Aru gegen die Götter, Band 4: Die Magie der goldenen Stadt (Rick Riordan Presents) - Roshani Chokshi - E-Book

Aru gegen die Götter, Band 4: Die Magie der goldenen Stadt (Rick Riordan Presents) E-Book

Roshani Chokshi

0,0
13,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Wer die Götter herausfordert, dem ist echt nicht zu helfen … Der weltenverschlingende Schläfer hat nur ein Ziel: das Universum zu zerstören! Dafür muss er die Macht über die legendäre goldene Armee von Lanka an sich reißen. Um ihm zuvorzukommen, müssen Aru und ihre Pandava-Schwestern die Prüfungen des Königs der goldenen Stadt bestehen und sich vom tiefsten Ozean bis in die unendlichen Weiten des Universums durchkämpfen. Eine schwierige Aufgabe! Und nicht alle Götter stehen dabei auf ihrer Seite … Persönlich empfohlen von "Percy Jackson"-Autor Rick Riordan! Entdecke alle Abenteuer aus der Reihe "Rick Riordan Presents": "Zane gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Sturmläufer Band 2: Feuerhüter Band 3: Schattenspringer "Ren gegen die Götter" von J. C. Cervantes Band 1: Nachtkönigin (September 2023) "Sikander gegen die Götter" von Sarwat Chadda Band 1: Das Schwert des Schicksals Band 2: Der Zorn der Drachengöttin (November 2023) "Aru gegen die Götter" von Roshani Chokshi Band 1: Die Wächter des Himmelspalasts Band 2: Im Reich des Meeresfürsten Band 3: Das Geheimnis des Wunschbaums Band 4: Die Magie der goldenen Stadt (Dezember 2023)

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern

Seitenzahl: 437

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



 

Im Glossar findest du viele nützliche Erklärungen zu Begriffen, die in diesem Buch vorkommen, sowie Hinweise zu deren Aussprache.

 

Als Ravensburger E-Book erschienen 2023

 

Die Print-Ausgabe erscheint im Ravensburger Verlag

© 2023 Ravensburger Verlag

Die Originalausgabe erschien 2021 unter dem Titel „Aru Shah and the City of Gold“ bei Disney • Hyperion, einem Imprint der Disney Book Group.

Copyright © 2021 by Roshani Chokshi

Translation rights arranged by The Sandra Dijkstra Literary Agency.

All Rights Reserved.

Übersetzung: Katharina Orgaß

Umschlagillustration: Melanie Korte

Umschlaggestaltung: Miriam Wasmus unter Verwendung von Bildern von © Katikam/Adobe Stock und © malkani/Adobe Stock

Alle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.

 

ISBN 978-3-473-51206-5

ravensburger.com

 

Aru gegen die Götter

Die Wächter des Himmelspalasts

Im Reich des Meeresfürsten

Das Geheimnis des Wunschbaums

Die Magie der goldenen Stadt

Der Trank der Unsterblichkeit

 

Sikander gegen die Götter

Das Schwert des Schicksals

Der Zorn der Drachengöttin

 

Zane gegen die Götter

Sturmläufer

Feuerhüter

Schattenspringer

 

Ren gegen die Götter

Nachtkönigin

Band 2 erscheint im Herbst 2024

 

Tristan gegen die Götter

Band 1 erscheint im Sommer 2024

 

Weitere Bände sind in Vorbereitung

 

Für Cookie & Poggle & Rat –die tollsten, fiesesten Geschwister,die man sich wünschen kann

 

Hallo,

ich muss dir etwas beichten. Was du gerade in der Hand hältst (oder in den Ohren/Krallen usw.), ist nichts anderes als eine wilde, gierige … Geschichte.

„So ein Quatsch!“, wirst du sagen. „Das hier ist bloß eine Geschichte.“

Äh …

Ab morgen sorge ich dafür, dass dein Buch dort bleibt, wo du es abends hingelegt hast. Geschichten sind bekanntlich lebendig. Und empfindsam. So etwas wie „bloß“ eine Geschichte gibt es nicht, womit wir beim nächsten Thema wären.

Wie so viele Geschichten, die ich geschrieben habe, ist auch diese hier lebendig, denn sie hat ihre Wurzeln in einer noch heute weltweit aktiven Religion, dem Hinduismus. Mit das Schönste am Hinduismus ist, dass die alten Mythen nicht von der heute gelebten Religion zu trennen sind. Als praktizierende Hindu möchte ich einerseits meiner Fantasie freien Lauf lassen, andererseits aber auch meiner Religion Respekt erweisen. Darum stammen die meisten Gottheiten, denen du in diesem Buch begegnen wirst, aus dem vedischen Zeitalter, das um 1500 vor Christus begann. Die vedische Religion wird oft als Vorläuferin des „klassischen“ Hinduismus betrachtet. Gottheiten wie Durga-Maa, Vishnu, Brahma und Shiva kommen in dieser Buchreihe nicht vor.

Trotzdem ist Arus Geschichte keine Einführung in den Hinduismus, weil hinduistische Mythen je nach Region ganz unterschiedlich sind. Diese Geschichte soll wie ein Fenster sein, durch das man auf ein weites Meer von spannenden Legenden und Traditionen hinausblickt. Wir Geschichtenerzähler schildern immer das, was wir lieben. Als Kind habe ich es geliebt, wenn mir meine Ba Geschichten über Götter, Helden und Dämonen erzählt hat. Für mich ist diese Buchreihe ein einziger langer Liebesbrief.

Ich hoffe, dass Arus Geschichte deine Neugier weckt, deine Vorstellungskraft beflügelt und vielleicht ja sogar (das würde mich am allermeisten freuen) den Weg in dein Herz findet.

Viele Grüße,

deine Roshani

Endlich vereint!(Konfettibomben-Emoji)

Aru Shah fühlte sich, als hätte sie der Blitz getroffen.

Kein Witz.

Sie kannte dieses Gefühl bereits. Das verdankte sie einem fürchterlich in die Hose gegangenen Experiment. Als sie sich irgendwann einmal schrecklich gelangweilt hatte, war sie auf die Idee gekommen, mithilfe ihres Donnerkeils Vajra herauszufinden, wie es war, wenn man vom Blitz getroffen wurde.

„Ist das dein Ernst?“, hatte Brynne ungläubig gefragt.

„Tu’s nicht!“, hatte Mini gefleht. „Du könntest dabei …“

Aru hatte die Augen verdreht. „Ich bin eine Halbgöttin. Da werde ich schon nicht dran sterben.“

„Dass Indra dein Vater ist, heißt nicht, dass er dich vor allem und jedem beschützt“, hatte Mini gekontert.

Aru hatte Vajra, der sich wieder mal in einen Tischtennisball verwandelt hatte, hochgeworfen („Bestimmt passiert gar nichts“) und von ihrer Stirn abprallen lassen.

Sechs Stunden danach war sie mit scheußlichen Kopfschmerzen, einem Zucken im linken Auge und elektrisch aufgeladenen Haaren wieder zu sich gekommen.

Noch eine ganze Woche lang war ihr zumute gewesen, als hätte jemand mit ihrem Hirn Fußball gespielt. Was aber auch daran liegen konnte, dass Mini ihr ständig Erdkundefragen stellte, um ihren „neurologischen Status“ zu überprüfen.

Aru hatte so etwas nie wieder erleben wollen.

Trotzdem war sie jetzt in der Höhle des Schläfers an die Felswand gekettet und fühlte sich, als hätte ihr jemand einen brutalen Stromschlag verpasst. Vor ihr saß ein Mädchen namens Kara auf dem Boden.

„Ich bin seine Tochter“, hatte Kara gerade verkündet.

Trotz ihres Brummschädels versuchte Aru, sich zu konzentrieren. „Der Schläfer ist dein Vater?!“

Kara nickte. Eben hatte sie noch stolz ausgesehen, fast ein bisschen arrogant. Doch jetzt huschte ein verunsicherter, bedrückter Ausdruck über ihr Gesicht. „Aber du bist ja auch seine Tochter. Heißt das, wir sind Schwestern?“

Aru betrachtete Brynne und Mini als ihre Schwestern, auch wenn sie keine Blutsverwandten waren. Aber Kara und sie? Das war etwas anderes. Oder war Kara eine weitere Inkarnation eines Pandava-Bruders? Doch das konnte nicht sein. Es gab nur fünf Pandava-Brüder, und seit die Zwillinge Sheela und Nikita zu Aru und den beiden anderen gestoßen waren, waren sie vollzählig.

Sind Kara und ich vielleicht blutsverwandt? Kara musste ungefähr so alt sein wie Aru. Waren sie etwa zweieiige Zwillinge? Aru musterte ihr Gegenüber prüfend, entdeckte aber keine Ähnlichkeiten. Kara hatte einen breiten Mund, große goldbraune Augen, glatte dunkelbraune Haare, die ihr bis auf die Schultern fielen, hohe Wangenknochen und schimmernde braune Haut. Selbst wenn Aru ihre eigenen Haare hundert Jahre lang kämmen würde, würden sie niemals so glatt werden. Und ihre Haut schimmerte höchstens, wenn sie sich unter eine Lampe stellte und schnell um sich selber drehte.

