenüber unerschöpflich ist. Bei diesem Fall hilft mir zudem der unbeschreibliche Wilson, der Freund und Vertraute von Sholmes.

Man erinnert sich sicher an das große Gelächter, das auf die Veröffentlichung der beiden Telegramme folgte. Allein der Name Arsène Lupin war ein sicherer Beweis für etwas Unvorhergesehenes, ein Versprechen der Belustigung des Publikums. Und das Publikum war die ganze Welt.

Die von der Bodenkreditbank sogleich angestellten Ermittlungen ergaben, dass die Nummer 514 – Serie 23 durch die Versailler Filiale der Bank »Crédit Lyonnais« an den Artilleriehauptmann Bessy ausgegeben worden war. Doch der Hauptmann war nach einem Sturz vom Pferd gestorben. Durch Kameraden, denen er sich anvertraut hatte, erfuhr man, dass er das Los einige Zeit vor seinem Tod einem Freund verkauft hatte.

»Dieser Freund bin ich«, bestätigte Monsieur Gerbois.

»Beweisen Sie es«, forderte der Direktor der Bank.

»Ich soll es beweisen? Das ist leicht. Zwanzig Personen werden Ihnen bestätigen, dass ich fortwährende Beziehungen zu dem Hauptmann hatte und dass wir uns im Café an der Place d’Armes trafen. Dort habe ich ihm eines Tages, um ihm aus einer augenblicklichen Verlegenheit zu helfen, sein Los gegen die Summe von zwanzig Francs abgekauft.«

»Haben Sie Zeugen für diesen Kauf?«

»Nein.«

»Worauf stützen Sie in diesem Fall Ihre Reklamation?«

»Auf den Brief, den er mir in dieser Angelegenheit geschrieben hat.«

»Was für ein Brief?«

»Ein Brief, der an das Los geheftet war.«

»Zeigen Sie ihn.«

»Aber er befand sich doch in dem gestohlenen Schreibtisch.«

»Finden Sie ihn wieder.«

Es war Arsène Lupin, der ihn beschaffte. Eine in der Zeitung »Echo de France« – sie hat die Ehre, sein amtliches Organ zu sein, und es scheint, als wäre er einer ihrer Hauptaktionäre – veröffentlichte Notiz verkündete, dass er den Brief, den Hauptmann Bessy ihm, und zwar ihm persönlich, geschrieben habe, bei Rechtsanwalt Detinan, seinem Rechtsberater, hinterlegt habe.

Das war eine Freude: Arsène Lupin nahm einen Rechtsanwalt! Ausgerechnet Arsène Lupin unterwarf sich den Regeln des Spiels und wählte als seinen Vertreter ein Mitglied der Rechtsanwaltschaft! Die Presse fiel über Rechtsanwalt Detinan her, einen einflussreichen radikalen Abgeordneten, einen Mann von großer Redlichkeit wie auch feinem Geist, der ein bisschen skeptisch und gern widersprüchlich war.

Rechtsanwalt Detinan versicherte, er habe noch nie das Vergnügen gehabt, Arsène Lupin zu begegnen – und er bedauerte das lebhaft –, aber er hatte tatsächlich Anweisungen von ihm bekommen. Er war so gerührt über die Wahl und die damit verbundene Ehre, dass er das Recht seines Klienten mit allen Mitteln verteidigen wollte. Er öffnete also die neu eingerichtete Akte und legte dem Gericht ohne Umschweife den Brief des Hauptmanns vor. Dieser bewies wohl den Verkauf des Loses, nannte aber nicht den Namen des Käufers.

»Mein lieber Freund … «, hieß es nur.

»Der liebe Freund, das bin ich«, fügte Arsène Lupin in einer dem Brief des Hauptmanns beigefügten Notiz hinzu. »Und der beste Beweis dafür ist, dass ich den Brief besitze.«

Der Schwarm der Reporter stürzte sich sofort auf Monsieur Gerbois, der nur wiederholen konnte:

»Der liebe Freund ist niemand anderer als ich. Arsène Lupin hat den Brief des Hauptmanns mit dem Lotterielos gestohlen.«

»Das soll er beweisen!«, erwiderte Lupin den Journalisten.

