Ärztin einer neuen Ära - Yvonne Winkler - E-Book
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Yvonne Winkler

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Beschreibung

Vordenkerin, Medizinerin, Wegbereiterin Berlin, 1898: Nach dem Abitur kann es Hermine Edenhuizen kaum erwarten zu studieren. Sie möchte Ärztin werden und in die Fußstapfen ihres jüngst verstorbenen Vaters treten. Frauen dürfen aber noch nicht studieren, weswegen Hermine für jede Vorlesung eine Sondergenehmigung braucht. Sie gibt nicht auf und tut alles für ihren Traum! Deshalb will sie auch niemals heiraten, ein Ehemann könnte ihr nämlich das Arbeiten verbieten. Da lernt sie den Arzt Otto Heusler kennen. Er behandelt sie respektvoll, diskutiert medizinische Fälle mit ihr. Doch Otto ist bereits verheiratet! Hat ihre Liebe ein Chance? Bedeutende Frauen, die die Welt verändern  Mit den historischen Romanen unsere Reihe »Bedeutende Frauen, die die Welt verändern" entführen wir Sie in das Leben inspirierender und außergewöhnlicher Persönlichkeiten! Auf wahren Begebenheiten beruhend erschaffen unsere Autorinnen ein fulminantes Panormana aufregender Zeiten und erzählen von den großen Momenten und den kleinen Zufällen, von den schönsten Begegnungen und den tragischen Augenblicken, von den Träumen und der Liebe dieser starken Frauen.

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© Piper Verlag GmbH, München 2022

Dieses Werk wurde vermittelt durch die Michael Meller

Literary Agency GmbH, München.

Redaktion: Uta Rupprecht

Covergestaltung: Johannes Wiebel | punchdesign

Covermotiv: Johannes Wiebel unter Verwendung von Motiven von shutterstock.com, AdobeStock und Richard Jenkins Photography

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Teil 1

Wegweiser

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Teil 2

Kreuzungen

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Teil 3

Meilensteine

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Teil 4

Stolpersteine

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Teil 5

Zwischenstation

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Epilog

Nachwort

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

In der Beständigkeit liegt das Geheimnis des Erfolgs.

Helene Lange

Teil 1

Wegweiser

1896

Berlin, Pewsum in Ostfriesland

Kapitel 1

Die Schulbank war alt und morsch und eigentlich für Kinder der Volksschule gezimmert. Aber Hermine Edenhuizen war kein Kind mehr. Sie war fast vierundzwanzig und damit längst aus dem üblichen Schulalter heraus. Es lag an den neuen Gymnasialkursen, dass sie sich trotzdem noch jeden Tag hinter das Pult zwängte.

Als hochgewachsene Ostfriesin überragte sie die anderen drei Kursteilnehmerinnen deutlich und musste sich ordentlich abplagen, bis sie endlich in der Bank saß. Schmerzhaft drückten ihre Knie gegen das Holz, und bei jeder Bewegung rechnete sie damit, dass das wackelige Gestühl auseinanderfiel. Wenn sie aufstand, um die Frage eines Lehrers zu beantworten, musste sie sich erst wieder mühsam hinausschieben. Am Ende eines langen Unterrichtstages fühlten sich ihre Knie- und Hüftgelenke an wie die rostigen Angeln der alten Gartenpforte daheim in Pewsum. Manchmal bildete sie sich sogar ein, sie auf dem Weg zurück in die Pension genauso quietschen zu hören.

Und nicht allein die Bänke waren alt. Der Raum, in dem Hermine und ihre drei Mitschülerinnen unterrichtet wurden, war vermutlich der schäbigste, den die Charlottenschule zu bieten hatte. Eine Abstellkammer, in die alles hineingestopft wurde, was überflüssig oder mit Mängeln behaftet war: Abgestoßene Schränke, wurmstichige Schulbänke oder vier junge Frauen, die sich in den Kopf gesetzt hatten, die Abiturprüfung abzulegen.

Helene Lange – ihr gemeinsames Vorbild, ihre Mentorin und eine unermüdliche Streiterin für das Recht der Frauen auf Bildung – hatte allen Widerständen zum Trotz diesen Gymnasialkurs für junge Frauen ins Leben gerufen. Jahrelang hatte sie Briefe geschrieben, Petitionen eingereicht, war persönlich auf Ämtern erschienen, hatte mit Regierungsbeamten und Studienräten lange Gespräche geführt. Schließlich hatte sie gesiegt. Seit vier Jahren konnten sich junge Frauen aus dem ganzen Kaiserreich hier in Berlin an der Charlottenschule auf die Abiturprüfung vorbereiten.

Einige der Lehrer, die Fräulein Lange für diesen Kurs zusammengesucht hatte, waren bereits im Ruhestand. Sie schrieben auf einer Tafel, die aussah, als hätte ein hungriger Riese ein Stück davon abgebissen. Die Kreide blieb kaum darauf haften und kreischte bei jedem Strich. Die beiden kleinen Fenster ließen sich nicht öffnen. Es roch muffig – nach grüner Seife, Mottenkugeln, Staub, altem Papier und den ausgestopften Tieren, die auf den Schränken standen. Der Hauswart der Charlottenschule hasste den Kurs. Der Wunsch der Frauen, das Gleiche zu lernen, was die Knaben ganz selbstverständlich an den Gymnasien lernten, war ihm sichtlich zuwider. Außerdem stellte ihre Anwesenheit eine Unterbrechung seiner seit Jahrzehnten eingeschliffenen Gewohnheiten dar. Und so ließ er es sich nicht nehmen, wenigstens einmal am Tag während ihres Unterrichts unvermittelt die Tür aufzureißen und unter lautem Geklapper seine Eimer und Besen in den Raum zurückzustellen.

Doch entgegen aller Konventionen und Bräuche, gegen den Widerstand von ehrbaren Studienräten, betagten Regierungsbeamten und einem entrüsteten Hauswart im schmierigen Kittel saßen sie hier, vier junge Frauen zwischen sechzehn und achtundzwanzig, und bereiteten sich auf das Abitur vor. Und sie, Hermine Edenhuizen aus dem beschaulichen ostfriesischen Pewsum, war eine von ihnen. Dafür war sie dankbar.

Diese Dankbarkeit erstreckte sich sogar auf den Lateinunterricht bei Herrn Doktor Pflühe.

Der Lehrer wanderte vor der Tafel auf und ab, ein kleiner, steifer Mann mit einem grau melierten Backenbart und einer strengen Falte auf der lichten Stirn.

»Die höchste Tugend des Schülers ist das Lernen«, rezitierte er, ohne die vier jungen Frauen in den Bänken vor ihm eines Blickes zu würdigen. Das lange Lineal in seiner rechten Hand wippte zum Takt der Silben. »Non scholae, sed vitae discimus.«

»Nicht für die Schule, für das Leben lernen wir«, sprachen sie die korrekte Übersetzung im Chor.

Latein war nicht gerade Hermines Lieblingsfach, was allerdings weniger an den Inhalten, sondern vor allem am Lehrer lag. Herr Doktor Jacob Pflühe unterrichtete sie mit einem Grimm, als wäre der Unterricht Teil einer Strafe, die ihm ungerechterweise auferlegt worden war. Dabei wusste Hermine sehr wohl, dass Fräulein Lange ihm gutes Geld für diese Stunden zahlte. Geld, das man ihm nicht erst aufdrängen musste, sondern das er bereitwillig annahm. Er hätte den Lehrauftrag auch ablehnen können. Ob er mit jemandem eine Wette abgeschlossen hatte, dass die Frauen es nicht schaffen würden, ihre Abiturprüfung erfolgreich abzulegen? Falls sie mit dieser Vermutung richtiglag, konnte er sich schon darauf einstellen, dass er die Wette verlor. Dafür würde Hermine sorgen.

Herr Doktor Pflühe schrieb einen lateinischen Satz an die Tafel, das Quietschen der Kreide schnitt schmerzhaft ins Trommelfell.

»Übersetzen.« Die Stimme des Lehrers donnerte über ihren Köpfen hinweg durch den kleinen Raum. Und um seinen Worten mehr Vehemenz zu verleihen, klopfte er mit seinem Lineal gegen die Tafel. »Sie.«

Das Lineal zeigte auf Hermine.

Sie schob sich mühsam aus der engen Bank und stand auf, so wie der Lehrer es von seinen Schülern gewohnt war. Natürlich war sie gut vorbereitet. Sie bereitete sich auf jedes Fach gut vor, doch in Latein gab sie sich immer besondere Mühe. Es war ihre Art, sich für die Ablehnung des Lehrers zu revanchieren.

Sie schaffte es, den Satz aus Tacitus’ Germania mit nur einmaligem kurzen Stocken und ohne jeden Fehler zu übersetzen.

»Konjugieren Sie ›esse‹ im Imperfekt und Plusquamperfekt.«

»Eram, eras, erat, eramus, eratis, erant. Fueram, fueras, fuerat, fueramus, fueratis, fuerant.«

Die Unmutsfalte zwischen den Augenbrauen des Lehrers wurde tiefer.

»Setzen!«, bellte er, wandte sich ab und schrieb den nächsten Satz an die Tafel. Die Kreide quietschte, als wäre sie mindestens ebenso zornig wie der Lehrer.