Normalerweise machte es ihr nicht allzu viel aus, dass sie nie so umwerfend attraktiv wie ihre beiden Eltern sein würde. Kara dagegen sah ihnen nur allzu ähnlich. Aber wenn Kara wirklich ihre Schwester war, warum hatte Aru sie dann nicht im See der Vergangenheit erblickt?

„Ich weiß, was du denkst“, sagte Kara.

„Glaub ich nicht“, gab Aru zurück, aber Kara redete einfach weiter.

„Er hatte Angst, dass du weglaufen würdest. Darum hat er mein Zimmer in ein unterirdisches Verlies verwandelt. Zum Glück sieht es hier sonst anders aus.“

Kara trug einen Ring aus funkelndem Weißgold am Zeigefinger. Als sie damit die Felswand antippte, verwandelte sich die Höhle in eine prächtige Bibliothek mit aus dem Stein herausgemeißelten Bücherregalen. Eine magische Kugel unter der Decke erzeugte die Illusion von warmem Sonnenlicht. Überall gab es gemütliche Sitznischen mit Kissen, Puppen und anderen Spielsachen. Durch eine halb offene Tür in der hinteren Wand sah man ein ordentlich gemachtes Bett mit einer leuchtend gelben Tagesdecke und einem Plüschhasen auf dem Kopfkissen.

Als Aru in der Wand gegenüber einen riesigen Bildschirm entdeckte, vergaß sie endgültig, dass sie angekettet war. Netflix fragte gerade: SCHAUEN SIE NOCH?

Ein unterirdisches Verlies mit Internetanschluss? Unwillkürlich sah Aru einen dämonischen Immobilienmakler vor sich, der über die Felswand streichelte und verkündete: Der krokodilverseuchte Graben und kostenloses WLAN gehören selbstverständlich zur Ausstattung!

„Bestimmt sieht es in der Menschenwelt viel schöner aus“, fuhr Kara fort. „Aber Dad hat sich echt Mühe gegeben.“

Dad.

Das Wort versetzte Aru einen Stich und sie musste an den gestrigen Tag denken. Sie selbst hatte den Schläfer nur ein einziges Mal „Dad“ genannt – als sie geglaubt hatte, dass sie und ihre Schwestern seinem Heer unterlegen sein würden. Dass sie ihn so genannt hatte, hatte ihm hoffentlich genauso wehgetan, wie er ihr wehgetan hatte.

In Gedanken hörte sie immer noch den Waffenlärm und die Schlachtrufe. Das Gefecht hatte im magischen Hain der Waldgöttin Aranyani stattgefunden. Sie war die Hüterin von Kalpavriksha, dem wunscherfüllenden Baum.

Aru hatte dem Schläfer scheinbar zärtlich die Arme um den Hals geschlungen. Doch es war keine Umarmung gewesen. In Wahrheit hatte sie ihm ins Gedächtnis gerufen, wer er hätte sein können, wenn er seine Erinnerungen nicht der Suche nach dem Baum geopfert hätte. Dem Baum, von dem er glaubte, dass er sein Schicksal ändern würde.

Aru erinnerte sich auch noch daran, dass sie selbst den Wunschbaum gefunden hatte.

Aber hatte sie auch einen Wunsch geäußert? So angestrengt sie auch überlegte, ihr fiel nichts ein.

Energisch schüttelte sie den Kopf. Damit konnte sie sich später befassen. Jetzt musste sie erst einmal herausfinden, was aus Brynne und Mini geworden war, aus Sheela und Nikita, Rudy und Aiden. Hatten sie fliehen können? Waren sie in Sicherheit? Oder hatte der Schläfer sie ebenfalls entführt?

„Warum bin ich hier?“, fragte sie.

„Damit dir nichts zustößt.“ Leicht verlegen setzte Kara hinzu: „Ich hoffe, es stört dich nicht, dass ich so neugierig bin, aber ich weiß eine Menge über dich, Aru. Dad hat mir erzählt, dass deine Mom nicht wollte, dass du ihn kennenlernst.“

Deine Mom. Dann waren sie also keine Zwillinge. Hatte der Schläfer Krithika betrogen? Aru wurde ganz anders zumute. War das der wahre Grund, warum ihre Mutter ihn in die Lampe gesperrt hatte?

„Er hat dich hierhergebracht, damit wir eine Familie werden können“, sprach Kara weiter.

Aru zuckte zusammen. Eine Familie … Wenn ihr Vater das wirklich gewollt hätte, hätte er sich nicht in ein Ungeheuer verwandelt. Doch eine einschmeichelnde Stimme in ihrem Hinterkopf raunte: Du hast selbst gesehen, dass er gezwungen wurde, seine Erinnerungen herzugeben, Aru Shah. Vielleicht konnte er ja nichts dafür, dass er so geworden ist.

„Und wo ist er jetzt?“, fragte sie. „Und wo sind die anderen?“

„Er hat nur dich hergebracht“, antwortete Kara rasch. „Dann ist er wieder gegangen. Aber ich habe mitbekommen, dass sein Heer Ende der Woche nach Lanka aufbrechen will.“

Lanka war die goldene Stadt, über die Kubera herrschte, der Gott des Reichtums und der Schätze. Wollte der Schläfer die Stadt überfallen und erobern? So bald schon? Aru geriet in Panik. Darauf waren die Devas nicht vorbereitet! Sie musste die Anderwelt warnen. Und ihre Pandava-Schwestern auch. Ihre richtigen Schwestern.

Als ihr Blick auf ihre gefesselten Hände fiel, stellte sie fest, dass die vermeintlichen Ketten nur ein Trugbild waren. In Wirklichkeit waren sie schmale Stoffstreifen. Mit einem kräftigen Ruck befreite Aru sich. An ihrem einen Handgelenk baumelte eine Glaskugel an einer geflochtenen Schnur. Die Kugel enthielt Vajra in Tischtennisballform. Aru knallte sie auf den Felsboden, damit sie zerbrach.

Als Vajra hochsprang, fing sie ihn auf. Sofort ließ die Elektrizität ihre Haut angenehm kribbeln und ihre Haare knistern. Aru sprang auf und schaute sich nach einem Ausgang um.

„Du darfst jetzt nicht gehen!“, rief Kara erschrocken.

„Ach nein?“, gab Aru patzig zurück und schleuderte Vajra gegen die Bücherregale.

Elektrischer Strom züngelte an der dreißig Meter hohen Bücherwand empor. Dann erscholl ein Donnerschlag und ein paar Bücher gingen in Flammen auf. Doch die Wand selbst blieb unversehrt.

„Die Wände sind mit magischem Gummi verstärkt“, kam es von Kara. „Du kannst hier gern alles abfackeln – raus kommst du trotzdem nicht. Das kann nur ich.“

Aru drehte sich zu ihr um. Karas Worte hatten überheblich geklungen, aber sie wirkte nervös. Als sei sie es nicht gewohnt, sich länger mit jemandem zu unterhalten. Sie spielte mit ihrem Ring.

„Wenn … wenn du frei sein willst … dann musst du mir etwas versprechen.“

„Was denn?“

Kara schluckte. „Dass du mich mitnimmst.“

LOL – vergiss es!

Hatte sich Aru verhört? „Ich soll dich mitnehmen? Wie kommst du denn auf die Idee? Erstens kenne ich dich überhaupt nicht –“

„Aber ich bin deine Schwester!“, fiel ihr Kara ins Wort. „Ich weiß, dass du als Einzelkind aufgewachsen bist und dass du die Inkarnation eines Pandava-Bruders bist und –“

„Wir kennen uns trotzdem nicht. Da kenne ich ja meine Mailbox besser! Außerdem willst du uns bestimmt bloß reinlegen. Du nennst den Schläfer freiwillig deinen Dad und es sieht nicht aus, als ob er dich hier gefangen hält oder so.“ Aru zeigte auf die Spielsachen und Bücher.

„Das täuscht. Ich lebe erst seit zwei Jahren hier.“

„Und wo warst du vorher?“

„Irgendwo, wo es ganz schrecklich war. Die Familie dort sollte mich wie ihre eigene Tochter behandeln. Hat sie aber nicht. Dad meinte, wenn er selbst nicht zwölf Jahre lang weggesperrt gewesen wäre, hätte er mich schon viel früher zu sich geholt.“

„Was meinst du mit ‚irgendwo‘? Du musst doch wissen, wo du gelebt hast!“ Aru überlegte erneut, wie alt Kara sein mochte. Wenn sie ebenfalls vierzehn war, mussten sie verschiedene Mütter haben. Das war möglich (wenn auch ziemlich krass), aber eher unwahrscheinlich. Aru hatte Einblick in die Erinnerungen des Schläfers gehabt. Er hatte Krithika Shah geliebt. Er hatte immer nur zu ihr und zu Aru zurückgewollt. Insofern war diese Erklärung unlogisch.