»Aber da er doch den Schreibtisch gestohlen hat!«, rief Monsieur Gerbois vor denselben Journalisten aus.

Und Lupin entgegnete:

»Das soll er beweisen!«

Das öffentliche Duell zwischen den beiden Besitzern der Nummer 514 – Serie 23, das Kommen und Gehen der Reporter, die Kaltblütigkeit Arsène Lupins angesichts der Kopflosigkeit des armen Monsieur Gerbois, es war ein Schauspiel von ganz besonderem Reiz.

Der ärmste Gerbois! Die Zeitungen waren voll von seinen Klagen. Er verriet sein Unglück mit rührender Naivität.

»Verstehen Sie, meine Herren, es ist die Mitgift von Suzanne, die dieser Lump mir raubt. Ich persönlich pfeife darauf, aber Suzanne! Denken Sie doch, eine Million! Zehnmal hunderttausend Francs! Oh! Ich wusste genau, dass der Schreibtisch einen Schatz enthielt!«

Man konnte ihm noch so oft vorhalten, dass sein Gegner von dem Vorhandensein eines Lotterieloses nichts wusste, als er das Möbelstück forttrug, und dass niemand hätte voraussehen können, dass diese Nummer das große Los gewinnen würde; er seufzte nur: »Hören Sie mir doch auf, er wusste es … Warum hätte er sich sonst die Mühe gemacht, dieses unglückselige Möbelstück zu stehlen?«

»Aus unbekannten Gründen, aber sicher nicht, um einen Fetzen Papier zu erbeuten, der damals den bescheidenen Wert von zwanzig Francs hatte.«

»Von einer Million! Er wusste es … Er weiß alles! Oh! Sie kennen ihn nicht, den Banditen! Sie hat er nicht um eine Million gebracht, Sie nicht!«

Der Dialog hätte noch lange auf diese Art weitergehen können. Aber am zwölften Tag erhielt Monsieur Gerbois eine Botschaft mit dem Vermerk »vertraulich« von Arsène Lupin. Er las mit wachsender Unruhe:

»Monsieur,

das Publikum amüsiert sich auf unsere Kosten. Glauben Sie nicht, dass der Augenblick gekommen ist, Ernst zu machen? Ich meinerseits bin fest dazu entschlossen. Die Situation ist klar: Ich besitze ein Los, das einzulösen ich nicht das Recht habe, und Sie haben das Recht, ein Los einzulösen, das Sie nicht besitzen. Also können wir einer ohne den anderen nichts unternehmen.

Doch willigen weder Sie ein, mir Ihr Recht zu überlassen, noch willige ich ein, Ihnen mein Los zu überlassen. Was tun?

Ich sehe nur eine Möglichkeit: Teilen wir. Eine halbe Million für Sie, eine halbe Million für mich. Ist das nicht kollegial? Und befriedigt nicht dieses Salomonische Urteil das Gefühl für Gerechtigkeit, das in jedem von uns steckt?

Eine gerechte, aber unverzügliche Lösung. Es ist kein Angebot, über das zu diskutieren Sie Zeit haben, sondern eine Notwendigkeit, der sich zu beugen die Umstände Sie zwingen. Ich gebe Ihnen drei Tage Bedenkzeit. Am Freitagmorgen hoffe ich, unter den Kleinanzeigen in der Zeitung ›Echo de France‹ eine diskrete Notiz zu lesen, die an M. Ars. Lup. adressiert ist und Ihre schlichte Einwilligung zu dem von mir vorgeschlagenen Abkommen enthält. Daraufhin werden Sie sofort in den Besitz des Loses kommen, die Million kassieren und mir auf dem Weg, den ich Ihnen später nennen werde, fünfhunderttausend Francs übergeben. Falls Sie sich weigern, habe ich Maßnahmen getroffen, die zum selben Ergebnis führen. Aber außer dem sehr schweren Ärger, den Ihnen eine Weigerung bereiten würde, müssten Sie noch einen Abzug von fünfundzwanzigtausend Francs für Extraausgaben hinnehmen.

