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Ein entspannter Tag in der australischen Kleinstadt Hopetoun endet für die Geschwister Charlene und Joshua in einem Albtraum: Charlene kehrt vom Spielen am See nicht nach Hause zurück und Joshua verstummt nach dem Grauen, das er dort mitansehen musste. Niemand erfährt, was wirklich an jenem Tag passiert ist. Mit der Zeit gerät der Fall in Vergessenheit. Knapp 20 Jahre später verschwindet erneut ein Mädchen am See. Die Polizistin Nora Bennett wird in der Hoffnung nach Hopetoun geschickt, das Mädchen lebendig zu finden. Nora stößt bei ihren Ermittlungen auf Parallelen zwischen damals und heute – und eine Menge Menschen, die offenbar kein Interesse daran haben, dass der Fall aufgeklärt wird. Zunehmend zeigen die Bewohner ihr das wahre, düstere Gesicht des Ortes. Unbeirrt und von einer Frage besessen forscht Nora weiter: Was ist mit den Kindern passiert?
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Veröffentlichungsjahr: 2020
Inhaltsverzeichnis
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Impressum
1996
Die Sonne brannte von einem wolkenlosen Himmel herab und brachte die Luft über dem Asphalt zum Flirren. Von der gegenüberliegenden Straßenseite aus betrachtet wirkte die St. Augustine’s Church unförmig und verschwommen. Es schien fast so, als wäre sie gar nicht da. Der linke große Türflügel der Kirche klemmte. Reverend Collingwood war erst in der Lage, ihn zu öffnen, nachdem er ein paar Mal kräftig daran gerüttelt hatte. Durch die jetzt im September allmählich steigenden Temperaturen hatte sich das Holz ausgedehnt und blockierte den Rahmen. Collingwood würde dem Gemeindemitglied und Schreiner Bill Nagel heute Abend einen kleinen Besuch abstatten und ihn darum bitten, das Problem zu beheben. Glücklicherweise machte der rechte Türflügel keine Schwierigkeiten.
Für den Termin der heiligen Beichte jeden Dienstagnachmittag legte der Reverend besonderen Wert darauf, dass die Kirchentür weit geöffnet war und einen einladenden Eindruck für alle Gemeindemitglieder vermittelte. Die Beichttermine in dem kleinen Dorf Beulah waren schlecht besucht, obwohl viele seiner Schäfchen durchaus häufiger einen Grund gehabt hätten, Buße zu tun, wie er fand. Alkoholismus, Ehebruch, Gewalt in der Familie und unzüchtiges Verhalten unter Teenagern, das alles war hier in der Einöde Victorias an der Tagesordnung. Trotz der Herausforderungen mochte Collingwood seine Aufgabe. Zwar hatte er sich zuerst über seine Abberufung aus der lebendigen Metropole Melbourne durch den Erzbischof geärgert, doch nun, etwa zwei Jahre später, war er mit der hiesigen Bevölkerung warm geworden. Und das bezog sich nicht nur auf den katholischen Teil. Die Leute hier mochten ihn sogar sehr gern, wie er nicht ohne Stolz feststellte. Manchmal kamen die Menschen selbst aus den umliegenden Dörfern zu seinen Gottesdiensten. Es war seine lockere, unkonventionelle Art und die Bereitschaft, die festgetretenen Pfade des Katholizismus hin und wieder zu verlassen, die ihn so beliebt machte. Hier, am langweiligsten Ort der Welt, war es vielleicht das Außergewöhnliche, die Abwechslung, was die Menschen liebten.
Collingwood durchquerte die Kirche und ging geradewegs in die Sakristei, die sich hinter einer schmalen Tür neben dem Altarraum befand. Hier wurde nicht nur alles aufbewahrt, was er für den Gottesdienst benötigte, Collingwood benutzte den Raum auch als seine persönliche kleine Abstellkammer, da er zu Hause nicht sehr viel Platz hatte. Jetzt nahm er sein schwarzes Jackett von einem Kleiderbügel, zog es an und zupfte es zurecht. Der Reverend trug entgegen der von der Kirche festgelegten Kleiderordnung in der Gemeinde für gewöhnlich ein T-Shirt. Denn hier, fernab jeglicher Kontrolle, hielt er es für vertretbar, die strengen Konventionen etwas liberaler auszulegen. Eine Ausnahme bildeten die Beichttermine, bei denen er sein Jackett bevorzugte, um den Sündern als würdiger Vertreter Gottes mit einer gewissen Autorität entgegenzutreten.
Collingwood schaute auf die Uhr. Es war Zeit, die Bußwilligen zu empfangen, wenn denn jemand auftauchte. Collingwood ging zurück in die Kirche und setzte sich in die vorderste Bank, um während der Wartezeit ein wenig in sich zu gehen und zu beten. In solch meditativer Andacht versunken, war er ganz bei sich und bekam so gut wie nichts von dem mit, was um ihn herum geschah. So bemerkte der Reverend auch nicht, dass jemand durch die weit geöffnete Tür die Kirche betrat. Die Gestalt war in ein großes violettes Tuch gehüllt, das selbst den Kopf fast vollständig bedeckte. Die Augen waren hinter einer Sonnenbrille versteckt. Die Person schritt langsam auf den Altar zu, bis sie neben dem Reverend stehen blieb und ihm die linke Hand auf die Schulter legte. Collingwood schreckte aus seiner Meditation hoch. Er brauchte eine Sekunde, um sich zu orientieren. Zuerst hielt er die Gestalt für eine Muslima, doch dann sah er das Kreuz, das sie um den Hals trug. Außerdem konnte er nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, ob es sich um eine Frau oder einen Mann handelte, da das Tuch die Körperform kaschierte.
Collingwood erhob sich.
»Guten Tag. Sie sind hier, um zu beichten, nehme ich an?«
Die Person nickte.
»Na, das ist doch gut, die Farbe passt ja schon mal«, sagte Collingwood und spielte dabei auf das violette Tuch an, die Farbe der Buße und der Demut.