„Dad wollte, dass ich nicht mehr leide. Deswegen hat er meine Erinnerungen an diese Zeit gelöscht“, sprach Kara weiter. „Er wollte, dass ich glücklich bin, und das war ich auch … eine Zeit lang.“ Kara holte tief Luft. „Aber nach einer Weile habe ich angefangen, mich zu wundern, warum er mich nie rauslässt. Er war ja selber kaum je zu Hause. Ich habe mich ein bisschen umgesehen und herausbekommen, wo er seine Erinnerungen aufbewahrt. In diesem Höhlenlabyrinth gibt es noch eine viel größere Bibliothek. Je öfter ich mich heimlich dort umgeschaut habe, desto klarer wurde mir, dass er mich anlügt. Als er dann dich hierhergebracht hat, war ich mir ganz sicher. Er hat jedes Mal nur gesagt, dass er eine kleine Reise macht. Stattdessen hat er ein Heer um sich geschart und –“

Aru schnitt ihr das Wort ab. „Und will die ganze Welt vernichten? Und den Unsterblichkeitstrank stehlen? Ach ja, und mich umbringen?“

Kara hatte Tränen in den Augen. „Das tut mir total leid, ehrlich! Bestimmt hat er auch gelogen, dass er so lange eingesperrt war.“

„Nein, das stimmt. Ich kann es bestätigen.“

Eigentlich machte Kara keinen hinterhältigen Eindruck. Tatsächlich wirkte sie eher einsam. Wider Willen tat sie Aru leid.

„Und woher weißt du das?“, fragte Kara.

Aru gab sich einen Ruck. „Das weiß ich, weil ich ihn selber rausgelassen habe. Er war in einer alten Lampe eingeschlossen.“

Würde ihr Kara jetzt einen Vogel zeigen? Doch sie nickte nur und sagte leise: „Danke.“

Danke? Noch nie hatte sich jemand bei Aru dafür bedankt, dass sie den Schläfer freigelassen hatte. Im Gegenteil – sie hatte ständig Schuldgefühle deswegen. Andererseits wären Brynne und Mini dann jetzt nicht ihre besten Freundinnen und Schwestern und Nikita und Sheela nicht die kleinen Geschwister, die sie sich insgeheim immer gewünscht hatte. Erst seit sie den Schläfer befreit hatte, hatte sie Zugang zur Anderwelt und zu Magie. Und anscheinend hatte es auch bewirkt, dass Kara ein besseres Zuhause gefunden hatte.

„Alles hat seinen Sinn“, pflegte ihre Mutter zu sagen, aber galt das auch für Arus Situation? Was war bitte schön der Sinn davon, dass der Schläfer zum Ungeheuer geworden war? Oder dass Buh Aru und ihre Schwestern verraten hatte? Doch diese Fragen mussten warten. Erst einmal musste sie irgendwie von hier wegkommen und den anderen von den Angriffsplänen des Schläfers berichten.

„Warum willst du überhaupt mitkommen?“, wandte sie sich wieder an Kara. „Du bist doch seine … seine Tochter. Er würde dich suchen und dann uns alle finden.“

„Mich würde er niemals finden.“ Kara drehte sich um und hob ihre langen Haare an. Hinten auf ihrem Hals war ein runder weißer Fleck, so groß wie eine Münze. „Er hat mich mit diesem Schutzzauber ausgestattet, der verhindert, dass Götter und Dämonen mich verfolgen und aufspüren können. Nicht mal Dad selbst kann das. Der Zauber meldet mir aber, wenn er in der Nähe ist, und dann kann ich jederzeit Kontakt zu ihm aufnehmen. Wahrscheinlich hat er geglaubt, dass ich sowieso nie weglaufe. Ich habe es ja auch noch nie versucht.“

Aru sah sich wieder in dem großen Raum mit seinem künstlichen Sonnenschein und keiner einzigen Tür um.

„Heißt das, du bist Tag und Nacht hier drin?“

Kara zeigte achselzuckend auf den Monitor. „Ich bekomme jeden Vormittag Fernunterricht. Und wenn Dad zu Hause ist, erforschen wir zusammen das Höhlenlabyrinth.“ Sie lächelte. „Manchmal erzeugt er das Trugbild eines Waldes und wir veranstalten eine Schnitzeljagd. Das macht Spaß – aber sonst ist es ziemlich eintönig.“

Und noch einsamer, als Aru schon geahnt hatte. Immer nur drinnen, ohne die Möglichkeit, jemals rauszugehen? Nein danke.

„Tut mir echt leid, aber ich muss jetzt los und kann dich wirklich nicht mitnehmen“, sagte sie. „Das wäre viel zu riskant.“

Kara packte sie am Handgelenk. „Und wenn es noch viel riskanter ist, wenn du mich hierlässt?“

„Wie meinst du das?“

Karas Worte überschlugen sich. „Dad nennt mich seine ‚Geheimwaffe‘. Und in letzter Zeit redet er andauernd davon, dass der richtige Augenblick bald gekommen ist. Ich weiß nicht, was er damit meint, und das macht mir Angst, Aru.“

„Geheimwaffe?“ Unwillkürlich wich Aru ein Stück zurück.

„Ich habe keine Ahnung, wovon er redet. Ich kann doch gar nichts! Klar hat er mich im Kämpfen ausgebildet, aber eigentlich habe ich keine besonderen Fähigkeiten.“

Eigentlich. Irgendwelche Fähigkeiten hatte sie also schon: aber welche?

„Seit du hier bist, habe ich sogar noch mehr aus seinen Erinnerungen erfahren“, sagte Kara leise. „Ich habe die zerstörten Städte gesehen, die er überfallen hat, die verängstigten Bewohner … Mit so was will ich nichts zu tun haben! Trotzdem ist er mein Vater und ich will ihn nicht verletzen. Er soll einfach damit aufhören. Aber ich weiß nicht, wie ich das hinkriegen soll.“ Tränen liefen ihr über die Wangen.

Aru wusste nur zu gut, was Kara durchmachte. Es war wie das grässliche Gefühl, wenn man die letzte Stufe einer Treppe verfehlte. Wenn man damit rechnete, auf etwas Festes zu treten, und stattdessen vornüberfiel.

Genauso war es Aru gegangen, als sie begriffen hatte, wie viel ihre Mutter ihr verheimlicht hatte. Als sie erfahren hatte, dass ihre Lehrer Hanuman und Urvashi mit dafür verantwortlich waren, dass ihre Mutter den Schläfer in die Lampe gesperrt hatte. Und als Buh, ihr heiß geliebter Mentor, von dem sie immer angenommen hatte, dass ihm das Wohl der Pandavas über alles ging, sie und die anderen an den Schläfer verraten hatte. Im Grunde war ihr immer noch so zumute, als würde sie fallen und nie mehr auf sicherem Boden landen.

Kara wischte sich mit der Faust die Tränen ab. „Du musst mich mitnehmen, Aru! Ich weiß, was Dad vorhat. Wenn du mich mitnimmst, erzähle ich es dir.“ Auf einmal sah sie so entschlossen aus wie Brynne vor einem Kampf und ihr weißgoldener Ring leuchtete auf wie ein Sonnenstrahl. Vajra, der sich wieder in das Armband verwandelt hatte, reagierte, indem er Funken sprühte.

Aru brannte darauf zu erfahren, was der Schläfer vorhatte, aber sie ließ sich nichts anmerken. „Sobald ihr erkennen lasst, was ihr wollt, kann es als Waffe gegen euch eingesetzt werden“, hatte ihnen Hanuman eingeschärft. Darum erwiderte Aru mit ausdruckslosem Gesicht: „Und wer garantiert mir, dass du dich nicht wie ein Berserker auf mich stürzt?“

Karas Gesicht hellte sich schlagartig auf. „Wie ein Berserker?“ Plötzlich konnte sich Aru vorstellen, wie Kara war, wenn sie keine Angst hatte. Wissbegierig und neugierig … genau wie Mini.

„Hast du gewusst, dass das Wort aus der nordischen Sagenwelt stammt?“, sprudelte Kara los. „Die Berserker waren in Bärenfelle gehüllte Krieger. Vor einer Schlacht versetzten sie sich absichtlich in Raserei. ‚Ber‘ kommt von ‚Bär‘ und ‚serkr‘ bedeutet ‚Gewand‘! Cool, oder?“

Superspannend! Doch Aru erwiderte nur: „Soll mich das jetzt überzeugen, dass du es ehrlich meinst?“

„Nein. Du hast keinen Anlass, mir zu vertrauen. Aber ohne mich hast du überhaupt keine Chance, hier wegzukommen, Aru Shah.“

Aru machte ein skeptisches Gesicht.

