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Ein gnadenloser Australien-Thriller, der kaum Zeit zum Durchatmen lässt. Inspiriert von wahren Ereignissen. Melbourne, Juli 1988: Adam erwacht verletzt im Krankenhaus. Er kann sich an nichts erinnern, trägt nur ein Foto von einer Frau und einem Mädchen in seiner Hosentasche. Als er erfährt, dass er wegen Mordes an den beiden gesucht wird, flieht er und begibt sich in der unbekannten Stadt auf die verzweifelte Suche nach seinem Gedächtnis. Von der Polizei und einem geheimnisvollen Fremden gejagt, lüftet er Stück für Stück und unter Lebensgefahr das Geheimnis seiner Identität. Je tiefer Adam gräbt, desto mehr Fragen wirft er auf: Wieso soll er aus dem Weg geräumt werden? Warum hat er die Frau und das Mädchen umgebracht? Was hat er mit weiteren Todesfällen in der jüngeren Vergangenheit zu tun? Am Ende stößt Adam auf eine verstörende Wahrheit, die ihm besser verborgen geblieben wäre…..
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Veröffentlichungsjahr: 2019
Der starke Wind, der an diesem Wintertag über die Port-Phillip-Bucht wehte, blies Jimmy Boyd scharf ins Gesicht. Der Police Officer musste sich nach vorn lehnen, um nicht auf dem Pier hintenüber zu kippen. Um zu verhindern, dass die zwischendurch aufspritzende Gischt die Glut seiner Zigarette löschte, hielt er sie in der hohlen Hand. Vor einer halben Stunde hatte noch die Sonne geschienen, jetzt zogen graue Wolken am Himmel vorbei und ein Sturm kündigte sich an. Das Wetter in Melbourne war unberechenbar, die Stadt war bekannt dafür, seinen Bewohnern manchmal „vier Jahreszeiten am Tag“ zuzumuten. Sie bot Abwechslung in jeder Hinsicht und genau deshalb liebte Jimmy Melbourne so sehr. Außerdem hätte kein Wetter der Welt ihn davon abhalten können, zusammen mit seinem Partner die traditionelle Feierabendzigarette am Pier zu rauchen. Heute war er allein, sein Partner hatte sich krankgemeldet. Obwohl es nicht gern gesehen wurde und, strenggenommen, sogar gegen die Vorschriften verstieß, hatte Boyd darauf bestanden, die Schicht allein durchzuziehen. Das Melbourne Police Department litt sowieso bereits unter Personalmangel, und er wollte nicht auch noch jemanden abziehen, der dann an anderer Stelle fehlte.Boyd nahm einen letzten, langen Zug und warf die Kippe ins Meer. Er würde das alles hier vermissen, dachte er.
Der Rückweg über den hölzernen Pier zur Uferpromenade war angenehm. Der Wind blies ihm stark in den Rücken und ließ ihn fast zum Streifenwagen schweben. Die Fahrertür gegen den Wind aufzuziehen, erforderte hingegen einige Kraft. „Jetzt nur noch nach Hause und einen heißen Tee“, dachte Boyd und drehte den Zündschlüssel um, als auf einmal das CB-Funkgerät knackte. „An alle Einheiten, Notruf aus der alten Zuckerfabrik im Hafen. Ist jemand gerade in der Nähe?“Eigentlich hatte Boyd Feierabend, doch er war nur fünf Minuten von der Zuckerfabrik entfernt. Er wartete einen Augenblick, vielleicht würde sich ein Kollege bereit erklären, doch aus dem Funkgerät ertönte nur ein Rauschen. „Hier 26-18, ich schau vorbei“, sagte er schließlich. Genervt legte Boyd den Gang ein, schaltete die Sirene an und fuhr los. Er war gespannt, um was für einen Notfall es sich diesmal handelte. Die alte Zuckerfabrik war seit Langem verlassen. Früher, also ab Mitte des 19. Jahrhundert bis vor ungefähr 20 Jahren, wurde dort der Rohrzucker raffiniert, der mit großen Schiffen aus Queensland hier runter in den Süden gebracht wurde. Heute trieben sich in der Fabrik oft Gruftis herum. Oder Punks. Oder Junkies. Ab und zu gab sich jemand von ihnen auf dem Gelände einen goldenen Schuss, höchstwahrscheinlich war das auch diesmal der Fall. Jimmy stellte sich innerlich schon einmal darauf ein, den Notarzt rufen zu müssen.