Hermine lächelte still in sich hinein. Nach fast zwei Jahren Unterricht bei Herrn Doktor Pflühe konnte sie in seinem Gesicht gut lesen. Anfangs hatte sie sich vor dieser grimmigen Miene gefürchtet. Sie war dazu erzogen worden, gefallen zu wollen, und hatte nicht verstanden, warum dieser Mann so wütend auf sie alle war. Doch seitdem sie wusste, dass er es hasste, wenn sie sich durch Wissen und Können seiner vorgefassten Meinung über Frauen widersetzten, liebte sie diesen Gesichtsausdruck. Er machte sie stolz.

Als Nächste kam Frida Busch an die Reihe, doch auch sie hatte sich exzellent auf den Unterricht vorbereitet. Keine von ihnen gab sich an diesem Tag eine Blöße, die Laune des Herrn Doktors sank weiter. Am Ende der Stunde nahm er seinen Hut und stampfte grußlos hinaus. Seine Schritte, begleitet vom wütenden Pochen seines Spazierstocks auf dem Linoleum, waren den ganzen Korridor entlang zu hören, bis er das Schulgebäude verlassen hatte.

Thekla Freytag, eine zierliche Berlinerin und mit neunzehn die Zweitjüngste unter ihnen, sprang mit einer Leichtigkeit aus ihrer Bank, um die Hermine sie glühend beneidete. Sie lachte.

»Da haben wir den Herrn Doktor heute aber schwer enttäuscht! Hoffentlich kann er gut schlafen.«

Sie sammelten ihre Bücher, Hefte und Bleistifte zusammen und gingen hinaus.

Das Schulgebäude war bereits leer. Die Mädchen, die hier in der Elementarschule bis zum 14. Lebensjahr unterrichtet wurden, waren schon längst zu Hause. Auch das an die Charlottenschule angeschlossene Lehrerinnenseminar war um diese Uhrzeit verwaist. Oft dachte Hermine daran, dass sie beinahe ebenfalls Lehrerin geworden wäre. Schließlich war das bisher die einzige Möglichkeit für eine Frau, sich weiterzubilden, zu lernen. Zum Glück hatte ihr Vater ihr davon abgeraten. Und dann hatte sie eine Anzeige entdeckt, in der Fräulein Lange auf ihren Gymnasialkurs in Berlin aufmerksam machte – und vergessen war das Lehrerinnenseminar.

Da sie als Absolventinnen von Fräulein Langes Gymnasialkurs davon abhängig waren, dass die angeworbenen Lehrer sich die Zeit nahmen, hatten sie oft zu ungewöhnlichen Tageszeiten Unterricht, mal bis in den Abend hinein, gelegentlich sogar am Wochenende. Wie es die Lehrer eben einrichten konnten oder wollten. Manchmal drängte sich Hermine der Verdacht auf, dass die Herren ihren Unterricht absichtlich zu ungünstigen Zeiten abhielten, um den vier Schülerinnen auf ihrem Weg zum Abitur weitere Steine in den Weg zu legen.

Doch auch davon ließen sie sich nicht abschrecken. Sie hatten dafür gekämpft, hier lernen zu dürfen. Nicht Handarbeit, Hauswirtschaft und Kinderpflege, sondern Latein, Griechisch, Naturwissenschaften und Mathematik. Deshalb ließen sie sich auch von ungünstigen Unterrichtszeiten nicht abhalten. Tage waren lang. Und wenn der Tag nicht ausreichte, so gab es immer noch die Nacht.

In der Beständigkeit liegt das Geheimnis des Erfolgs. Diesen Satz hatte Fräulein Lange zu Beginn des Gymnasialkurses Hermine mit auf den Weg gegeben. Er war zu ihrem Wahlspruch geworden, der sie durch jede Schwierigkeit, über jede neue Hürde hinwegtrug. Und sogar durch den Lateinunterricht.

 

Auf dem Gehsteig vor dem Gebäude der Charlottenschule blieb Hermine stehen. Sie drückte den Stapel Schulbücher fest an sich, schloss die Augen, reckte ihr Gesicht nach oben – der Sonne und dem Wind entgegen – und atmete tief ein. Der Februar lag erst seit wenigen Tagen hinter ihnen. Es war kalt und feucht, und in manchen Winkeln und Hinterhöfen lagen noch immer Reste von Schnee. Die Luft roch nach Holz- und Kohlefeuern. Doch die Rauchsäulen aus den Schornsteinen der Wohnhäuser, Fabriken und Werkstätten stiegen in einen zartblauen Himmel empor. Die Sonne begann bereits, ihre wärmende Kraft zu entfalten, und in der leichten Brise lag die Ahnung von jungen Trieben und ersten Blüten.

Der Frühling ließ sich nicht aufhalten. Selbst hier in Berlin, in dieser viel zu großen, lärmenden und stinkenden Stadt mit ihren vielen Menschen, den Pferdekutschen und Fuhrwerken, bahnte sich die Natur ihren Weg.

»Hermine? Nun komm schon!« Ihre Freundin Frida Busch zog scherzhaft an ihrem Ärmel. Klein, dunkelhaarig und lebhaft – so wie Frida stellte sich Hermine immer die Südländerinnen vor. Obwohl die Freundin vier Jahre älter war, schien sie das Leben viel leichter und heiterer zu nehmen als sie selbst. »Du wirst noch Wurzeln schlagen, wenn du dich nicht bald von der Stelle bewegst.«

»Sie träumt von den schönen Männern in Ostfriesland«, scherzte Thekla, und Clara kicherte, wobei sich ihre Wangen rosa färbten.

Thekla war die Einzige von ihnen, die aus Berlin stammte und deshalb immer noch im Elternhaus wohnte. Frida war Rheinländerin, ihre Mutter lebte in Bonn, wo der Vater, ein Arzt, bis zu seinem Tod praktiziert hatte. Und die sechzehnjährige Clara kam aus Breslau. Doch weder Frida noch Clara litt dermaßen unter Heimweh wie Hermine. Auch wenn es im Frühjahr bei Weitem nicht so stark war wie im Sommer, wenn die Luft drückend und schwer auf Berlin lastete und Mensch und Tier gleichermaßen nach jedem kühlenden Windhauch lechzten. Die Sehnsucht nach Ostfriesland – den Deichen, dem weiten Himmel, dem Blick, der ungehindert über endlose Wiesen schweifen konnte – blieb. Immer. Jeden Tag. Sie trug sie in sich, eingegossen wie eine Fliege in Bernstein. Hätte ihr jemand jetzt angeboten, sie könnte sich in den Zug setzen und einfach nach Hause fahren, sie wäre sofort zum Bahnhof gelaufen. Aber es galt noch bis Juni durchzuhalten. Dann erst begannen die Ferien, und sie durfte endlich wieder zurück nach Ostfriesland.

»Hermine! Guten Morgen!« Fridas Ziehen am Ärmel wurde drängender. »Willst du denn gar nicht nach Hause?«

»Natürlich, sofort!« Erst dann wurde Hermine bewusst, dass Frida nicht die Neue Burg in Pewsum meinte, in der sie geboren worden und aufgewachsen war. Die Freundin sprach von der kleinen Pension, in der sie beide wohnten. Sie war nicht daheim, sie war in Berlin. Ihr Enthusiasmus verpuffte, und sie seufzte. »Ich komme.«

Frida legte ihre Hand auf Hermines Arm. Offenbar verstand sie.

»Frau Krawuttke hat bestimmt schon das Essen fertig.«

Hermine nickte. Jetzt war sie wieder ganz in Berlin angekommen und hatte ihr Ziel vor Augen: Sie wollte das Abitur machen und Medizin studieren. Ihr Vater sollte stolz auf sie sein können.

Ach, Vater …

Ihr Vater, Dr. Martin Edenhuizen, war selbst Arzt mit eigener Praxis in Pewsum. Bisher war er eher skeptisch gewesen, ob der Weg, den seine Tochter eingeschlagen hatte, der richtige für sie war. Doch in den letzten Weihnachtsferien, die sie wie immer in ihrem Elternhaus verbracht hatte, hatte er ihr in einem sehr innigen und vertraulichen Gespräch erzählt, dass er im Laufe seines Berufslebens bei der Behandlung von Frauen und Kindern gelegentlich an Grenzen gestoßen sei, die seiner Meinung nach eine Frau viel leichter hätte überwinden können. Von diesen Worten angefeuert war sie nach Berlin zurückgekehrt und hatte sich mit noch größerem Eifer als zuvor in die Arbeit gestürzt.

»Du hast recht. Ich habe Hunger. Und außerdem müssen wir lernen. Ich muss noch die Übersetzung für den Griechisch-Unterricht morgen überprüfen, Vokabeln lernen …«

»Die pauken wir gemeinsam nach dem Essen.«

Frida hakte sich bei ihr unter. Clara und Thekla verabschiedeten sich und gingen in die andere Richtung davon. Und während sie und Frida lateinische Grammatik und geometrische Formeln wiederholten, um keine Minute unnütz zu vertrödeln, eilten sie die Straße entlang.