„Und falls es dich beruhigt – ich besitze gar kein Bärenfellgewand“, schob Kara nach.

Aru verkniff sich ein Grinsen. Ihr Instinkt sagte ihr, dass Kara vertrauenswürdig war. Irgendwie erinnerte sie das fremde Mädchen an ihre anderen Schwestern.

Und wenn sie doch lügt?, raunte ihre innere Stimme. Sie wäre nicht die Erste, die dich verrät.

Doch genauso gut konnte Kara auch nicht lügen. Wenn Aru sie zurückließ, brachte sie die Anderwelt damit womöglich in noch größere Gefahr. Das konnte sie nicht mit ihrem Gewissen vereinbaren. Wenn Kara irgendwelche faulen Tricks versuchte, gab es ja immer noch Brynne, Mini, Aiden, Nikita, Sheela und natürlich Aru selbst, die eingreifen konnten.

Sie gab sich einen Ruck. „Meinetwegen. Du kannst mitkommen. Und jetzt bring uns hier weg.“

Every Breath You Takeand Every Move You Maaake …

Kara fuhr mit dem Zeigefinger an einem Bücherregal entlang und Aru überflog die Titel. Manche kannte sie, andere nicht. Da gab es eine Sammlung von Grimms Märchen und drei Regale nur mit den Amar Chitra Katha-Comics, die Aru regelmäßig verschlang. Das Buch daneben hatte sie noch nicht gelesen. Es hieß Sturmläufer.

„Ist das hier eine von diesen Bibliotheken, wo man ein Buch rauszieht und sich ein Geheimgang öffnet?“ Insgeheim war Aru ein bisschen neidisch. Sollte sie sich jemals eine eigene Räuberhöhle einrichten, würde es auf jeden Fall einen Bücher-Türöffner geben.

„Kann schon sein“, antwortete Kara.

„Hä?“

„Na ja, ich habe es noch nie ausprobiert. Eigentlich ist das magische Tor nur für Dad gedacht. Aber ich habe ein paarmal beobachtet, wie er es bedient hat. Mit dem richtigen Buch müssten wir es auch hinkriegen. Es ist immer dasselbe Buch, aber er achtet darauf, dass ich den Titel nicht lesen kann, und stellt es jedes Mal woandershin zurück. Wenn man das Buch herauszieht, geht eine Tür auf, die einen überall auf der Welt hinbringen kann. Dad ist sehr stolz auf sein Tor. Nicht mal die Devas wissen davon.“

„Und du hast keine Ahnung, welches Buch das richtige ist? Dann sitzen wir ewig hier fest! Wobei … wo sind wir hier eigentlich?“

„Das hat mir Dad nie verraten. Ab und zu machen wir einen Ausflug, aber meistens nur an irgendwelche abgelegenen Orte. Außer vor ein paar Monaten, da hat er mich mal in eine Konditorei in Paris ausgeführt, weil ich Geburtstag hatte. Das war super! Ich habe ein knallrosa Macaron gegessen, das nach Rosenwasser geschmeckt hat. Dad mag am liebsten die mit Pistazie.“

Der letzte Satz traf Aru wie ein Dolchstich. Alles, was sie selbst über den Schläfer wusste, stammte aus seinen geopferten Erinnerungen. Sie hätte nicht sagen können, was für Musik er mochte und was für Bücher er gern las. Auch wenn er Kara erzählt hatte, dass Aru seine Tochter war – ihr Dad war er trotzdem nicht. Wie er wohl als Vater gewesen wäre? Hätte er sie auch auf Ausflüge mitgenommen? Wäre er die Art Vater gewesen, die einem immer ein Eis spendierte, selbst wenn man etwas angestellt hatte?

Beinahe hätte Aru Kara danach gefragt, aber sie biss sich auf die Zunge. Was hätte es auch für einen Unterschied gemacht? Der Schläfer tat ihr zwar irgendwie leid, aber er war trotzdem ihr Feind. Sich vorzustellen, wie er hätte sein können, war sinnlos und schmerzhaft. Und wenn Kara die Wahrheit sagte, hatte er Arus Mutter mit einer anderen Frau betrogen. Ein besonders toller Dad war er also schon damals nicht gewesen.

Kara schien etwas gemerkt zu haben. „Tut mir leid“, sagte sie. „Ich wollte dich nicht kränken. Ich weiß ja, dass du ihn in einem anderen Licht siehst. Und ehrlich gesagt kenne ich ihn auch nicht besonders gut. Aber –“

„Schon okay“, erwiderte Aru schroff. „Sag mir einfach, was ich jetzt machen soll.“

Kara zeigte auf fünf Bücherregale nebeneinander. „Kannst du dir die hier vornehmen? Sobald du das richtige Buch rausziehst, verwandelt sich der Raum.“

„Mache ich. Vielleicht entdecke ich ja eine Anleitung dafür, wie man ein Lügner und Betrüger wird.“

Kara überhörte die Bemerkung. Die beiden zogen Buch um Buch heraus, ohne ein Wort zu sagen, und stapelten alle auf dem Boden. Schweigen konnte Aru gut aushalten – Neugier nicht.

„Was weißt du denn noch alles über mich?“

Kara wurde rot. „Äh … nicht viel. Obwohl – das stimmt so nicht. Als Dad dich hergebracht hat, hat er mir seine Erinnerungen an dich gezeigt. Und das, was ihm seine Späher gemeldet haben.“

Aru fiel die Kinnlade herunter. „Er hat mich bespitzeln lassen?“

Kara machte ein zerknirschtes Gesicht. „Aber nicht, weil er dir etwas Böses will! Er wollte dich bloß aufwachsen sehen, hat er gesagt. Er hat mir das Museum gezeigt, in dem du wohnst. Der rote Baum davor ist übrigens total schön. Das Maskottchen deiner Schule finde ich ein bisschen schräg und ich weiß, dass du Lakritz magst. Ich habe dich auch mit den anderen Pandavas gesehen. Sie scheinen sehr nett zu sein. Hoffentlich mögen sie mich und –“

„Kara?“

„Ja?“

„Das ist supergruselig.“

Kara wurde knallrot. „Stimmt. Heißt das, ich soll es lieber für mich behalten, wenn ich die anderen kennenlerne?“

Als Aru sich vorstellte, wie sie ihren Freunden Karas Auftauchen erklären sollte, überlief es sie kalt. HALLIHALLO, DA BIN ICH WIEDER! ACH JA, HABT IHR SCHON DIE TOCHTER UNSERES TODFEINDES KENNENGELERNT? An dieser Ansprache musste sie noch arbeiten.

„Unbedingt“, antwortete sie.

Kara nickte. „Entschuldige. Ich bin bloß so aufgeregt, weil ich jetzt eine Schwester habe.“

Was sollte Aru dazu sagen? Sie hatte sich von klein auf eine Schwester gewünscht. Doch nachdem sie Mini und Brynne kennengelernt hatte, hatte sich diese Sehnsucht gelegt. Nur manchmal wünschte sie sich noch eine Beziehung, wie sie Nikita und Sheela hatten. Jemanden mit einem Zimmer neben ihrem, der die Launen ihre Mutter genauso gut kannte wie sie selbst.

Gedankenverloren zog Aru das nächste Buch heraus. Auf einmal schwankte der Boden unter ihren Füßen heftig. Der Teppich wellte sich wie das Fell eines zornigen Raubtiers und Arus Armband sprühte Funken.

„Du hast das richtige Buch entdeckt!“, rief Kara.

Im nächsten Augenblick erbebte die ganze Bücherwand. Ein Lichtstrahl schoss daran herab, als würde die Wand mit einem Laserstrahl mitten durchgeschnitten. Dann schoben sich die beiden Hälften knirschend auseinander.

„Welches Buch war es?“, wollte Kara wissen.

Aru warf einen Blick auf den Einband: Wo die wilden Kerle wohnen von Maurice Sendak. Als sie klein war, hatte ihre Mutter ihr die Geschichte oft vorgelesen. Etwa aus diesem Exemplar? Es sah ziemlich abgegriffen aus.

Der Schutzumschlag war vergilbt und eingerissen, und als Aru das Buch aufschlug, sah sie, dass jemand eine Widmung hineingeschrieben hatte.

Für meine Arundhati.

Im Geschenkladen der Klinik gab esnur dieses Kinderbuch.Aber es passt zu meinem kleinen Mädchen,das bestimmt mal ein Wildfang wird.

Alles Liebe,

dein Dad

Plötzlich hatte Aru einen dicken Kloß im Hals.

Die Schrift war ein bisschen verschmiert und hatte auf den Schutzumschlag abgefärbt, als hätte ihr Vater die Widmung in großer Eile geschrieben und das Buch zugeklappt, bevor die Tinte trocknen konnte.

Weil er wieder zu mir wollte? Oder wollte er zu seiner anderen Tochter, zu Kara?

