Arti - Auf Freundschaft programmiert - Tobias Elsäßer - E-Book

Arti - Auf Freundschaft programmiert E-Book

Tobias Elsäßer

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Beschreibung

Tobias Elsäßers mitreißende Geschichte über Freundschaft in einer nahen Zukunft: Jessy und der Androide Arti sind füreinander da, egal, wie unterschiedlich sie sind.

Jessy ist enttäuscht, als sie zu ihrem elften Geburtstag einen Androiden geschenkt bekommt, einen menschlich aussehenden Roboter. Denn Arti soll sie (nach den Wünschen ihrer Eltern programmiert) dazu bringen, mehr Sport zu treiben und nicht so viel Zeit im Internet zu verbringen. Zum Glück gibt es da Frau Westic: Die technikbegeisterte Rentnerin hilft Jessy, Artis Voreinstellungen zu ändern – mit ungeahnten Folgen. Der Androide wird von Tag zu Tag menschlicher. Arti beginnt, selbstständig Entscheidungen zu treffen. Und beschließt als Erstes, den geliebten Papagei der Familie freizulassen. War es ein Fehler, ihm zu vertrauen? Eine warmherzige und spannende Geschichte über eine Freundschaft, die keine Grenzen kennt.

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Über das Buch

Jessy ist enttäuscht, als sie zu ihrem elften Geburtstag einen Androiden geschenkt bekommt, einen menschlich aussehenden Roboter. Denn Arti soll sie (nach den Wünschen ihrer Eltern programmiert) dazu bringen, mehr Sport zu treiben und nicht so viel Zeit im Internet zu verbringen. Zum Glück gibt es da Frau Westic: Die technikbegeisterte Rentnerin hilft Jessy, Artis Voreinstellungen zu ändern — mit ungeahnten Folgen. Der Androide wird von Tag zu Tag menschlicher. Doch Artis selbstbestimmte Entscheidungen bringen Jessy und ihn bald in große Gefahr … War es ein Fehler, ihm zu vertrauen? Eine warmherzige und spannende Geschichte über eine Freundschaft, die keine Grenzen kennt.

Tobias Elsäßer

Arti

Auf Freundschaft programmiert

Mit Illustrationen von Julia Christians

Hanser

Für Rocky, den besten Hund der Welt. Ohne dein wunderbares Schnarchen wäre diese Geschichte nicht dieselbe.

Übersicht

Cover

Über das Buch

Titel

Über Tobias Elsäßer

Impressum

Inhalt

1

 Das falsche Geschenk

2

 Null Sterne

3

 Schicht für Schicht

4

 Willkommen an der MSSfzB

5

 Handschuhe

6

 Hamlet und die Null

7

 Überraschung

8

 Zwei Häkchen

9

 Keine Panik

10

 Niveau B

11

 Ein unglaublicher Tag

12

 Selbst Katzen

13

 Alles easy

14

 Kategorie eins

15

 Nicht wundern

16

 Kinderspiel

17

 Erweiterte Wirklichkeit

18

 Musikerlatein

19

 Fünf Sterne

20

 Die innere Uhr

21

 Flügel-Heimat

22

 Error 451

23

 Der Dritte im Bunde

24

 Mensch, Maschine, Tier

25

 Ein bester Freund

26

 Hand aufs Herz

27

 Die Zukunft bist du

28

 Kopf an Kopf

29

 Arti hat die Gruppe verlassen

30

 Doppelklick und Flügelritt — Zwei Monate später

Danksagung

1

Das falsche Geschenk

Eigentlich mag ich Geschenke. Und noch mal eigentlich bin ich nicht undankbar. Aber dieses riesige Paket, das da vor mir auf dem Tisch lag, dieser in Glitzerfolie und roten Schleifen verpackte Albtraum sah einfach nicht so aus, wie er aussehen sollte.

Der Karton war zwölfeckig — und viel zu groß. Um das Doppelte, mindestens. Nie im Leben würde sich darin die neue Gamestation verstecken.

»Willst du dein Geschenk nicht aufmachen, Jessy?«, fragte meine Mutter.

Nein, will ich nicht, wollte ich antworten, ließ es aber sein, weil ich nicht die Stimmung verderben wollte. Nicht heute, nicht an meinem Geburtstag und schon gar nicht so früh am Morgen.

Drei Augenpaare waren wie Scheinwerfer auf mich gerichtet. Zwei gehörten meinen Eltern und das dritte Hamlet, unserem verwöhnten Papagei, der den Kopf durch die Gitterstäbe seiner Voliere zwängte und aufgeregt krächzte.

»Jessy, worauf wartest du?«, fragte mein Vater ungeduldig.

Auf ein Wunder, dachte ich und sagte: »Das Geschenk ist ja riiiiiiiesig. Was das wohl sein wird?«

»Los, mach es auf, meine Kleine. Es wird dir gefallen.« Meine Mutter wuschelte mir durchs Haar. »Paps und ich haben uns extra von Expertinnen und den neuesten Geschenkesuchmaschinen beraten lassen, was sie für vielseitig begabte, intelligente Mädchen in deinem Alter empfehlen.«

Intelligente Mädchen in meinem Alter.

Ich hatte eine dunkle Vorahnung.

Ein Piepsen. Die Smartwatch am Handgelenk meiner Mutter wechselte die Farbe. Von Orange zu Rot. In fünf Minuten würde ihr Flugtaxi auf dem Dach landen. Bis dahin musste ich durchhalten. Das war meine Chance.