 

Die Pension, in der sie jede ein Zimmer gemietet hatten, lag zum Glück nur zwei Straßen von der Schule entfernt. Frau Krawuttke, ihre Wirtin, war eine freundliche, rundliche Frau, die das Herz auf der Zunge trug und mit der Miete ihre schmale Witwenpension aufbesserte. Dabei sorgte die gute Frau wie eine Mutter für ihre Mieterinnen. Sie stellte ihnen morgens ein ordentliches Frühstück auf den Tisch, und abends gab es an jedem Tag der Woche eine einfache, aber kräftige warme Mahlzeit. Gelegentlich fanden Hermine und Frida sogar ein Stück Gebäck auf dem Tisch in ihren Zimmern, wenn sie vom Unterricht nach Hause kamen. »Um euch das Hocken über den Büchern etwas zu versüßen«, sagte Frau Krawuttke dann immer.

Doch an diesem Tag begrüßte ihre Pensionswirtin sie nicht mit einem fröhlichen: »Da seid ihr ja endlich!« Stattdessen erwartete sie die beiden bereits an der Tür – die Hände ineinander verschränkt, der Blick besorgt.

»Gut, dass ihr kommt.«

»Was ist geschehen?«, fragte Frida sofort.

Hermine brachte kein Wort heraus, sie begann zu frösteln, als bliese ihr ein eisiger Nordwind in den Nacken.

»Kommt in die Küche.«

Das freundliche Gesicht von Frau Krawuttke war beinahe erschreckend ernst. So ernst, dass Hermines Herz zu rasen anfing und sich ihre Beine auf dem kurzen Weg den Flur entlang anfühlten, als wären sie aus Wachs.

In der geräumigen Küche war es warm wie an jedem Tag. Es duftete nach Kernseife, nach ausgelassenem Speck, nach Erbsensuppe und dem Bohnenkaffee, den Hermine und Frida ihrer Wirtin gelegentlich zum Dank für ihre vielen kleinen Gefälligkeiten mitbrachten.

»Vorhin ist eine Depesche angekommen«, sagte Frau Krawuttke und deutete auf den weiß gescheuerten Tisch, auf dem ein Stück Papier mit dem roten Stempel der Reichspost lag. Und noch ehe ihre Hauswirtin weitersprach, wusste Hermine es bereits. »Das ist für Sie, Fräulein Hermine.«

Einen Moment stand Hermine starr. Das Herz schlug ihr im Hals, ihr Mund war trocken, ihre Kehle eng.

»Von wem …«

»Aus Pewsum. Von Ihrer Familie.«

Mechanisch reichte Hermine Frida ihre Bücher. Dann strich sie ihren Rock glatt, ihr zum Knoten hochgestecktes Haar. Alles, um das Unvermeidliche hinauszuzögern. Denn warum sollten sie ihr aus Pewsum ein Telegramm nach Berlin schicken, wenn nicht aus einem ernsten Grund? Einem sehr ernsten Grund?

»Danke.« Sie konnte nur flüstern, als sie das Papier mit zitternden Händen entgegennahm.

»Setzen Sie sich, Kindchen.« Frau Krawuttke zog einen der Stühle unter dem Tisch hervor und drückte Hermine sanft, aber bestimmt auf den Sitz. »Sie sind ja ganz bleich.«

Sie zitterte so stark, dass sie das Telegramm nicht ruhig in der Hand halten konnte und die Buchstaben vor ihren Augen verschwammen. Dann endlich gelang es ihr, die wenigen Worte zu entziffern:

Komm schnell, Vater liegt im Sterben. Jacob

Für einen kurzen Augenblick glaubte Hermine, sie träumte. Erschöpft und übernächtigt vom Lernen bis in die frühen Morgenstunden, musste sie hier am Küchentisch in einen kurzen Schlaf gefallen sein. Es war ein hässlicher Traum, aber sie träumte. Gleich würde sie aufwachen und wissen, dass es nicht wirklich geschehen war. Dass sie kein Telegramm erhalten hatte. Und ihr Vater daheim in Pewsum gesund und munter seine Patienten empfing.

Sie blinzelte, kniff sich schließlich in den Arm und hielt immer noch das Stück Papier in den Händen. Dieses gelbliche Rechteck mit seinen rechten Winkeln. Sie musste nur die Seitenlängen ausmessen, dann konnte sie die Fläche berechnen, auf der die Worte standen, geschrieben mit schwarzer Tinte in der sauberen, ordentlichen Handschrift eines Beamten der Reichspost. Sie sah den roten Eingangsstempel, das Datum, den vom Reichsadler geschmückten Formularkopf – und konnte nichts damit anfangen. In ihrem erschütterten, gelähmten Verstand ergab das alles keinen Sinn.

Es musste ein Traum sein. Einfach nur ein dummer, ein überaus abscheulicher Traum.

»Was ist denn, Hermine? Nun sag doch etwas!« Frida rüttelte an ihrer Schulter.

Hermine hob ihren Blick. Es kam ihr vor, als sähe sie die Freundin zum ersten Mal in ihrem Leben.

»Bitte«, sagte sie leise und hielt Frida die Depesche hin. »Lies du mir vor. Ich kann die Buchstaben nicht erkennen. Sie ergeben keinen Sinn.«

Frida nahm ihr das Telegramm aus der Hand und las laut.

»Komm schnell, Vater liegt im Sterben. Jacob.«

Jedes Wort traf Hermine wie der kalte nasse Lappen, mit dem sie sich morgens wusch, um nach einer langen Nacht über den Büchern schneller wach zu werden.

Dann war es also wahr.

Sie erhob sich. Es fiel ihr so schwer, als hätte ihr der Kaufmann in Pewsum eines seiner Fässer mit eingelegten Gurken auf die Schultern geladen.

»Ich …« Einen Moment schwankte sie und musste sich an der Tischkante festhalten. Wie durch einen Nebel sah sie Frau Krawuttke nach ihrem Arm greifen. »Ich werde jetzt packen.«

»Ich helfe dir«, bot Frida sofort an.

»Tun Sie das, Fräulein Frida«, sagte Frau Krawuttke. »Mein Paule hat mir einen Fahrplan dagelassen, der ist noch gültig. Ich werde gleich nachschlagen, wann der nächste Zug fährt.«

»Danke.« Hermines Lippen bewegten sich. Es fühlte sich an, als würden sie nicht ihr gehören, sondern einer Fremden, die in ihren Körper geschlüpft war. »Das ist sehr freundlich von Ihnen.«

»Ist schon gut, Kindchen.« Frau Krawuttke tätschelte ihren Arm. »Es ist ja nicht viel, was ich tun kann. Leider.«

 

Das Packen übernahm zum großen Teil Frida, und dafür war Hermine ihrer Freundin unendlich dankbar. Sie selbst war kaum in der Lage, einen klaren Gedanken zu fassen, und hätte wahrscheinlich Wichtiges vergessen und dafür Unwichtiges in ihrer Reisetasche verstaut. Sie konnte nur an ihren Vater denken. Sie hatte Angst um ihn und nagende Furcht, dass sie nicht rechtzeitig in Pewsum sein würde.

»Die Droschke wartet schon vor dem Haus«, sagte Frau Krawuttke und drückte Hermine ihren Hut in die Hand. »Beeilen Sie sich.«

»Droschke? Aber ich …«

»Keine Widerrede! Sie werden mir so nicht durch halb Berlin laufen. Da muss ich ja Angst haben, dass Sie unter die Räder kommen. Nein, der Kutscher wird Sie zum Bahnhof fahren.«

»Danke. Ich …«

»Schon gut, Fräulein Hermine. Schreiben Sie nur recht schnell, damit wir Bescheid wissen, wie es um Ihren Herrn Vater steht.«

»Ja, Frau Krawuttke. Ich werde schreiben, sobald es geht.«

Hermine verabschiedete sich. Ihre Knie waren weich, als sie die Treppe hinunterstieg, der Griff ihrer Reisetasche wie ein Eisklumpen in ihren Händen. Als sie durch die Haustür trat, sprang der Kutscher vom Kutschbock. Er war ein kleiner Mann mit einem vergnügten roten Gesicht, das eine Vorliebe für Bier verriet. Er kaute Tabak und grüßte mit einem Finger am Schirm seiner Mütze. Fröhlich pfeifend nahm er ihr die Tasche ab. Bevor Hermine die Stufen zur Kabine hochkletterte, drehte sie sich noch einmal um. Oben am Fenster standen Frau Krawuttke und Frida. Ihre Gesichter erschienen klein und weiß, wie die von Gespenstern. Sie winkten leicht. Und für einen kurzen Moment kam es Hermine vor, als würde sie einfach für die Sommerferien nach Hause fahren.

Was für ein Irrtum.

Sie stieg in die Droschke und ließ sich in den Sitz sinken.

»Wohin darf ick det Fräulein wohl fahren?«

»Zum Bahnhof, bitte«, sagte Hermine und schloss die Augen. »Ja, zum Bahnhof.«

So, wie ich es mir gewünscht habe, dachte sie bitter. Heute, nach dem Lateinunterricht.

Nicht einmal drei Stunden war es her, seit sie sich danach gesehnt hatte, gleich in den Zug steigen und nach Hause fahren zu können. Der Wunsch wurde ihr nun erfüllt. Nur dass ihr Vater im Sterben liegen könnte, das hatte sie dabei nicht im Sinn gehabt.