Wie viele Tage hatte er mit Aru verbracht, bevor ihre Mutter ihn in die Lampe gebannt hatte? Hatte er das Buch auf die Suche nach dem Wunschbaum mitgenommen?

Die Bibliothek erzitterte. Bücher purzelten von den Regalen und landeten mit dumpfem Aufprall auf dem Fußboden. Ein kalter Schatten fiel über Aru.

„Huch!“, machte Kara. „Wir haben ein kleines Problem.“

Aru schlug das Buch zu und richtete den Blick auf den Ausgang, der sich vor ihnen auftat. Noch war der Spalt höchstens dreißig Zentimeter breit. Viel zu schmal, um kampfbereit hindurchzurennen, doch die Öffnung vergrößerte sich von Sekunde zu Sekunde.

„Und was ist das kleine Problem?“

„Ich habe vergessen zu sagen, dass der Raum laut Dad von den gefährlichsten Wächtern der Welt gesichert wird.“

Sofort sah Aru fauchende Krokodile, hungrige Haie und aufgebrachte Paviane vor sich.

„Nämlich von Büchern“, ergänzte Kara.

Beinahe hätte Aru laut gelacht. „Von Büchern? Aber –“

RUMS.

Aus dem Augenwinkel sah Aru einen breiten mehrfarbigen Schwanz über den Boden peitschen. Er bestand nicht aus Schuppen, sondern aus lauter zornigen Märchenbüchern, deren Rücken zitterten und bebten, als wären sie lebendig. Aru fuhr herum, als die nächsten Bände herabpolterten und über den Boden schlitterten. Ein paar Wörterbücher vereinten sich zu einer klauenbewehrten Pranke. Alte Landkarten rollten sich zu einer Zunge zusammen. Kochbücher stapelten sich übereinander wie die Wirbel eines Rückgrats. Der Bücherschwanz schlängelte sich auf die übrigen Teile zu und vereinte sich mit ihnen. Ganz kurz sah das Ganze wie eine große unregelmäßige Kugel aus. Dann entfaltete es sich plötzlich zu einem riesigen Ungeheuer, das einer Kreuzung aus Dinosaurier und Drache glich.

„Nanu, wer bist du denn?“ Aru wich unauffällig zurück, bis sie mit dem Rücken gegen die Wand stieß. „Ein Tyröffnersaurus Rex? Haha – guter Witz, oder? Wobei ich mir einen Tyröffnersaurus immer als lieben Dino vorgestellt habe. Bist du lieb?“

Das Ungeheuer stieß ein lautes Gebrüll aus. Druckerschwärze und Bücherleim spritzten umher. Aru duckte sich.

„Schon gut, vergiss es.“ Sie schnippte mit den Fingern. Ihr Armband verwandelte sich in einen blitzenden Speer. „Fang, Monster!“

Der Speer sauste funkensprühend durch die Luft. Als die Funken auf die Bücher herabregneten, züngelten kleine Flammen an ihnen empor und das Ungeheuer bäumte sich brüllend auf.

„Hör auf!“, rief Kara. „Du tust den Büchern weh!“

„Lieber sie als wir!“, konterte Aru. Als sie sich wieder umdrehte, war der Ausgang schon fast einen Meter breit. „Los!“, brüllte sie.

„Ich …“ Kara sah zu einem dünnen, blau eingebundenen Buch hinüber, das auf dem Boden lag. Es gehörte zu den wenigen Exemplaren, die sich nicht zu dem Ungeheuer zusammengesetzt hatten. Aru hob die Hand und der Speer, der noch immer kreuz und quer von den Wänden abprallte, kehrte zu ihr zurück.

„Kommst du jetzt mit oder nicht?“

Kara hob rasch das blaue Buch auf. „Bin schon da!“

Hinter dem Spalt in der Wand erstreckte sich ein langer Gang. Weil er mit Spiegeln verkleidet war, sah es aus, als würden Aru und Kara gleichzeitig in hundert verschiedene Richtungen laufen. Weiter vorn zeichnete sich eine von Licht umrandete Tür ab.

„Das muss das magische Tor sein“, keuchte Kara. „Man sagt ihm, wo man hinwill, öffnet es und –“

KRACH!

Das Buchmonster streckte den Kopf und einen Vorderlauf durch die Wandöffnung. Als es schnaubte, sprühte Druckerschwärze aus seinen Nüstern und überzog die Spiegel mit einem spinnennetzförmigen Muster. Das Monster donnerte die Pranke gegen die Wand. Die Spiegel zersprangen einer nach dem anderen wie eine Reihe Dominosteine, die nacheinander umfielen. Der Lichtschein um die Tür wurde schwächer.

„Das Vieh will uns den Weg abschneiden“, rief Kara.

Das magische Tor durfte nicht erlöschen! Aru holte wieder mit dem Speer aus.

Doch Kara packte sie am Arm. „Wir dürfen den Büchern nichts tun!“

„Wir müssen aber irgendwas tun!“

Kara atmete tief durch und tippte ihren Ring an. Er verwandelte sich aufblitzend in einen langen Dreizack, der aussah wie aus reinen Sonnenstrahlen geschmiedet. Das gleißende Licht erhellte den Gang und ließ Karas Augen golden aufschimmern.

„Wer von meinem Licht getroffen wird, bekommt keinen Stromschlag“, sagte sie.

Aru machte große Augen. „Was …?“

Kara schleuderte den Dreizack auf das Buchmonster. Die Waffe hinterließ eine gleißend helle Lichtspur in der Luft, dann bohrten sich die drei Spitzen in den ausgestreckten Vorderlauf des Ungeheuers. Druckerschwärze spritzte umher und das Monster heulte auf. Aru blieb gebannt stehen, aber Kara zerrte sie mit sich.

„Komm schon! Sunny stößt später wieder zu uns.“

„Sunny?“

„So habe ich meinen Dreizack getauft“, antwortete Kara atemlos.

Arus Gedanken überschlugen sich. Der Dreizack sah aus wie eine göttliche Waffe! Wie war er in Karas Besitz gelangt?

Sie machte einen großen Satz und stieß das magische Tor auf. Es fühlte sich kalt an. Nach Hause!, befahl sie ihm stumm. Endlich!

Im selben Augenblick schlang sich ein schwärzlicher Fangarm um ihren Knöchel Als sie ihn abschütteln wollte, riss er sie mit einem kräftigen Ruck um. Aru fiel hin und schlug sich das Kinn an. Dann sah sie in den Spiegeln ringsum, wie sie in Richtung Bibliothek zurückgeschleift wurde.

Sie versuchte, den Fangarm mit ihrem Speer zu durchtrennen, konnte aber nicht vernünftig zielen. Außerdem steckten Vajras Funken die Druckerschwärze in Brand, sodass im Nu Flammen und dichter Rauch den Gang erfüllten.

Ende ich jetzt als Aru-Schmorbraten?, schoss es ihr durch den Kopf.

Und wo war Kara? Vor lauter Rauch und Funken, die die Spiegelwände aufblitzen ließen, sah sie nichts. Erneut kamen ihr Zweifel. Hatte Kara sie einfach zurückgelassen? War alles nur ein Trick gewesen, damit Kara aus der Höhle entkommen konnte?

Etwas zischte durch die Luft.

Der Dreizack durchtrennte den Fangarm.

„Hierher!“, hörte Aru Kara rufen. Sie rappelte sich hoch und streckte die flache Hand aus. Der Speer verwandelte sich in ein Hoverboard. Aru sprang auf und das Board sauste in einem Funkenschauer in Richtung Tor. Die brennende Druckerschwärze um sie herum knackte und knisterte und die Hitze versengte Aru den Rücken. Weiter vorn stieß Kara einen Pfiff aus. Der Dreizack kehrte zu ihr zurück und nahm sofort wieder die Gestalt eines Rings an. Als Aru von ihrem Hoverboard heruntersprang, verwandelte es sich sogleich in den Tischtennisball zurück. Sie steckte ihn ein, stieß mit einer Hand die Tür auf und packte mit der anderen Kara am Arm. Die Flammen hinter ihnen loderten höher und beißender Rauch stieg Aru in die Nase. Doch sie kniff die Augen fest zusammen und konzentrierte sich.

Nach Hause! Nirgendwo anders wollte sie jetzt hin.

Sie stellte sich das Museum für Altindische Kunst und Kultur vor, in dem sie und ihre Mutter die letzten vierzehn Jahre verbracht hatten. Den japanischen Ahornbaum vor dem Gebäude, flammend rot wie ein Sonnenuntergang, und den blätternden Anstrich der Eingangstür. Aru glaubte die Kupferstatuen zu riechen, die Holztruhen und das Neroli-Parfüm ihrer Mutter.

Hinter dem Tor war es stockfinster. Aru wurde es flau im Magen, als sie ins Leere stürzten.

„AHHH!“, hörte sie Kara schreien.