Hochachtungsvoll – Arsène Lupin.«

Aufgebracht wie er war, beging Monsieur Gerbois den großen Fehler, den Brief herumzuzeigen und kopieren zu lassen. Seine Entrüstung trieb ihn so weit, nur Dummheiten zu machen.

»Nichts! Nichts wird er bekommen!«, rief er vor den versammelten Reportern. »Teilen, was mir gehört? Niemals. Soll er sein Los zerreißen, wenn er mag.«

»Trotzdem sind fünfhunderttausend Francs immer noch besser als nichts.«

»Es geht nicht darum, sondern um mein Recht, und dieses Recht werde ich vor Gericht verteidigen.«

»Gegen Arsène Lupin? Das wäre lustig.«

»Nein, aber gegen die Bodenkreditbank. Sie muss mir die Million auszahlen.«

»Im Gegenzug für das Los oder zumindest den Beweis, dass Sie das Los gekauft haben.«

»Den Beweis gibt es, denn Arsène Lupin gibt zu, dass er den Schreibtisch gestohlen hat.«

»Wird das Wort Arsène Lupins dem Gericht genügen?«

»Wie dem auch sei, ich versuche es.«

Das Publikum applaudierte. Wetten wurden abgeschlossen; die einen waren überzeugt, dass Lupin Monsieur Gerbois bezwingen, die anderen, dass er es bei seinen Drohungen belassen würde. Man war jedoch etwas besorgt, weil das Kräfteverhältnis der beiden Gegner so ungleich war; der eine war so hart in seinem Angriff, der andere verstört wie ein gehetztes Tier.

Am Freitag riss man sich um die Zeitung »Echo de France«, fieberhaft überflog man die fünfte Seite mit den Kleinanzeigen. Nicht eine Zeile war an M. Ars. Lup. gerichtet. Auf die Anordnungen Arsène Lupins antwortete Monsieur Gerbois mit Schweigen. Das war die Kriegserklärung.

Am Abend erfuhr man aus den Zeitungen von der Entführung Mademoiselle Gerbois’.

Was uns bei dem, was man als Arsène-Lupin-Schauspiele bezeichnen könnte, immer belustigt, ist die äußerst komische Rolle der Polizei. Alles geschieht von ihr unbeeinflusst. Er spricht, er schreibt, warnt, befiehlt, droht und führt aus, als gäbe es weder den Chef der Sicherheitspolizei noch Polizisten oder Polizeikommissare, kurz Personen, die ihn an seinen Absichten hindern könnten. All das wird als unbedeutend und unwichtig betrachtet. Dieses Hindernis zählt nicht.

Und doch müht sich die Polizei ab! Sobald es sich um Arsène Lupin handelt, fängt die ganze Rangliste von oben bis unten Feuer, kocht und schäumt vor Wut. Er ist der Gegner, der Feind, der sie verhöhnt, provoziert, verachtet oder, was am schlimmsten ist, ignoriert.

Was soll man gegen einen solchen Gegner machen? Nach der Aussage des Hausmädchens ging Suzanne um zwanzig Minuten vor zehn Uhr von zu Hause fort. Als ihr Vater um fünf Minuten nach zehn Uhr aus dem Gymnasium kam, sah er sie nicht auf dem Gehweg, auf dem sie ihn gewöhnlich erwartete. So hatte sich also alles während des kurzen Spazierganges von zwanzig Minuten ereignet, die Suzanne von zu Hause zum Gymnasium oder wenigstens bis in die Nähe der Schule benötigte.