»Sollen wir nicht erst die Torte anschneiden?«, fragte ich.

Ich straffte den Rücken und verzog den Mund zu einem breiten Strahlelächeln. Die Drahtenden meiner Zahnspange piksten in meine Backen, dass es wehtat.

Mein Vater runzelte die Stirn, dann lächelte er. »Du entscheidest. Ist dein Geburtstag.«

»Ja, ja«, sagte meine Mutter, ohne zu merken, dass sie nervös mit dem rechten Fuß tippelte, und reichte mir das Kuchenmesser. »Ist von Wendys Wonder Bakery.«

Das war nicht zu übersehen. Selbst die Kerzen (zehn kleine am Rand und eine große in der Mitte) der Zuckerfrei-und-Easy-Torte waren verschnörkelt und vergoldet. Der intensive Erdbeer-Schoko-Duft ließ einem das Wasser im Mund zusammenlaufen. Leider folgte auf den ersten Bissen immer die große Enttäuschung: eine Geschmackswüste auf der Zunge, ein schaumiges Nichts, das einem den Gaumen verklebte. Omas extracremige Biskuit-Erdbeer-Sahne-Rolle hatte da in einer anderen Liga gespielt. Aber die Kalorien. Immer ging es um die blöden Kalorien.

Ich schielte hinüber zum Familienkalender auf dem Kühlschrank-Bildschirm. Die nächsten Termine hüpften in bunten Leuchtbuchstaben auf und ab. Grün, Rot und Gelb. Meine Mutter, mein Vater und ich. Je wichtiger der Termin, desto größer die Buchstaben.

Da stand meine Rettung!

»Und wie die Torte duftet«, schwärmte ich und wurde schlagartig ernst. Als wäre ich mit einem Gedanken bei voller Fahrt aus der Kurve geflogen. »Mam«, sagte ich mit unbewegter Miene, »hast du heute nicht dieses wichtige Treffen?« Ich deutete mit dem Kopf hinüber zum Terminkalender. Die Farbe Grün nahm den halben Bildschirm ein und blinkte. »Stellst du heute nicht dein neues Wasserprojekt vor?«

Sie nickte. Sie seufzte. Sie war in Eile — wie jeden Morgen. »Aber …« Sie blickte unentschlossen zu meinem Vater und dann wieder zu mir. »Ich … ich nehme das nächste Taxi. Das reicht auch noch. Die Familie geht vor.«

Sie tippte auf ihre Smartwatch. Zurück auf Orange. So ein Mist!

»Aber …«, setzte ich an. Meine Eltern starrten mich erwartungsvoll an. Plötzlich hörte ich eine Stimme. Die Stimme kam eindeutig aus dem Geschenkkarton! Dumpf, lauter werdend. Eine schmalzige Jungenstimme, und sie sang. Was war hier los?

»Happy Birthday«, schallte es durchs Wohnzimmer.

Di-bi-ding.

Die Stereoanlage hatte sich aktiviert. Jetzt kam der Gesang aus allen Richtungen. Ein scheppernder Schlagzeugbeat setzte ein.

Mein Vater fing an, im Takt zu klatschen, dann spielte er Luftgitarre, was meine Mutter zum Lachen brachte, und sang lauthals mit. Doch damit nicht genug. Walter, der miesgelaunteste Robo-Staubsauger des Universums, zuckelte tatsächlich aus seiner Ladestation und fegte rhythmisch übers Parkett, als hätte er zu viel Strom abbekommen. Der Bildschirm auf der Oberseite seines silberglänzenden Plastikkörpers flackerte auf und zeigte feiernde Emojis.

»Vielleicht willst du jetzt doch das Geschenk auspacken?«, rief meine Mutter über das ohrenbetäubende Happy Birthday hinweg.

»Ich glaube, da will dich jemand kennenlernen«, sagte mein Vater, während der Song ausblendete.

»Mich … mich kennenlernen?« Ich wollte niemanden kennenlernen. Ich wollte eine Gamestation.

War das in dem Karton etwa ein singender Fitnessassistent, so ein blödes Multifunktionssportgerät, das einen auf Schritt und Tritt verfolgte und zum Sportmachen motivieren wollte? Würden meine Eltern mir das wirklich antun?

»Los, Jessy.« Mein Vater stupste mich in die Seite.

»Sicher«, nuschelte ich. Von ihm, der selbst heimlich Süßigkeiten naschte, hätte ich so etwas Gemeines nicht erwartet. Enttäuscht drückte ich auf die blau markierten Schleifenenden. Bei Geschenken der Kategorie besonders teuer ging der Rest ganz von selbst.

Kaum hatte ich die Schleifenenden losgelassen, fing der Karton an zu vibrieren. Weißer, blumig duftender Rauch quoll aus dem Kartoninneren und füllte die durchsichtige Folie, blies sie auf wie einen Ballon. Bunte Strahlen fügten sich im weißgrauen Nebel blinkend zu meinem Vornamen. Ein Rascheln. Die Folie schnurrte zusammen, der Rauch entwich in einer Pilzwolke nach draußen. Mein Vater musste niesen.

Was auch immer in diesem Paket war, es musste sehr teuer gewesen sein.

Ein Kratzen, ein Knirschen. Dann durchschlug eine Faust den Kartondeckel. Wie ein Turm ragte sie senkrecht in den grell erleuchteten Nebel. Bevor ich weitere Einzelheiten erkennen konnte, folgte die zweite Faust. Wusch! Dann ging alles ganz schnell. Meine Mutter machte einen Satz nach vorne und versperrte mir die Sicht.