Als Aru die Augen wieder aufmachte, sauste der Rasen vor dem Museum auf sie zu. Hektisch verwandelte sie den Tischtennisball wieder in das Hoverboard, damit sie und Kara elegant ausrollen konnten, statt würdelos auf den Bauch zu klatschen.

Kara stieg anmutig vom Board und sah sich mit leuchtenden Augen um. Doch kaum hatte sie einen Schritt auf das Museum zugemacht, huschte ein sonderbarer Ausdruck über ihr Gesicht.

Aru bekam einen Schreck. „Was hast du?“

Karas Augenlider flatterten, dann sank sie bewusstlos ins Gras.

Im selben Augenblick flog die Eingangstür des Museums auf und ein kräftiger Windstoß schleuderte Aru zu Boden.

„Aua!“, rief sie empört, als sie mit dem Hinterkopf aufschlug.

„NIMM DAS, EINDRINGLING!“, schallte es aus dem Museum zurück.

„Mann, Brynne! Wie oft haben wir das schon besprochen? Erst hinsehen, dann angreifen!“

„Ach du …! Das ist Aru!“

Das Geräusch eiliger Schritte ließ Arus Schädel dröhnen. Als sie blinzelte, erblickte sie Mini.

„Du lebst noch!“ Mini brach in Tränen aus. „Wir haben uns schreckliche Sorgen gemacht!“

„Hey, Shah“, sagte Brynne.

Beide zogen Aru hoch und umarmten sie. Auf einmal war sie überglücklich. Minis Umarmung war herzlich und liebevoll, Brynne brach ihr fast die Rippen. „Hilfe! Luft!“, stieß sie hervor.

Ihre Schwestern ließen sie los. Aru sah sich verwirrt um. Als sie Atlanta verlassen hatte, hatte der Frühling gerade erst angefangen. Es war noch so kalt gewesen, dass man morgens einen Pullover anziehen musste. Jetzt dagegen war es warm, fast drückend, und die Sonne brannte vom Himmel.

„Hallo, Shah“, sagte eine vertraute Stimme. „Schön, dass es dir gut geht. Ich musste die ganze Zeit an dich denken. Also daran, ob es dir gut geht und so.“

Aiden Acharya stand vor Aru. Er trug ein schwarzes T-Shirt und eine schwarze Jeans und hatte wie immer seine Kamera Schattenfell umgehängt. Obwohl es heller Tag war, ließen seine Augen Aru an ferne Sterne denken. Ganz kurz glaubte sie, dass er sie umarmen wollte, und machte unwillkürlich einen Schritt auf ihn zu.

Doch sie hatte sich geirrt. Aiden ließ die Arme wieder sinken.

Aru trat einen Schritt zurück.

Der Augenblick war verstrichen. Aiden hüstelte und zeigte auf die immer noch ohnmächtig im Gras liegende Kara. „Wer ist das denn?“

Aru nahm all ihren Mut zusammen. „Na ja … es hat sich rausgestellt, dass der Schläfer außer mir noch eine andere Tochter hat.“

Kurz gesagt:Wir sitzen in der Sch…

Ein Gutes hatte der bevorstehende Weltuntergang – Brynnes Kochkünste.

Kaum hatte Aru die Wohnung über dem Museum für Altindische Kunst und Kultur betreten, stieg ihr der köstliche Geruch von Gebäck in die Nase. Was da duftete, war aber nicht irgendein Kuchen, sondern Brynnes Zusammenstellung von Anti-Stress-Nachspeisen: goldbraunes Maladu, cremiger, leuchtend orangefarbener Rava Kesari, Pistazienkuchen und mit Honig und Kardamomcreme gefüllte Macarons. Aru lief das Wasser im Mund zusammen.

„Mach nicht so ein seliges Gesicht, Shah“, sagte Brynne barsch. „Wir haben uns fast zwei Monate lang Sorgen um dich gemacht. Mir wäre beinahe der Zucker ausgegangen!“

„Jetzt übertreib mal nicht“, entgegnete Aiden lachend. „Mit deinen Vorräten könntest du ein kleines Land durchfüttern.“

Zwei Monate? Aru kam es vor, als hätte sie höchstens zwei Stunden in der Höhle des Schläfers verbracht! Doch als ihr Blick auf den Kalender neben der Wohnungstür fiel, bekam sie einen Schreck. Als sie sich auf die Suche nach dem Wunschbaum gemacht hatten, war es März gewesen. Inzwischen war es Mai.

Aru sah sich in der Wohnung um. Irgendetwas stimmte hier nicht.

Es war viel zu sauber und aufgeräumt.

Auf den Stühlen standen keine halb vollen Teebecher, auf dem Boden stapelten sich keine aufgeschlagenen Bücher und es duftete auch nicht nach dem Jasmin-Shampoo ihrer Mutter. Außerdem hätte das Museum um diese Jahreszeit von Touristen und Schülergruppen wimmeln müssen, aber unten im Foyer war es menschenleer gewesen.

Mini kniff sie in den Arm.

„Aua! Spinnst du?“

„Ich habe nur an deiner Gewebespannung überprüft, ob du womöglich dehydriert bist“, gab Mini ungerührt zurück. „Wie hast du dich ernährt, während du weg warst? Hast du genug getrunken? Deine Haut sieht –“

„Frisch und rosig aus, weil ich es so eilig hatte, zu euch zurückzukehren?“

„Ich wollte eigentlich ‚schlaff‘ sagen.“

„Schönen Dank auch!“

„Wie hast du es überhaupt geschafft, zu uns zurückzukehren?“, wollte Brynne wissen. Aru, die gerade den Esstisch ansteuerte, deutete mit dem Kinn auf Kara. Aiden hatte sie die Treppe hochgetragen und aufs Sofa gebettet. „Ist sie immer noch bewusstlos?“

„Deine Mutter hat das Museum mit einem Zauber gesichert, der jeden Eindringling vorübergehend einschlafen lässt“, antwortete Aiden. „Beziehungsweise jeden, der mit der Anderwelt in Verbindung steht.“

„Ganz schön gerissen“, sagte Brynne anerkennend. „So wie du, Shah.“

„Wo ist Mom denn? Ist sie einkaufen gegangen, oder was?“

Brynne und Mini wechselten einen vielsagenden Blick.

„Wir haben viel zu besprechen, Shah“, erwiderte Brynne dann.

„Wenn es schlechte Neuigkeiten sind, dann sag’s gleich“, entgegnete Aru.

„Nicht direkt schlecht“, erwiderte Mini. „Bloß ungewöhnlich.“

Weil Aru nicht verstand, was Mini damit meinte, wartete sie einfach ab.

„Willst du nicht erst mal was essen und uns auf den neuesten Stand bringen?“, mischte sich Brynne wieder ein. „Fang am besten damit an, wieso du die Tochter des Schläfers angeschleppt hast.“

Während Aru über die Süßspeisen herfiel, berichtete sie, was sie von Kara erfahren hatte. Dass Kara die letzten beiden Jahre in der Höhle des Schläfers zugebracht hatte und er ihre Erinnerungen gelöscht hatte. Dass sie hinten am Hals einen Schutzzauber trug und dass der Schläfer sie seine „Geheimwaffe“ nannte, obwohl sie gar keine Pandava war. Und dass sie einen Dreizack namens Sunny besaß, der sich am liebsten als Weißgoldring tarnte.

„Ich verstehe das alles nicht“, sagte Aru. „Kara muss so alt sein wie ich, aber ich habe sie weder im See der Vergangenheit noch in den Erinnerungen des Schläfers gesehen. Die einzige Erklärung ist, dass der Schläfer meine Mutter betrogen hat.“

„Mir fällt da noch eine andere Möglichkeit ein.“ Brynne musterte Kara. „Es kommt nicht oft vor, aber manchmal bezahlen reiche Anderweltfamilien Zeithüter dafür, dass sie ein Baby bei sich aufnehmen und seine Entwicklung so lange hinauszögern, bis die Eltern so weit sind, es selbst großzuziehen. Ich kenne das aus meiner eigenen Familie. Meine Tante ist kurz nach der Geburt meines Cousins bei einem Unfall ums Leben gekommen. Meine andere Tante, ihre Schwester, erklärte sich bereit, das Kind zu adoptieren, war aber noch viel zu jung, nämlich erst elf. Deshalb wurde die Entwicklung meines Cousins magisch angehalten. Er hat gerade seinen fünfzehnten Geburtstag gefeiert, dabei ist er in Wahrheit schon dreißig. Als er mal mit seinen Freunden den Alkoholvorrat meines Onkels geplündert hat, hat er das als Ausrede benutzt, ist aber nicht damit durchgekommen.“

„Zeithüter?“, wiederholte Mini staunend. „Kann so jemand die Zeit direkt beeinflussen? Also vor- und zurückspulen oder so?“

Brynne schüttelte den Kopf „Das kann niemand. Die Hüter können die Zeit nur vorübergehend anhalten. Das ist eine Spezialmagie.“

Aru runzelte die Stirn. Es war also tatsächlich möglich, dass Kara ihre große Schwester war. Aus einer Zeit, bevor der Schläfer Arus Mom kennengelernt hatte. Trotzdem blieben eine Menge Fragen offen. Was war aus Karas Mutter geworden? Wusste Arus Mom von der Sache? Hatten Krithika und Suyodhana vorgehabt, Kara irgendwann zu sich zu nehmen?