Zwei Nachbarn erklärten, sie hätten sie dreihundert Schritte vom Haus entfernt getroffen. Eine Dame hatte ein junges Mädchen auf der Avenue gehen sehen, auf das die Personenbeschreibung zutraf. Man forschte nach allen Seiten, man verhörte die Angestellten des Bahnhofs und die Revierbeamten. Sie hatten an jenem Tag nichts bemerkt, was auf die Entführung eines jungen Mädchens hätte hindeuten können. In Ville-d’Avray erklärte jedoch ein Kolonialwarenhändler, dass er einem geschlossenen Auto, das aus Paris kam, Öl geliefert hätte. Am Steuer saß ein Chauffeur, im Innern eine blonde Dame – eine äußerst blonde Dame, präzisierte der Zeuge. Eine Stunde später kehrte das Auto aus Versailles zurück. Eine Wagenkolonne zwang es, die Fahrt zu verlangsamen, was es dem Händler ermöglichte, neben der schon einmal gesehenen blonden Dame die Anwesenheit einer weiteren, in Schals und Tücher gehüllten Dame festzustellen. Es bestand kein Zweifel, dass es sich um Suzanne Gerbois handelte.

Dann musste also angenommen werden, dass die Entführung am hellichten Tag auf einer viel befahrenen Straße im Zentrum der Stadt stattgefunden hatte!

Aber wie? An welcher Stelle? Kein Schrei wurde gehört, keine verdächtige Bewegung bemerkt.

Der Händler beschrieb das Auto, eine dunkelblaue 24-PS-Limousine aus dem Hause Peugeot. Sicherheitshalber erkundigte man sich bei der Inhaberin der Großgarage, Madame Bob-Walthour, die sich auf die Vermietung dieser Marke spezialisiert hatte. Am Freitagmorgen hatte sie tatsächlich für den ganzen Tag eine Peugeot-Limousine an eine blonde Dame verliehen, die ihr übrigens nicht wieder zu Gesicht gekommen war.

»Aber der Chauffeur?«

»Er hieß Ernest, ich habe ihn am Tag vorher auf Grund ausgezeichneter Zeugnisse eingestellt.«

»Ist er hier?«

»Nein, er hat den Wagen zurückgebracht und ist nicht mehr wiedergekommen.«

»Wo könnte man ihn finden?«

»Bei denjenigen, die ihn empfohlen haben. Hier sind ihre Namen.«

Man begab sich zu den genannten Personen. Keine von ihnen kannte besagten Ernest. Welche Spur man auch verfolgte, um Licht in das Dunkel zu bringen, stets geriet man in neue Verwicklungen, neue Rätsel. Monsieur Gerbois hatte nicht die Kraft, einen Kampf durchzustehen, der für ihn so unglücklich begann. Untröstlich über das Verschwinden seiner Tochter und von Gewissensbissen geplagt, kapitulierte er.

Eine kleine Anzeige im »Echo de France«, die von allen kommentiert wurde, erklärte schlicht seine Unterwerfung ohne Hintergedanken.

Das war der Sieg; der Krieg war nach viermal vierundzwanzig Stunden beendet.

Zwei Tage später betrat Monsieur Gerbois die Halle der Bodenkreditbank. Er wurde zum Direktor geführt, dem er die Nummer 514 der Serie 23 vorlegte. Der Direktor sprang auf.

»Oh, Sie haben es? Das Los wurde Ihnen zurückgegeben?«

»Ich hatte es verlegt, hier ist es«, erwiderte Monsieur Gerbois.

»Sie behaupteten doch aber … es war die Rede von … «

»Das waren alles nur Verleumdungen und Lügen.«

»Wir benötigen trotzdem einen Beweis.«

»Genügt der Brief des Hauptmanns?«

»Sicher.«

»Hier ist er.«

»Gut. Lassen Sie bitte die Unterlagen hier. Wir haben vierzehn Tage Zeit für die Überprüfung. Ich werde Sie benachrichtigen, sobald Sie sich an unserer Kasse melden können. Bis dahin glaube ich, Monsieur, dass auch Ihnen daran liegt, nicht darüber zu reden und diese Sache in absolutem Stillschweigen zu beenden.«

»Das ist meine Absicht.«

Monsieur Gerbois erzählte nichts, der Direktor auch nicht. Aber es gibt Geheimnisse, die ohne irgendeine Indiskretion gelüftet werden, und so erfuhr man plötzlich, dass Arsène Lupin die Kühnheit gehabt hatte, Monsieur Gerbois das Los mit der Nummer 514 der Serie 23 zu schicken. Diese Neuigkeit wurde mit sprachloser Bewunderung aufgenommen. Das war entschieden ein fairer Spieler, der einen Trumpf von solcher Wichtigkeit auf den Tisch warf, das kostbare Los! Sicher, er hatte ihn nur mit Bedacht und für eine Karte, die das Gleichgewicht wiederherstellte, aus der Hand gegeben. Aber wenn das junge Mädchen entkam? Wenn es gelang, ihm seine Geisel zu entreißen?