Kapitel 2

Eigentlich mochte Hermine die Zugstrecke zwischen Emden und Berlin – vor allem natürlich die Fahrt in Richtung Emden. Wenn sie in den Ferien oder zu den Feiertagen nach Hause fuhr, schaute sie aus dem Fenster, ließ die Landschaft an sich vorüberziehen und suchte nach Anzeichen, dass sie sich Ostfriesland näherte. Dabei träumte sie von Pewsum – der Wiese im Garten mit blühendem Löwenzahn und den alten Apfelbäumen, dem Schotterweg, der zur Straße führte, ihren Geschwistern, die im Haus lärmten und ihren Beschäftigungen nachgingen. Und ihrem Vater, der mit seinem charakteristischen feinen Lächeln und sichtlichem Vergnügen das Treiben um sich herum betrachtete. An diesem Tag jedoch schenkte sie der Landschaft keine Beachtung. Steif und mit zusammengebissenen Zähnen saß sie auf der harten Bank in ihrem Abteil der dritten Klasse und hielt die Reisetasche mit kalten Händen fest umklammert auf den Knien. Statt Vorfreude empfand sie Furcht. Eine große, übermächtige Furcht, die alles in ihr gefrieren ließ. Die Mutter war gestorben, als sie neun Jahre alt war. Jetzt sollte auch ihr Vater gehen müssen? Nein. Das durfte nicht sein!

Hermine gegenüber saß eine korpulente Dame. Sie hatte ihren Hut auf den Schoß gelegt, lehnte an der Holzverkleidung des Waggons und schlief. Ihr Kopf bewegte sich im Rhythmus des Zuges, ohne dass es ihre Ruhe zu stören schien. Sie schnarchte sogar ein bisschen durch den geöffneten Mund. Draußen huschten die Elbauen vorbei, es folgten Wälder. Dann wurde die Landschaft zunehmend flacher und eintöniger. Gelegentlich hielt der Zug an kleinen Bahnhöfen. Die einen stiegen aus, andere stiegen zu. Die korpulente Dame gegenüber von Hermine suchte ihre Habseligkeiten zusammen und verließ das Abteil in Bremen. Ihren Platz nahm ein grauhaariger Herr ein, der sich in seine Zeitung vertiefte, kaum dass er sich gesetzt hatte. Selbst wenn er der Kaiser in Person gewesen wäre, hätte er Hermine kaum gleichgültiger sein können. Sie war in Gedanken bereits zu Hause in Pewsum. In immer schrecklicheren Bildern malte sie sich aus, was sie dort erwartete. Sie sah ihren Vater als abgemagertes Gespenst in seinem Bett liegen, schreiend und sich vor Schmerzen windend. Sie sah ihn halb wahnsinnig und ausgemergelt auf nackten Füßen durch die Flure des Hauses streifen. Sie sah ihn auf blutbesudelten Laken mit entsetzlich verdrehten Gliedern, als wäre er unter eine Kutsche geraten. Oder mit bis zur Unkenntlichkeit geschwollenem Gesicht.

Komm schnell, Vater liegt im Sterben. Damit war nicht viel anzufangen, das konnte alles bedeuten – Unfall, Fieber, ein Schlaganfall, das Herz … Nur über eines ließen diese wenigen Worte keinen Zweifel: Ihr Vater würde nicht mehr lange auf dieser Erde weilen. Bald würden sie ihn verlieren, er würde fortgehen. Sterben.

Vielleicht war er das sogar bereits? Gestorben? Tot?

Hermine verbot sich, länger darüber nachzudenken. Es führte ja zu nichts, machte sie nur noch trauriger, noch ängstlicher, noch nervöser, sie streckte den Rücken noch weiter durch, presste die Kiefer noch fester zusammen. Doch ihre Fantasie und Vorstellungskraft waren zu lebhaft. Einmal losgelassen, ließen sie sich nicht mehr in die Schranken weisen. Und so wurden Kehle und Herz immer enger, je mehr sich der Zug Emden näherte.

Und dann war es schließlich so weit.

Der Zug hielt an dem kleinen Bahnhof. Hermines Knie waren so kraftlos, dass sie beim Aussteigen beinahe auf der letzten Eisenstufe des Waggons ausgeglitten und der Länge nach auf den Bahnsteig geschlagen wäre. Das hätte ihr noch gefehlt! Mit schmutzigem Kleid, aufgeschürften Knien und einer großen Beule auf der Stirn am Sterbebett des Vaters erscheinen.

Oder an seinem Totenbett, flüsterte eine Stimme und hinterließ das Gefühl von Eiskristallen auf ihrer Haut.

Bald werde ich es wissen, dachte sie und schaute sich um, ob sie jemanden erkannte. Ihren Bruder Jacob vielleicht, einen ihrer beiden Onkel oder den Knecht. Jemand, der mit dem Wagen gekommen war, um sie abzuholen und heimzubringen, nach Pewsum in die Neue Burg, wie sie das Haus nannten, in dem die Familie Edenhuizen lebte. Nicht etwa, weil es tatsächlich eine Burg war oder Ähnlichkeit mit einer hatte, sondern weil es vis-à-vis der echten Manningaburg lag. Doch zwischen den Männern und Frauen, die den Zug verließen, zur Bahnhofshalle eilten und von ihren Angehörigen begrüßt wurden, fand sich kein vertrautes Gesicht. Nicht eines. Das Herz pochte ihr in den Ohren, und wieder schlug ihre Fantasie Kapriolen.

Ich bin zu spät gekommen, dachte sie verzweifelt, und jetzt stahlen sich sogar Tränen in ihre Augen. Ich bin zu spät. Vater ist tot. Ich habe zu lange gebraucht!

Dann fiel ihr ein, dass ihre Familie nichts von ihrer Ankunft wissen konnte. In ihrem lähmenden Entsetzen und der anschließenden Eile hatte sie völlig vergessen, ihren Geschwistern eine Depesche zu schicken und ihr Kommen anzukündigen. Woher sollten sie denn wissen, dass sie gerade eben in Emden eingetroffen war?

Sie packte den Griff ihrer Reisetasche und ging zum Bahnhofsausgang. Auf dem Vorplatz des Emdener Bahnhofs warteten meistens ein paar Droschken auf die Reisenden. Da sie aber eine Weile sinnlos auf dem Bahnsteig zugebracht hatte, waren natürlich bereits alle fort – gemietet von Menschen, die wussten, wie man sich verhielt, wenn man mit dem Zug irgendwo ankam. Hermine ärgerte sich über ihre eigene Dummheit. Warum nur hatte sie nicht daran gedacht, ihren Geschwistern die Ankunftszeit zu telegrafieren?

Ruhelos ging sie vor dem Bahnhofsgebäude auf und ab, und die Zeit, bis die nächste Droschke kam, erschien ihr länger als die ganze Fahrt von Berlin bis Emden. Im Zug hatte sie wenigstens gesehen, wie es voranging, dass sie sich ihrem Ziel näherte. Aber hier? Hier konnte sie nur die Glücklichen beobachten, die abgeholt wurden und in eigenen Wagen davonfuhren.

Als sich endlich ein Gespann dem Bahnhof näherte, sprang Hermine auf die Straße und winkte – verzweifelt und sicherlich ganz undamenhaft. Ohne ihr Zutun kam ihr die Hausdame ins Gedächtnis, die ihr Vater damals eingestellt hatte, damit sie sich nach dem Tod der Mutter um die Kinder kümmerte. Diese Hausdame war eine strenge Person gewesen, die stets auf das gute, schickliche Benehmen von Hermine und ihren drei Schwestern geachtet hatte, während die drei Brüder beinahe tun und lassen konnten, was sie wollten. Was hätte die Frau wohl gesagt, wenn sie Hermine jetzt hier vor dem Emdener Bahnhof gesehen hätte, mit schief sitzendem Hut und wild rudernden Armen? Schicklich war das wohl kaum. Wohl aber sinnvoll. Denn dieser kleine Einspänner mit dem hübschen Braunen davor, das war ihrer. Und den würde sie sich von niemandem streitig machen lassen.

»Hier! Hallo! Droschke!«

»Moin.« Der Kutscher hielt und tippte sich leicht an die Mütze. Ob er lächelte, war wegen seines struppigen Vollbarts kaum zu erkennen. Aber um die Augen zeichneten sich in seiner wettergegerbten Haut amüsierte Fältchen ab.

»Moin.« Hermine wartete nicht, bis der Kutscher vom Kutschbock stieg, um ihr mit der Tasche zu helfen, sie hob sie selbst in den Wagen und kletterte schnell hinterher. »Nach Pewsum, bitte. Zur Neuen Burg.«

»Zum Doktor?«

»Ja. Und bitte beeilen Sie sich.«

Der Kutscher nickte, schnalzte mit der Zunge und ließ das Pferd antraben.

Hermine sank auf dem harten Sitz zurück und schloss für einen Moment die Augen.

Jetzt dauerte es nicht mehr lange. Eine halbe Stunde, höchstens. Dann war sie endlich zu Hause.

Hoffentlich bin ich noch rechtzeitig. Guter Gott, ich bitte dich. Lass es nicht zu spät sein!