Mini wirkte beunruhigt. „Ist es denn nicht schädlich für das Baby, wenn seine Entwicklung gestoppt wird? Wirkt sich das nicht auf die DNA aus? Und was ist, wenn –“

„Es geht doch nur darum, dass es möglich ist“, übertönte Brynne sie. „Aber das erklärt trotzdem nicht, warum du Kara mitgebracht hast, Aru.“

„Weil sie angeblich weiß, wie man den Schläfer aufhalten kann.“ Aru steckte sich ein Macaron in den Mund. „Und anscheinend rückt sein Heer in diesem Augenblick auf Lanka vor. Er will die Stadt im Lauf der Woche angreifen.“

Aru blickte erwartungsvoll in die Runde. Doch ihre Schwestern sahen nicht bestürzt aus, sondern eher resigniert.

„Das wissen wir schon“, sagte Mini. „Es ist das Thema in den Anderwelt-Nachrichten. Allerdings sagt Kubera, der Herrscher über Lanka und Gott des Reichtums –“

Brynne legte warnend den Finger auf die Lippen, deutete auf Kara und senkte die Stimme. „Wollen wir das wirklich besprechen, wenn sie dabei ist? Woher weißt du, dass sie vertrauenswürdig ist, Shah? Nimmst du ihr echt ab, dass sie den Schläfer aufhalten will?“

Aru sah wieder vor sich, wie Kara in der Höhle nervös mit ihrem Ring gespielt hatte. Sie hatte so einsam gewirkt …

„Ja. Ihr ist klar geworden, dass derjenige, der versprochen hat, sich um sie zu kümmern, ein Lügner ist. Jetzt ist sie total durch den Wind. Sie will es besser machen, weiß aber noch nicht, wie. Das kann man ihr nicht vorwerfen.“

Aru konnte das gut nachvollziehen, auch wenn ihre eigenen Gefühle gegenüber ihrem Vater komplizierter waren. Sie war noch gar nicht dazu gekommen, ihren Schwestern zu berichten, was ihr die Göttin Aranyani offenbart hatte.

Von ihr hatte sie erfahren, warum sich der Schläfer auf die Suche nach dem Wunschbaum gemacht hatte. Er wollte sich dadurch von seinem Los befreien, die Welt zerstören zu müssen. Er hatte sich einfach nur ein ruhiges Familienleben gewünscht. Stattdessen hatte er sein Schicksal endgültig besiegelt.

Wieder sah sich Aru in der Wohnung um. Dass es so ordentlich und still war, beunruhigte sie zutiefst. Wo war ihre Mutter? Und wo steckten Sheela, Nikita und Rudy? Im März waren sie noch alle zusammen gewesen und eigentlich rechnete Aru jeden Augenblick damit, dass Rudy in einem seiner abenteuerlichen Outfits hereingeplatzt kam.

„Wo sind die anderen?“

„Denen geht es gut. Glauben wir jedenfalls“, antwortete Mini.

„In Sheelas und Nikitas Fall sind wir uns sogar sicher“, ergänzte Brynne. „Es kommt immer noch vor, dass uns die beiden aus Versehen ins Astralreich entführen, während wir schlafen – ätzend! Aber Mini und ich können unsere Träume jetzt zusammenlegen und die beiden dort ausbilden. Das ist cool.“

„Nikita hat mir neulich eröffnet, dass mein Kleidungsstil, ich zitiere, ‚meine Fähigkeiten als Tochter des Todesgottes grottenschlecht symbolisiert und außerdem hoffnungslos öde ist.‘“ Mini zupfte an ihrem schwarzvioletten Batik-Sweatshirt. „Sie will mir eine ganz neue Garderobe zusammenstellen. ‚Damit du todsicher todschick aussiehst‘, meinte sie.“

Aru musste lachen, verstummte aber schlagartig, als sie Brynnes ernste Miene sah.

„Als du dich auf den Schläfer gestürzt hast, ist etwas Seltsames passiert“, sagte Brynne. „Es hat ausgesehen, als ob du ihn umarmst, und dann wurde es plötzlich blendend hell. Im nächsten Augenblick wart ihr beide verschwunden. Und das Heer des Schläfers auch.“

„Wir haben euch stundenlang gesucht“, warf Mini ein. „Aber dann –“

„Dann haben überall Alarmsirenen losgeschrillt“, übernahm Brynne wieder. „Und als wir dich telepathisch erreichen wollten, haben wir nur Knistern und Rauschen gehört. Uns ist nichts Besseres eingefallen, als zum Nachtbasar zurückzukehren.“

Aiden, der noch gar nichts gesagt hatte, legte seine Kamera auf den Tisch. „Am besten siehst du dir selber an, was dann los war.“

„Anfangs lief alles super“, sagte Mini. „Buh hatte die Eltern der Zwillinge aufgestöbert. Als Mitglied des Götterrats konnte er bewirken, dass ihr Asylantrag sofort bewilligt wurde. Danach hat er sie auf den Nachtbasar geführt, direkt zu den Zwillingen. Sie hatten die Suche nach ihnen nie aufgegeben, aber Kinder unter dreizehn sind magisch davor geschützt, geortet zu werden.“

Beim Gedanken an Buh wurde Aru ganz elend zumute. „Du wirst ihn für diesen Liebesbeweis hassen“, hatte ihr Sheela prophezeit. Aru wünschte, sie hätte die Weissagung nie gehört.

„Buh ist nicht der, für den ihr ihn –“, setzte sie an, doch Aiden machte sich schon an Schattenfells Display zu schaffen. Über dem Esstisch erschien eine holografische Szene. Sheela und Nikita stürzten sich auf dem Nachtbasar in die ausgebreiteten Arme ihrer tränenüberströmten Eltern. Buh flatterte hinter der kleinen Gruppe wachsam auf der Stelle. Rudys Unterlippe zitterte und er setzte rasch eine Sonnenbrille auf, während Mini hemmungslos schluchzte und Brynne verlegen wegsah. Dann fiel auf einmal goldener Regen vom Himmel. Die Tropfen waren so groß und rund wie Münzen und klirrten, als sie auf dem Boden auftrafen. Eine schallende Stimme verkündete: „DER GEHEIMDIENST VON LANKA MELDET, DASS UNTER UNS VERRÄTER SIND! AUF ANORDNUNG DES DERZEITIGEN RATSVORSITZENDEN KUBERA, HERRSCHER ÜBER LANKA UND GOTT DES REICHTUMS, WIRD DER REISEVERKEHR DER ANDERWELT BIS AUF WEITERES EINGESTELLT! ZUSÄTZLICH HAT KUBERA DEN RAT SO LANGE VON SEINEN PFLICHTEN ENTBUNDEN, BIS DIE ERMITTLUNGEN ABGESCHLOSSEN SIND.“ Die Münzen auf dem Boden flossen zu großen goldenen Pfützen zusammen.

„LAUFT!“, schrie jemand. „Die Ausgänge werden abgeriegelt!“

Das von Aiden aufgenommene Video wurde immer unschärfer, bis es erlosch.

„Alle sind zu ihren Familien zurückgekehrt“, erläuterte er. „Rudys Eltern sind mitten in dem Chaos aus einem Brunnen aufgetaucht und haben ihn buchstäblich nach Naga-Loka zurückgeschleift. Wir haben seither nichts mehr von ihm gehört.“

„Gar nichts?“, fragte Aru.

Aiden schüttelte den Kopf.

„Hira wohnt jetzt auch bei Gunky und Funky“, sagte Brynne. „Sie … das ist echt schön.“ Sie wurde ein bisschen rot.