Die Polizei erkannte den Schwachpunkt des Gegners und verdoppelte ihre Anstrengungen. Arsène Lupin entwaffnet, durch sich selbst bloßgestellt, in der Verzahnung seiner Berechnungen gefangen, ohne einen lumpigen Sou von der begehrten Million … mit einem Schlag würden die Lacher die Seiten wechseln.

Man musste nur Suzanne wiederfinden. Aber man fand sie nicht, genauso wenig wie sie entkam.

Gut, sagte man, eins zu null für ihn, Arsène Lupin gewinnt die erste Runde. Aber das Schwierigste kommt noch. Mademoiselle Gerbois ist in seinen Händen, das stimmt, und er wird sie nur gegen fünfhunderttausend Francs herausgeben. Aber wo und wie wird der Tausch stattfinden? Damit er stattfinden kann, müssen sie ein Treffen vereinbaren. Wer hindert Monsieur Gerbois daran, die Polizei zu verständigen und so seine Tochter wiederzubekommen und gleichzeitig das ganze Geld zu behalten?

Man interviewte den Lehrer. Sehr niedergeschlagen und von dem Wunsch erfüllt, über alles zu schweigen, blieb er undurchschaubar.

»Ich habe nichts zu sagen, ich warte.«

»Und Mademoiselle Gerbois?«

»Die Suche geht weiter.«

»Aber Arsène Lupin hat Ihnen geschrieben?«

»Nein.«

»Sie versichern es?«

»Nein.«

»Also hat er Ihnen geschrieben. Wie lauten seine Anweisungen?«

»Ich habe nichts zu sagen.«

Man belagerte Rechtsanwalt Detinan. Dieselbe Diskretion.

»Monsieur Lupin ist mein Klient«, erwiderte er mit gekünsteltem Ernst. »Sie verstehen, dass ich zu absolutem Schweigen gezwungen bin.«

Diese Geheimniskrämerei irritierte das Publikum. Offensichtlich wurde die Affäre unter der Hand verhandelt. Arsène Lupin zog die Maschen seines Netzes fester zusammen, während die Polizei Monsieur Gerbois Tag und Nacht überwachen ließ. Man diskutierte die drei möglichen Ausgänge: die Verhaftung, den Triumph oder das kläglich-lächerliche Scheitern.

Aber die Neugier der Bevölkerung sollte nur teilweise befriedigt werden; erst hier, auf diesen Seiten, wird zum ersten Mal die ganze Wahrheit enthüllt.

Am Dienstag, dem 12. März, erhielt Monsieur Gerbois in einem gewöhnlich aussehenden Umschlag eine Nachricht von der Bodenkreditbank.

Am Donnerstag stieg er um ein Uhr in den Zug nach Paris. Um zwei Uhr wurden ihm die tausend Tausendfrancscheine ausgehändigt.

Während er zitternd die Scheine durchblätterte – war dieses Geld nicht das Lösegeld für Suzanne? –, unterhielten sich zwei Männer in einem Wagen, der in einiger Entfernung vor dem Tor hielt. Einer dieser Männer hatte graumeliertes Haar und ein energisches Gesicht, das in scharfem Gegensatz zu seiner Kleidung und dem Gebaren eines kleinen Angestellten stand. Es war Chefinspektor Ganimard, der alte Ganimard, Lupins unversöhnlicher Feind. Er sagte zu Brigadier Folenfant:

»Es wird nicht mehr lange dauern; in spätestens fünf Minuten werden wir unseren alten Freund wiedersehen. Bist du bereit?«

