Arsène Lupin und der Automatenmensch - Martin Barkawitz - E-Book
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Arsène Lupin und der Automatenmensch E-Book

Martin Barkawitz

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  • Herausgeber: BookRix
  • Kategorie: Krimi
  • Sprache: Deutsch
  • Veröffentlichungsjahr: 2020
Beschreibung

Das Pariser Todesrätsel!   Paris 1899: Der Meisterdieb Arséne Lupin und die schöne Witwe Natalie Noir sind durch ein tödliches Geheimnis miteinander verbunden. Als Natalie einen undurchsichtigen Yankee um seinen Besitz erleichtert, wird dadurch eine Lawine dramatischer Ereignisse losgetreten. Lupin muss sich einem erbarmungslosen Gegner stellen, der dem Mysterium des ewigen Lebens auf der Spur ist. Als dem Meisterdieb ein Mord in die Schuhe geschoben werden soll, muss er seinen ganzen Einfallsreichtum aufbieten, um seinen Hals noch einmal aus der Schlinge zu ziehen. Werden Lupin und Natalie am Ende zwischen Schwerkriminellen und Polizei zerrieben?     Der Autor Martin Barkawitz schreibt seit 1997 unter verschiedenen Pseudonymen überwiegend in den Genres Krimi, Thriller, Romantik, Horror, Western und Steam Punk. Er gehört u.a. zum Jerry Cotton Team. Von ihm sind über dreihundert Heftromane, Taschenbücher und E-Books erschienen.   Aktuelle Informationen, ein Gratis-E-Book und einen Newsletter gibt es auf der Homepage: Autor-Martin-Barkawitz.de     SoKo Hamburg - Ein Fall für Heike Stein:   - Tote Unschuld - Musical Mord - Fleetenfahrt ins Jenseits - Reeperbahn Blues - Frauenmord im Freihafen - Blankeneser Mordkomplott - Hotel Oceana, Mord inklusive - Mord maritim - Das Geheimnis des Professors - Hamburger Rache - Eppendorf Mord - Satansmaske - Fleetenkiller - Sperrbezirk - Pik As Mord - Leichenkoje - Brechmann - Hafengesindel - Frauentöter - Killer Hotel - Alster Clown - Inkasso Geier - Mörder Mama - Hafensklavin  Ein Fall für Jack Reilly   - Das Tangoluder - Der gekreuzigte Russe - Der Hindenburg Passagier - Die Brooklyn Bleinacht - Die Blutstraße - Der Strumpfmörder - Die Blutmoneten

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Martin Barkawitz

Arsène Lupin und der Automatenmensch

Historischer Krimi

BookRix GmbH & Co. KG81371 München

1

 

Lupin hing über einem Bottich voller Säure.

Er war dermaßen stark gefesselt, dass der Meisterdieb in diesem Moment an eine Dauerwurst in Menschenform erinnerte. Graf de Tabiac stand auf einem Podest, das sich nur wenige Meter von Lupin entfernt befand. Der schurkische Adlige genoss offenbar den Anblick seines scheinbar wehrlosen Gefangenen über alle Maßen.

»Nun, mein lieber Lupin«, begann de Tabiac, wobei er seine Schnurrbartspitzen zwirbelte, »so hatten Sie sich den Ablauf der Ereignisse gewiss nicht vorgestellt, als Sie meine Familienjuwelen entwenden wollten?«

Der Meisterdieb würdigte seinen Widersacher zunächst keiner Antwort. Stattdessen machte er sich mit seiner Umgebung vertraut. Lupin wusste nicht, wie lange er bewusstlos gewesen war. Er schrieb es seiner eigenen Nachlässigkeit zu, dass Tabiacs Leibwächter ihn überrumpelt und niedergeschlagen hatte. Zweifellos befand Lupin sich nicht mehr in de Tabiacs Stadtpalais im vierten Pariser Arrondissement, wo der skrupellose Graf sein Vermögen in einem lächerlich einfach zu öffnenden Geldschrank hortete. Nein, dort hielt sich Lupin nicht mehr auf. Stattdessen war er mithilfe eines an Haken befestigten Flaschenzugs über dieses Säurebad gezogen worden. Zumindest legten die aufsteigenden Dünste nahe, dass es sich um eine üble Teufelsbrühe handelte.

Der Kessel stand inmitten eines mittelalterlich anmutenden Gewölbes. Es roch nach Moder, Schimmel und altem Staub. Außerdem war es feucht. Doch Lupin würde wohl nicht mehr lange genug leben, um sich hier Rheumatismus holen zu können.

Mehrere Fackeln in eisernen Halterungen beleuchteten die bizarre Szene. Die weiter entfernt gelegenen Raumteile lagen im Dunkeln. Daher konnte Lupin nicht erkennen, ob noch weitere Menschen anwesend waren. Womöglich hielten sich einige seiner Widersacher in der Finsternis verborgen, um sich an seinem bevorstehenden grässlichen Ende zu ergötzen.

Feinde hatte der Meisterdieb mehr als genug.

Graf de Tabiac reckte seinen Geierhals noch ein Stück weiter aus dem schneeweißen Stehkragen heraus. Er machte eine einladende Geste.