„Ich habe Rudy meine Handynummer gegeben und dachte, er würde mir mal schreiben. Hat er aber nicht.“ Mini seufzte. „Aber zurück zu Kubera. Er hat es nicht bei dieser einen Durchsage belassen. Schatzi?“

Als Aiden den verhassten Spitznamen hörte, verzog er das Gesicht, griff aber in seinen Rucksack und holte eine Goldmünze heraus. „Kubera ist supermächtig, aber auch ein bisschen … exzentrisch.“

„Er gebietet über das gefürchtetste Heer der Welt“, nuschelte Brynne. Sie hatte den Mund voll Kuchen. „Seine Krieger nennen sich Nairrata und bestehen aus verzaubertem Gold. Ihre Eroberungen sind legendär.“

Aiden nickte. „Vor vielen Hundert Jahren fanden die Götter, dass Kuberas Heer ein bisschen zu erfolgreich geworden war. Er versprach, die Nairrata nicht mehr selbst einzusetzen, sondern sie in Zeiten der Not den vom Rat auserwählten Helden zu überlassen. Die Helden dürfen keine Götter sein, müssen aber mit göttlichen Waffen umgehen können.“

Aru horchte auf. „So wie wir?“

„Das dachten wir auch“, sagte Brynne. „Aber dann kam gestern diese Nachricht.“

Aiden ließ die Münze auf den Tisch fallen. Dort dehnte sie sich aus und wurde zu einem goldenen … Wiesel? „Das ist ein Mungo“, erläuterte Aiden. „Kuberas Lieblingstier.“

Der Mungo schüttelte das funkelnde Fell, huschte dann einmal um den Tisch herum und musterte die Freunde aus schwarzen Knopfaugen. Als er das Maul öffnete, sah man die spitzen Zähnchen. Auf einmal verflüchtigten sich die Wände der Wohnung und gaben den Blick auf eine riesige Stadt aus purem Gold frei. Die Gehwege leuchteten wie fest gewordener Sonnenschein. Die hohen runden Gebäude glichen gestapelten Münzen und der prachtvolle Palast in der Mitte funkelte so gleißend hell, dass Aru die Augen zusammenkneifen musste. Dann hörte sie eine klangvolle Bassstimme sagen: „UNARTIGE GOTTLINGE! SEID IHR GUT ODER BÖSE? WIRD MICH EURE ANTWORT ZUM LACHEN ODER ZUM WEINEN BRINGEN?“ Kurzes Gekicher. „ALSO, WAS WOLLTE ICH DOCH GLEICH SAGEN? ACH JA, RICHTIG: WAS IST VERTRAUEN? UM JEMANDES VERTRAUEN ZU GEWINNEN, BESTEHT MAN AM BESTEN EIN PAAR PRÜFUNGEN. EIN BISSCHEN TOD, EIN BISSCHEN DRAMA UND SO WEITER. IHR WOLLT EUCH MEINE NAIRRATA AUSBORGEN? WENN IHR NICHT BINNEN DREI TAGEN VOR MIR ERSCHEINT, WUNDERT EUCH NICHT, WENN IHR BITTERLICH WEINT. ICH REIME FÜR MEIN LEBEN GERN! POESIE IST ETWAS KÖSTLICHES UND WORTSPIELE DESGLEICHEN. WENN IHR IN DREI TAGEN NICHT AUFGETAUCHT SEID, IST DAS EUER UNTERGANG. DER WAR GUT – ODER? DANN BIS BALD!“

Es folgte eine kleine Jazzmelodie, die an Fahrstuhlmusik erinnerte, dann schrumpfte der Mungo wieder zur Münze zusammen. Auch das Bild der goldenen Stadt, bei der es sich nur um Lanka handeln konnte, erlosch.

„Spinnt der Typ?“, rutschte es Aru heraus. „Warum sollen wir erst noch irgendwelche Prüfungen ablegen, wenn er uns sein Heer sowieso geben muss?“

Mini wurde rot wie eine Tomate. „Als wir nicht rechtzeitig auf dem Holi-Fest erschienen sind und du plötzlich weg warst, hatte sich Opals ganze PR-Kampagne, die unser Image aufbessern sollte, erledigt. Auf einmal wurde nur noch über die Prophezeiung geredet. Über ‚die Schwester, der man nicht trauen darf‘.“

„Lass mich raten. Die Anderweltbewohner halten mich für die Verräterin, stimmt’s?“, entgegnete Aru. Seltsamerweise war es gar nicht so schlimm, es auszusprechen.

Mini schaute zu Boden, was Aru als „Ja“ interpretierte. „Aiden hat ihnen seine Aufnahmen vorgeführt, um zu beweisen, dass der Schläfer dich entführt hat, aber es hat nichts genützt. Sie haben nur gesehen, dass du ihn umarmt hast und dann verschwunden bist.“

„Die Anderweltbewohner haben Angst, Shah“, setzte Aiden hinzu. „Sie wissen nicht mehr, wem sie noch glauben sollen.“

„Wir haben uns an die Maruts gewandt, aber die meinten, das wäre ein Fall für Kubera“, fuhr Mini fort. „Daraufhin haben sich Hanuman und Urvashi nach Lanka begeben, um mit ihm zu reden. Wir glauben, dass er sie dort festhält. Buh konnte uns auch nicht helfen, weil er ebenfalls verschwunden ist!“ Mini hatte jetzt Tränen in den Augen. „Und man hält ihn jetzt ebenfalls für einen Verräter!“

Brynne tätschelte ihr tröstend den Rücken. „Wir haben Buh schon mal verteidigt. Das klappt auch ein zweites Mal. Oder, Shah?“

Alle drehten sich zu Aru um. Ihr Mund wurde trocken.

Sie musste ihnen die Wahrheit sagen.

„Buh ist tatsächlich ein Verräter“, sagte sie mit leicht zittriger Stimme. „Das hat mir der Wunschbaum offenbart.“

Ach übrigens – du bist verflucht

Alle drei starrten sie mit offenen Mündern an.

Brynne fand als Erste die Sprache wieder. „Geht’s noch? Wie kannst du so was sagen!“

Aru ließ sich von ihrem drohenden Ton nicht einschüchtern. „Aranyani hat es mir gezeigt und auch, warum mein … warum der Schläfer nie einen Wunsch an den Baum gerichtet hat. Um Kalpavriksha zu finden, musste er einen Großteil seiner Erinnerungen opfern. Aber die Erinnerungen an meine Mutter und mich waren ihm zu kostbar. Er verzichtete darauf, sie aufzugeben, nur um sein Schicksal abzuwenden, und kehrte unverrichteter Dinge nach Hause zurück. Doch da hatte der Götterrat Mom schon überredet, ihn einzusperren.“

„Der Götterrat?“, wiederholte Mini.

„Die Götter haben nur ihre Pflicht getan.“ Brynne verschränkte die Arme. „Es war dem Schläfer von Anfang an bestimmt, in einen zerstörerischen Krieg zu ziehen.“

„Wenn er nicht in der Lampe gehockt hätte, hätte er sich vielleicht dagegen entschieden!“, widersprach Aru.

Brynne schüttelte den Kopf. „Ich verstehe dich ja und ich finde es auch schade, aber er ist nun mal ein Ungeheuer.“

Vajra blitzte an Arus Handgelenk zornig auf. „Wenn man dich zwingen würde, einen Teil deiner Seele zu opfern, würdest du auch zum Monster werden!“

Brynne kniff trotzig die Lippen zusammen.

„Wir müssen erst mal verdauen, was du da sagst“, versuchte Mini die Wogen zu glätten. „Immerhin hören wir es zum ersten Mal.“

Aru wurde beklommen zumute. Sie hatte das Gefühl, in die Enge getrieben zu werden.

„Wo ist Buh überhaupt?“, fragte Aiden. Er ließ sich nicht anmerken, was in ihm vorging.

„Bevor ich einen Wunsch an Kalpavriksha richten durfte, hat mir Aranyani gezeigt, wie Buh hinter unserem Rücken eine Abmachung mit dem Schläfer getroffen hat“, antwortete Aru. „Früher war Buh ein zauberkundiger König. Dann hat ihn ein Fluch in eine Taube verwandelt. Diesen Fluch kann er nur aufheben, wenn er eine Schuld begleicht. Dann kann ihn ein Wunsch von dieser Erde erlösen oder so ähnlich. Ich glaube, er will seine einstige Macht wiedererlangen, um uns besser beschützen zu können. Er hat sich mit dem Schläfer geeinigt, dass er selbst einen Wunsch vorbringen darf, wenn der Schläfer den Baum entdeckt. Als Gegenleistung hat er den Kriegern des Schläfers den Aufenthaltsort der Zwillinge verraten. So konnten die beiden entführt werden.“ Aru wurde immer wütender. „Buh hat uns nicht zugetraut, dass wir unsere Mission erfolgreich zu Ende bringen! Obwohl er uns ausgebildet und uns andauernd Vorträge gehalten hat und …“

Sie verstummte. Ihr Mentor hatte sie herumkommandiert, ihnen eingeschärft, dass Pandavas viel Obst und Gemüse essen mussten, und sie immer wieder daran erinnert, dass sie alles schaffen konnten.

Wie sich herausgestellt hatte, hatte er selbst kein bisschen an sie geglaubt.

„Und nachdem du das alles gesehen hast, durftest du einen Wunsch an den Baum richten?“, fragte Brynne.

Aru nickte. „Blöderweise kann ich mich nicht mehr erinnern, was ich mir gewünscht habe.“ Vor Ärger und Enttäuschung hätte sie heulen können.

„Und wieso erinnerst du dich dann daran, was dir Aranyani gezeigt hat?“, fragte Brynne.

„Glaubst du mir etwa nicht?“