Kapitel 3

Das Erste, was Hermine registrierte, als der Wagen Pewsum erreichte, war die alte Manningaburg. Es war keine romantische Burg mit Erkern und Türmen, wie man sie von Bildern vom Rhein oder von der Saale kannte, sondern eine friesische Wasserburg – niedrig, mit dicken, lehmverputzten Mauern und kleinen Fensterluken. Vor vierzig oder fünfzig Jahren hatte der Großvater ihrer Mutter die Burg erworben. In der Familie Dieken hieß es, dass er ursprünglich darin wohnen wollte. Doch das alte Gemäuer war zu dunkel, zu kalt, zu zugig, und so hatte er die Neue Burg errichten lassen, ein großzügiges Gutshaus, nur einen Steinwurf von der alten Burg entfernt. Hermines Mutter Aafke war eine geborene Dieken gewesen. Dass sie ausgerechnet den armen, aber strebsamen jungen Arzt Martin Edenhuizen geheiratet hatte, war erstaunlicherweise auf Wohlwollen gestoßen in der alten friesischen Familie, deren Stammbaum bis in die Zeit der Manninga zurückreichte. Und so durfte das junge Paar die Neue Burg beziehen, die ausreichend Raum für die sieben Kinder und die Arztpraxis bot.

Der Kutscher lenkte die Droschke durch das Tor. Die Sonne stand schon tief, nicht mehr lange, dann würde es dunkel werden. Auf den Rasenflächen im großzügigen Garten bildeten Krokusse, Schneeglöckchen, Winterlinge und Märzenbecher einen zarten Teppich aus Lila, Gelb und Weiß. Ein Anblick, über den Hermine sich dieses Mal nicht freuen konnte. Sie wollte jetzt nicht hier sein. Jedenfalls nicht, um am Sterbebett ihres Vaters zu sitzen.

Das Geräusch der Pferdehufe und das Knirschen der Räder auf dem Kies mussten bis ins Haus zu hören gewesen sein. Denn kaum hatte der Kutscher das Pferd auf dem Vorplatz der Neuen Burg zum Stehen gebracht, öffnete sich auch schon die breite Eingangstür. Cornelia, Hermines ein Jahr jüngere Schwester, blieb kurz auf der Schwelle stehen, als müsste sie sich erst klar darüber werden, wer von den Leuten, auf die sie wartete, in dem Wagen saß. Dann raffte sie ihren Rock und lief die Stufen hinunter.

»Hermine!«

In diesem einen Wort schwang alles mit: Erleichterung, Hoffnung, Freude, Angst, Trauer, Einsamkeit.

Hermine drückte dem Kutscher rasch seine Münzen in die Hand. Es waren wohl ein paar mehr, als ihm eigentlich zustanden, aber sie gab ihm mit einem Nicken zu verstehen, dass es in Ordnung sei. Die Zeit war ihr zu kostbar, um auf das Wechselgeld zu warten. Er beschwerte sich nicht.

»Hermine! Wir hätten dich doch vom Bahnhof abgeholt. Aber wir wussten gar nicht, wann du kommst.«

»Weil ich vor Aufregung und Angst vergessen habe, euch zu telegrafieren.« Sie umarmte ihre Schwester, hinter ihr rollte die Droschke auf knirschendem Kies davon. »Wie geht es Vater?«

»Es ist gut, dass du jetzt da bist. Das wird es ihm leichter machen.«

Erst jetzt fielen Hermine die bleichen Wangen und dunklen Augenränder im Gesicht der Schwester auf. Für einen erschreckenden Moment dachte sie an eine tödliche Seuche, von der die Familie Edenhuizen heimgesucht wurde und an der nun auch ihre Schwester litt. Ubbo fiel ihr ein, ihr älterer Bruder. Er war an Kehlkopftuberkulose gestorben, als sie sechzehn gewesen war. Dass Tuberkulose in manchen Familien schrecklich wütete, war allgemein bekannt. Hatte diese tödliche Krankheit all die Jahre nur geschlummert?

»Es geht mit ihm zu Ende, Hermine. Der Arzt sagte gestern, es wäre ein Wunder, wenn Vater diese Woche überlebt. Deshalb hat Jacob dir auch gleich telegrafiert.« Cornelia lehnte ihren Kopf kurz an Hermines Schulter, so wie sie es früher getan hatte, wenn sie ihr Herz bei ihr ausgeschüttet und ihren Trost und Zuspruch gebraucht hatte. »Ich bin so froh, dich zu sehen!«

»Ja. Ich bin jetzt hier.« Hermine gab ihrer Schwester einen Kuss auf die Stirn. »Lass uns hineingehen. Ich lege nur ab und wasche mir rasch die Hände, dann gehe ich zu Vater.«

Cornelia nickte und wischte sich die Augen mit ihrem Schürzenzipfel trocken.

»Er liegt oben in seinem Zimmer. Es ist immer einer von uns an seinem Bett. Jetzt ist Jacob gerade bei ihm.«

Die zehn Stufen, die zum Hauseingang führten, waren Hermine noch nie so steil vorgekommen, und ihre Reisetasche schien mit jeder Treppenstufe mehr zu wiegen.

In der geräumigen Eingangshalle umgab sie Stille. Nur die Standuhr in der Halle tickte gleichmäßig. Das schwere Pendel schwang hin und her, hin und her. Doch das vertraute Geräusch spendete keinen Trost. Im Gegenteil. Es war die Drohung, dass mit jedem Schlag, mit jedem Ausholen des Pendels, oben in seinem Schlafzimmer die Lebenszeit ihres Vaters verrann. Unausweichlich.

»Geh zu ihm. Ich bin in der Küche und mache uns etwas zu essen.«

Hermine schüttelte den Kopf.

»Ich habe keinen Hunger, Cornelia.«

»Ich weiß. Wir essen alle kaum etwas in diesen Tagen. Doch mir hilft die Arbeit. Kartoffeln schälen und Zwiebeln schneiden wird Vater nicht mehr retten können. Mich lenkt es ab. Wenigstens ein bisschen.«

Cornelia verschwand in der Küche. Hermine stieg die Treppe in den ersten Stock hinauf und ging den Flur entlang zu ihrem Zimmer. An den Wänden hingen die altbekannten Bilder – das Aquarell einer Warft, die Karte der Krummhörn, ein Ölbild der sturmgepeitschten Nordsee. Sie hingen an denselben Nägeln, an denen sie immer gehangen hatten. Hermine konnte sich nicht einmal daran erinnern, dass sie sie jemals eingehend betrachtet hatte. Warum fielen sie ihr dann jetzt auf? Sie schloss die Tür hinter sich und lehnte sich kurz gegen das schwere Eichenholz. In ihrem Zimmer erkannte sie die Handschrift ihrer ältesten Schwester Gesine: Alles sah genauso aus, als wäre sie nicht einen Tag fort gewesen – das Bett war frisch bezogen, kein Stäubchen lag auf der polierten Truhe und den gedrechselten Knäufen des Bettes. Alles war für sie vorbereitet, so als hätte Gesine genau gewusst, dass sie heute nach Hause kommen würde.

Hermine stellte ihre Reisetasche auf den Tisch, der ihr als Schreibtisch diente. Auspacken würde sie später, zur Nacht oder sogar erst morgen. Das war nicht wichtig. Nicht in diesem Moment. Jetzt musste sie zu ihrem Vater. Solange es ihr noch möglich war, zu ihm zu gehen.

Auf der Kommode standen die Waschschüssel und ein Krug mit frischem Wasser bereit. Es war dieselbe Waschschüssel, die schon immer in ihrem Zimmer gestanden hatte. Das zunehmend blasser werdende Blumenmuster, rosa Rosen und Vergissmeinnicht, der feine Riss, der sich auf dem Boden der Schüssel durch die Glasur zog, die abgeschlagenen Stellen am Rand. Sie waren alte Bekannte, so wie das Haus und der Garten, die Bilder im Flur und der Ausblick auf die Manningaburg. Hermine wusch sich Gesicht und Hände mit dem klaren, kalten Wasser, sorgfältig trocknete sie sich ab. Das Leinen des Handtuchs war rau und duftete nach Seifenflocken, Salzwiesen und frischer Seeluft. Friesisch, und vertraut wie die Waschschüssel. Oder die Stimme ihres Vaters, die ihr einschärfte, ein Krankenzimmer nur mit sauberen, frisch gewaschenen Händen zu betreten.

Bloß der Gedanke, dass es das Krankenzimmer ihres Vaters war, das sie aufsuchen wollte, war alles andere als vertraut. Dieser Gedanke war fremd, ungewollt und unwirklich. Wie konnte ihr Vater, der schon immer da gewesen war, der sich nach dem frühen Tod der Mutter um sie alle gekümmert hatte, an jedem einzelnen Tag, wie konnte er jetzt im Sterben liegen? Ihr Herz begann zu rasen, und ihr wurde übel. Der Wunsch, einfach wie früher nach draußen in den Garten zu laufen und sich in der Krone des Apfelbaums an der Hecke zu verstecken, bis das Übel wieder abgezogen war, wurde stark. Doch sie war kein Kind mehr, schon lange nicht mehr. Mit beinahe vierundzwanzig konnte man nicht einfach davonlaufen und sich verstecken. Sie musste sich dem Unvermeidlichen stellen. Ihr Vater brauchte sie, ihre Anwesenheit, ihren Trost – und ihre Geschwister ebenso. Jetzt war nicht die Zeit, an sich selbst zu denken und zu trauern. Die würde noch kommen. Vielleicht sogar viel schneller, als sie fürchtete.