»Bitte kommen Sie mit.«
Der Reverend führte die Person zu einem Beichtstuhl, der neben dem linken Kirchenschiff direkt an der Wand aufgestellt war. Der Beichtstuhl glich eher einem zu groß geratenen Passbildautomaten, nur dass er aus zwei Kabinen bestand, die in der Mitte durch eine Zwischenwand mit einem Fenster getrennt waren. Collingwood, der während seiner Ausbildung ein Jahr am Priesterseminar in Rom verbracht hatte, war immer ein großer Bewunderer der vatikanischen Einrichtungen und deren Inventar gewesen. Insbesondere hatten es ihm die hölzernen Renaissance-Beichtstühle angetan, von denen es im jungen Australien keinen einzigen gab. Stattdessen musste er mit einer grauen Plastikkiste als Ort der Sündenbekennung vorliebnehmen, doch bisher hatte sich noch niemand beschwert.
Er bat die Person, im linken Teil der Kabine Platz zu nehmen, und setzte sich selbst in den rechten. Collingwood wunderte sich, dass die Person noch kein Wort gesagt hatte, außerdem wirkte sie sehr nervös, wenn er das Hin- und Herwippen auf dem kleinen Plastikhocker richtig deutete. Dann begann die Person im Flüsterton zu sprechen und bekreuzigte sich.
»Im Namen des Vaters und des Sohnes und des Heiligen Geistes. Amen.«
Auf jeden Fall schon mal ein Katholik, der mit Sicherheit nicht zum ersten Mal bei der Beichte ist, dachte Collingwood und antwortete dem Ritus entsprechend:
»Gott, der unser Herz erleuchtet, schenke dir wahre Erkenntnis deiner Sünden und Seiner Barmherzigkeit.«
»Amen.«
Collingwood missfiel die Situation ein wenig. Er hätte es vorgezogen, das Gesicht seines Gegenübers zu sehen.
»Vor Gott, unserem Vater, muss sich niemand schämen oder verstecken, auch nicht, wenn er gesündigt hat. Wollen Sie nicht Ihr Gesicht offenbaren?«
Während einiger langer Augenblicke sagte die Person nichts, dann begann sie wieder zu flüstern:
»Wenn Sie getan hätten, was ich getan habe, würden Sie sich auch verhüllen. Gott weiß es, denn Er hat mich gesehen. Ich will Ihn um Vergebung für meine Tat bitten. Wenn es Vergebung dafür gibt.«
Collingwood stutzte und beschloss, den Wunsch des Beichtenden, unerkannt zu bleiben, zu respektieren. Offenbar unterschied sich das, was er getan hatte, von den Sünden, die ihm seine Gemeindemitglieder an einem normalen Dienstagnachmittag gestanden. Er war gespannt, seine Beichte zu hören.
»Gott ist gewillt, jenen zu vergeben, die ihre Taten bereuen und zur Buße bereit sind«, sagte Collingwood. »Was haben Sie getan?«
Die Person hinter der Plastikwand atmete tief durch. Als hätte sie sich noch nicht gänzlich dazu durchgerungen, ihr Herz zu erleichtern. Schließlich begann sie wieder zu flüstern.
»Haben Sie von dem Entführungsfall in Hopetoun gehört?«
Dem Reverend lief ein kalter Schauer über den Rücken. Natürlich hatte er von dem Fall im rund fünfundzwanzig Kilometer entfernten Nachbarort gehört. Es wäre in den vergangenen Wochen und Monaten auch schwierig gewesen, nichts davon mitzubekommen, da die Lokalzeitungen ausgiebig darüber berichteten und die Gerüchteküche ohne Unterlass brodelte. Ein zwölfjähriges Mädchen war vor einiger Zeit verschwunden und ihr jüngerer Bruder seither verstummt. Der Verbleib des Mädchens war nicht geklärt, Collingwood befürchtete jedoch das Schlimmste. Bezüglich der Person, die ihm nur einige Zentimeter entfernt gegenübersaß, drängte sich ihm ein schrecklicher Verdacht auf.
»Sprechen Sie weiter«, sagte der Reverend, ohne sich die Verunsicherung anmerken zu lassen.
»Ich habe ein Kind verschwinden lassen. Und es ist noch nicht zu Ende«, flüsterte die Person.
Collingwood zuckte innerlich zusammen.
»Das Mädchen in Hopetoun. Was haben Sie mit ihr gemacht?«
Die verhüllte Gestalt schüttelte den Kopf.
»Ich möchte dazu nichts sagen. Erteilen Sie mir Absolution, bitte«, flehte sein Gegenüber, wobei sich die flüsternde Stimme brach.
»Das kann ich nicht, wenn ich nicht weiß, was Sie getan haben.«
»Ich flehe Sie an, ich kann damit nicht weiterleben.«
»Ich kann Ihnen die Absolution nur erteilen, wenn Sie Reue und den Vorsatz zeigen, umzukehren und Buße tun. Dazu muss ich wissen, was Sie getan haben. Sie müssen Verständnis dafür haben, dass die Beichte kein Automat ist, in den man anonym Sünden einwirft und aus dem man dann automatisch die Absolution erhält. Auch wenn man das bei diesem Passbildautomat-Beichtstuhl vielleicht denken könnte. Verstehen Sie mich?«
Unvermittelt sprang sein Gegenüber auf und verließ den Beichtstuhl, was die graue Plastikkiste zum Wackeln brachte. Collingwood stand ebenfalls auf und folgte der Person, die zügigen Schrittes das Gotteshaus verließ.
»Warten Sie«, rief Collingwood dem Fliehenden nach, der sich jedoch nicht aufhalten ließ. »Zeigen Sie Reue und gehen Sie zur Polizei. Gestehen Sie, sonst findet Ihre Seele keine Ruhe!«, rief der Reverend, doch sein Rat blieb unbeachtet. Die violette Gestalt verließ die Kirche und verschwand. Collingwood konnte sie auf der Straße nicht entdecken. Die Sache kam ihm gespenstisch vor. Die Person, die ihm eben noch gegenübergesessen hatte, war wie vom Erdboden verschluckt. Ratlos stand er in der Kirchentür und überlegte, wie er mit der Situation umgehen sollte. Er hatte gerade mit einem potenziellen Entführer oder Mörder gesprochen! In ihm keimte der Gedanke auf, zur Polizei zu gehen und den Vorfall zu melden, doch er verwarf ihn sogleich wieder. Collingwood hätte niemals das Beichtgeheimnis gebrochen. Es war heilig, selbst bei einem Mordgeständnis, und Collingwood musste im Falle einer Verletzung sogar mit der Exkommunikation rechnen. Diese Regel war durchaus sinnvoll. Nur absolute Geheimhaltung gewährleistete dem Beichtenden den nötigen Schutz und das Vertrauen, um ein Geständnis abzulegen.