»Das tut mir jetzt aber wirklich leid, meine Kleine«, sagte sie hastig. »Da … da ist ganz offensichtlich etwas schiefgegangen.«

»Was stimmt denn nicht mit dem Geschenk?«, fragte ich und versuchte, an ihr vorbeizuschielen.

»Lina, kannst du bitte sagen, was hier los ist?«, fragte mein Vater.

»Ähm …«, druckste meine Mutter herum. »Derek, kannst du mal bitte kurz herkommen?«

Mein Vater blickte zu mir und zuckte mit den Schultern.

»Bitte!«, sagte meine Mutter. »Jetzt!«

2

Null Sterne

Zwei Fäuste im Lichtnebel und tuschelnde Eltern, die sich wie eine Mauer vor meinem Geschenk aufgebaut hatten. So weit, so unklar. Interaktive Sportgeräte hatten keine Fäuste. Das war die gute Nachricht. Aber was brachte meine Mutter so sehr aus der Fassung, dass sie jetzt sogar das teure Flugtaxi versetzte?

»Kann ich mir das Geschenk nicht wenigstens mal anschauen?« Jetzt war ich doch neugierig. »So schlimm wird es schon nicht sein.«

»Jessy, bitte gib uns einen Moment«, antwortete mein Vater und steckte den Kopf wieder mit meiner Mutter zusammen. Wenn selbst er so ein Gesicht machte, war nicht bloß eine Kleinigkeit schiefgegangen.

Die Fäuste, etwa so groß wie meine, hatten sich geöffnet und bewegten sich keinen Millimeter.

Meine Mutter scrollte hektisch durch die Mails auf ihrem Handy. Sie schüttelte ungläubig den Kopf. »Dass man sich aber auch auf nichts und niemanden verlassen kann. Für diesen Service sollte es null Sterne geben.«

»Die tauschen die Bestellung bestimmt gleich heute noch um«, versuchte mein Vater zu beschwichtigen. »Das ist denen sicher peinlich.«

»Das sollte es auch.« Meine Mutter seufzte.

»Ist es eine Puppe?«, versuchte ich die Situation zu entschärfen. »Hast du wieder das falsche Alter angegeben?«

»Hallo«, rief eine dumpfe Stimme. Sie kam aus dem Karton. Eindeutig. Kein Zweifel. »Hallo.«

Meine Mutter glitt vor Schreck das Smartphone aus der Hand. Ein Scheppern, das Geräusch, wenn zu dünnes Glas auf zu harten Stein kracht und splittert.

»Wo ist das Geburtstagskind?«, hallte es klar und fröhlich durch die Wohnung.

Und was soll ich sagen?

Aus dem Karton ragte der Oberkörper eines Jungen!

Ich mache keinen Scherz.

»Das ist wirklich krass«, sagte ich, weil mir nichts Besseres einfiel. »Wirklich krass.«

Da auf dem Tisch hockte ein dunkelhaariger Junge und grinste in die Runde.

Der Junge musste etwa in meinem Alter sein, nur mit dem Unterschied, dass er dünn, fast zerbrechlich wirkte. Die Haut sah gelblich weiß aus wie zahnspangenfreundlicher Kaugummi, wenn er zu lange unter dem Schreibtisch klebt. Natürlich war mir sofort klar, dass dieser Junge nicht echt war, also nicht aus Fleisch und Blut. Aber wenn das da auf dem Tisch tatsächlich ein Androide in einem Karton war — ein lebensecht aussehender Roboter, von einem richtigen Menschen kaum zu unterscheiden —, dann war ich von den Socken, so was von. Ich meine, diese hochentwickelten Dinger waren extrem teuer, die kosteten das Zigfache einer Gamestation.

Was um alles in der Welt hatte meine Eltern dazu gebracht, sich derart in Unkosten zu stürzen? Für mich? Zu meinem elften Geburtstag? An meinen Schulnoten konnte es nicht liegen, ausgeschlossen.

»Jessy«, sagte meine Mutter, »das tut mir wirklich leid. Das ist die falsche Ausführung. Das Ding geht wieder zurück. So habe ich den Androiden nicht bestellt.«

»Sieht doch ganz okay aus«, sagte ich. »Etwas dünn und streberhaft vielleicht«, fügte ich schmunzelnd hinzu. »Und eine coolere Frisur könnte ihm auch nicht schaden.«

»Derek, kannst du bitte mal den Startvorgang stoppen?«, fragte meine Mutter. »Ich muss dringend los, sonst fängt das Meeting noch ohne mich an.«

»Bin schon dabei«, sagte mein Vater, ohne vom Handy aufzublicken. Wie üblich, wenn es um eine neue App ging, wirkte er überfordert. »Ich hab’s gleich.«

3

Schicht für Schicht

Der Androiden-Junge sah auf sympathische Weise selbstbewusst aus. Er sendete ein breites Lächeln in meine Richtung. Ich lächelte zurück. Der Junge stieg vorsichtig aus dem Karton. Einfach so. Ein Bein nach dem anderen, geschmeidig wie eine Katze, nicht ungelenk, wie man es von einer Maschine, die vor allem aus Leichtmetall und Kunststoff bestand, erwartete. Er trug die blauweiße Uniform meiner Schule, dazu ein nagelneues Paar Turnschuhe. So falsch konnte die Lieferung also nicht sein. Seine Augen schimmerten im einfallenden Sonnenlicht regenbogenfarben, wie Ölschlieren auf einer Pfütze. Das sah gespenstisch aus, aber abgesehen davon hätte man ihn glatt für einen echten Menschen halten können.