Jimmy parkte den Streifenwagen vor der großen Halle inmitten des weitläufigen Geländes. Der Wind hatte sich inzwischen zu einem Sturm ausgewachsen und es dämmerte. Warum bloß hatte er sich freiwillig gemeldet? Jimmy stieg aus dem Wagen und wurde fast vom Wind umgeweht. Er hatte Mühe, sich bis zum Eingang der Halle vorzuarbeiten. Die abwechselnd rot und blau leuchtenden Lichter der Sirene auf dem Dach des Polizeiautos warfen bizarr aussehende, springende Schatten auf die Backsteinwand, bis Jimmy schließlich durch eine schmale Tür in das Innere gelangte. Er schloss die Tür hinter sich und augenblicklich wurde es still. Nur ein leises Pfeifen erinnerte daran, dass draußen ein Sturm tobte. Die Halle wurde im oberen Drittel durch das rot-blaue Licht erhellt, das durch große Fenster hineinfiel. Jimmy schaltete seine Stablampe ein und leuchtete einmal quer durch die Halle.„Hallo? Ist da jemand? Hier ist die Polizei“, rief er. Niemand antwortete, nur das Echo schallte laut durch die Halle. Plötzlich ertönte das klirrende Geräusch von Metall. Jimmy erschrak und fuhr herum. Eine Ratte lief durch den Lichtkegel der Taschenlampe, sie hatte offenbar eine Eisenstange, die an der Wand lehnte, umgeworfen. Jimmy drehte sich wieder um und ging langsam und vorsichtig, Schritt für Schritt, über den feuchten Betonboden in der Fabrik. „Wir haben einen Notruf bekommen!“, rief er ins Dunkle. Wieder antwortete nur das Echo. In diesem Moment wünschte er sich einmal mehr, er hätte einen Partner mitgenommen. Jimmy öffnete den Druckknopf des Pistolenholsters an seinem Gürtel und zog vorsichtshalber die Waffe heraus. Zusammen mit der Stablampe richtete er sie nach vorn. Mit jedem Schritt, den er vorwärts ging, wurde seine Angst größer. Jimmy war so angespannt, dass ihn jedes Geräusch nervös herumfahren ließ. Zum Schluss drohte er die Orientierung vollends zu verlieren und entschied sich dazu, den Einsatz abzubrechen. Falscher Alarm, das kam öfter vor. Das würde keinen wundern. Jimmy ging zurück in die Richtung, aus der er gekommen war, und steckte erleichtert die Pistole zurück ins Halfter. Bis zur Tür waren es nur noch ein paar Meter. Plötzlich horchte er auf. Da war wieder ein Geräusch, diesmal schien es direkt hinter ihm zu sein. Jimmy drehte sich um und leuchtete in zwei weit aufgerissene Augen. Mehr konnte Jimmy nicht erkennen, denn Augenblicke später raste eine Metallstange auf seinen Schädel nieder und löschte sein Bewusstsein aus.
Es kostete Adam viel Kraft, bis er seine Lider ein winziges Stück anheben konnte. Obwohl nur ein bisschen Licht durch die schmalen Schlitze an seine Augen drang, blendete es ihn so sehr, dass sein Kopf sich unverzüglich in einen einzigen, pochenden Schmerz verwandelte. Adam hob seinen schwer erscheinenden rechten Unterarm an und legte ihn zum Schutz vor dem stechenden Licht über seine Augen. So war es viel besser. Wo war er? Warum war er hier? Und wer war er überhaupt? Adam konnte sich an nichts erinnern.Da er seine Augen noch nicht benutzen konnte, versuchte er sich mit dem Gehör und der Nase zu orientieren. Es roch nach Desinfektionsmittel und frischer Bettwäsche. Adam konzentrierte sich auf die Geräusche in seiner Umgebung. Ein gleichmäßiges Piepsen drang an sein Ohr. Gedämpft, aus einem anderen Raum oder einem Flur kommend, hörte er das Rollen von Gummirädern und Schritte auf einem Linoleumfußboden. Nach der Akustik zu urteilen, war der Raum, in dem er sich befand, nicht besonders groß. Dies und die Tatsache, dass er auf einem Bett lag und mehrere Kabel an ihm befestigt waren, ließen nur den Schluss zu, dass Adam sich in einem Krankenhaus befand. Vorsichtig nahm er den schützenden Unterarm von seinem Gesicht und wagte es noch einmal, die Augen zu öffnen. Nachdem der erste Schmerz vorbei war, bestätigte sich seine Vermutung: Er war in einem Krankenzimmer. Damit war die Frage danach, wo er war, beantwortet. Blieb noch das Rätsel nach dem Warum und seiner Identität. In Adams Kopf herrschte eine absolute Leere, und er hatte nicht die geringste Ahnung, wer er war. Sosehr er sich auch anstrengte, keine einzige Erinnerung wollte ihm zufliegen. Verzweifelt ließ er seinen Blick durch das sterile, karg eingerichtete Zimmer mit den hellgrün angestrichenen Wänden schweifen und suchte nach Hinweisen. Auf einem Tisch vor der gegenüberliegenden Wand entdeckte er eine Plastiktüte mit Kleidung. Dort würde er vielleicht fündig werden. Eine Brieftasche mit einem Führerschein oder einem anderen Dokument würde schon ausreichen. Adam versuchte seinen Oberkörper aufzurichten. Auf halbem Weg nach oben wurde ihm schwarz vor Augen und er musste sich wieder auf sein Bett fallen lassen. So ging es nicht. Sein Kreislauf war noch nicht stabil genug, er benötigte Hilfe. „Hallo?