Vielleicht würde die Person eines Tages zurückkehren und zu gegebener Zeit die Möglichkeit einer umfassenden Beichte beim Reverend wahrnehmen. Die Türen seiner Kirche würden ihr jedenfalls immer offen stehen.
September 2015, Gegenwart
Es war ein für Hopetoun überdurchschnittlich warmer Frühlingstag, das Thermometer zeigte knapp fünfundzwanzig Grad Celsius. Natürlich machte die globale Erwärmung auch vor einem verschlafenen Nest in der Einöde des Bundesstaates Victoria nicht halt. Das Schlimmste war die Dürre, unter der das ganze Land praktisch seit Anfang des Jahrtausends litt und die jedes Jahr extremer wurde. Sie trocknete die Böden aus, machte es immer schwieriger für Landwirte zu bestehen und bedeutete eine enorme Herausforderung für den Alltag der Menschen. Statistisch gesehen nahm sich jeden vierten Tag ein Landwirt aus Verzweiflung wegen dürrebedingten Existenzverlusts das Leben.
Der kleine Ben schlenderte über den staubigen Sandboden bis zu der Holztreppe, die zur Veranda des Hauses der Familie Hughes führte. Mit zwei Sätzen war er oben und nach einem weiteren Schritt an der Gittertür zum Haus. Er riss sie auf und hämmerte gegen die dahinterliegende Haustür, deren Fenster zusätzlich mit einem Fliegengitter geschützt war. Mücken waren hier eine große Plage. In Victoria allgemein und in Hopetoun mit seinem allmählich austrocknenden See, der sich hervorragend als Kinderstube für die kleinen Blutsauger eignete, im Besonderen.
»Hallo, Ben, wie oft muss ich dir noch sagen, dass du nicht so laut gegen die Haustür klopfen sollst? Komm einfach rein, du gehörst ja praktisch zur Familie«, begrüßte Susan Hughes den kleinen Gast.
»Ich wollte Ada zum Spielen abholen.«
»Das habe ich mir schon gedacht, habt ihr keine Hausaufgaben auf?«
»Sind schon fertig.«
Sus und Ada Hughes waren beide zehn Jahre alt und gingen in dieselbe Klasse. Auch außerhalb der Schule verbrachten sie viel Zeit miteinander, spielten zusammen im Wald oder stellten allen möglichen Unfug an. Das hatte sich schon sehr früh abgezeichnet, denn ihre Väter Christopher Hughes und Jim Plummer waren selbst seit frühester Kindheit die besten Freunde, die nichts in der Welt hätte trennen können.
So, wie die Dinge auf dem Land liefen, würden Ada und Ben vermutlich auch hier ihren Schulabschluss machen, in ungefähr zehn Jahren heiraten und den Rest ihres Lebens in Hopetoun verbringen.
»Ada, Ben ist hier und will dich abholen«, rief Susan. Einen Augenblick später kam das kleine Mädchen die Treppe heruntergerannt.
»Hast du deine Hausaufgaben schon fertig?«, fragte Susan. Ihre kleine Tochter nickte mit einem verschmitzten Lächeln.
»Und warum habe ich dann die Titelmusik von ›Skippy‹ aus deinem Zimmer gehört?«, fragte Susan.
Die australische Sechzigerjahre-Serie »Skippy, das Buschkänguru« war Adas Lieblingsserie. Alt, aber immer noch der absolute Renner.
»Ich weiß auch nicht, Mom«, antwortete Ada.
»Na gut. Aber seid zum Abendessen wieder hier.«
Ada und Ben waren bereits zur Tür hinaus. Von einer Wolke aus rotem Staub umgeben, rannten sie in Richtung Nordosten. Ihr Ziel war ein kleiner, karger Wald aus Eukalyptusbäumen, der einzige Ort in Hopetoun, wo man in der Mittagshitze draußen spielen konnte.
Die Stadt war zu dieser Tageszeit wie ausgestorben. Die Kinder waren so ziemlich die einzigen Menschen auf der Straße, als sie den Bürgersteig entlanggingen. Auch Autos waren weit und breit nicht zu sehen, bis plötzlich ein großer Pick-up hinter ihnen um die Ecke bog. Der Wagen verfolgte die Kinder in einem gewissen Abstand, während er immer weiter zu den beiden aufschloss. Als er auf einer Höhe mit ihnen war, stoppte er kurz. Ada und Ben drehten gleichzeitig die Köpfe, um zu sehen, ob sich vielleicht ein Bekannter darin befand, doch der Wagen war zu hoch, als dass sie jemanden hätten erkennen können. Schließlich beschleunigte das Fahrzeug wieder und bog an der nächsten Kreuzung rechts ab. Die Kinder dachten sich nichts dabei und gingen weiter.
Zehn Minuten später erreichten sie den Wald. Die beiden hatten vor einigen Wochen angefangen, eine kleine Hütte aus herumliegenden Ästen zu bauen, die sie mit Strohband zusammenknoteten. Die Hütte, die eher einem Verschlag glich, stand zwischen zwei grauen Eukalyptusbaumstämmen und hatte nur drei Wände, dafür ein großes Dach, das sie mit kleineren Ästen und vertrocknetem Gras gedeckt hatten und das sogar einem Regenschauer standgehalten hätte. Nur regnete es eben selten. Ben und Ada bezeichneten die Hütte als ihre »Geheimbasis«. Hier würde sie niemand finden und sie konnten anstellen, was sie wollten. Die Kinder krochen in die rund eineinhalb Meter hohe Hütte und knieten sich auf den harten Boden.
»Schau mal, was ich meinem Vater heute Morgen noch schnell gemopst habe«, sagte Ben. Er zog ein Plastikkästchen aus der Hosentasche und klappte den Deckel auf. Drinnen lagen eine Zigarette und ein Feuerzeug. Ada schaute ihn mit ihren großen blauen Augen an.