Die Regenbogenfarben in seinen Augen begannen sich im Kreis zu drehen. Immer schneller. Die Farben verwischten und wurden zu Spiralen. Mir wurde vom Hinsehen ganz schwindelig.

»Ähm … dürfte ich eventuell erfahren, was mit dem Robo-Jungen falsch ist?«, fragte ich und löste mich von dem Hypnose-Blick.

Bevor meine Mutter antworten konnte, unterbrach uns der Androide: »Darf ich dir gratulieren!« Er streckte mir seine blasse Hand entgegen. »Elf Jahre sind ein wunderbares Alter.«

»Derek. Schalte ihn einfach ab, bitte«, sagte meine Mutter. »Der Junge muss wieder zurück. So schnell wie möglich.«

Mein Vater wischte mit zwei Fingern über das Handy-Display. Meine Mutter stapfte schnaubend zur Garderobe und schlüpfte in ihren Mantel. Ein leises Surren verkündete, dass ihr Flugtaxi soeben auf dem Dach gelandet war. Ich nutzte den unbeobachteten Moment, ging auf den Jungen zu und reichte ihm die Hand, einfach so. Auch wenn er nur eine Maschine war, ein menschlich aussehender Computer auf zwei Beinen, ohne echte Gefühle, hatte er etwas mehr Höflichkeit verdient.

Seine Hand fühlte sich angenehm weich und warm an. Mit geschlossenen Augen hätte ich den Unterschied zu einer Menschenhand nicht erkannt. Seine Pupillen, klein wie Stecknadelköpfe, begannen sich zu weiten. Das hypnotisierende Drehen hatte aufgehört. Jetzt hatte er grünblaue Augen. Sie leuchteten von innen heraus. Mal stärker, mal schwächer. Er hob die Mundwinkel zu einem freundlichen Lächeln. »Alles Gute zum Geburtstag, liebe Jessy Dorothy Patel.«

Aus seinem Mund klang mein zweiter, altmodischer Vorname, als würde ich einem Adelsgeschlecht entspringen. Ich fühlte mich etwas geschmeichelt.

Er blickte mich direkt an. »Nun nehme ich noch die letzten Einstellungen vor. Bitte gedulde dich einen Augenblick, liebe Jessy. Ich bin gleich wieder für dich da. Und nicht bewegen.«

»Okay«, sagte ich nervös. »Kein Problem. Ich mach dann mal kurz gar nix.«

»Genau.«

Er ließ meine Hand nicht los, sondern drückte fester, aber nicht so, dass es wehtat. Ich rührte mich nicht vom Fleck, keinen Millimeter.

»Jessy, was machst du da?«, fragte meine Mutter.

»Ich … ich wollte ihm nur die Hand geben«, sagte ich, ohne den Kopf zu drehen. »Er kennt meinen Namen.«

»Kannst du ihn bitte trotzdem wieder loslassen? Wenn er gebraucht ist, können wir ihn vielleicht nicht mehr zurückschicken.«

Mein Vater fing an zu grinsen. »Lina.« Er blickte von seinem Handy auf. »Wir müssen den Androiden nicht zurückschicken. Hier steht, dass die letzten Anpassungen vor Ort vorgenommen werden.«

»Die Personalisierung ist gleich abgeschlossen«, sagte der Androide. »Noch acht Sekunden, liebe Jessy. Du machst deine Sache super.«

»Danke.«

Die Augen des Jungen verengten sich zu Schlitzen. Grün schimmernde Fortschrittsbalken mit Prozentanzeige blickten mir entgegen. Seine Hand wärmte sich auf. Es fühlte sich an, als würde sich die Innenfläche an meiner Haut festsaugen. Es kitzelte. Der Fortschrittsbalken näherte sich der EinhundertProzent-Marke. Ein kurzes Aufblinken. Dann blinzelte der Junge hektisch, als hätte er Staub in die Augen bekommen.

»Alles okay?«, fragte ich. Die Aufregung in meiner Stimme war nicht zu überhören.

»Gleich ist es so weit, liebe Jessy«, sagte der Junge.

Das Kitzeln in meiner Hand ließ nach. Dann geschah etwas Merkwürdiges. Die Farbe seiner Finger änderte sich. Die weißlich gelbe Haut wurde, angefangen bei seinen Fingerkuppen, dunkler, bis sie von der Farbe meiner Haut nicht mehr zu unterscheiden war. Im Eiltempo, Schicht für Schicht, breitete sich die neue Farbe über seine Arme aus. Als würde eine Malerin mit feinem Pinsel ihr Werk vollenden. Beim schlanken Hals angekommen, sah es kurz aus, als würden Flammen aus dem Kragen seines Poloshirts züngeln. Nachdem auch das Gesicht den richtigen Farbton angenommen hatte, entspannte sich die Miene des Jungen. Jetzt konnte er glatt als mein Bruder durchgehen.

Deshalb wollte meine Mutter also verhindern, dass ich mein Geschenk zu Gesicht bekam. Es ging um die Hautfarbe — mal wieder. Als ich noch jung war, so jung, dass ich noch mit Puppen gespielt hatte, war es jedes Mal eine Enttäuschung gewesen, wenn ich mich im Spielzeugladen einem Heer weißhäutiger Puppen gegenübersah, von denen die meisten auch noch blonde glatte Haare und blaue Augen hatten. Als gäbe es nur weiße Kinder auf der Welt, als wäre weiß normal und alles andere nicht. Ein Fehler, etwas, für das man sich schämen musste.