“, rief er in Richtung Tür. Niemand reagierte. Adam tastete das Krankenbett ab, bis er ein Kabel fand, an dessen dicker werdendem Ende er einen roten Notfallknopf fand und drückte. Augenblicklich ertönte der Alarm auf dem Flur. Es dauerte nur wenige Sekunden, bis sich die Tür schwungvoll öffnete und eine Krankenschwester in sein Zimmer gestürmt kam. „Er ist aufgewacht“, rief sie auf den Flur, kam zu Adam ans Bett und fühlte seinen Puls, der schwach und schnell war. „Was mache ich hier? Wer bin ich? Wer sind Sie?“, fragte Adam und versuchte noch einmal, sich aufzurichten, was ihm jedoch wieder nur bis zur Hälfte gelang. „Ich bin Schwester Deborah. Sie müssen sich ausruhen“, sagte die Schwester und drückte den Oberkörper des widerspenstigen Patienten zurück aufs Bett. „Der Arzt wird Ihnen alle Fragen so gut es geht beantworten.“ Ein paar Minuten später betrat der Arzt das Krankenzimmer. Er schloss die Tür hinter sich und ging mit ausgestrecktem Arm auf Adam zu, der langsam dabei war, die Geduld zu verlieren. „Ich bin Doktor Jenkins, guten Tag.“ „Ich würde mich gern vorstellen, aber ich weiß nicht, wer ich bin“, antwortete Adam.Doktor Jenkins schaute Schwester Deborah an und nickte ihr zu. „Können Sie mir denn sagen, welcher Tag heute ist oder in welcher Stadt Sie hier sind?“Adam versuchte noch einmal angestrengt, irgendwelche, egal, wie kleine, Erinnerungsfetzen in seinem Kopf zu finden – vergeblich. Er presste die Lippen zusammen und schüttelte als Antwort auf die Frage des Arztes langsam den Kopf. „Sie befinden sich im Royal Melbourne Hospital. Gestern wurden Sie hier nach einem Autounfall eingeliefert. Es ist Donnerstag, der 30. Juli 1988. Machen Sie sich keine Sorgen, wenn Sie sich zu diesem Zeitpunkt noch nicht daran erinnern können. Sie haben offenbar eine sogenannte retrograde Amnesie. Dabei sind Personen nicht mehr in der Lage, sich an Geschehnisse vor einem bestimmten, meist traumatischen Ereignis zu erinnern. In Ihrem Fall war es der Unfall. Ihr Gehirn hält die Erinnerung zurück, das müssen Sie sich vorstellen wie eine Mauer. Manchmal wird dadurch sogar ein Teil der Persönlichkeit abgespalten oder blockiert. Ein sehr starkes Leid hat große Auswirkungen, und unser Verstand vergisst zu unserem eigenen Schutz dieses traumatische Erlebnis oder bestimmte, damit verbundene Inhalte, damit wir uns von ihm erholen können. Es kann einige Zeit dauern, bis Ihre Erinnerung zurückkommt. Meistens passiert das schubweise und bruchstückhaft, sobald Sie vertraute Orte der Gegenstände wiedererkennen. Allerdings habe ich eine gute Nachricht. Die Bilder im Computertomografen haben gezeigt, dass es keine äußeren Verletzungen gibt, die für Ihren Gedächtnisverlust verantwortlich sind. “ Adam beruhigte die Ansprache von Doktor Jenkins keineswegs. Im Gegenteil, wühlte ihn die Frage, ob er überhaupt jemals sein Gedächtnis wiedererlangen würde, innerlich auf. „Haben Sie schon in meinen Sachen nachgeschaut, ob sich dort ein Hinweis befindet?“, fragte er.„Das haben wir direkt als Erstes getan. In Ihrer Hosentasche haben wir nur dieses Foto gefunden“, antwortete die Schwester. Sie reichte Adam ein kleines Foto, das nur etwas größer als ein Passbild war. Er schaute sich das Foto genau an. Darauf zu sehen waren eine Frau und ein kleines Mädchen, die beide strahlend lachten. Adam kannte die beiden nicht und reagierte gleichgültig. „Die beiden sagen Ihnen nichts? Ist bestimmt Ihre Familie“, bemerkte Doktor Jenkins. „Kann sein, kann aber auch nicht sein. Vielleicht ist das auch einfach nur ein Foto, das sich in meiner Hosentasche befand“, antwortete Adam. Doktor Jenkins und Schwester Deborah tauschten wieder Blicke aus. „Es muss doch einen Weg geben, herauszufinden, wer ich bin. Vielleicht eine DNA-Analyse …“, brachte Adam hervor. Doktor Jenkins schaute Adam skeptisch, fragend und ungläubig zugleich an. „Eine DNA-Analyse schlagen Sie vor“, sagte er. „Ja, das ist mir so spontan eingefallen.“ „Ich glaube, wir kommen der Sache näher. Die DNA-Analyse ist ein sehr spezielles und brandneues Verfahren, das nur wenige Menschen überhaupt kennen. Wenn Sie sich damit auskennen, schränkt das die Leute, die wir auf der Suche nach Ihrer Identität in Betracht ziehen müssen, enorm ein. Vermutlich sind Sie Arzt. Oder Wissenschaftler. Oder auch Krimineller.“ Doktor Jenkins lachte, er freute sich über seinen eigenen Scherz mit dem Kriminellen und wartete, dass Adam einstimmte. Als er merkte, dass Adam ihn nicht lustig fand, räusperte er sich und redete weiter. „Wie auch immer, eine DNA-Analyse ist für so einen Fall viel zu kostspielig, und wir sind darüber hinaus technisch gar nicht in der Lage, sie durchzuführen. Sorry. Ich schlage vor, Sie bleiben erst mal hier. Wir werden derweil versuchen, über die Vermisstenanzeigen bei der Polizei etwas herauszufinden.“Als Adam das Wort Polizei hörte, wurde ihm unwohl, er konnte aber nicht beschreiben, warum. Er stimmte jedoch zu. Doktor Jenkins und die Schwester verließen das Zimmer, während Adam an die Decke starrte und weiter krampfhaft versuchte, sich zu erinnern, bis ihm am Ende die Augen zufielen.