»Sie scheinen mir nicht in Plauderlaune zu sein, Monsieur Lupin! Für den Anfang sollte ich Ihnen vielleicht demonstrieren, wozu diese bemerkenswerte Chemikalie in der Lage ist.«

Der Adlige bückte sich und hob einen kleinen Drahtkäfig hoch, in dem sich eine Kanalratte befand. Lupin kannte diese possierlichen Tierchen zur Genüge. Die Pariser Kanalisation zählte zu seinen bevorzugten Fluchtrouten und die dortige Fauna bestand fast ausschließlich aus diesen Nagern.

Die Ratte schien zu ahnen, was ihr bevorstand. Sie begann zu zittern und zu pfeifen, doch ihrem engen Gefängnis konnte sie nicht entkommen. Graf de Tabiac hob den Käfig wie ein Zauberkünstler, der einen Trick vorführen möchte. Dann warf er das Tier mitsamt dem kleinen Eisenkerker in den Säurekessel.

Die Ratte gab noch einen nervenzerfetzenden Schmerzenslaut von sich, dann löste sie sich unter gewaltiger Dampfentwicklung in nichts auf. Der Käfig versank langsam in der tödlichen Lauge.

Der Adlige blickte seinen unfreiwilligen Gast Beifall heischend an.

»Nun? Sind Sie endgültig verstummt, Monsieur Lupin?«

Der Meisterdieb hatte sich schon vorher keine Illusionen über de Tabiacs miesen Charakter gemacht. Insofern passte es zu diesem Schwefelbruder, ein unschuldiges Tier für seine theatralische Machtdemonstration zu missbrauchen. Lupin nahm sich vor, mit dem Grafen nach Strich und Faden abzurechnen.

Doch alles zu seiner Zeit. Zunächst warf er dem schurkischen Adligen einen kalten Blick zu.

»Wer soll dieser Lupin sein, von dem Sie pausenlos reden?«, fragte Lupin.

Der Graf lachte hämisch.

»Nun stellen Sie Ihr Licht aber wirklich unter den Scheffel! Gewiss, Sie sind als der Mann mit den tausend Gesichtern berühmt und berüchtigt. Trotzdem hat mein Lakai Sie auf frischer Tat ertappt und sofort erkannt.«

Dieser Lakai muss eine Karriere bei der Fremdenlegion hinter sich haben, dachte Lupin. Die Beule an seinem Hinterkopf erinnerte ihn schmerzhaft an seine Begegnung mit Tabiacs Diener. Außerdem war es diesem Mann gelungen, sich Lupin lautlos zu nähern, was eine respektable Leistung darstellte.

Der Meisterdieb sagte: »Warum liefern Sie mich nicht den Behörden aus, wenn Sie mich für diesen Lupin halten?«

Tabiac schüttelte den Kopf.

»Ich fühle mich nicht an die Gesetze der Französischen Republik gebunden. Stattdessen bestrafe ich eine Person, die sich an meinem Eigentum vergreift, lieber selbst. Wer mich bestehlen will, löst sich in Säure auf.«

»Wie Sie meinen, Monsieur. Greift diese Substanz eigentlich auch Metall an?«

Lupin sprach so ruhig, als ob er mit dem Adligen über die neueste Operettenpremiere in der Comédie-Française sprechen würde. Dabei hatte Lupin soeben einen Köder ausgeworfen.

Die Lippen des Grafen kräuselten sich zu einem süffisanten Lächeln.

»Warum fragen Sie? Wollen Sie andeuten, dass Ihre Knochen aus Eisen sind?«

»Nein, das nicht. Aber in meiner Westentasche befindet sich der Schlüssel zu einem Geheimraum. Womöglich bin ich ja wirklich dieser Lupin, wer kann das schon so genau sagen? Und es wäre vorstellbar, dass in diesem Versteck die nicht unerhebliche Beute meiner letzten Diebestouren gelagert ist.«

Diese Behauptung war völlig aus der Luft gegriffen. Lupin besaß ein solches Wertsachenlager gar nicht, zumindest nicht in dieser Form. Außerdem konnte er natürlich nicht wissen, ob er während seiner Ohnmacht gründlich durchsucht worden war. Doch eine Leibesvisitation hatte offenbar nicht stattgefunden. De Tabiac zögerte.

Lupin konnte in seinem Gesicht lesen wie in einem offenen Buch. Der Graf war geldgierig wie eine Montmartre-Hure. Er hatte in den Jahren seit der Jahrhundertwende ein beträchtliches Vermögen ergaunert, daher war sein Geldschrank für Lupin höchst interessant. Bedauerlicherweise hatte der Meisterdieb nichts von der Existenz des Dieners mit Nahkampfausbildung gewusst.

Der Graf beugte sich vor.

»Sie versuchen nicht zufällig, mich zum Narren zu halten?«

»Ich habe nichts mehr zu verlieren«, gab Lupin wahrheitsgemäß zurück.

De Tabiac wandte sich halb zur Seite und stieß einen schrillen Pfiff aus. Daraufhin erschien ein Hüne auf der Bildfläche. Wie der Meisterdieb schon vermutet hatte, war dieser Mann in der Finsternis außerhalb des Fackel-Lichtscheins in Rufbereitschaft geblieben.

Der hochgewachsene Blonde hatte keine Augenbrauen und seine Pupillen waren wasserblond. Mit seinen weißen Kniestrümpfen, den Schnallenschuhen und dem Frack wirkte er wie ein typischer Hausdiener des französischen Großbürgertums. Doch seine Bewegungen entlarvten ihn als einen ehemaligen Soldaten.