Mit der Zeit hatte ich mich daran gewöhnt, wie man sich an alles gewöhnt, was man nicht ändern kann.

Aber klar — wenn man so viel Geld für ein High-Tech-Spielzeug ausgab, konnte man vermutlich alles bis ins letzte Detail bestimmen. Und das war verdammt cool!

»Mam«, sagte ich. »Schau dir das an. Der Junge hat jetzt meine Hautfarbe! Wirklich krass, wie perfekt das funktioniert.«

Meine Mutter atmete erleichtert aus.

»Danke«, sagte der Junge. »Die Anpassung ist abgeschlossen.« Er neigte den Kopf, ein kaum hörbares hohes Klicken, dann ließ er meine Hand los. »Ich freue mich, dich« — er blickte über meine Schulter — »und Sie kennenzulernen.«

Das war wirklich das Größte und Tollste, was ich je bekommen hatte, fast noch besser als eine Gamestation. Oma wäre ausgeflippt. Sie hatte ihren Pflegeroboter Max geliebt. Und Max hatte nicht halb so perfekt ausgesehen wie dieses Modell.

»Danke«, sagte der Junge, »danke, dass Sie sich für ein Produkt aus dem Hause TrueLifeFriends entschieden haben.«

4

Willkommen an der MSSfzB

»Und, wie ist es gelaufen?«, fragte Ludwig, nachdem er mir mit einem schüchternen Händedruck zum Geburtstag gratuliert hatte. Für eine Umarmung kannten wir uns zu kurz, da waren wir uns einig. Seit knapp vier Wochen teilten wir uns einen Tisch und die meisten Kurse, der stille Ludwig und ich. Das war kein Zufall. Zufälle gab es an der Mary-Sommerville-Schule für zukunftsweisende Bildung (kurz MSSfzB) nicht.

Unsere Hobbys und Vorlieben und weitere fünfundachtzig Nebeneigenschaften hatten bei der Einschulungsbewertung sechsundneunzig von hundert möglichen Punkten ergeben. Fast die volle Punktzahl. Und das war eine große Sache, eine ganz große. Waltraud, der Zentralcomputer der Schule, hatte noch nie so eine Bewertung ausgespuckt. Eigentlich genügten schon siebzig von hundert Punkten, um ein gemeinsames Lern-Team zu bilden. Ein Tandem, wie es offiziell hieß. Unsere Begabungen und Vorlieben, die von Ludwig und mir, waren so unterschiedlich, wir hatten so wenige Übereinstimmungen im Online-Fragebogen und beim Eignungstest und passten laut Waltraud dennoch perfekt zusammen. Das war so außergewöhnlich, dass uns die Rektorin Frau Sonderlich in ihr Büro gebeten hatte, um uns zu beglückwünschen.

»Das ist ein kleines Wunder«, hatte sie mit ihrer lustigen Piepsstimme gesagt. »Daraus kann Großes entstehen. Ihr beide solltet die Herausforderung annehmen und euch dem ersten Projekt gemeinsam stellen.« Sie hatte ergriffen zu dem Hologramm hinter ihrem Glasschreibtisch geblickt, das nacheinander in Großaufnahme drei lächelnde Frauen zeigte. »Das wäre ganz im Sinne unserer Gründermütter. Gegensätze sind seit jeher der Samen, aus dem Neues sprießt.«

Also hatten wir Ja gesagt. Was blieb uns auch anderes übrig? Hätten wir Nein gesagt, wäre Frau Sonderlich enttäuscht gewesen und Waltraud, der Schulcomputer, hätte für uns nach einem neuen Tandem-Partner suchen müssen.

Ludwig war, abgesehen von der Angewohnheit, mehr so im Schneckentempo von A nach B zu bummeln und kaum zu reden, wirklich okay. Ich meine, wir beide waren neu an der Schule, aber so für den Moment war ich ganz zufrieden mit Waltrauds Vorschlag.

Das Besondere an einem Tandem war, dass man sich nicht nur die Fächer und die Hausaufgaben teilte, sondern auch die Beurteilungen. Wir mussten uns also erst einmal einigen, welche Kurse wir belegen wollten. Und das war gar nicht so einfach. Anfangs sagte Ludwig immer nur leise »Weiß nicht«, wenn ich ihn nach seiner Meinung fragte. Doch mit jedem Tag, den wir länger zusammen verbrachten, taute er auf, wurde gesprächiger und machte auch selbst Vorschläge. Anders als an den Schulen, auf denen ich bisher gewesen war, gab es an der MSSfzB keine Noten, sondern nur Empfehlungen, was wir noch alles gemeinsam ausprobieren könnten, um ein besseres Team zu werden.

Ein Fach hieß allen Ernstes »Kreative Langeweile«. Dafür konnte sich jedes Tandem einen eigenen Raum mieten, Löcher in die Wand starren oder so lange barfuß durch den Schulgarten spazieren, bis die Füße dreckig waren und man zahllose Mückenstiche an Armen und Beinen hatte.