»Und was sollen wir damit?«
»Na, rauchen natürlich, was denn sonst!?«, antwortete Ben, steckte sich die Zigarette in den Mund und zündete sie an.
Ben war ein richtiger kleiner Draufgänger, der vor so gut wie nichts Angst hatte, alles ausprobierte und immer unter Strom stand. Die Lehrer in der Schule hatten dem Jungen wiederholt Hyperaktivität bescheinigt, seine Eltern lehnten es jedoch strikt ab, ihm Ritalin zu geben. Ihren Sohn unter Drogen setzen zu lassen, nur damit er in der Schule konzentrierter war und bessere Noten schrieb, kam für sie nicht infrage.
Ada war mit ihrer schüchternen, vorsichtigen Art das krasse Gegenteil.
»Iieh, Zigaretten sind doch voll ekelig. Da stinkt man von, kriegt schlechten Atem und gelbe Finger«, sagte sie, als Ben ihr hustend die Zigarette reichte. »Außerdem sagen die im Fernsehen immer, dass man bei der Dürre im Wald nicht rauchen soll. Wegen der Brandgefahr, weißt du das nicht?«
Ben konnte vor lauter Husten kaum sprechen. Er hatte den bitteren Qualm versehentlich eingeatmet.
»Wir passen schon auf, da passiert nichts«, sagte Ben schließlich, als er sich wieder beruhigt hatte, und fuchtelte mit der glimmenden Zigarette vor Adas Gesicht herum.
»Ich will trotzdem nicht, geh mit der doofen Zigarette weg«, zischte sie und schob Bens Hand unsanft zur Seite.
Ben probierte noch einen weiteren Zug, dann hatte er auch keine Lust mehr. »Schmeckt wirklich ziemlich ekelig. Warum rauchen die Erwachsenen nur?« Er drückte die Zigarette auf dem Waldboden aus, stellte sicher, dass keine Glut übrig blieb und bedeckte die Kippe dann großzügig mit Erde. »Jetzt kann nichts mehr passieren.« Der Junge schaute sich ungeduldig im Wald um. »Was machen wir jetzt?«, fragte er.
Ben musste immer etwas machen. Einfach dazusitzen und die Eindrücke, die es hier zuhauf gab, auf sich wirken zu lassen, war ihm schier unmöglich. Manchmal fand Ada das nervig. Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten die beiden ruhig noch etwas länger in der Hütte sitzen können. Aber mit jemandem, der die ganze Zeit darauf drängte, irgendetwas zu machen, wäre das vermutlich auch kein Vergnügen gewesen. Also schlug sie das nächste Ziel vor.
»Sollen wir rüber zum Lake Lascelles?«, fragte Ada.
»Nein, das ist eine ganz blöde Idee, der ist was für Babys. Lass uns lieber zum Lake Coorong gehen«, sagte Ben und erntete dafür einen skeptischen Blick von seiner Freundin.
In Hopetoun gab es zwei Seen. Zumindest theoretisch. Der kleinere von beiden, Lake Lascelles, war ein Mekka für Wanderer, Schwimmer, Bootsliebhaber, Vogelbeobachter, Fischer und verfügte über wunderschönes sauberes Wasser, das aus der Grampians Wimmera Mallee Pipeline zugeführt wurde. Der See war erst im Jahr 2009 künstlich angelegt worden. Seitdem enthielt er ständig Wasser, was in Dürrezeiten einen absoluten Luxus und einen großen wirtschaftlichen Vorteil für das Städtchen Hopetoun bedeutete, da der See in der Regel viele Touristen aus der Gegend anlockte.
Und dann gab es noch den Lake Coorong, ein Gewässer, das früher einmal schön gewesen sein musste, mittlerweile allerdings nicht mehr als See bezeichnet werden konnte. Der Coorong hatte nach dem Einsetzen der Dürre vor fünfzehn oder zwanzig Jahren zunächst einen Großteil seines Wassers verloren und war dann umgekippt. Heute bestand der See aus einer eutrophierten, stinkenden Brühe, deren Ausdehnung größer war als die des sauberen Lake Lascelles.
Die Umrisse des ursprünglichen Lake Coorong waren auf Luftbildern noch deutlich zu erkennen und hoben sich von der von landwirtschaftlichen Flächen geprägten Umgebung ab. Wie ein bösartiger schwarzer Tumor schien sich der Coorong an das Städtchen Hopetoun heranzudrücken, auch wenn er sich glücklicherweise nicht weiter ausdehnte.
»Wieso willst du denn zum Lake Coorong? Der stinkt doch so. Lass uns lieber zum anderen See gehen«, sagte Ada.
»Da waren wir gestern schon. Und vorgestern. Lass uns einfach mal beim Lake Coorong schauen, und wenn es da blöd ist, drehen wir wieder um. Abgemacht?«, sagte Ben in Erwartung eines Abenteuers.
Da die Bewohner von Hopetoun das Gebiet des Lake Coorong für gewöhnlich mieden, umgab ihn eine geheimnisvolle Aura, die speziell auf Kinder einen besonderen Reiz ausübte. Ada ließ sich schließlich überreden, und so machten sich die beiden auf zu dem unweit ihrer selbst gebauten Holzhütte gelegenen See. Auf dem Weg dorthin kamen sie am schönen, klaren Lake Lascelles vorbei, der heute wie der Rest der Stadt ausgestorben wirkte. Wo sich sonst dutzende Wassersportler, Camper oder Badegäste tummelten, saß nur der einsame Joe, der Besitzer des Campingplatzes, an seinen Pick-up gelehnt, rauchte eine Zigarette und wartete auf Gäste wie eine Spinne im Netz auf Insekten.
»Hey, Kinder, wollt ihr ein Kanu mieten?«, bot Joe den beiden an und versuchte so, an diesem ruhigen Tag wenigstens etwas Umsatz zu machen, doch Ada und Ben lehnten ab. Joe war ihnen schon immer seltsam vorgekommen, und sie machten lieber einen Bogen um ihn. Erst recht, wenn sonst niemand in der Nähe war. Im Dorf erzählte man sich nicht eben Gutes über ihn. Er nehme den ganzen Tag Drogen, wandere in regelmäßigen Abständen ins Gefängnis und entführe kleine Kinder und solche Dinge. Er war also definitiv niemand, in dessen Gesellschaft Kinder sein wollten.