»Piet, durchsuche dieses Individuum«, befahl der Graf. Er deutete mit einer Kinnbewegung auf Lupin.

»Sehr wohl.«

Piet hatte einen leichten flämischen Akzent. Er versetzte den gefesselten Körper des Meisterdiebs in Schwingungen, bis die Pendelbewegungen ihn über den Rand des Kessels hinaustrugen. Dann packte der Diener ihn, während er mit der anderen Hand das immer noch gespannte Seil des Flaschenzugs löste.

Lupin fiel unsanft auf den Boden neben dem Säurebottich. Piet begann sofort damit, ihn von den zahlreichen Stricken zu befreien. Der Meisterdieb spannte seine Muskeln an. Schon bald würde der Lakai feststellen, dass sich in der Westentasche keineswegs ein Schlüssel befand. Und in dem Moment musste Lupin handeln, wenn er nicht postwendend in der tödlichen Lauge landen wollte.

De Tabiac nahm er als Gegner nicht ernst, selbst ein vierzehnjähriger Pariser Straßenbengel wäre mit dem Adligen fertiggeworden. Doch dieser kantige hochgewachsene Flame war mit Vorsicht zu genießen. Immerhin hatte Lupin diesem Mann bereits eine gewaltige Beule am Hinterkopf zu verdanken.

Während die Fesseln fielen, griff Lupin sich mit der linken Hand unauffällig einen der Stricke und machte eine Schlaufe. Das musste schnell geschehen. Ob Piet etwas bemerkt hatte? Es sah nicht danach aus.

Der Diener kniete neben dem auf dem Boden liegenden Meisterdieb, während der Adlige sich einige Schritte von ihnen entfernt im Hintergrund hielt. Es dauerte nicht lange, bis Lupin alles Fesseln losgeworden war. De Tabiac beobachtete das Geschehen. Seine Stimme klang ungeduldig.

»Schau in seinen Westentaschen nach!«

Der Graf hatte den Satz kaum beendet, als Lupin die Schlaufe über Piets Hals warf und abrupt an dem Seil zog. Der Überraschungsangriff gelang. Damit hatte der Flame nicht gerechnet. Ihm blieb plötzlich die Luft weg und er griff instinktiv mit beiden Händen an seine Kehle, um das Seil loszuwerden. Darauf hatte der Meisterdieb spekuliert.

Seine Faust krachte gegen die Schläfe des Dieners. Piet war ein Bulle von Mann, doch diese wohldosierte Attacke ließ ihn für den Moment das Bewusstsein verlieren. Sein Körper erschlaffte und kippte zur Seite.

Lupin kam federnd vom Boden hoch.

De Tabiac hatte seine Schrecksekunde überwunden. Er taumelte rückwärts und hob mit zitternder Hand eine kleine Taschenpistole.

»B-bleiben Sie mir vom Leib, Lupin! Ich warne Sie!«

Der Meisterdieb antwortete nicht. Er wollte mit dem adligen Schurken abrechnen, aber nicht hier und jetzt. Lupin verließ sich darauf, dass sein Widersacher kein guter Schütze war. Abgesehen davon boten die Lichtverhältnisse in dem Gewölbe keine optimalen Voraussetzungen für einen gezielten Treffer.

Lupin schnellte auf de Tabiac zu, als wäre er von einem Katapult vorwärtsgeschleudert worden. Der Graf drückte panisch ab, seine Kugel verfehlte den Meisterdieb. De Tabiac ging zu Boden, als Lupin ihn einfach umrannte. Während der Adlige wie ein Mehlsack liegen blieb, flüchtete Lupin in die Finsternis.

In seinem bewegten Leben war er schon öfter von seinen Feinden an unbekannte Orte verschleppt worden. Bisher hatte der Meisterdieb stets entkommen können, weil er sich auf seinen Instinkt verlassen hatte.

Allerdings war es eine besondere Herausforderung, sich in nachtschwarzer Dunkelheit einigermaßen schnell vorwärtszubewegen. Er tastete mit der linken Hand an den feuchten Gesteinsquadern neben ihm entlang. Irgendwo in weiterer Entfernung hörte Lupin ein Glucksen. Stammte das Geräusch von einem Abwasserkanal oder von der Seine? Auf jeden Fall wurde es lauter, je weiter er sich von seinen Feinden entfernte. De Tabiac schien nicht ernsthaft verletzt zu sein, jedenfalls stammte das Gezeter eindeutig von ihm. Der Meisterdieb war schon zu weit entfernt, um die Worte verstehen zu können. Doch stattdessen vernahm er etwas anderes.

Ein Wutheulen, das eher von einem Tier als von einem Menschen stammen konnte. Als er sich umdrehte, sah er hinter sich das schwankende Licht einer Blendlaterne. Piet näherte sich schnell. Und er war zweifellos nicht gut auf Lupin zu sprechen. Es würde ihm gewiss ein ganz besonderes Vergnügen sein, den Meisterdieb einzufangen und höchstpersönlich in den Säurekessel zu werfen.

Doch Lupin hatte für diesen Tag andere Pläne. Zumindest hoffte er, dass seine Bewusstlosigkeit nicht zu lange gedauert hatte.