Klappernd öffnete sich die Doppeltür des Straßenbahnwaggons. Da die Flügel offenbar klemmten und ab der Hälfte begannen zu stocken, musste Richard nachhelfen, um schließlich aussteigen zu können.Von der Haltestelle „Spencer Street“ waren es nur ein paar Minuten, etwa 150 Meter, bis zu seiner Arbeitsstelle, dem Victoria Police Centre. Der hässliche Betonklotz an der Flinders Street bildete einen krassen Gegensatz zu den umliegenden Gebäuden in Melbournes Stadtkern, die durch ihre Architektur aus der Mitte des 19. Jahrhunderts glänzten und an die Zeit erinnerten, als der Staat Victoria durch den Goldrausch zu Pracht und Größe gelangte. Hinzu kamen neuerdings die Hochhäuser, die seit einigen Jahren in der Nähe des Hafens aus dem Boden sprossen und dem Stadtbild ein neues Antlitz gaben.Richard Coughlan hatte als Chief des Melbourne Police Department einen harten Job. Neben den üblichen Problemen einer Drei-Millionen-Einwohner-Stadt kämpfte Melbourne gegen das organisierte Verbrechen, vor allem die italienische Mafia. Richard war ein Aufsteiger und mit Ende 30 recht jung für seinen Posten. Mit ihm hatte der Melbourne City Council die Hoffnung verbunden, einen Polizeichef gefunden zu haben, der in der Stadt richtig aufräumen würde. Eine Art weißen Ritter, der unbelastet Probleme wie Drogenhandel, Prostitution, illegales Glücksspiel und die vielen ungeklärten Todesfälle angehen würde. Coughlan genoss größten Respekt unter den meisten Kolleginnen und Kollegen. Dabei waren jedoch auch eine Menge Vorschusslorbeeren, denn große Erfolge im Kampf gegen das Verbrechen hatte Coughlan in seiner bisher knapp einjährigen Amtszeit noch nicht vorzuweisen.
„Guten Morgen“, begrüßte David Sheer, der Mann am Empfang, Richard im Foyer. Richard erwiderte mit einem knappen „Morgen“ und ging zügig zum Aufzug, um in den fünften Stock zu fahren, wo sich sein Büro befand. Schnaufend ließ er sich in seinen Ledersessel fallen, lehnte sich zurück und schaute an die Decke. Zu Beginn eines jeden Arbeitstags überkam Richard ein Gefühl der Hilflosigkeit. Das Gefühl, vor einem riesigen Berg von Verbrechen zu stehen, der sich niemals im Leben abtragen lassen würde. Warum bloß hatte er sich für diesen schlecht bezahlten, oft frustrierenden Beruf entschieden, da er doch gewusst hatte, dass er dem Verbrechen in Melbourne immer einen Schritt hinterherlaufen würde? Ein schepperndes Klopfen an seiner gläsernen Bürotür riss Richard aus seinen Gedanken. „Ja!“, rief er und lehnte sich nach vorn. Geoffrey Rudd betrat das Büro. Er war einer der eifrigsten Polizisten in Richards ganzer Truppe und Informationen wurden eigentlich immer über ihn gemeldet. Vermutlich lag das auch daran, dass Richard vor einigen Monaten Geoffreys Beförderung aus Budgetgründen hatte ablehnen müssen und dieser nun umso bemühter war, bei der nächsten Runde nicht übergangen zu werden. Richard sollte das nur recht sein, hatte er so doch einen hochmotivierten Kollegen, den die Polizeiarbeit noch nicht gebrochen hatte. „Was gibt es?“, fragte Richard. „Ich wollte Ihnen nur den Bericht von gestern Nacht vorbeibringen. War eigentlich recht ruhig, bis auf den eigenartigen Unfall in der Innenstadt.“ „Was für einen eigenartigen Unfall?“ „Es gab einen Crash in der Nähe des Parliaments of Victoria, ein Zeuge hat uns verständigt. Als wir an der Unfallstelle eintrafen, war der Unfallwagen jedoch leer. Vom Fahrer und von eventuellen Beifahrern keine Spur.“ „Hat der Zeuge gesehen, wie irgendwelche Personen den Wagen verlassen haben?“ „Nein.“„Na gut. Machen Sie eine Halterfeststellung und halten Sie mich auf dem Laufenden.“ „Jawohl, Chief.“ Geoffrey verließ das Büro. In diesem Moment schrillte das Telefon auf Richards Schreibtisch. Er nahm den Hörer ab und meldete sich. Richard hatte damit gerechnet, dass, wie meistens, die Staatsanwaltschaft ihn wegen irgendeines Falles kontaktierte. Stattdessen begann eine dunkle, verrauchte Stimme am anderen Ende der Leitung zu sprechen. Richard hörte geduldig zu. Als die Person ihren Monolog beendet hatte, legte er auf. Nach dem äußerst einseitigen Gespräch stützte er sich mit den Ellenbogen auf dem Schreibtisch ab und vergrub sein Gesicht in den Händen. Mehrere Minuten lang dachte er angestrengt nach, bis er sich den Block auf dem Schreibtisch herüberzog und einige Notizen darauf machte. Schließlich rief er Geoffrey zu sich, der einige Augenblicke später folgsam im Büro erschien und den Zettel entgegennahm. „Jetzt sofort?“, fragte Geoffrey, der ungläubig auf den Zettel starrte. „Ja, veranlassen Sie alles Nötige. Das volle Programm, inklusive Aufruf in den Medien und Straßenkontrollen. Parallel telefonieren Sie bitte alle Krankenhäuser im Stadtgebiet und der Umgebung ab.“ Geoffrey nickte und machte sich auf den Weg.