Immer mit Stift und Papier. Daran erinnerten die großen und kleinen Schilder. Drinnen und draußen. Sogar in den Kabinen in der Schultoilette wurde man daran erinnert:

Nur mit Stift und Papier

kommen Ideen zu dir

Sobald man eine Idee hatte — egal, was es war —, sollte man sie aufschreiben und später im Team mit seinem Tandempartner besprechen. Dass es wie gesagt keine Noten gab und auch keine vorgeschriebenen Fächer, war schon ziemlich cool. Aber der eigentliche Grund, weshalb ich unbedingt auf die MSSfzB wollte, war ein anderer. Die jüngste und berühmteste Spiele- und Weltenplanerin Cara Z. Malisa, besser bekannt unter dem Namen Die Unglaubliche C. Z., hatte dort ihren Abschluss gemacht. Sie konnte wahnsinnig gut Geschichten erzählen und daraus Computerspiele machen, die nie langweilig wurden. Mit vierzehn hatte sie ihr erstes interaktives Online-Spiel programmiert.

»Rette den Planeten und dich gleich mit« hatte zu den beliebtesten Strategiespielen rund um den Erdball gehört. Das Spiel war so erfolgreich gewesen, dass manche Menschen ihr ganzes Geld dafür ausgegeben hatten, um online an einer besseren Welt zu arbeiten.

Aber diese Welt, die Welt der Unglaublichen C. Z., gab es seit dem großen Crash nicht mehr. Genauso wenig, wie die meisten anderen, kleineren und größeren künstlichen Welten, die sich die Menschen früher für das alte Internet ausgedacht hatten. Auch die verrückte Mittelalterwelt meiner Oma war verschwunden. Und mit ihr viele schöne Erinnerungen. Diese Welt wieder aufzubauen war mein großer Traum.

Die Fenster schlossen sich. Das Vogelgezwitscher wurde leiser. In den meisten Kursen saßen Ludwig und ich in der letzten Reihe, ganz hinten, direkt neben der Tür. Ludwig wollte das so. Mir war das egal.

Ein sanfter Gongschlag. Ein kurzes Zucken der Deckenlichter. Die Stunde hatte begonnen.

»Ha-Hat es funktioniert?«, fragte Ludwig flüsternd. »Ha-Hast du die neue Gamestation bekommen?«

Richtig bemerkt. Ludwig stotterte. Vor allem in geschlossenen Räumen, wenn andere dabei waren oder er aus irgendeinem Grund nervös war.

Ich schüttelte den Kopf. »Leider nicht.«

Vorne begann Frau Stanko, über den großen Crash zu erzählen. Eigentlich hieß der Kurs »Programmieren und logisches Denken«, aber hier an der MSSfzB durften die Lehrer selbst bestimmen, was sie den Schülern beibringen wollten.

»Für fünf Minuten hatte die Welt damals stillgestanden«, erzählte Frau Stanko. »Fünf Minuten, in denen absolut keine Daten durch die Leitungen oder über Satellit gesendet wurden. Man konnte nicht mal telefonieren. Nach dem Zusammenbruch des alten Internets wollte man mit dem neuen alles besser machen. Deshalb wurden die Datenmengen, die jeder Einzelne verbrauchen durfte, begrenzt. Das ist der Grund, warum jeder heute einen geheimen Zugangscode und eine feste Nummer bekommt, wie bei einem Reisepass. Und diese Nummer behält man dann sein ganzes Leben lang. Nur in wenigen Ausnahmefällen dürfen Menschen noch anonym im Internet surfen, ohne dass sie sich ausweisen müssen, zum Beispiel …«

»Sondern?«, fragte Ludwig, den Frau Stankos Ausführungen genauso wenig interessierten wie mich. Als ob wir das alles nicht längst wüssten! »Was hast du stattdessen bekommen?«

»Einen Androiden, den aus der Werbung.« Ich seufzte tief. »Von TrueLifeFriends.«

»Die neue S-Klasse?« Ludwig weitete überrascht die Augen. So lange hatte er mich noch nie angesehen. Er hob einen Mundwinkel. »Und … und da freust du dich nicht? Die sind doch wahnsinnig teuer, und limitiert sind sie auch.«

»Die Gamestation wäre mir trotzdem lieber gewesen.«

»Verstehe ich nicht.«

»Mit der neuen Gamestation soll man fast wie früher Spielewelten erfinden können. Soll richtig gut aussehen. Nicht mehr nur mit blassen Farben, dass es keinen Spaß macht. Und ohne viele Daten zu verbrauchen.«

»Und was für eine Welt willst du erfinden?«

»Das Schloss meiner Oma. Und irgendwann vielleicht auch den Rest ihrer Mittelalterwelt. Aber das wird dauern. Die Welt war ziemlich groß.«

»Du hast davon noch Daten?«

»Nicht direkt. Nur eine Sammlung von alten Screenshots. Aber meine Welt muss ja auch nicht genau so aussehen wie die meiner Oma.« Ich drehte den schweren Stift in meinen Fingern und klickte mit der Leuchtmine.

»Und das Schloss willst du dann deiner Oma schenken?«

»Das geht leider nicht.«

»Wieso?«

Ich zögerte. »Weil sie … meine Oma … sie ist tot.«

Ludwig redete nicht weiter. Er schien nicht zu wissen, was er sagen sollte — wie die meisten, wenn ich sagte, dass Oma tot war. Außer Frau Westic aus dem Senioren-Repair-Café. Bei ihr war es anders. Sie gab mir nicht das Gefühl, dass man einen großen Bogen um dieses Thema machen musste. Mit ihr konnte ich über alles reden.

»Da-das tut mir leid«, sagte Ludwig etwas zu laut und blickte nervös auf seine Finger.