Er hasste es, eine Dame warten zu lassen. In dieser Finsternis konnte er nicht auf seine Taschenuhr schauen, die im Übrigen wahrscheinlich stehengeblieben war. Wer hätte sie aufziehen sollen?

Während dem Meisterdieb diese Gedanken durch den Kopf schwirrten, beschleunigte er seine Schritte. Ein stärker werdender Luftzug ließ ihn nämlich hoffen, dass sich in der Nähe eine Art von Ausgang befand. Kurze Zeit später ertastete Lupin Eisensprossen. Er blickte nach oben. Weit über ihm war ein kleiner heller Fleck zu sehen.

Er packte mit beiden Händen die in die Mauer eingelassenen Steighilfen und begann, daran hochzuklettern. Leider kam Piet auf dieselbe Idee. Das zornige Schnaufen schien näher zu kommen. Lupin verschwendete keine Zeit, indem er nach unten schaute. Stattdessen konzentrierte er sich ganz darauf, so schnell wie möglich den Ausstieg zu erreichen.

Es war nur ein schwacher Trost, dass der Diener ihn offensichtlich lebend fangen sollte. Selbst ein unbegabter Schütze hätte Lupin in diesem engen Kamin mit einer Kugel treffen und dadurch verletzen oder töten können. Doch Piet tat nichts dergleichen.

Stattdessen packte er Lupins linken Zugstiefel!

Der Meisterdieb krallte sich mit beiden Händen an einer der metallenen Sprossen fest, um nicht in die Tiefe zu stürzen. Die Sehnen des Meisterdiebs wurden angespannt. Erst jetzt begriff er, wie groß die Kraft seines Widersachers war. Wenn Piet noch fester zudrückte, konnte er das Fußgelenk pulverisieren.

So weit durfte es nicht kommen.

Lupin knickte in den Knien ein. Dann streckte er sein rechtes Bein und trat mit ganzer Kraft nach unten. Obwohl sein Gegenangriff wegen der Finsternis ungezielt erfolgte, war er ein voller Erfolg.

Piet stürzte mit einem lauten Schrei in die Tiefe, wo auch seine Blendlaterne zerschellte. Daraufhin wurde es am Boden unter Lupin wieder dunkel. Ob der Lakai tot war?

Auf jeden Fall setzte er die Verfolgung nicht fort.

Lupin konnte wenig später an die Erdoberfläche gelangen. Erleichtert stellte er fest, dass er immer noch in Paris war. Der Meisterdieb zog seine Taschenuhr auf und stellte sie nach der Turmuhr von St.-Sulpice.

Nun würde er wirklich noch pünktlich zu seinem Rendezvous erscheinen können.

 

 

2

Natalie Noir hatte einen schmalen Dolch in einer Lederscheide an ihrem rechten Strumpfband befestigt. Natürlich konnte niemand ihre geheime Bewaffnung sehen, denn sie trug ein hochgeschlossenes schwarzes Kleid. Die Witwe saß an einem der Marmortische vor dem Café Flore am Boulevard Raspail. Sie nippte an ihrem giftgrünen Absinth und beobachtete desinteressiert die Pferde-Omnibusse, Automobile und stolzen Herrenreiter auf der Fahrbahn unmittelbar neben ihr.

Ob der Kavalier wohl erscheinen würde?

Natalie war Kundin eines verschwiegenen Kupplers, der allerdings weder ihren wahren Namen noch ihre tatsächlichen Absichten kannte. Aus seiner Sicht stellte sie eine große Bereicherung seiner Kartei dar, denn besonders ausgefallene Kundenwünsche waren seine Spezialität.

Wenn sich also ein Herr mit einer zwergwüchsigen Chinesin oder einer Spanierin mit Hasenscharte amüsieren wollte, wurde er bei diesem Mittelsmann fündig. Nur eine bildschöne Witwe hatte bisher noch in der Angebotspalette gefehlt.

Doch nun gab es Natalie und sie hatte prompt ihren ersten Auftrag an Land gezogen. Es würde allerdings gleichzeitig der letzte sein, doch das konnten weder der Kuppler noch der Kavalier wissen.

Dabei war die junge Frau tatsächlich verwitwet. Und an ihrer Attraktivität zweifelte niemand, der sie schon einmal ohne ihren schwarzen Schleier gesehen hatte.

Die Frage lautete nur, ob der Herr wirklich zu der Verabredung erscheinen würde. Angeblich handelte es sich um einen amerikanischen Ölmillionär, und über Yankees hatte Natalie keine gute Meinung. Oftmals waren es Großmäuler, deren Versprechungen nichts mit der Wirklichkeit zu tun hatten. Immerhin konnte dieser Kerl nicht völlig unvermögend sein, denn ohne seine beträchtliche Vermittlungsprovision wurde der Kuppler überhaupt nicht tätig. Gegen ein dickes Francs-Banknotenbündel erhielt der Lüstling diese Adresse sowie Datum und Uhrzeit. Und es war unmöglich, Natalie zu verfehlen. An diesem milden Frühlingsnachmittag saß nur eine als Witwe gekleidete Dame zwischen den turtelnden Liebespaaren, staunenden Touristen, gelangweilten Bürgersöhnen und halbseidenen Taugenichtsen. Immerhin versuchte keiner der Männer an den anderen Tischen, Natalie den Hof zu machen. Sie hielten Distanz, als ob die junge Frau an Lepra leiden würde.