Adams Zimmer wurde von einem gleichmäßigen Piepsen und einem leisen Schnarchen erfüllt. Schwester Deborah, die gerade einen ihrer Kontrollgänge beendete, zog zufrieden und vorsichtig die Tür zu und ging ins Schwesternzimmer, wo sie sich mit ihrer Kollegin, Schwester Lucy, für eine Zigarette verabredet hatte. „Wie geht es deinem namenlosen Patienten, nennen wir ihn John Doe?“, erkundigte sich Lucy. „Schläft tief und fest“, antwortete Deborah. „Wisst ihr schon, wer er ist?“ Deborah zog an ihrer Zigarette und schüttelte den Kopf. „Eigenartig.“Die beiden Frauen schwiegen und schauten auf den kleinen Röhrenfernseher, der auf einer Kommode neben der Tür stand. Gerade liefen die Nachrichten. Der Ton war ausgeschaltet, doch Lucy und Deborah interessierten sich ohnehin nicht sonderlich für News über den Kalten Krieg, Gorbatschow oder Europa. Das war viel zu weit weg für sie. Was sie interessierte, waren die lokalen News aus Melbourne, die um diese Zeit nach den Hauptnachrichten auf ABC liefen. Deborah zog genüsslich an ihrer Zigarette und musste sofort, als die Aufmacher-Nachricht begann, laut husten. Auf dem Bildschirm erschien ein Bild ihres unbekannten Patienten, ihres John Doe. Deborahrannte zum Fernseher und drehte die Lautstärke auf.
„Das Victoria Police Department bittet um Ihre Mithilfe bei der Suche nach dieser Person. Es handelt sich um einen Mann, 40 Jahre alt, mit Wohnhaft in Melbourne. Der Mann steht im Verdacht, eine Frau und ihre kleine Tochter brutal ermordet zu haben. Der Mann ist höchstwahrscheinlich bewaffnet und gefährlich. Sollten Sie ihn sehen, sprechen Sie ihn nicht an und werden Sie auf keinen Fall aktiv. Verständigen Sie sofort die Polizei unter der Notfallnummer 000. Das Auto des Mannes wurde zuletzt in der Nähe des Parlaments gesehen, wo er gestern einen Unfall hatte und offenbar von der Unfallstelle floh.“
Panik keimte in Deborah auf. Ihr Herz raste, und ihre Hände begannen zu zittern, sodass ihr die Zigarette aus der Hand fiel und sich in den Linoleumboden brannte.
„Ist alles in Ordnung? Du bist so bleich“, fragte Lucy, hob die Zigarette auf und drückte sie im Aschenbecher aus. Sie streichelte ihrer Kollegin vorsichtig über den Rücken.
„Der Mann, den sie suchen. Das ist der unbekannte Patient, John Doe.“
„O Gott“, brachte Lucy nach einigen verwirrten Augenblicken hervor. „Wir … wir müssen Dr. Jenkins verständigen … wir müssen die Polizei rufen!“
Deborah wählte die Nummer von Dr. Jenkins’ Pieper; einige Minuten später war der Arzt auf der Station und ließ sich von der noch immer aufgewühlten Schwester die Situation erklären.
„Was sollen wir jetzt machen?“, fragte sie schließlich.
„Was wohl, wir müssen die Polizei verständigen. Ist der Patient noch in seinem Zimmer?“
„Ja. Als ich vor ein paar Minuten das letzte Mal nachgeschaut habe, schlief er tief und fest.“
„Gut, das sollten wir ausnutzen.“
Jenkins wählte vom Telefon im Schwesternzimmer aus den Notruf. Die Frau in der Zentrale versprach, auf der Stelle einen Streifenwagen vorbeizuschicken. Auf gar keinen Fall sollte jemand ins Zimmer des Mannes gehen, und es sollte dafür gesorgt werden, dass er an Ort und Stelle blieb.