»Ludwig«, kam es prompt von Frau Stanko. »Möchtest du uns vielleicht erklären, wie sich das Internet nach dem großen Crash verändert hat?«

»Ä-ä-ähm.« Ludwig lächelte verlegen. »Si-Sie haben Hassbotschaften und Falschnachrichten gelöscht. U-und vieles mehr. Ver-Verschwörungstheorien, Videos und so … u-und Bilder.«

»Noch was?«

Ludwig war rot angelaufen. Er schien regelrecht zu leuchten. So von innen heraus.

»Auch die a-alten Welten, die vielen kü-künstlichen Welten, die sich die Menschen für sich und andere im Internet ausgedacht haben, gibt es nicht mehr.« Er schielte mitfühlend zu mir. »Welten, die ma-manche von ihnen jetzt vermissen, weil sie für sie wie ein zweites Zuhause waren.«

Ich dachte an Pegasus, mein fliegendes Pferd, das Oma für mich programmiert hatte. An all die großen und kleinen Abenteuer, die wir zusammen erlebt hatten. Könnte ich doch nur ein einziges Mal in Omas Welt zurückkehren, um mich von Pegasus zu verabschieden. Dafür würde ich alles geben.

»Und warum genau war das Internet zusammengebrochen?«, machte Frau Stanko ungewohnt streng weiter. »Kannst du uns das vielleicht auch noch sagen?«

Ludwig zog den Kopf zwischen die Schultern. »We-weiß nicht.«

Er tat mir leid. Schließlich war es meine Schuld, dass er nicht aufgepasst hatte. Deshalb meldete ich mich. Doch anstatt mich dranzunehmen, schaltete Frau Stanko den Holoprojektor ein. Im Klassenzimmer wurde es dunkel. Über unseren Köpfen erschien eine dreidimensionale Erdkugel. Kontinente und Ozeane verschwanden unter einem dichter werdenden Netz aus blinkenden und blitzenden Fäden mit unzähligen Verbindungsknoten. Ein riesiges dunkles Wollknäuel.

»Das frühere Internet mit all seinen virtuellen Spielewelten war rasend schnell gewachsen. Es gab Millionen von künstlichen Welten und Milliarden von Avataren. Das alles am Laufen zu halten verbrauchte wahnsinnig viel Energie, müsst ihr wissen. Mehr Energie, als die gesamte Menschheit im vorigen Jahrhundert verbraucht hatte. Deshalb kam es irgendwann zum großen Crash, zum Totalausfall des Internets. Aus heutiger Sicht war das unvermeidbar.«

Sie schnippte mit dem Finger. Ein greller Blitz jagte durch die eingewobene Erdkugel. Ein lautes Krachen, wie von einer Explosion, war zu hören. Fenster und Tische vibrierten. Kurz war es dunkel im Klassenzimmer, richtig dunkel. Es war still. Dann öffneten sich die Jalousien wieder, die Lichtkränze über den Schulbänken schalteten sich an und es wurde hell.

Frau Stanko lächelte. »Deshalb, meine Lieben, weil es dieses Ereignis gegeben hat, gehört heute jeder und jedem von euch ein Stück des Internets. Ihr sollt lernen, verantwortungsvoll damit umzugehen und nicht so viele Daten zu verbrauchen wie die Generation vor euch. Auch dir, lieber Ludwig, gehört ein Teil. Deshalb ist der elfte November in der ganzen freien Welt ein Feiertag. Weil der Zusammenbruch des alten Internets wider Erwarten nicht zu einer Katastrophe geführt hat, sondern zu einem hoffnungsvollen und vernünftigen Neubeginn.«

Ludwig nickte betroffen. Er war auf seinem Stuhl regelrecht zusammengesunken.

Ich meldete mich erneut.

»Ja, Jessy, bitte. Willst du uns vielleicht von deinen Erfahrungen berichten? Kannst du dich erinnern, was an diesem Tag in Berlin passiert ist?«

»Nicht direkt«, druckste ich herum. »Eigentlich wollte ich nur sagen, dass ich Ludwig abgelenkt habe. Deshalb hat er nicht aufgepasst. Das war meine Schuld.«

»Und womit hast du ihn abgelenkt, wenn ich fragen darf?«

Ich straffte den Rücken und grinste. »Ich hab heute Geburtstag.«

»Dann gratuliere ich dir natürlich. Wir alle gratulieren dir. Und das geht natürlich am besten mit einem Lied. Waltraud. Bitte spiel den Refrain eines bekannten und beliebten Geburtstagslieds. Mindestens vier von fünf Sternen in der Bewertung und mit Melodie.«

Der Schulcomputer Waltraud erwachte mit einem unappetitlichen Räuspern. »Wird erledigt. Eine Sekunde Geduld, bitte.«

»Hört gut zu«, sagte Frau Stanko, als die Musik einsetzte. »Und singt alle mit.«

Ein ziemlich lahmes und schiefes Happy Birthday hallte durchs Klassenzimmer. Nicht vergleichbar mit dem Happy Birthday meiner Eltern. Waltraud ließ bunte Lichtkegel über die Tische tanzen und meinen Namen in Großbuchstaben über die Wände fliegen. Es war mir peinlich, von allen angestarrt zu werden, aber das war ich Ludwig schuldig.