»Durchaus.«

»Wie viele sind wir?«

»Acht, zwei haben ein Fahrrad.«

»Und ich zähle für drei. Das ist genug, aber auch nicht übermäßig viel. Gerbois darf uns auf gar keinen Fall entkommen … Wenn doch, dann gute Nacht; er geht zum Treffen mit Lupin, das sie sicher vereinbart haben, tauscht Mademoiselle gegen die halbe Million ein, und das Spiel ist aus.«

»Aber warum macht der Lehrer nicht gemeinsame Sache mit uns? Es wäre so einfach! Wenn er uns ins Spiel brächte, hätte er die ganze Million für sich.«

»Ja, aber er hat Angst. Wenn er versucht, dem anderen ein Schnippchen zu schlagen, bekommt er seine Tochter nicht zurück.«

»Welchem anderen?«

»Ihm.«

Ganimard sprach das Wort ernst aus, ein wenig furchtsam, als spräche er von einem übernatürlichen Wesen, dessen Krallen er schon zu spüren bekommen hatte.

»Es ist ziemlich komisch«, bemerkte Folenfant weise, »dass wir uns darauf beschränken müssen, diesen Monsieur Gerbois vor sich selbst zu schützen.«

»Lupin verdreht die Welt«, seufzte Ganimard.

Eine Minute verging. »Achtung«, sagte er.

Monsieur Gerbois trat aus dem Tor. Am Ende der Rue des Capucines ging er den Boulevard auf der linken Seite entlang. Er entfernte sich langsam und sah sich die Auslagen in den Geschäften an. Ganimard und Folenfant folgten ihm zu Fuß.

»Zu ruhig, dieser Kunde«, sagte Ganimard. »Ein Mensch, der eine Million in der Tasche hat, ist nicht so ruhig.«

»Was könnte er tun?«

»Oh, nichts natürlich. Aber das ist egal, ich misstraue ihm trotzdem. Lupin ist Lupin.«

In diesem Augenblick hielt Monsieur Gerbois an einem Kiosk. Er wählte einige Zeitungen, ließ sich das Wechselgeld geben, faltete eine der Zeitungen auseinander und begann, während er langsam weiterging, mit gestreckten Armen zu lesen. Dann plötzlich warf er sich mit einem Satz in ein Auto, das am Gehweg stand. Der Motor lief, das Auto beschleunigte, fuhr an der Kirche La Madeleine vorbei und verschwand.

»Verflixt und zugenäht!«, brüllte Ganimard. »Das ist ein Coup nach seiner Art.«

Er stürzte sofort los, und mit ihm liefen die anderen Männer um die Madeleine herum.

Unversehens lachte er laut auf. Am Anfang des Boulevard Malesherbes stand das Auto mit einer Panne, und Monsieur Gerbois stieg aus.

»Schnell, Folenfant … der Fahrer … vielleicht ist es der besagte Ernest.«

Folenfant kümmerte sich um den Fahrer. Er hieß Gaston und war Angestellter eines Taxiunternehmens; vor zehn Minuten hatte ihn ein Herr angehalten und ihm aufgetragen, mit laufendem Motor in der Nähe des Kiosks auf einen anderen Herrn zu warten.

»Und der zweite Fahrgast«, fragte Folenfant, »was für eine Adresse hat er Ihnen angegeben?«

»Gar keine. ›Boulevard Malesherbes … Avenue de Messine … doppeltes Trinkgeld‹, das war alles.«

Währenddessen war Monsieur Gerbois, ohne eine Minute zu verlieren, in den ersten Wagen gesprungen, der vorbeifuhr.

»Fahrer, zur Metrostation Concorde.«

An der Place du Palais-Royal verließ der Lehrer die Metro, lief zu einem anderen Wagen und ließ sich zur Place de la Bourse fahren. Zweite Fahrt in der Metro, dann in der Avenue de Villiers der dritte Wagen.

»Fahrer, Rue Clapeyron, Nummer 25.«

Die Nummer 25 in der Rue Clapeyron ist vom Boulevard des Batignolles durch ein Eckhaus getrennt. Er stieg in die erste Etage und klingelte. Ein Herr öffnete ihm.