Das Gebiet des Lake Coorong grenzte direkt an den Lake Lascelles und bildete einen fast unwirklichen Kontrast. Der einstige Grund des Sees war heute eine trockene, dunkle Fläche, rissig und hart, nichts lebte hier. Ben und Ada konnten über die mit Narben durchzogene Wüste bis zum Wasser gehen, ohne dabei auch nur die kleinste Staubwolke aufzuwirbeln.
Was von dem See übrig geblieben war, hatte sich in der Mitte des Areals gesammelt und lag etwa einen halben Kilometer entfernt. Je näher die Kinder zur Mitte kamen, desto strenger roch es nach abgestandenem, fauligem Wasser.
»Wir hätten beim Lake Lascelles bleiben sollen«, bemerkte Ada.
»Allein bei Joe, dem komischen Typen? Auf keinen Fall. Du musst durch den Mund atmen, dann riechst du nichts«, riet Ben ihr.
Der Geruch war das eine Problem. Das andere waren die Millionen von Mücken, die überall herumschwirrten. Ben und Ada wedelten ununterbrochen mit der Hand vorm Gesicht herum, um die Insekten zu vertreiben, eine Geste, die die Einheimischen den »australischen Salut« nannten. Nach ein paar Minuten kam ein angenehmer, warmer Wind auf und löste beide Probleme auf einmal.
»Schau mal, da hinten«, rief Ada plötzlich.
Ben drehte sich um und blickte in die Richtung, in die Ada zeigte. Einige hundert Meter entfernt bewegte sich etwas, das wie eine Luftspiegelung aussah.
»Was ist das? Sieht aus, als ob da jemand auf uns zukommt«, sagte Ada.
»Das ist nur eine Fata Morgana. Keine Sorge, da ist niemand. Bei der Trockenheit und Hitze ist das nicht ungewöhnlich«, erklärte Ben.
Ada konnte das nicht beruhigen. Sie drehte sich im Gehen immer wieder um und hatte den Eindruck, dass die Gestalt größer wurde. Doch plötzlich war die Fata Morgana verschwunden. Bestimmt hatte Ben recht gehabt.
Das von Grün- und Blaualgen besiedelte Wasser war umgeben von einer matschigen Linie. Ben und Ada zogen ihre Sandalen aus und stapften und sprangen voller Freude barfuß darin herum. Als sie keine Lust mehr hatten und ihre Kleidung und Gesichter bereits großzügig mit Matsch bespritzt waren, schlug Ben vor, am Ufer entlang zu spazieren. Vielleicht würden sie ja etwas Interessantes entdecken, einen Schatz etwa, der seit Jahrhunderten im See geschlummert und den das schwindende Wasser nun freigelegt hatte. Oder den Eingang zu einer Höhle, der sich laut Gerüchten irgendwo im Bereich des Coorong befand.
Ben und Ada fanden nichts dergleichen. Sie freuten sich allerdings, als zwischendurch ein Brillenpelikan-Paar im See landete, das jedoch gleich wieder abhob. Sie nahmen die Vogelart gerade im Biologieunterricht durch. Die Gegebenheiten des Sees hatten das Pelikan-Paar wohl nicht überzeugt. Um diese Jahreszeit pflanzten sich die Vögel in diesem Teil Australiens fort und suchten entlang der Ufer nach geschützten Nistplätzen. Angesichts der matschigen Einöde hätten Ben und Ada, wären sie Pelikane gewesen, aber auch wieder kehrtgemacht.
Sie gingen noch ein Stück weiter am Ufer entlang nach Osten. Hier wurde der Schlamm am Ufer zusehends weicher, und ihre Füße sanken schneller und tiefer in den Boden ein. Sie durften nicht zu lange an einer Stelle stehen bleiben, um nicht im Morast zu versinken.
»Lass uns lieber umdrehen, das wird zu gefährlich hier. Wenn wir einsinken, ist niemand hier, um uns zu helfen. Dann sterben wir einfach und niemand wird uns je wiederfinden«, sagte Ada. Sie zog den rechten Fuß aus dem Schlamm. Dabei löste sich ihr silbernes Fußkettchen, das sie um die Knöchel trug, und versank im Matsch.
»Oh, nein«, rief sie, bückte sich und wühlte verzweifelt im Morast. Das Kettchen hatte sie zum Geburtstag bekommen, sie durfte es auf keinen Fall verlieren. Ben kam ihr zu Hilfe, doch sie fanden das Kettchen nicht. Inzwischen war Ada, ohne es zu merken, immer tiefer in den Schlamm eingesunken, so tief, dass sie die Füße nicht mehr herausbekam, so sehr sie sich auch anstrengte.
»Du musst mich rausziehen«, rief Ada immer wieder und mit wachsender Verzweiflung. Ben zog mit aller Kraft an ihren Armen – immer darauf bedacht, nicht selbst steckenzubleiben.
Plötzlich hielt er inne und kniff die Augen zusammen, als würde er etwas in der Ferne fixieren.
»Ada, ich glaube, du hattest recht, es war keine Fata Morgana.«
Das Mädchen drehte den Kopf in die Richtung und erschrak. Jemand kam auf sie zu, sie konnte es deutlich erkennen. Immer verzweifelter versuchte Ada, den Fuß aus dem Schlamm zu ziehen, wobei sie nur noch weiter einsank.
»Ben, so hilf mir doch«, schrie sie, doch ihr Freund konnte ihr nicht helfen. Während Ada mit aller Kraft versuchte, erst einen und dann den anderen Fuß aus dem Schlamm zu ziehen, drückte ihr plötzlich jemand von hinten ein Stück Stoff aufs Gesicht und hielt ihren Kopf fest. Die Gestalt hatte ihr Gesicht mit einer schwarzen Sturmmaske verhüllt, sodass Ben sie nicht erkennen konnte. Ada versuchte, die Luft anzuhalten, aber es gelang ihr nicht. Sie nahm einen süßlichen Geruch wahr, der sie an die Süßwaren-Abteilung in ihrem alten Kaufhaus in Melbourne erinnerte. Einige Augenblicke später verlor sie das Bewusstsein.