»Danke, meine lieben Kinder. Das war sehr schön.« Frau Stanko wurde wieder ernst. »Trotzdem wäre es schön, wenn ihr beide eure Privatgespräche in Zukunft auf die Pause verlegen könntet. Wie ihr wisst, ist übermorgen der große Tag, an dem euer Projekt bekannt gegeben wird. Bis dahin will sich Waltraud ein abschließendes Urteil bilden und sich für euch eine entsprechende Aufgabe überlegen, an der ihr gemeinsam wachsen könnt.«

»Das war nicht nur privat«, sagte ich und biss mir auf die Zunge. Mein Mund war mal wieder schneller gewesen als meine Gedanken. Dagegen konnte ich nichts tun. Das passierte einfach.

»Es hatte also etwas mit dem Einführungskurs in logischem Denken und Programmieren zu tun?« Frau Stanko hob die dichten Brauen. »Ja.« Ich nickte. Ludwig schaute mich verwundert an. Die anderen Tandems drehten sich zu mir.

»Bitte, Jessy, du hast unsere ungeteilte Aufmerksamkeit.«

Warum konnte ich nicht einmal den Mund halten?

»Also, in der vorletzten Stunde habe ich mit Ihrer Hilfe und der von Ludwig diesen interaktiven Geschenkefinder programmiert.« Ich machte eine Pause. »Dafür möchte ich dir und Ihnen danken.«

Frau Stanko nickte. »Und weiter? Was ist mit dem Programm?«

»Es hat nicht funktioniert. Obwohl ich es an meinen Eltern ausprobiert habe, haben sie mir etwas anderes geschenkt, als ich mir gewünscht habe. Etwas ganz anderes. Und Sie haben doch gesagt, dass es höchstwahrscheinlich ist — ich glaube, Sie haben von neunzig Prozent gesprochen —, dass alle, die mit diesem Programm nach einem Geschenk für mich suchen, mir das schenken werden, was ich mir wünsche.«

Frau Stanko kratzte sich an der Stirn. Dann rief sie mein beziehungsweise unser Schnell-Geschenke-finde-Programm-für-Ungeduldige (kurz SGfPfU) auf.

»Wer erkennt den Fehler?«, fragte sie in die Klasse. Alle Köpfe blickten zu dem großen Monitor hinter dem Lehrerpult. Es wurde getuschelt.

»Z-Zu schnell«, sagte Ludwig.

Frau Stanko nickte lächelnd. »Könntest du etwas genauer werden?«

»Sie, a-a-also Jessy, hat sich zu wenig Zeit gelassen.«

»Was hab ich?« Ich funkelte Ludwig böse an. Wieso sagte er so etwas Gemeines? »Wenn, dann muss es heißen: Wir haben uns zu wenig Zeit gelassen. Schließlich haben wir den Programm-Code gemeinsam geschrieben. Schließlich sind wir ein Team!«

»Jessy! Bitte lass deinen Tandem-Partner ausreden.«

»Sie hätte noch mehr Fragen einbauen müssen, damit man nicht schon na-nach ein paar Sekunden ein Ergebnis bekommt.«

»Ich weiß nicht, was das gebracht hätte«, grummelte ich vor mich hin.

Ludwig hob die Schultern. »Das richtige Geschenk. Also, wahrscheinlich.«

5

Handschuhe

»Und dann?«, fragte Frau Westic. Im Repair-Café am Kronenpark war richtig viel los. Küchengeräte, alte Computer und Fahrräder wurden auf und neben den Tischen repariert. Dabei wurde viel gelacht und geredet. Ich war gerne hier. Und meine Eltern waren damit einverstanden, weil sie Frau Westic kannten. Sie war eine gute Online-Freundin meiner Oma gewesen. Ihr hatte ich es auch zu verdanken, dass mich meine Eltern nicht mehr auf Schritt und Tritt beobachteten oder beobachten ließen, wenn ich alleine in der Stadt unterwegs war. Als wir hier angekommen waren, musste ich sogar zum Müllrausbringen die Kamera an meiner Smartwatch anschalten. Das war die totale Überwachung. Zum Glück hat ihnen Frau Westic ins Gewissen geredet. Sie wohnte schon seit fünf Jahren in Soleiado, wie die schmale Halbinsel hieß. Frau Westic hatte meine Eltern beruhigt. »Hier in der Stadt kann sich nur verlaufen, wer’s drauf anlegt«, hatte sie augenzwinkernd zu ihnen gesagt. »Deshalb seid ihr doch hierhergezogen. Um diese Form der Freiheit zu genießen.«

Ich gab Frau Westic eine kurze Zusammenfassung von dem, was in der Schule passiert war. Ohne zu erwähnen, dass ich Geburtstag hatte. Ich wollte nicht schon wieder im Mittelpunkt stehen.

»Hast du ihm, diesem Ludwig, gesagt, dass es nicht nett ist, die Schwächen des anderen so vorzuführen?« Frau Westic neigte ihren Kopf leicht nach vorne. Ein Summen war zu hören. Ihr elektrischer Rollstuhl zuckelte vor an die Tischkante. Mit einem kleinen Saugnapf löste sie das gesprungene Glas aus dem Handygehäuse und legte es auf die Gummiunterlage daneben. Nicht das kleinste Zittern. Ein zufriedenes Lächeln huschte über ihr faltiges Gesicht. »Gleich haben wir’s geschafft. Paul, Schraubendreher, bitte. Größe zwei Komma fünf.«

Paul, so hieß der Greifarm eines umgebauten Rückenkratz-Roboters, fasste in eine der Schubladen, zog einen Schraubendreher heraus und reichte ihn Frau Westic.

»Danke, mein Bester. Das hast du richtig gut gemacht. Jetzt kannst du wieder loslassen.«

Die Metallfinger öffneten sich quietschend.