Und keiner von ihnen sah so aus, wie Natalie sich einen amerikanischen Ölmillionär vorstellte. Sie warf einen diskreten Blick auf ihre mit Diamanten besetzte Damenuhr. Fünf Minuten über die Zeit. Sie würde hier ganz gewiss nicht stundenlang herumsitzen wie bestellt und nicht abgeholt. Das hatte die Witwe nicht nötig. Dabei war ihre Vorfreude groß gewesen, Lupin von einem gelungenen Coup berichten zu können.

Gewiss, sie konnte der Wertschätzung des Meisterdiebs sicher sein, auch wenn sie nicht mit den Taschen voller Geld bei ihm erschien. Dennoch wäre es schön gewesen ...

Natalie unterbrach ihren eigenen Gedankengang, denn in diesem Moment hielt eines dieser neumodischen Automobil-Taxis direkt an der Bordsteinkante. Ein feister rotgesichtiger Kerl stieg schnaufend aus, nachdem der Chauffeur ebenfalls das Gefährt verlassen und den Wagenschlag geöffnet hatte.

Die schönen Lippen der Witwe verzogen sich zu einem ironischen Lächeln, was wegen des Schleiers niemand sehen konnte. Ihr Kavalier war also doch auf der Bildfläche erschienen.

Natalie zweifelte nicht daran, dass sie den Amerikaner vor sich hatte. Er trug einen geschmacklosen großkarierten Anzug. Die Perle auf seiner Krawattennadel war so groß, dass man sie selbst auf die Distanz deutlich erkennen konnte. Und nun nahm er auch noch einen Cowboyhut von der Sitzbank und stülpte ihn auf seinen Quadratschädel.

Der Kavalier drückte dem Taxifahrer einen Geldschein in die Hand. Dann entdeckte er Natalie. Breitbeinig stapfte er grinsend auf sie zu. Es wäre nicht verwunderlich gewesen, wenn er sich voller Vorfreude seine wulstigen Lippen geleckt hätte. Doch vorerst hielt der Amerikaner sich zurück, kramte sogar seine Manieren hervor. Zumindest zog der Kerl den Hut, als er ihren Cafétisch erreicht hatte.

»Madame Claire?«, fragte er mit heiserer Stimme. »Wir sind hier verabredet, nicht wahr?«

Sein Französisch war schauderhaft. Daher wählte Natalie für ihre Antwort die englische Sprache. Sie hatte nicht umsonst mehrere Jahre ihrer Jugend in einem erstklassigen britischen Internat verbracht.

»Ja, die bin ich. Nehmen Sie doch bitte Platz. Sie müssen Mr. Miller sein.«

Natalie war überzeugt davon, dass sein Name genauso falsch war wie ihr eigener. Aber das störte sie nicht, solange dieser Kerl genügend Geld und Wertsachen bei sich hatte. Sie schaute ihm in sein Pfannkuchengesicht. Mit dem breiten rötlich-braunen Backenbart erinnerte Miller sie an einen Bisonbullen aus seiner amerikanischen Heimat. Sie hatte erst kürzlich ein Bild dieser imposanten Tiere in einer Illustrierten gesehen.

Natalie hob ihren Schleier und schenkte ihm ein Lächeln.

Dem Amerikaner quollen beinahe die Augen aus dem Kopf. Sie wusste, dass die meisten Männer sich von ihrem Aussehen blenden ließen. Nur ein Geistlicher hatte ihr erst kürzlich attestiert, dass sich hinter einem engelsgleichen Gesicht eine schwarze Seele verbarg. Natalie mochte es nicht, wenn man sie durchschaute. Deshalb hatte sie den Mann Gottes ganz besonders sorgfältig gefesselt und geknebelt, bevor sie einen taktischen Rückzug antrat und für immer aus Bordeaux verschwand.

»Sie ... sind wirklich eine bemerkenswerte Frau«, brachte Miller mit heiserer Stimme hervor.

»Vielen Dank. Das hat mein verstorbener Gatte auch immer zu mir gesagt«, behauptete Natalie und betupfte pro forma mit einem spitzenbesetzten Taschentuch die Haut unter ihren Augen.

»Ich bedaure Ihren großen Verlust aufrichtig.«

Sie nahm Millers Lüge mit einem stummen Nicken zur Kenntnis. Der Amerikaner konnte nicht wissen, dass sie selbst am gewaltsamen Ende ihres Ehemannes nicht ganz unbeteiligt gewesen war. Doch über Jules’ unrühmliches Ende wollte sie sich jetzt nicht den Kopf zerbrechen. Außerdem interessierte sich ihr vermeintlicher Kunde nur für ihren Körper, was gut und richtig war.

Dadurch würde Natalie nämlich leichtes Spiel haben.

»Nehmen Sie doch bitte Platz«, sagte sie und machte eine einladende Bewegung. Natalie winkte dem Kellner, der sogleich herbeieilte und seinen mittelgescheitelten Pomadenkopf senkte.

»Sie wünschen?«

Miller verstand offenbar nur Bahnhof.

»Der Herr nimmt ebenfalls einen Absinth«, sagte sie auf Französisch. Der Amerikaner warf ihr einen fragenden Blick zu, während der Kellner wieder verschwand.