»Was machen Sie da? Lassen Sie sie los«, sagte Ben, vor Angst wie gelähmt. Beim Anblick von Adas schlaffem, reglosem Körper, der jetzt aus dem Matsch gezogen und auf dem harten Boden abgelegt wurde, befiel ihn Panik. War sie tot? Ben nahm noch einmal all seinen Mut zusammen und versuchte, zu ihr hinüberzurennen. Er wurde damit belohnt, dass er rücklings in den Schlamm gestoßen wurde.
»Rühr dich nicht vom Fleck«, befahl ihm der Mann, und Ben beschloss, doch lieber zu gehorchen, da er nicht wie seine Freundin enden wollte. Er sah stumm zu, wie der Unbekannte Adas Schuhe aus dem Schlamm zog. Einen verstaute er in seiner Tasche, den anderen steckte er auf ein Holzkreuz, das er in den Boden rammte. Ben überlief ein Schauer des Entsetzens, hatte das Kreuz doch etwas von einem Grab. Der Entführer warf Ada über die Schulter, und Ben begann zu weinen.
»Ist sie tot?«, fragte Ben.
Die Gestalt beugte sich zu ihm hinunter, während Ben rückwärts durch den Schlamm bis zur Wasserlinie robbte.
»Nein, sie ist nicht tot. Und ob das so bleibt, hängt von dir ab. Wenn du auch nur ein Wort von dem erzählst, was hier passiert ist, wird sie sterben. Hast du mich verstanden?«
Ben nickte panisch, dann richtete sich der Mann auf und ging mit Ada auf der Schulter davon. Ben schaute den beiden so lange hinterher, bis sie nicht mehr zu erkennen waren. Als ihm so kalt war, dass er es nicht mehr aushielt, rappelte er sich aus dem Matsch hoch und machte sich auf den Rückweg. Es war bereits Abend, die wärmende Sonne hatte sich dem Horizont zugeneigt und die Bürgersteige in Hopetoun wirkten wie hochgeklappt. Ben trottete allein, apathisch und von oben bis unten mit Matsch beschmiert durch das Dorf. Wie fremdgesteuert bewegte sich der Junge auf sein Zuhause zu, wo er von seinen Eltern Jim und Fay schon ungeduldig erwartet wurde. Ben betrat das Haus wie im Nebel, er nahm kaum etwas wahr, nicht einmal die Standpauke, die er für sein Zuspätkommen zu hören bekam. Er begrüßte die Eltern mit einem knappen »Hallo, ich bin müde und gehe schlafen«, dann stieg er die Treppe hinauf in sein Zimmer und kauerte sich mit den schmutzigen Sachen auf sein Bett. Die Versuche der Eltern, von ihrem Sohn zu erfahren, wo er so lange gewesen war, blieben erfolglos. Ben lag nur da und starrte an die Wand. Als hätte man ihren Sohn durch einen anderen ersetzt.
Gegenwart
Nora zupfte an ihrer Bluse herum, damit der dünne Stoff nicht an ihrer Haut kleben blieb. Für einen September brannte die Sonne schon ziemlich stark und sie hoffte, dass sie nicht zu doll schwitzen würde. Nora wollte nicht schon am ersten Tag im neuen Job einen schlechten oder ungepflegten Eindruck bei ihrem Chef oder ihren Kollegen hinterlassen.
Zu ihrem Ärger stand die Luft in der Straßenbahn förmlich, auch das geöffnete Fenster über ihrem Sitz half nicht. Nora versuchte sich abzulenken und schaute aus dem Fenster. Draußen zogen die Gebäude vorbei. Es waren hauptsächlich Geschäfte, die um diese Zeit am Morgen dabei waren zu öffnen. Alles hier war viel größer und so viel lebendiger als in ihrer Heimatstadt Hobart in Tasmanien. Aber genau das war es ja, was sie in die große Stadt getrieben hatte: ein bisschen mehr Leben. Es war nicht so, dass sie die Ruhe und Abgeschiedenheit ihrer Insel nicht zu schätzen wusste, im Gegenteil. Als frisch gebackene Absolventin der Polizeischule und Bachelor in Rechtswissenschaft wollte sie, abseits der Idylle Tasmaniens, wenigstens eine Zeitlang die Polizeiarbeit in einer von Australiens Metropolen kennenlernen. Zurückkehren konnte sie immer noch.
Nora erreichte ihr Ziel im Zentrum Melbournes nach einer zwanzigminütigen Fahrt vom Stadtteil Preston aus und war froh, wieder frische Luft zu atmen. Sie checkte die Adresse, hier war sie richtig. Das Victoria Police Center an der Flinders Street glich einem hässlichen Betonklotz. Sie hatte gelesen, dass die Polizei gerade ein neues, schickes Hauptquartier in den Docklands bauen ließ, auch wenn es mit seinen 230 Millionen Dollar Baukosten für Unverständnis in der Bevölkerung Melbournes sorgte.
Nora kümmerte es nicht, in was für einem Gebäude sie arbeiten würde, denn sie war viel zu aufgeregt. Sie atmete tief durch und betrat die Lobby des Polizeihauptquartiers durch eine große Drehtür. An dem Schalter dort saß ein grimmig aussehender Officer. Er war Mitte fünfzig, hatte graumeliertes Haar und trug einen Schnäuzer. Mit zwei Zeigefingern hackte er gerade etwas in die Tastatur, deren lautes Klacken durch die gesamte Lobby schallte.
»Was kann ich für Sie tun?«, fragte er in einem unerwartet freundlichen Ton, als Nora sich ihm näherte.
»Guten Tag, ich möchte gern zum Murder Squad.«
»Vierter Stock, da vorne ist der Lift.«
Ächzend stoppte der Lift und nach einem schrillen Ping glitten die Türen auseinander. Nora fand sich auf einem langen Flur wieder. Während sie verunsichert nach dem Büro von Chief Bronson suchte, kamen ihr ein paar Kolleginnen und Kollegen in Uniform entgegen, die freundlich grüßten. Auf einer Glastür am Ende des Gangs klebte schließlich in schwarzen Buchstaben der Name des Chiefs. Die Tür war offen und Nora klopfte sanft gegen die scheppernde Scheibe.