»Hier bin ich doch richtig bei Rechtsanwalt Detinan?«

»Ich bin es selbst. Monsieur Gerbois zweifellos.«

»Sehr richtig.«

»Ich habe Sie erwartet, Monsieur. Treten Sie bitte ein.«

Als Monsieur Gerbois das Arbeitszimmer des Rechtsanwalts betrat, schlug die Wanduhr dreimal; er sagte im selben Augenblick: »Zu dieser Stunde hat er mich bestellt. Ist er nicht da?«

»Noch nicht.«

Monsieur Gerbois setzte sich, wischte sich die Stirn, sah auf seine Uhr, als wüsste er nicht, wie spät es war, und fragte ängstlich:

»Wird er kommen?«

Der Rechtsanwalt antwortete:

»Sie fragen mich da etwas, worauf ich genauso neugierig bin wie Sie. Noch nie habe ich eine solche Ungeduld empfunden. Wenn er kommt, riskiert er auf alle Fälle viel; denn dieses Haus wird seit zwei Wochen gut überwacht. Man traut mir nicht.«

»Mir noch weniger. So kann ich auch nicht garantieren, dass die Polizisten, die mich überwachten, meine Spur verloren haben.«

»Aber dann … «

»Es wäre nicht meine Schuld«, rief der Lehrer aufgeregt, »man kann mir nichts vorwerfen. Was habe ich versprochen? Seinen Befehlen zu gehorchen. Na und? Ich habe seinen Befehlen blind gehorcht, habe das Geld zu der von ihm bestimmten Stunde eingelöst und mich auf die von ihm vorgeschriebene Art zu Ihnen begeben. Da ich für das Unglück meiner Tochter verantwortlich bin, habe ich ehrlich mein Versprechen gehalten. Jetzt ist es an ihm, das seine zu halten.«

Und mit der gleichen ängstlichen Stimme fügte er hinzu:

»Er wird meine Tochter mitbringen, nicht wahr?«

»Ich hoffe es.«

»Haben Sie ihn gesehen?«

»Ich? Aber nein! Er hat mich nur in einem Brief gebeten, Sie beide zu empfangen, meinen Dienstboten vor drei Uhr freizugeben und in der Zeit zwischen Ihrer Ankunft und seinem Weggang niemanden in meine Wohnung zu lassen. Wenn ich nicht in seinen Vorschlag einwilligen wollte, bat er mich, ihn durch zwei Zeilen in der ›Echo de France‹ davon in Kenntnis zu setzen. Aber ich bin zu glücklich, Arsène Lupin einen Gefallen zu tun, deswegen willigte ich in alles ein.«

»Wie soll das alles bloß enden?«, stöhnte Monsieur Gerbois.

Er zog die Banknoten aus seiner Tasche, breitete sie auf dem Tisch aus und bildete zwei gleich große Haufen. Dann schwiegen sie beide. Von Zeit zu Zeit horchte Monsieur Gerbois auf. Hatte es nicht geklingelt?

Mit jeder Minute wuchs seine Angst; auch Rechtsanwalt Detinan spürte eine fast schmerzliche Ungeduld.

Einen Augenblick lang verlor selbst er seine Kaltblütigkeit. Er stand ruckartig auf:

»Wir werden ihn nicht zu Gesicht bekommen … Wie stellen Sie sich das vor?… Es wäre töricht von ihm. Dass er Vertrauen zu uns hat, gut, wir sind ehrliche Leute und unfähig, ihn zu verraten. Aber die Gefahr geht nicht allein von uns aus.«

Und der zermürbte Monsieur Gerbois stammelte, während seine Hände das Geld bedeckten:

»Er soll kommen, mein Gott, er soll kommen! Ich würde dies alles hergeben, um Suzanne wiederzuhaben.«

Die Tür wurde geöffnet.

»Die Hälfte genügt, Monsieur Gerbois.«

Jemand stand auf der Schwelle, ein junger, elegant gekleideter Herr, in dem Monsieur Gerbois sofort den Mann wiedererkannte, der ihn in der Nähe des Trödlerladens in Versailles angesprochen hatte. Er stürzte auf ihn zu.