 

Die Tür am anderen Ende des Flurs quietschte leise in den Angeln, als Hermine sie öffnete. Die sauber gescheuerten Dielen auf der Schwelle knarrten. So, wie sie es immer taten, wenn sie zu ihrem Vater wollte – um ihm etwas zu erzählen, eine Frage zu stellen oder ihn um etwas zu bitten. Dunkel konnte sie sich an die Zeit erinnern, als sie sich noch auf die Zehenspitzen stellen musste, um die Klinke zu erreichen. Und ganz gleich, ob ihr Vater an der Waschschüssel stand, um sich zu rasieren, ob er Kragen und Manschetten anlegte oder gerade aufstand – stets wandte er ihr sein Gesicht zu, lächelte und fragte: »Na, mien Deern? Was gibt es?«

An diesem Tag empfingen sie weder das Lächeln noch die freundliche Stimme ihres Vaters. Das Licht im Zimmer war gedämpft, die Vorhänge zugezogen und die Lampen heruntergedreht, sodass ihr Schein nicht blendete. Gesine hatte sich auch hier alle erdenkliche Mühe gegeben, geputzt und gelüftet und sogar einen kleinen Strauß Schneeglöckchen und Krokusse auf den Waschtisch gestellt. Dennoch roch es nach Krankheit. Und nach dem, der bereits am Fußende des Bettes stand und geduldig auf seinen Moment wartete – dem Tod.

Leise schloss Hermine die Tür hinter sich. Jacob, ihr jüngerer Bruder, saß in einem Lehnstuhl nahe beim Bett. Beim Knarren der Dielen schaute er auf. Zu Weihnachten hatte sie ihn zuletzt gesehen. Da hatte er noch das frische, gesunde Aussehen eines einundzwanzigjährigen Studenten gehabt. Jetzt, kaum zweieinhalb Monate später, schien er um viele Jahre gealtert. Sein Gesicht war bleich und abgehärmt, so wie sie es auch bei Cornelia gesehen hatte. Wieder dachte Hermine an eine ansteckende Krankheit. Doch als er sie erkannte, lächelte er. Es war zwar ein trauriges Lächeln. Doch für einen Moment sah er dadurch wieder deutlich jünger aus.

»Hermine!«

Sie ergriff seine Hand und drückte sie.

»Ich bin so schnell gekommen, wie es möglich war.«

»Das ist gut.« Er erwiderte ihren Händedruck, dann erhob er sich aus dem Sessel. »Setz dich.«

»Was ist passiert?«

»Ein Schlaganfall«, flüsterte ihr Bruder. »Es hat ihn wohl morgens getroffen, beim Aufstehen. Gesine hat sich gewundert, dass er nicht zum Frühstück erschienen ist, und hat ihn dann gefunden, hier, vor seinem Bett auf dem Boden liegend. Er trug noch sein Nachthemd, keine Hausschuhe. Er konnte sich nicht mehr rühren. Wir haben ihn dann ins Bett gehoben und einen Arzt holen lassen. Das war vorgestern.«

»Vorgestern? Und warum habt ihr mir nicht gleich telegrafiert?«

»Weil es bisher noch nicht so schlimm aussah. Er konnte sprechen, wenn auch mühsam, konnte Arme und Beine wenigstens etwas bewegen. Er hat sogar noch gelächelt. Aber gestern Nachmittag ist irgendwas passiert, vielleicht hatte er einen zweiten Schlaganfall. Jedenfalls wird er jetzt sehr schnell schwächer.« Jacob schüttelte langsam den Kopf. »Mittlerweile schläft er fast nur noch. Und wenn er wach ist, liegt er nur da und schaut an die Decke. Oder auf das Bild von Mutter.« Er deutete auf eine kleine gerahmte Fotografie, die auf dem Nachtschrank lag. »Gestern früh hat er uns noch gesagt, dass er unbedingt mit dir reden möchte, dass es aber noch bis zum Wochenende Zeit habe und wir dich nicht aus Berlin fortreißen sollten. Doch mittlerweile spricht er nicht mehr. Und ob er noch einen von uns erkennt? Manchmal scheint es so, dann wieder wirken seine Augen trübe. Lange wird es wohl nicht mehr dauern.« Jacob seufzte schwer.

»Hat er Schmerzen?«

»Nein.«

»Gott sei Dank!« Mit Schaudern dachte Hermine an Ubbos Tod. Sie hatte in seinen letzten Tagen bei ihrem Bruder ausgeharrt und ihn gepflegt: ihm die Stirn gekühlt, das Gesicht gestreichelt und immer wieder das bisschen an Wasser und lauwarmer Brühe eingeflößt, das er noch schlucken konnte – und selbst das nur unter stärksten Schmerzen. Sein qualvolles Stöhnen verfolgte sie bis jetzt in ihren Albträumen. Gott sei Dank, dass ihrem Vater solch eine Qual erspart wurde!

Sie ließ sich auf der Kante des Ohrensessels nieder. Wie oft hatte sie ihren Vater am Abend beim Schein einer Petroleumlampe in diesem Sessel sitzen und lesen sehen? Meist waren es Zeitungen oder Fachliteratur über die neuesten Errungenschaften der modernen Medizin. Aber auch Romane und Gedichtbände von Heinrich Heine, Theodor Storm und Fritz Reuter, philosophische oder theologische Werke hatte er gern gelesen. Mittlerweile war Hermine sicher, dass sie von ihm ihren Wissensdurst und die Leseleidenschaft geerbt hatte. Den unstillbaren Wunsch, zu lernen.

Sie nahm seine Hand und umschloss sie mit den ihren. Sie fühlte sich schlaff an, kraftlos und mager, als wären alle Muskeln verschwunden und die Finger nur noch mit Haut überzogen. Wie zarte Vogelknochen, so empfand sie die Hand ihres Vaters, und selbst die Haut erschien ihr seltsam dünn und brüchig. Als ob er einfach verschwinden würde.

Während der Zugfahrt hatte sie sich einzureden versucht, dass das Telegramm lediglich ein übler Scherz eines ihrer Brüder sei, mit dem man sie aus Berlin weglocken wollte – obwohl sie weder Jacob noch Bernhard so eine Geschmacklosigkeit zutraute. Jetzt konnte sie sich nichts mehr vormachen.

Es geht wirklich zu Ende mit Vater. Dabei haben wir doch noch miteinander gesprochen an Neujahr – über meine Pläne, die Zukunft, den Arztberuf!

Hermine schluckte gegen das enge Gefühl in ihrem Hals an, ihre Augen brannten.

In diesem Moment bewegte sich ihr Vater unter der Decke, ganz schwach. Langsam wandte er den Kopf, dann öffnete er die Augen und sah sie an. Und für einen kurzen, unglaublich kostbaren Augenblick hatte Hermine den Eindruck, dass er sie erkannte. Es war kaum mehr als ein leichtes Heben eines Mundwinkels, aber sein eingefallenes, bleiches Gesicht nahm dadurch einen Ausdruck an, in dem sie ihren Vater endlich wiedererkannte – er lächelte.

Kapitel 4

Eine stille, unendlich kostbare Stunde saß Hermine allein am Bett ihres Vaters. Dann erst öffnete sich die Tür. Jacob. Nahezu lautlos trat er neben sie. Ihr Bruder war ein großer Mann, schlank, aber mit breiten Schultern und kräftigen Händen, von denen ihr Vater immer gesagt hatte, dass sie sich ausgezeichnet eignen würden, um später als Chirurg Knochen zu richten. Wie konnte sich so ein Mann so leise bewegen?

Er legte ihr eine Hand auf die Schulter.

»Vater schläft?«

Hermine nickte. »Er war kurz bei Bewusstsein, hat aber nicht gesprochen.«

»Dafür ist er wohl zu schwach.«

»Er hat mich erkannt, Jacob!«

Sie spürte das Gewicht seiner Hand, er drückte ihre Schulter, dass es wehtat. Sie wollte schon protestieren, da erkannte sie das verräterische Schimmern in den Augen ihres Bruders. Trauer und Schmerz. Jeder zeigte sie auf seine eigene Weise.

»Das Essen ist fertig. Geh runter, die anderen warten auf dich.«

»Und was ist mit dir?«

»Ich habe schon gegessen.«

Hermine erhob sich.

»Ich löse dich gleich wieder ab.«

»Nein, das brauchst du nicht. Ich …«

»Ich weiß. Aber ich möchte so viel Zeit wie möglich an Vaters Seite verbringen.«

Mühsam hielt sie ihre Tränen zurück. Das hätte keinem von ihnen geholfen, am wenigsten ihrem Vater, der still unter seiner Decke lag und so flach atmete, dass man die Bewegung seines Brustkorbs nur ahnen konnte. Hatte er wirklich das Bewusstsein verloren? Oder hörte er alles, was um ihn herum vorging, und war lediglich zu schwach, die Augen zu öffnen und sich am Gespräch zu beteiligen? Wie würde sie selbst es empfinden, im Bett zu liegen und alle um einen herum weinten und redeten, als wäre man bereits tot?

»Wie du willst.« Jacob nickte, dann nahm er den Platz in dem Lehnstuhl wieder so ein, wie Hermine ihn eine Stunde zuvor angetroffen hatte. Als erinnerten sich seine Muskeln und Gelenke genau an ihre vorherige Stellung.