Schwester Deborah und Doktor Jenkins nahmen auf der Bank Platz, die sich im Flur gegenüber von Adams Zimmer befand. Sie hatten sich mit Skalpellen bewaffnet und ließen die Tür keine Sekunde aus den Augen. Wenn der Killer herauskäme, würden die beiden ihn überwältigen und so lange mit dem Skalpell auf dem Boden in Schach halten, bis die Polizei eintraf. Das war die Theorie, doch so weit kam es nicht. Nicht einmal eine Viertelstunde später öffnete sich die Aufzugtür, und ein Mann betrat die Station, der sich als Inspector Morano vom Murder Squad, der Mordkommission des Melbourne Police Department, ausgab. Der Mann war recht groß, hatte kurze, schwarze Locken und trug einen perfekt sitzenden Anzug. Während er auf Deborah und Jenkins zulief, öffnete er sein Jackett, und Deborah und Jenkins konnten bei jedem Schritt ganz kurz einen Blick auf das Pistolenhalfter, das er darunter trug, erhaschen. Jenkins und Deborah waren erleichtert.
„Gut, dass Sie da sind. Sind Sie allein gekommen? Ich denke, er ist gefährlich!?“, fragte Jenkins.
„Keine Sorge, wir sind für so was ausgebildet worden.“
„Wie Sie meinen, er ist da drin und schläft vermutlich gerade noch.“
Jenkins zeigte auf die Tür, Morano nickte ihm zu.
„Werden Sie ihn mitnehmen? Dann können wir Ihnen einen Rollstuhl besorgen. Er dürfte noch recht schwach sein“, bot Doktor Jenkins an.
„Das bekommen wir schon hin, er ist stärker, als Sie denken.“
Morano drückte vorsichtig die Klinke von Adams Tür herunter und schlich ins Zimmer. Adam schlief noch immer und machte auf Morano einen äußerst friedlichen Eindruck, während er in seinem Bett vor sich hinschnarchte. Fast hätte man vergessen können, wozu dieser Mann fähig war. Ihn einfach mitnehmen, kam für Morano nicht infrage, dafür hatte er zu viel angerichtet. Er würde bezahlen müssen, und zwar hier und jetzt. Morano ging im Kopf die Optionen durch, die ihm zur Liquidation zur Verfügung standen. Seine Waffe, ein Kissen oder die Spritze in seiner Tasche. Da Adam schlief, entschied er sich für letztere. Er holte die Kanüle aus seiner Tasche und zog sie mit der Flüssigkeit aus einer kleinen Glasflasche auf. Es war Chloroform, das, sobald es in die Blutbahn gelangt war, tödlich wirkte.Morano umrundete leise das Bett, bis er zum Tropf gelangte, aus dem Adam mit einer nährstoffreichen Lösung versorgt wurde. Morano steckte die Kanüle in die Plastikflasche und drückte den Kolben nach unten, bis sich das gesamte Chloroform aus dem Zylinder entleert hatte. Nun musste er nur noch warten, bis Adam begann, sich in einem kurzen Todeskampf vor Schmerzen in seinem Bett zu krümmen, um ein paar Minuten später endlich sein Leben zu beenden.
Morano trat einige Schritte zurück, um sich in der Zwischenzeit auf dem Tisch im Krankenzimmer abzustützen und das grausame Schauspiel von dort aus zu beobachten. Als er Platz nahm, rückte der Tisch einige Zentimeter bis zur Wand und quietschte dabei fürchterlich laut.
Davon geweckt, öffnete Adam schlagartig die Augen. Das Erste, was er sah, war Moranos Gesicht. Der bekam einen leichten Anflug von Panik, als er realisierte, dass Adam durch seinen Fehler aufgewacht war und er nun improvisieren musste.
Der eigentlich noch immer geschwächte Adam war einige Sekunden später voller Adrenalin, was ihn seine Schmerzen vergessen ließ. Er riss sich die Kabel und den Schlauch des Tropfs vom Körper und sprang aus dem Krankenbett. Auf den Beinen stehend, brauchte er einige Sekunden, um sich zu sammeln und nicht von einer kurzen Kreislaufschwäche übermannt zu werden. Morano nutzte die Augenblicke, um nach seiner Pistole unter dem Jackett zu greifen. Er schaffte es jedoch nicht rechtzeitig, das Halfter zu öffnen und die Pistole herauszuziehen, da Adam bereits mit einem Satz zu ihm herübergesprungen war und ihm mit der Faust ins Gesicht schlug. Morano war benommen und fühlte nach dem Schlag, wie warmes Blut aus einer Platzwunde an der linken Augenbraue sein Gesicht herunterlief. Adam nutzte das Überraschungsmoment und warf Morano mit einem kräftigen Stoß gegen die Brust zu Boden. Er landete ungebremst auf dem kalten Linoleum. Adam sprang auf seinen Gegner am Boden, setzte sich auf dessen Bauch und blockierte mit seinen Knien Moranos Oberarme, sodass dieser sich nicht mehr bewegen konnte. Adam holte ein paarmal kräftig aus und schlug Morano mit voller Wucht ins Gesicht. Als er sicher war, dass er Morano bewusstlos geschlagen hatte, ließ er ab und wuchtete sich mühsam auf die Beine. Adam wurde direkt bewusst, dass er noch nicht wieder ganz auf der Höhe war, er musste sich an der Wand abstützen, da ihm wieder schwarz vor Augen wurde. Er setzte sich langsam aufs Bett und betrachtete den Mann auf dem Boden. Er kannte ihn nicht, sondern wusste nur instinktiv, dass er eine Bedrohung darstellte und ausgeschaltet werden musste, bevor er es mit ihm tat. Doch woher hatte Adam diese Fähigkeiten? Wichtiger als die Frage nach seiner Identität war nun ein ganz anderer Gedanke: Adam musste weg von hier. Vielleicht würden noch mehr Leute kommen, die ihm etwas anhaben wollten.