»Und Suzanne? Wo ist meine Tochter?«

Arsène Lupin schloss sorgfältig die Tür und sagte zum Rechtsanwalt, während er mit einer ruhigen Bewegung seine Handschuhe auszog:

»Lieber Doktor, ich kann Ihnen nicht genug danken für die Liebenswürdigkeit, mit der Sie eingewilligt haben, meine Rechte zu verteidigen. Ich werde es nicht vergessen.«

Rechtsanwalt Detinan murmelte:

»Aber Sie haben nicht geklingelt … ich habe das Zuschlagen der Tür nicht gehört … «

»Klingeln und Türen sind Dinge, die funktionieren müssen, ohne dass man sie jemals hört. Ich bin trotzdem hier, das ist die Hauptsache.«

»Meine Tochter! Suzanne! Was haben Sie mit ihr gemacht?«, wiederholte der Lehrer.

»Mein Gott, Monsieur! Wie eilig Sie es haben«, sagte Lupin. »Gedulden Sie sich noch einen kleinen Augenblick, und Ihr Fräulein Tochter wird in Ihren Armen liegen.«

Er ging auf und ab und sagte dann im Ton eines großen Herrn, der Lob austeilt:

»Monsieur Gerbois, ich gratuliere Ihnen zu der Geschicklichkeit, mit der Sie vorhin gehandelt haben. Wenn das Auto nicht diese blödsinnige Panne gehabt hätte, hätten wir uns ganz einfach an der Place d’Étoile getroffen und Rechtsanwalt Detinan die Unannehmlichkeit dieses Besuches erspart. Aber das Schicksal hat es so gewollt.«

Er bemerkte die zwei Bündel Banknoten und rief:

»Oh! Wunderbar! Die Million ist da … Wir wollen keine Zeit verlieren. Sie gestatten?«

»Aber Mademoiselle Gerbois ist noch nicht hier«, warf Detinan ein und stellte sich vor den Tisch.

»Na und?«

»Ist ihre Anwesenheit nicht unverzichtbar?«

»Ich verstehe, ich verstehe! Arsène Lupin flößt nur ein relatives Vertrauen ein. Er steckt die halbe Million ein und liefert die Geisel nicht aus. Oh, mein lieber Herr, ich werde immer verkannt! Weil mich das Schicksal zu etwas außergewöhnlichen Handlungen treibt, misstraut man meiner Ehrlichkeit. Mir misstraut man, der ich ein Mann der Skrupel und des Zartgefühls bin. Wenn Sie übrigens Angst haben, mein lieber Herr, öffnen Sie das Fenster und rufen Sie. Auf der Straße steht ein gutes Dutzend Polizisten.«

»Glauben Sie?«

Arsène Lupin schob den Vorhang etwas zur Seite.

»Ich glaube nicht, dass Monsieur Gerbois in der Lage ist, Ganimard abzuhängen. Was habe ich gesagt? Dort steht er, der gute Freund.«

»Ist es möglich?«, rief der Lehrer. »Ich schwöre Ihnen … «

»Dass Sie mich nicht verraten haben? Das bezweifle ich nicht; aber die Kerle sind gerissen. Da, Folenfant … und Gréaume … und Dieuzy … lauter gute Kameraden von mir.«

Der Rechtsanwalt sah ihn überrascht an. Was für eine Ruhe! Er lachte ein so glückliches Lachen, als vergnügte er sich mit einem Kinderspielzeug und als gäbe es keine Gefahr.

Diese Unbekümmertheit beruhigte den Rechtsanwalt noch mehr als der Anblick der Polizisten. Er entfernte sich von dem Tisch, auf dem die Banknoten lagen.

Arsène Lupin nahm die beiden Bündel, erleichterte jedes um fünfundzwanzig Scheine und hielt Detinan die fünfzig Noten hin:

»Das Honorar des Monsieur Gerbois, mein lieber Doktor, und das Arsène Lupins. Wir schulden Ihnen das reichlich.«

»Sie schulden mir gar nichts«, erwiderte der Rechtsanwalt.

»Wieso? Und der ganze Ärger, den wir Ihnen bereiten?«

»Und das Vergnügen, das ich bei diesem Ärger habe?«