»Haben Sie diese Spezialität schon probiert, Mr. Miller?«

Er schüttelte den Kopf.

»Dann sind Sie noch nicht richtig in Paris angekommen«, entschied Natalie. Miller warf einen misstrauischen Blick auf ihr Glas, wollte aber offensichtlich nicht als Feigling gelten. Trotzdem wirkte er hilflos, als der Kellner wenig später zurückkehrte und das Gewünschte servierte.

»Ich zeige Ihnen, wie es geht.«

Mit diesen Worten schob Natalie den Absinthlöffel mit dem Zuckerwürfel auf das Glas und goss das beigefügte kalte Wasser darüber. Dann prostete sie dem Amerikaner zu.

»Trinken wir auf Paris, auf das Leben ... und die Liebe.«

Natalie schaute ihm tief in die Augen. Sein Urteilsvermögen war schon getrübt, bevor er den ersten Schluck Absinth getrunken hatte. Immerhin leerte er sein Glas in einem Zug.

»Köstlich«, heuchelte der Amerikaner. Er verzog das Gesicht, als ob plötzlich einer seiner Zähne vereitert wäre.

»Was führt Sie in unsere schöne Stadt?«

Natalie schlug einen Plauderton an.

»Geschäfte, Geschäfte.«

Miller machte eine unbestimmte Handbewegung. Doch sein Gesichtsausdruck bewies, dass er in Gedanken längst bei dem vorgesehenen Liebesabenteuer war. Natalie zwinkerte ihm verschwörerisch zu.

»Sie wirken erschöpft, Mr. Miller. Was halten Sie davon, wenn wir uns ein wenig entspannen?«

Er nickte heftig. Seine Augen leuchteten. Die Witwe erhob sich von ihrem Stuhl.

»Ich habe das Zimmer mit der Nummer hundertzwölf dort drüben im Hotel Ambassador.« Sie deutete auf die prunkvolle Fassade, die sich auf der gegenüberliegenden Straßenseite befand. »Bitte warten Sie eine Viertelstunde, bis Sie mir folgen. Ich bin schließlich eine anständige Frau.«

»Verlassen Sie sich ganz auf mich«, gab der Amerikaner mit belegter Stimme zurück.

Natalie erwiderte nichts. Sie wartete, bis der Flic auf der Kreuzung den Verkehr anhielt, sodass sie den breiten Boulevard gefahrlos überqueren konnte. Sie hatte den schwarzen Schleier wieder über ihr Gesicht gezogen. In der Hotellobby steuerte sie auf die Aufzüge zu.

Der Liftboy blickte zur Seite, als sie zu ihm in die Kabine trat. Ob er wohl an seine eigene Vergänglichkeit dachte? Nein, wahrscheinlich nicht. In seinem Alter glaubte man noch, unsterblich zu sein.

Nachdem Natalie ihr luxuriöses Zimmer betreten hatte, warf sie noch einen kurzen Blick auf den Frisiertisch. Aber natürlich hatte sich dort während ihrer Abwesenheit nichts verändert. Das Ambassador war ein angesehenes Haus, in dem man vor Hoteldieben keine Angst haben musste.

Diese Erkenntnis ließ ihre Mundwinkel nach oben wandern. Nein, neben ihr war für andere Kriminelle nun wirklich kein Platz!

Sie ging zum Fenster hinüber, schob die Stores zur Seite und genoss den Blick auf das geschäftige Straßenbild unter ihr. Paris schien ständig in Bewegung zu sein. Sie liebte diese Energie, diese unendlichen Möglichkeiten und Chancen, die sich freilich nicht jedem boten.

Man musste bereit sein, die Lügen und Heucheleien zu durchschauen und für sich selbst zu nutzen.

Diesmal verspätete Miller sich nicht. Es waren gerade einmal fünfzehn Minuten vergangen, als es an der Tür klopfte. Natalie öffnete ihrem Kavalier. Kam es ihr nur so vor oder hatte das Gesicht des Amerikaners einen noch tieferen Rotton angenommen als zuvor? Auf jeden Fall schien ihm der Absinth zu Kopf gestiegen zu sein, denn er wollte sie gleich in seine Arme ziehen.

Natalie hatte inzwischen ihren Schleier wieder angehoben. Daher konnte er ihren strafenden Blick unmöglich ignorieren.

»Mäßigen Sie sich, Mr. Miller! Halten Sie mich für eine billige Straßenhure von der Place Pigalle?«

Der Amerikaner taumelte einen Schritt zurück.

»Verzeihen Sie mir, aber Ihre Schönheit hat mich überwältigt! Ich ... mache so etwas normalerweise nicht.«

»Davon bin ich überzeugt«, gab Natalie trocken zurück. Ihr war der Ehering an seiner Hand nicht entgangen. Vermutlich saß seine Gattin daheim in Texas oder Oklahoma auf der Ranch und hoffte darauf, dass der Ozeandampfer mit Miller an Bord auf der Rückfahrt nicht untergehen würde. Sie deutete auf das große Himmelbett.

»Ziehen Sie sich schon mal die Stiefel aus, ich werde Ihre Füße massieren.«

Natalie hatte keineswegs vor, das zu tun. Doch der Amerikaner fiel auf den Bluff herein. Er trat näher, ließ sich auf die Kante des Himmelbettes plumpsen und beugte sich vor, um seinen rechten Stiefel zu greifen.