 

Im Esszimmer war es so still, dass Hermine überrascht war, als sie die Tür öffnete und ihre Geschwister versammelt am Tisch sitzen sah. Es waren nicht alle Stühle besetzt: Natürlich war Jacobs Platz frei und ihr eigener, an dem sie saß, seit sie denken konnte. Ebenso der Stuhl ihrer Mutter, der nach ihrem Tod frei geblieben war, und auch Ubbos Stuhl, der des Bruders, der mit neunzehn gestorben war. Und der Platz ihres Vaters.

Hermine ging einmal um den Tisch herum und begrüßte jeden mit Handschlag – ihre Schwestern Cornelia, Gesine und Helene und den jüngsten Bruder Bernhard, der in diesem Sommer am Gymnasium in Emden sein Abitur ablegen würde. Alle waren sie bleich und eingefallen, so als hätte die Krankheit des Vaters auch ihnen innerhalb kürzester Zeit die Lebenskraft aus den Körpern gesaugt.

Kein Lachen, kein »Wie geht es«, »Schön, dich zu sehen« oder »Was gibt es Neues aus Berlin«. Stattdessen Schweigen. Stille. Nur die Uhr auf dem Anrichtetisch, der vermutlich so alt war wie das Haus selbst und seinen Platz seither höchstens für den Frühjahrsputz verlassen hatte, tickte. Laut und unbarmherzig.

Hermine setzte sich und faltete sorgfältig ihre Serviette auseinander. So konnte sie das Essen noch ein bisschen hinauszögern.

»Helene, reich Hermine doch mal die Kartoffeln«, sagte Gesine mit einem tadelnden Blick auf die Jüngste von ihnen. »Es gibt leider nur Mehlstippe. Hätten wir gewusst, dass du zum Abendessen kommst, hätte Cornelia bestimmt …«

»Das macht gar nichts.« Hermine nahm Helene die Schüssel aus der Hand und legte sich drei kleine Kartoffeln auf den Teller. »Um ehrlich zu sein, bin ich nicht besonders hungrig.«

Die Kartoffeln waren nur noch lauwarm, die Mehlstippe fast kalt. In der leicht gebräunten Soße schwammen noch Klümpchen, außerdem war sie kaum gesalzen. Ein sicheres Zeichen für die schlechte Verfassung ihrer Schwester, Cornelia war eine ausgezeichnete Köchin.

Aber ihr Vater hatte ja auch noch nie im Sterben gelegen. Da waren solche Missgeschicke verständlich, verzeihlich. Und vor allem menschlich.

Wenn ich gekocht hätte, wären die Kartoffeln zu Brei zerkocht und die Stippe angebrannt, dachte Hermine.

»Kommt der Arzt heute noch?« Ihre Stimme klang so laut in der Stille, dass Cornelia erschrocken zusammenzuckte und Helene sogar ihre Gabel fallen ließ. Klirrend schlug sie erst gegen den Teller und dann auf den Dielen auf.

Wir sind eine nervöse Familie, sagt Vater immer, dachte Hermine. Er hat wohl recht.

Sie hob die Gabel vom Boden auf und legte sie neben Helenes Teller. Die Sechzehnjährige schaute sie mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen an und wrang dabei ihre Serviette wie einen nassen Lappen.

»Wann kommt der Arzt, um nach Vater zu sehen?«, wiederholte sie ihre Frage.

»Morgen früh«, antwortete Gesine, erhob sich und stellte die benutzten, noch nicht einmal halb geleerten Teller zusammen. »Die letzten Tage war Herr Doktor Stievenhörn immer gegen sieben Uhr morgens hier, noch vor seiner Sprechstunde. Er besucht zuerst Vater, dann kümmert er sich eine Stunde lang um Vaters Patienten.«

»Doktor Stievenhörn?« Hermine traute ihren Ohren kaum. »Doktor Stievenhörn ist Arzt für Frauenheilkunde! Er ist doch ganz gewiss nicht der Richtige, um Vater zu behandeln.«

»Das mag wohl sein. Aber wir tun hier alles, was wir können.« Gesine stellte den Salznapf auf eine Schale auf dem Anrichtetisch. In dieser Bewegung lag so viel Trotz und Verärgerung, dass ihre gestärkten Kleider raschelten. »Immerhin ist Doktor Stievenhörn da, er ist der einzige Arzt. Wir sind hier in Pewsum, Hermine. Nicht im mondänen Berlin.«

Hermine biss sich auf die Lippe. Sie hatten genug, worum sie sich sorgen mussten, sie wollte nicht auch noch einen Streit mit der Schwester beginnen. Außerdem hatte Gesine recht. In Berlin gab es zahlreiche niedergelassene Ärzte jeder Fachrichtung. Es gab etliche Krankenhäuser, es gab die Charité. Darüber hatte sie beinahe vergessen, wie es in der Krummhörn zuging. Hier kümmerte sich ein einziger Arzt um alle Bewohner – und das war bis vor Kurzem ihr Vater gewesen.

»Du hast recht, Gesine. Ich darf unser Pewsum nicht mit Berlin vergleichen«, sagte sie versöhnlich. »Ich weiß, dass ihr für Vater alles tut, was in eurer Macht steht. Und ich wünschte mir, ich selbst könnte mehr für ihn tun«, fügte sie mit einem tiefen Seufzer hinzu. »Viel mehr. Wenn ich bereits Ärztin wäre …«

Gesine lächelte traurig und liebevoll zugleich.

»Du gibst nicht auf, nicht wahr? ’n Natur as ’n Dackpann.«

»So ist das wohl«, sagte Hermine und lächelte. »Und ich werde bei meinem Vorsatz bleiben. Ich habe es Vater versprochen.«

Kapitel 5

Drei Tage nach ihrer Ankunft in Pewsum war es so weit.

Die meiste Zeit über saß Hermine in dem Lehnstuhl am Bett ihres Vaters, ganz dicht bei ihm, und verließ ihren Posten nur zum Austreten oder für die kurzen Mahlzeiten, deren Geschmack sie kaum wahrnahm. Oft kam eines ihrer Geschwister dazu – meistens war es Jacob, hin und wieder Helene oder Bernhard. Gesine kam selten und blieb in der Regel nur so lange, wie sie brauchte, um ein Laken glatt zu streichen, das Wasser in der Schüssel auf dem Nachtschrank zu wechseln oder Staub zu wischen.

Während dieser Tage fragte Hermine sich oft, ob sie ihre Geschwister vom Krankenbett des Vaters vertrieben hatte, ihr Gewissen plagte sie deswegen. Doch als sie mit Jacob darüber sprach, versicherte er ihr, dass sie alle dankbar seien für ihre Wache, wüssten sie doch ihren Vater in guten Händen und könnten nun endlich wieder ihrem Tagewerk nachgehen. Allerdings fiel es ihr schwer, ihrem Bruder zu glauben, und im Stillen dankte sie ihren Geschwistern für diese liebevolle Rücksichtnahme.

Manchmal nahm sie die Hand ihres Vaters und streichelte vorsichtig seinen Handrücken. Manchmal erzählte sie ihm, was sie vom Fenster seines Zimmers aus sah. Dann sprach sie leise vom Wind, der die Wolken vor sich hertrieb, den Möwen, die am Himmel kreisten, den blühenden Krokussen und Märzenbechern im Garten. Oder den Erinnerungen. Wie sie sich einst mit Ubbo in die alte, leer stehende Manningaburg geschlichen hatte. Sie selbst war damals kaum älter als zehn gewesen. Es war spannend und ein bisschen gruselig gewesen, wie das alte Deckengebälk geknarrt hatte, als ob da oben ein Kobold säße und sie auslachte. Und dann war es so dunkel geworden, dass sie den Weg hinaus nicht mehr gefunden hatten und zusammengekauert in der Ecke eines Raumes hockten, bis ihr Vater mit einer Laterne gekommen war und sie wieder nach Hause gebracht hatte. Manchmal las sie ihm auch einen Artikel aus der Tageszeitung oder dem Ärzteblatt vor. Gelegentlich fiel sie in einen kurzen Schlaf, und einmal wachte sie auf und fand eine Decke über ihre Knie gebreitet. Meistens aber saß sie einfach nur da und betrachtete das Gesicht ihres Vaters. Und während sie an die unzähligen Begebenheiten dachte, die sie mit ihm erlebt hatte – Augenblicke im Garten, am Esstisch, Gespräche – kam es ihr vor, als würde dieses vertraute und geliebte Gesicht unter ihrem Blick immer schmaler, blasser und durchsichtiger, als würde er vor ihren Augen einfach dahinschwinden. Seine Hände und Wangen waren seltsam kühl. Es fehlte ihnen die Wärme, die ihren Vater so ausgezeichnet hatte. Und mit Erschrecken stellte sie fest, dass sie sich schon jetzt kaum noch an seine Stimme erinnern konnte.

Es war früher Abend, als Hermine aus einem kurzen Schlaf hochschreckte. Das Blut pochte in ihren Ohren, und sie hatte plötzlich Angst, den Tod ihres Vaters versäumt zu haben. Sie beugte sich vor, nahm seine Hand, lauschte auf seinen Atem.

Da. Ein Atemzug! Schwach zwar, aber er lebte noch. Sie hatte ihn nicht allein gelassen, wie die Jünger den Herrn in der Ölbergstunde. Hermine war so erleichtert, dass ihr Tränen in die Augen traten.