Er schüttelte die Kleidungsstücke aus der Tüte auf den Tisch. Es waren eine Jeanshose, ein weißes Hemd, Socken und Boxershorts. Nachdem er sich seines OP-Hemds entledigt hatte, zog er hastig alles an. Während er seine schwarzen Lederschuhe zuschnürte, die unter dem Tisch standen, beobachtete er den immer noch regungslos auf dem Boden liegenden Morano. Adam legte den rechten Zeige- und Mittelfinger an seinen Hals und ertastete einen schwachen Pulsschlag. In diesem Moment öffnete Morano die Augen und griff nach Adams Handgelenk, das er fest umklammert hielt. „Du wirst nicht weit kommen, merk dir das. Wir werden dich finden“, röchelte Morano. Adam versuchte seine Hand aus der festen Umklammerung Moranos zu lösen, was ihm jedoch nicht gelang. Ihm blieb nichts anderes übrig, als mit seinem freien Arm auszuholen und Morano noch einmal mit voller Wucht ins Gesicht zu schlagen, bis er wieder bewusstlos war. Nun durfte er wirklich keine Zeit mehr verlieren. Adam öffnete vorsichtig die Tür seines Krankenzimmers und lugte hinaus auf den Flur. Draußen standen Schwester Deborah und Doktor Jenkins, die mit Beunruhigung den Geräuschen im Zimmer gelauscht hatten und jetzt mit erhobenen Skalpellen und angsterfüllten Gesichtern vor Adam standen.„Halt, gehen Sie zurück“, stotterte Jenkins. Adam hob seine Arme, um zu zeigen, dass er keine bösen Absichten hatte, verließ aber trotzdem langsam das Zimmer. „Wir meinen das ernst“, sagte Jenkins und fuchtelte mit dem Skalpell herum, während er und Deborah zurückwichen. Adam wusste, wann ein Mann mit einer Waffe in der Hand es ernst meinte. Jenkins tat es nicht, denn er zitterte am ganzen Körper, weshalb er unbeirrt weiterging. „Ich möchte einfach nur dieses Krankenhaus verlassen, verstanden? Ich werde Ihnen nichts tun. Es sei denn, Sie versuchen mich aufzuhalten.“ Adam ging an den beiden vorbei. Sie machten keine Anstalten, ihn angreifen zu wollen. Dennoch kehrte Adam ihnen lieber nicht den Rücken zu, während er rückwärts in Richtung der Aufzüge ging. Erst als er sich sicher fühlte, drehte er sich um und rannte los.
In dem Moment, als sich die Aufzugtüren schlossen und Adams Lift sich nach unten ins Erdgeschoss bewegte, öffneten sich die Türen des zweiten Aufzugs gegenüber. Heraus kamen zwei uniformierte Beamte des Melbourne Police Department, die augenblicklich hektisch von Doktor Jenkins herbeigewunken wurden.
„Kommen Sie schnell. Er hat Ihren Kollegen überwältigt, wir versorgen ihn bereits“, rief der Arzt.
Die Polizisten rannten über den Flur und ließen sich von Jenkins erklären, was passiert war. Sofort darauf erkundigten sie sich nach Adams Kleidung und liefen zurück zum Lift, um die Verfolgung aufzunehmen.
Adam stieg im Erdgeschoss aus dem Aufzug und lief mit gesenktem Blick zügig durch das Foyer des Krankenhauses bis zum Ausgang. Draußen angekommen, überkam ihn ein Schock. Ende Juli bedeutete tiefster Winter in Australien und nur im Hemd fühlten sich sechs Grad Celsius bitterkalt an. Außerdem wusste er nicht, wohin er gehen sollte, an wen er sich wenden konnte oder wo er seine Suche nach sich selbst beginnen musste. Er beschloss, als Erstes nach wärmerer Kleidung zu suchen.Der Streifenwagen, der direkt vor dem Krankenhaus geparkt war, ließ Adam für einen kurzen Augenblick zusammenzucken, spornte ihn dann jedoch zu noch größerer Eile an. Adam lief die Royal Parade entlang und drehte sich unterwegs immer wieder um. Noch folgte ihm niemand, soweit er das beurteilen konnte. Als er sich nach einigen Minuten sicher fühlte, steuerte er das erste Bekleidungsgeschäft an, das er sah. Es war zwar nur ein „Target“-Discount, der für seine billige Kleidung insbesondere von Australiern aus der Unterschicht geschätzt wurde, doch für eine warme Jacke sowie eine Sonnenbrille und ein Cappy zur Tarnung würde es allemal reichen. Adam betrat das Geschäft, suchte sich die Sachen zusammen und ging, ohne zu bezahlen und ohne dabei auch nur den geringsten Anflug eines schlechten Gewissens zu haben, an der Kasse vorbei. Fast wäre er damit, ohne behelligt zu werden, durchgekommen. Bis ein Wachmann ihn, kurz bevor er den Ausgang erreichte, zurückpfiff. Das war sein Signal. Adam rannte aus dem Laden und sprintete so schnell er konnte los. Bereits nach wenigen Metern hatte er den schwerfälligen Security-Mann abgehängt und stoppte an einer Straßenecke, um zu verschnaufen.