Das war der Moment, auf den die Witwe gewartet hatte. Sie ging zum Frisiertisch hinüber und griff sich den Parfümzerstäuber.

Bevor Miller wusste, wie ihm geschah, spritzte sie ihm ein hochwirksames Betäubungsmittel ins Gesicht. Diese Chemikalie hatte keine bleibenden Schäden zur Folge, konnte aber sogar einen Ochsen für mindestens eine halbe Stunde außer Gefecht setzen.

Das war weitaus mehr Zeit, als Natalie benötigte.

Der Amerikaner rang nach Luft, griff sich an die Kehle und versuchte, sich aus seiner sitzenden Position zu erheben. Es war vergeblich. Miller fiel rückwärts auf das daunenweiche Bett. Die Witwe warf ihm einen prüfenden Blick zu. Sie wartete sicherheitshalber noch ein paar Minuten. Dann war sie sicher, dass er das Bewusstsein verloren hatte.

Mit routinierten Bewegungen durchsuchte sie seine Taschen. Wie so viele seiner Landsleute hatte er eine Vorliebe für Golddollars. Sie steckte seine schwere rindslederne Geldbörse sofort ein. Auch seine Taschenuhr nahm die Witwe an sich. In der linken Innentasche seines Gehrocks befand sich ein mehrfach zusammengefaltetes Papier. Natalie klappte es auseinander.

Der Text war in Geheimschrift verfasst.

Sie hob eine ihrer Augenbrauen. Geheimschrift? Das wollte nicht so recht zu dem Bild passen, das sie sich von Miller gemacht hatte. Womöglich musste sie ihr Urteil überdenken. Es war pure Neugierde, die sie dazu bewog, das Dokument einzustecken.

Der Amerikaner trug ein Schulterholster, in dem ein Revolver steckte. Natalie zog die Waffe heraus. Es war ein besonders schönes Exemplar. Die Witwe beschloss spontan, es Lupin zu schenken. Sie versenkte auch den Revolver in ihrer unergründlichen Handtasche.

Dann verschwand sie aus dem Hotelzimmer und schloss von außen ab. Es war nur eine Frage der Zeit, bis jemand den Amerikaner finden würde. Wegen der Polizei machte sie sich keine Sorgen. Natalie hatte sorgfältig darauf geachtet, ihr Gesicht nicht mehr als unbedingt nötig zu zeigen. Nach wem sollten die Flics schon suchen?

Seit dem Krieg gegen Preußen 1870/71 gab es in Paris mehr als genug Witwen. Und auch die Aufstände in den nordafrikanischen Kolonien hatten so manches junge Leben gefordert.

Natalie schob die trüben Gedanken beiseite, verließ das Hotel Ambassador und winkte einer Benzindroschke. Der Fahrer, ein alter Elsässer mit beeindruckendem Schnurrbart, war ihr beim Einsteigen behilflich.

»Vielen Dank. – Bringen Sie mich bitte zur Place Vendôme.«

Das Automobil setzte sich knatternd wieder in Bewegung. Die Witwe ließ sich in die weichen Polster sinken und hing ihren Gedanken nach, während sie durch die geschäftige Metropole gegondelt wurde.

Warum hatte sie den Amerikaner ausgeraubt? Gewiss, sie brauchte Geld. Doch der tiefer liegende Grund war Lupin, wenn sie sich selbst gegenüber ehrlich war. Hoffte sie, ihn mit ihrer Beute beeindrucken zu können? Und warum spielte es überhaupt eine Rolle, was dieser Mann über sie dachte? Letztlich war er doch nur ein Ganove, obwohl die Leitartikelschreiber ihn zum Meisterdieb erkoren hatten. Kaum war ihr dieser Gedanke gekommen, als sie sich dafür schämte. Er verhielt sich ihr gegenüber wie ein perfekter Kavalier. Das war mehr, als die meisten Kerle von sich sagen konnten. Und Natalie verdankte Lupin immerhin das äußerst effektive Betäubungsmittel, das sich in ihrem Parfümzerstäuber befand.

Lupin verbarg mehr, als er von sich preisgab. Dadurch wurde er nur umso anziehender, wie Natalie sich selbst gegenüber eingestehen musste.

»Wir sind da, Madame.«

Die Stimme des Taxi-Chauffeurs riss sie aus ihren Überlegungen. Sie ließ sich beim Aussteigen helfen und gab dem Fahrer ein großzügiges Trinkgeld. Natalie blieb neben dem Eisengitter der Siegessäule stehen. Sie war pünktlich, was man von Lupin nicht behaupten konnte. Weit und breit war niemand zu sehen, der an den Meisterdieb erinnerte. Doch das hatte nichts zu bedeuten. Der Mann mit den tausend Gesichtern würde gewiss eine neue Verkleidung wählen, um sie zu überraschen. Immerhin wurde er steckbrieflich gesucht, wenngleich die Polizei zu seinem Äußeren nur sehr spärliche Angaben machen konnte.

Dunkelhaarig und hochgewachsen – auf welchen Mann, der kein blonder Zwerg war, traf diese Beschreibung nicht zu?