»Entschuldigung, sind Sie zufällig Chief Bronson?«
Der Chief erschrak fast zu Tode, als er plötzlich die junge Frau in der Tür stehen sah. Als er in die gutmütigen Augen der Frau mit den roten Haaren schaute, beruhigte er sich schnell wieder. „Genau der bin ich. Was kann ich denn für Sie tun? «
»Wir haben telefoniert, ich bin Nora Bennett. Die Kollegin aus Tasmanien. «
»Ach, Sie sind das!“, stieß Bronson hervor. „Hatten wir nicht erst vor einigen Wochen telefoniert?«
»Das war schon im Januar«, antwortete Nora.
»Mensch, wie die Zeit vergeht. Wir haben hier viel zu tun, müssen Sie wissen. Hier ticken die Uhren anders als bei Ihnen da unten in Tasmanien, möchte ich wetten.«
»Genau deswegen bin ich hier, Chief. Übrigens ist Ihre Uhr stehengeblieben.« Nora deutete auf die Wanduhr über Bronsons Schreibtisch. Der Chief drehte sich um und gab ein leicht pikiertes „Mmh“-Geräusch von sich.
»Sie nehmen kein Blatt vor den Mund, was?«
Nora schaute den Chief mit einem entwaffnenden Lächeln an. Bronson wusste noch nichts davon, dass Nora aufgrund ihrer resoluten Art und der roten Haare zuhause in Hobart auch den Spitznamen Tasmanische Teufelin trug.
»Ich bin eigentlich immer direkt. Manchmal kommen die männlichen Kollegen damit nicht klar, aber hier in der großen Stadt wird das ja wohl anders sein?«
Bronson räusperte sich. »Natürlich, hier finden wir das gut.« Es folgte ein Moment des peinlichen Schweigens.
»Nun, dann kommen Sie doch erst mal an, ich zeige Ihnen wo Sie sitzen.«
Nora folgte Bronson den Gang entlang bis zu einem kleinen Büro. Es war gemütlich eingerichtet und zwei Schreibtische standen dort. An einem saß ein junger Mann.
»Das ist Leonard Flynn. Für die Zeit, in der Sie hier sind, werden Sie hier zusammenarbeiten«, stellte er die beiden einander vor. Daraufhin ließ er sie allein, damit sie sich ein wenig beschnuppern konnten.
Bronson zog sich in sein Büro zurück. Er hatte tatsächlich verschwitzt, dass Nora heute schon ihre neue Stelle anfing. Tendenziell machte auch er sich bei neuen Kolleginnen und Kollegen immer ein wenig Sorgen, ob er sie mit sinnvoller Arbeit beschäftigen konnte. Insbesondere dann, wenn er noch nicht wusste, wie fähig sie waren.
Der Chief nahm sich Noras Akte zur Hand und blätterte darin herum. Sowohl ihren Bachelor, als auch die Ausbildung bei der Polizeischule in Hobart hatte sie mit Bestnoten bestanden. In der Theorie konnte sie also schon mal einiges vorweisen. Ein forsches Auftreten hatte sie auch. Was die Polizeiarbeit in der Praxis betraf, so würde er ihr noch auf den Zahn fühlen müssen. Es war keineswegs gesagt, dass Nora hier in Melbourne bleiben konnte, Bronson hatte jederzeit die Möglichkeit, ihren Aufenthalt hier zu beenden und sie zurück nach Tasmanien zu schicken. Ihr erster Fall würde gleichzeitig ihre Bewährungsprobe werden.
Zwei Stunden später sollte sich für Nora eine Möglichkeit auftun, diese Probe anzutreten. Mit einem Aktenordner unterm Arm trat ein Kollege in Bronsons Büro.
»Chief, wir haben einen Fall von Kindesentführung. In Hopetoun.« Der Mann warf den Ordner auf den Schreibtisch und verschwand wieder.
»Hopetoun, das ist doch genau das richtige«, murmelte Bronson.
Nora und Leonard hatten sich bereits miteinander angefreundet, als der Chief plötzlich im Türrahmen auftauchte und die beiden bat, ihm in sein Büro zu folgen.
Nora und Leonard nahmen auf den Stühlen vor dem Schreibtisch Platz.
»Habt ihr schon mal was von Hopetoun gehört?«, begann Bronson.
Leonard schüttelte den Kopf.
»Ich kenne nur Hopetoun House, das Anwesen in Schottland. Das haben wir damals in der Schule gelernt«, sagte Nora.
»Weit gefehlt, Hopetoun ist ein Ort nordwestlich von Melbourne«, erklärte Bronson.
»Wenn Leonard noch nichts davon gehört hat, gehe ich davon aus, dass es sich um eine eher kleine Ortschaft handelt …«, sagte Nora vorsichtig.
Bronson räusperte sich. »Nun ja, wie man’s nimmt. Wenn Sie knapp sechshundert Einwohner als eher klein bezeichnen, liegen Sie richtig …«
Nora konnte sich beherrschen, die Augen zu verdrehen. Sie hatte Tasmanien nicht verlassen, um von Melbourne aus sofort wieder in das nächste Kuhdorf geschickt zu werden. Andererseits wusste sie, dass man auch als Polizistin in der Stadt nicht vor Einsätzen im Outback sicher war: Der Bezirk, in dem die australischen Hauptstädte Amtshilfe für die ländlichen Polizeiniederlassungen leisten mussten, erstreckten sich jeweils über den gesamten Bundesstaat. Und sie wollte bei ihrem Chief einen positiven Eindruck hinterlassen.
»Gut. Hopetoun also, worum geht es?«, fragte Nora.
»Ein Kind ist verschwunden. Genaueres wird Ihnen der Kollege vor Ort mitteilen. Ich muss nicht erwähnen, dass bei einer Kindesentführung die ersten zweiundsiebzig Stunden entscheidend sind, Sie fahren am besten sofort los«, sagte Bronson.
Leonard und Nora holten ihre Sachen aus dem Büro.
»Der Dienstwagen steht unten in der Garage. Wir müssen kurz bei mir zuhause anhalten, ich brauche noch ein paar Sachen. Falls wir länger brauchen.«
Leonard hatte recht, dachte Nora, sie mussten auch noch einen kurzen Abstecher bei ihr machen.
»Vergiss deine Waffe nicht«, sagte Nora, als sie Leonards Pistolenhalfter an der Wand hängen sah.