»Ich bin hier, Vater«, flüsterte sie. »Ich bin hier.«

Als wollte er ihr antworten, hob sich sein magerer, eingefallener Brustkorb in einem Atemzug. Es klang wie ein Seufzer. Danach nichts mehr. Stille.

Hermine wartete, zählte das Ticken der Uhr. Fünf, sechs … zehn, elf …

Nichts.

Bei dreißig angekommen erhob sie sich aus dem Lehnstuhl. Zögernd beugte sie sich über ihren Vater. Sie legte ihm behutsam eine Hand auf den Brustkorb, prüfte seinen Puls an Hals und Handgelenken, so, wie sie es ihn bestimmt hundert oder viel eher tausend Male in seiner Praxis hatte tun sehen.

Nichts. Sie konnte förmlich spüren, wie nun, wo das Herz seine Arbeit endgültig niedergelegt hatte und das Blut nicht mehr durch die Adern pumpte, auch der letzte Rest von Wärme aus seinem Körper entwich.

Sie sank auf den Lehnstuhl zurück. Und mit einer Schwere, die sich anfühlte wie die Bleigewichte der Getreidehändler in Emden, wurde Hermine bewusst, dass ihr Vater eben gestorben war.

Es dauerte, bis sie sich so weit gesammelt hatte, dass sie aufstehen und das Zimmer ihres Vaters verlassen konnte. Den Raum, der sich von einem Moment zum nächsten von einem Sterbe- in ein Totenzimmer verwandelt hatte.

Ich muss den anderen Bescheid sagen, dachte sie und stemmte sich mühsam hoch. Die Schritte zur Tür kamen ihr schwer und ungelenk vor, langsamer als sonst. Aber vielleicht täuschte sie sich auch.

Im Haus war es still. Die große Standuhr tickte ihren unbarmherzigen Rhythmus, in der Küche klapperte leise Geschirr.

Hermine öffnete die Küchentür und blieb auf der Schwelle stehen. Gesine wandte sich zu ihr um. Es waren keine Worte nötig. Der Schwester glitt das Geschirr aus den Händen, das sie gerade in den Schrank räumen wollte. Klirrend zerbarsten die Teller auf dem Küchenboden, die Scherben spritzten zu allen Seiten und verteilten sich in der ganzen Küche. Dann taumelte sie Hermine entgegen.

Sie umarmten sich, hielten sich aneinander fest und brachen in Tränen aus.

»Wir müssen den anderen erzählen, dass Vater …«, Hermine verlor die Kontrolle über ihre Stimme.

Gesine nickte und schluchzte auf.

»Dann gehen wir es an.« Hermine löste sich aus Gesines Umarmung und wischte sich mit beiden Händen die Tränen von den Wangen. »Ich werde Jacob und die anderen suchen. Du gehst bitte hoch zu Vater. Er sollte nicht allein sein.«

Ihre Schwester nickte und wischte sich mit dem Schürzenzipfel über die Augen. Sie sah müde aus, erschöpft und eingefallen. Die tagelange Sorge um ihren Vater schien sie mehr Kraft gekostet zu haben, als sie zugeben wollte. Hermine küsste sie sanft auf die Stirn.

»Geh jetzt. Ich suche zuerst Jacob.«

»Er muss Pastor Beeck Bescheid geben. Und dem Bestatter.«

»Wir werden den Knecht losschicken.«

»Ja. Ja, das ist eine gute Idee.« Gesine nickte, rührte sich aber nicht, sondern knetete ihre Schürze wie einen Putzlappen, den sie auswringen wollte.

Stand Gesine so unter Schock, dass sie zu keinem Gedanken mehr fähig war? Sollte sie ihre Schwester nach oben zum Zimmer des Vaters bringen? Sanft legte sie ihr eine Hand auf die Schulter.

»Gesine?« Die Augen der Schwester schauten sie an – groß und voller Kummer und Entsetzen. »Geh zu Vater. Ich komme gleich mit den anderen nach.«

»Ja.« Endlich konnte Gesine sich aus ihrer Erstarrung lösen und eilte aus der Küche.

Hermine lauschte einen Augenblick ihren Schritten auf der Treppe, dann ging sie in die Halle zur Standuhr und hielt das schwere Pendel an. Die Lebenszeit ihres Vaters war ausgezählt. Jetzt war es wirklich still in der Neuen Burg.

Totenstill.

Und wenn die anderen ins Haus kamen, würden sie sofort wissen, was geschehen war.

Kapitel 6

Die letzte Zigarette zu Ehren des Verstorbenen war geraucht, der letzte Branntwein getrunken. Die Trauergäste waren gegangen und die Gläser und Tassen abgewaschen. Es war still geworden im Haus. Bedrückend still. Und obwohl Dr. Martin Edenhuizen bereits vor drei Tagen gestorben war, fühlte Hermine erst jetzt die Lücke, die sein Tod hinterließ. Erst jetzt, wo er nicht mehr aufgebahrt auf seinem Bett lag, wurde ihr bewusst, dass das Fuhrwerk des Bestatters an diesem Vormittag nicht nur einen leeren Sarg zum Friedhof neben der Nikolaikirche in Pewsum gebracht hatte. Ihr Vater war fort. Und er würde auch nicht zurückkehren, wie von einem seiner regelmäßigen Abendspaziergänge. Nie mehr.

Während Gesine und Cornelia den Salon lüfteten, Stühle wieder an ihre Plätze rückten und die Kissen aufschüttelten, die die Trauergäste beim Sitzen auf dem Sofa zerdrückt hatten, stahl Hermine sich davon. Die letzten drei Tage hatten sich die Leute die Klinke in die Hand gegeben. Alle, die in Pewsum und Umgebung Rang und Namen hatten, waren zum Kondolieren gekommen: Pastor Beeck, der die Familie Edenhuizen schon lange durch alle Höhen und Tiefen begleitete – von den Taufen und Konfirmationen der Kinder bis zu den Beerdigungen von Aafke Edenhuizen, dem neunzehnjährigen Ubbo und den beiden Geschwistern, die noch im frühen Säuglingsalter gestorben waren. Der Bürgermeister war erschienen, die Kaufleute, die Handwerker, die wohlhabenden Bauern der Gegend. Ihre Frauen hatten Kuchen, Gebäck und Tee gebracht und mitgeholfen, die Teetafel für die Bewirtung der Gäste nach der Beisetzung vorzubereiten. Drei Tage lang hatte eine wimmelnde Betriebsamkeit das Haus beherrscht. Und als ihr Vater zu seiner letzten Ruhestätte in der Familiengruft gebracht worden war, waren ganz Pewsum und ein Großteil der Bewohner der Krummhörn auf dem Friedhof gewesen. Jetzt brauchte sie Zeit für sich. Zeit, um sich von ihrem Vater zu verabschieden. In aller Stille und auf ihre ganz eigene Art.

Von oben, aus seinem Schlafzimmer, hörte sie die Stimmen ihrer Brüder. Doch es gab noch einen anderen Ort, an dem sie ihrem Vater nahe sein konnte – in seiner Praxis.

Die Praxisräume befanden sich in einem Seitenflügel des Hauses. Es gab zwei Zugänge: Der erste, den die Patienten benutzten, führte hinaus auf den Hof, wo auch Kutschen vorfahren konnten. Der zweite verband die Praxis mit dem Haus, damit ihr Vater ohne Hut und Mantel vom Esstisch direkt zu seiner Wirkungsstätte gehen konnte.

Als Hermine diese Tür öffnete, schlug ihr der Geruch von Karbolsäure, Verbandsmull und medizinischem Alkohol entgegen. Ein vertrauter Geruch, der ihrem Vater stets angehaftet hatte wie eine zweite Haut.

Leise schloss sie die Tür hinter sich.

Die Praxis sah genauso aus, wie ihr Vater sie an seinem letzten Arbeitstag verlassen hatte: Auf seinem Schreibtisch lag ein Stapel mit Patientenkarten, seine Brille – die Bügel sorgfältig zusammengeklappt – und sein Füllfederhalter parallel ausgerichtet daneben. Die Untersuchungsliege war frisch bezogen, die Instrumente und Spritzen glänzten im Licht der Abendsonne, die durch das Fenster schien. An dem Kleiderständer hinter der Tür hing sein Kittel, und aus der rechten Kitteltasche ragte sogar noch der Griff des Reflexhammers heraus. An jenem Abend vor zwei Wochen hatte ihr Vater, nachdem der letzte Patient gegangen war, wie gewöhnlich die Patientenkarten für den folgenden Tag zurechtgelegt, seinen Kittel aufgehängt, das Licht gelöscht und war gegangen, ohne zu ahnen, dass er nicht mehr zurückkehren würde.

Hermine nahm den Kittel vom Haken und vergrub ihr Gesicht in dem weißen, gestärkten Leinen. Der Stoff roch nach Karbolsäure und den Tinkturen, die ihr Vater gern gegen Hautausschläge und für die Wundversorgung verwendete. Aber sie nahm auch noch andere Gerüche darin wahr, die sie ebenso mit ihm in Verbindung brachte – den Duft von Pfeifentabak, Zigaretten und der englischen Rasierseife, die er so gern mochte und die Kaufmann Hinrichs eigens für ihn aus Hamburg liefern ließ. Jetzt würde Herr Hinrichs keine Rasierseife mehr in Hamburg bestellen, und ihr Vater würde sie nicht mehr benutzen. Nie wieder.

Ende der Leseprobe