Nach Natalies Meinung zeugte es außerdem von Lupins ganz besonderem Humor, sich mit ihr ausgerechnet an diesem geschichtsträchtigen Platz zu verabreden. Immerhin schaute man direkt auf die Rückseite des Justizpalastes, wenn man sich umdrehte. Ein Losverkäufer im Greisenalter kam auf die Witwe zugehumpelt. Wieder einmal musste sie Lupin für seinen Einfallsreichtum bewundern. Der verfilzte Bart und die eingefallenen Wangen wirkten täuschend echt. Dieser arme Teufel roch nach billigem Rotwein und ungelüfteten Kleidern. Der Anzug war zerschlissen, geflickt, abgetragen und viel zu groß. Sogar das Tragen der Lotterielose schien dem Mann schwerzufallen, obwohl sie nur aus Papier waren. Er warf Natalie einen hoffnungsvollen Blick zu.

»Wünschen Sie den Hauptgewinn, Gnädigste?«, krächzte er. »Jedes Los gewinnt!«

»Diesmal haben Sie sich selbst übertroffen, Lupin.«

Der Losverkäufer schaute Natalie verständnislos an.

»Wer soll ich sein? Mein Name ist Jacques, Gnädigste.«

»Dann behaupten Sie also, nicht Arsène Lupin zu sein?«

Der zerlumpte Greis antwortete nicht. Stattdessen starrte er an der Witwe vorbei. Sie drehte sich um und erschrak.

Hinter ihr war ein Flic aufgetaucht, ohne dass sie es bemerkt hätte. Der uniformierte Polizist sprach mit einem starken Lyoner Dialekt, als er nun den Mund öffnete.

»Nein, dieser bedauernswerte Tropf ist nicht der gemeingefährliche Kriminelle Lupin. Bedauerlicherweise, muss ich sagen. Es wäre mir nämlich ein besonderes Vergnügen, ihm Handschellen anzulegen.«

Natalie verachtete sich selbst für ihren Leichtsinn. Der einfache Coup mit dem Amerikaner hatte sie übermütig werden lassen. Wie konnte sie nur so dumm sein, den Namen des Meisterdiebes mitten in der französischen Hauptstadt so laut herauszuposaunen? Wenn dieser Flic nun misstrauisch wurde und auf die Idee kam, sie zu durchsuchen ... Gewiss, sie hatte Millers Revolver und ihren eigenen Dolch bei sich. Kampflos würde sie sich nicht ergeben. Doch dieser Uniformierte musste nur einmal in seine Trillerpfeife stoßen, schon würden ihm mindestens ein halbes Dutzend seiner Kollegen zu Hilfe kommen.

Der Polizist zog einige Münzen aus der Hosentasche und gab sie dem Losverkäufer.

»Ich nehme zwei Stück, eins für die Dame und eins für mich. Dann kannst du dir einen Kaffee kaufen, Alterchen.«

Der Greis gab dem Flic zwei Lose, bedankte sich und machte, dass er davonkam. Auch Natalie wäre am liebsten gegangen, aber dadurch würde sie sich noch verdächtiger machen.

»Ich freue mich, dass meine neue Maske so gut ankommt.«

Lupin hatte nun mit seiner normalen Stimme gesprochen, die Lyoner Einfärbung war verschwunden. Natalie fiel aus allen Wolken.

»Wo haben Sie die Polizeiuniform her?«

»Das ist eine lange Geschichte, Madame Noir. Lassen Sie uns ein Stück spazieren gehen. Ich freue mich, dass ich pünktlich zu unserem Rendezvous erscheinen konnte, obwohl ich zunächst aufgehalten wurde. Das erzähle ich Ihnen in Ruhe, falls es Sie interessiert.«

3

»Rien ne va plus!«

Oberst Agares nahm den Ruf des Croupiers mit unbewegter Miene zur Kenntnis. Er hatte längst seine Jetons auf die von ihm bevorzugten Felder des grünen Roulette-Filzes geschoben. Die anderen Spieler hielten instinktiv ein wenig Abstand von ihm. Zum Glück bot dieser Roulettetisch im Casino von Monte Carlo genug Platz, sodass niemand auf Tuchfühlung mit Agares gehen musste.

Hätte der Oberst Humor gehabt, so wäre ihm die Situation amüsant erschienen. Die meisten Menschen spürten, dass etwas mit ihm nicht stimmte. Es kam ihnen wahrscheinlich so vor, als ob eine Leiche in dem bequemen Lehnstuhl sitzen würde. Ein Toter in einem erstklassigen nachtschwarzen Frack.

Doch Agares lebte, auch wenn die bleiche Haut seines asketisch-mageren Gesichts nicht unbedingt darauf hindeutete. Er wurde von Tabakschwaden umwabert, die von Havannazigarren und parfümierten türkischen Zigaretten stammten. Auch die sündhaft teuren Parfüms der Damen sowie der Cognacatem der Herren trugen zu dem Geruchsmix in dem weitläufigen Spielsaal bei. Die Kronleuchter spendeten ein helles Licht, sodass alle Anwesenden den Weg der kleinen weißen Roulettekugel verfolgen konnten.

Agares gewann hunderttausend Francs.

Er strich mit den Fingerkuppen über einige Jetons, genoss für einen Moment den Kontakt zu diesen harten und kalten Gegenständen. Das mochte er, Menschen gefielen ihm weniger. Eine stärkere Gefühlsreaktion konnte der Oberst sich nicht abringen.