Leonard zögerte, schaute mit einem sparsamen Blick zur Wand und dann wieder zu seiner neuen Partnerin. »Die werde ich bestimmt nicht brauchen«, antwortete er schließlich.
Leonard war eher ein Mann für die Unterstützung im Backoffice und die Recherche, und darin war er auch richtig gut. Eine Waffe hatte er in seiner dienstlichen Laufbahn bisher nie benutzen müssen. Wenn er sie abfeuerte, dann nur einmal monatlich auf dem Schießstand.
»Du weißt, haben ist besser als brauchen, bitte nimm sie mit«, sagte sie.
Leonard blickte Nora für einen langen Moment in die Augen und legte schließlich umständlich das Halfter an, ihr zuliebe. Seine Partnerin konnte auf charmante Art sehr überzeugend sein.
Gegenwart
Christopher Hughes schritt nervös im Wohnzimmer der Plummers auf und ab. Er und seine Frau Susan waren am vorigen Abend, nachdem ihre Tochter nicht nach Hause gekommen war, sofort zu Bens Eltern gefahren, um von dem Jungen zu erfahren, was mit Ada geschehen war. Ohne Erfolg. Alles, was sie aus dem Jungen herausbekommen hatten, war ein »Ich bin müde« und »Ada geht es gut«. Christopher war daraufhin mit Jim Plummer losgefahren, um seine Tochter zu suchen. Mit ebenso wenig Erfolg. Das Gebiet, das für den Verbleib des Mädchens infrage kam, war zu groß, als dass sie im Dunkeln etwas hätten ausrichten können.
Jetzt, etwa zwölf Stunden später, lag Ben noch immer apathisch und stumm auf seinem Bett. Seine Mutter Fay hatte ihn inzwischen gewaschen und die schmutzige Kleidung gewechselt. Adas Mutter Susan hockte derweil schluchzend im Wohnzimmer. Sie beschloss, ein weiteres Mal zu dem Jungen hochzugehen, und hoffte, endlich etwas von ihm zu erfahren. Fay begleitete sie. Susan setzte sich aufs Bett und wischte sich die Tränen aus dem Gesicht.
»Wo ist meine Tochter? Du hast sie doch gestern zum Spielen abgeholt«, begann sie leise.
»Ben, bitte sag mir, wo Ada ist«, wiederholte sie mit Nachdruck, doch Ben reagierte kaum. Er lag einfach nur da und wiederholte, dass sie noch lebe.
Susan machte das rasend. Sie beugte sich über den Jungen und begann ihn mit einer Mischung aus Wut und Verzweiflung zu schütteln. Immerhin war er der Einzige, der ihr sagen konnte, wo sich Ada befand.
»Ich will meine Tochter wiederhaben!«, schrie Susan, während sie den Jungen immer heftiger schüttelte. Fay schritt ein und beendete das Schauspiel, indem sie ihre Freundin von ihrem Sohn fortzog, der sich jetzt auf dem Bett herumdrehte und den beiden Frauen den Rücken zukehrte. Fay und Susan gingen wieder ins Wohnzimmer zurück, wo sich die Männer berieten.
»Bitte ruf die Polizei, Christopher«, sagte Susan schluchzend zu ihrem Mann.
Die Männer in Hopetoun verstanden sich immer noch als echte Kerle, die ihr Schicksal selbst in die Hand nahmen. Probleme lösten sie in der Regel in Selbstjustiz, die Polizei einzuschalten kam eigentlich nicht infrage. Angesichts des Ernsts der Lage entschied Christopher jedoch, der Bitte seiner Frau nachzukommen. Wenige Minuten später fuhr der Wagen des Sheriffs die staubige Auffahrt des Plummer-Hauses herauf.
Sheriff Joel Brooks war eigentlich ein drahtiger Mann, doch aufgrund seines ausgeprägten Bierbauchs schälte er sich stets mit einiger Mühe aus dem Fahrersitz seines großen Pick-ups. Beim Aussteigen stieß er sich den Kopf am Türrahmen seines Fahrzeugs und rückte, als er endlich draußen war, zuallererst seinen verrutschten hellbeigen Akubra-Hut zurecht. Sheriff Brooks stand mit seinen sechzig Jahren kurz vor der Pensionierung. In den meisten Bundesstaaten Australiens waren die Polizeibeamten, wie auch die Soldaten der Australian Defence Force, verpflichtet, mit Erreichen dieser Altersgrenze in den Ruhestand zu wechseln. Auf einen Entführungsfall hatte Brooks, der sich während seiner gesamten Laufbahn stets ein schönes Leben gemacht hatte, wenig Lust. Doch wozu gab es die Bereitschaft aus Melbourne?
Brooks betrat ohne anzuklopfen das Haus. In Hopetoun gab es keinen Grund, die Türen abzuschließen, und den Sheriff kannte sowieso jeder. Er ging geradewegs ins Wohnzimmer, wo die Ehepaare Hughes und Plummer gerade diskutierten, in welchem Gebiet sie die kleine Ada als Nächstes suchen sollten.
»Gut, dass du da bist«, begrüßte Susan den Sheriff, die als Einzige seine Anwesenheit bemerkte.
»Hallo«, erwiderte der Sheriff, worauf alle Anwesenden im Raum abrupt verstummten und dann wie auf Kommando anfingen, wild durcheinander auf den Polizisten einzureden.
»Jetzt mal ganz ruhig, Leute. Christopher, bitte sag mir, was passiert ist, aus deinem Notruf bin ich vorhin nicht schlau geworden. Ada ist am See verschwunden, ja?«
»Wie kommst du auf den See?« Christopher schaute den Sheriff fragend an.
»Nur so. Das ist doch naheliegend. Also, was ist passiert?«
Sheriff Brooks ließ sich von Christopher die Geschichte erzählen und achtete aufmerksam auf jedes Detail. Als er fertig war, wollte Christopher wissen, was der Sheriff nun zu tun gedachte, und der hatte bereits einen soliden Plan aufgestellt.
»Aus Ben ist nichts Vernünftiges herauszubekommen, das heißt, wir wissen überhaupt nicht, was mit Ada passiert ist und müssen alle Möglichkeiten in Betracht ziehen.