Plötzlich hatte er das Gefühl, als würde sein Kreislauf komplett kollabieren. Kein Wunder, hatte er doch eine Stunde zuvor noch im Krankenhaus gelegen und am Vorabend einen Autounfall gehabt, wenn er dem Arzt im Krankenhaus Glauben schenken wollte. Adam klaute sich einen Hotdog von einem mobilen Food-Stand und zog sich in eine abgelegene Seitengasse zurück. Als er das Gefühl hatte, dass sich sein Blutzuckerspiegel wieder erholt hatte, zog er sich die gestohlene Jacke an und setzte sich Brille und Cappy auf, was ihm ein zumindest schwaches Gefühl der Sicherheit gab. Nun konnte er sich, zwischen zwei Müllcontainern sitzend, in Ruhe Gedanken über sein weiteres Vorgehen machen. Zuerst musste er irgendwie an Geld kommen. Dann würde er sich auf die Suche nach einem Hinweis, dem ersten Teil des Puzzles machen, das sich am Ende hoffentlich Stück für Stück zu einem klaren Gesamtbild zusammensetzen würde. Adam zog das Foto mit der Frau und dem kleinen Mädchen aus der Hosentasche und betrachtete es noch einmal ausgiebig. Sosehr er sich auch anstrengte, das Foto löste keine Erinnerung in ihm aus. Erst als er es zurück in die Tasche steckte, übermannte ihn unvermittelt ein Bild, das blitzartig vor seinem inneren Auge erschien und einen kurzen, aber heftigen Kopfschmerz in ihm auslöste. Er sah ein Haus vor sich. Ein weißes, hölzernes Gebäude mit einem Vorgarten, das an einer Straße mit vielen Platanen lag. Als das Bild wieder verschwunden war, rieb Adam sich die Augen.
Unvermittelt hörte er Stimmen und lautes Lachen. Er lugte hinter dem Müllcontainer hervor und sah, wie drei junge Männer, alle um die 20, in seine Seitengasse kamen. Sie trugen verschlissene Kleidung und machten keinen vertrauenerweckenden Eindruck. Einer von ihnen – Adam glaubte, es war der Anführer der kleinen Gruppe – schubste die anderen aus Spaß immer gegen die Wand. Adam hatte keine Angst vor ihnen und erhob sich aus seinem Versteck. Als die jungen Männer ihn entdeckten, verstummten sie und beäugten ihn misstrauisch. „Wen haben wir denn da?“, fragte schließlich der Anführer und ging auf ihn zu. „Das kann ich dir nicht sagen, denn ich weiß es selber nicht“, antwortete Adam. Zunächst irritiert, dann gereizt antwortete der junge Mann. „Willst du mich verarschen? Setz mal Mütze und Brille ab, damit wir selbst nachschauen können.“Adam tat, was der Mann ihm sagte. Als er komplett ohne Tarnung vor ihnen stand, reagierten die drei mit einem Lachen. „Sieh mal einer an“, sagte der Anführer, „wie das Leben doch manchmal spielt.“ Adam hatte keine Ahnung, was der Junge damit meinte, aber offenbar wusste er, wer da vor ihm stand.„Kennst du mich?“, fragte Adam. Die drei lachten wieder. Als sie sich beruhigt hatten und der Anführer merkte, dass Adam die Frage offensichtlich ernst meinte, antwortete er mit einem ironischen Unterton. „Ja, das kann man so sagen. Und jetzt zeig mal, was du so in deinen Taschen hast. Wir müssen schließlich auch von was leben, oder, Jungs?“ Wieder lachten alle drei. „Ich habe aber nichts bei mir“, sagte Adam. Der Anführer wurde wütend. Er zog ein Messer aus seiner Tasche und ging auf Adam zu, der instinktiv die Hände nach oben nahm. Der junge Mann winkte einen seiner beiden Freunde herbei, der Adams Taschen abtastete. „Bei dem ist wirklich nichts zu holen“, sagte er. Der Anführer dachte kurz nach. „Ganz ohne Erinnerung an dieses Treffen lassen wir ihn aber nicht gehen. Ich habe da eine hübsche Narbe im Sinn. Vielleicht einmal über die Wange?“, sagte der Anführer und stellte sich zum Angriff auf. Adam bereitete sich darauf vor, eine Messerattacke abwehren zu müssen. Er stellte sich breitbeinig hin und hielt die Arme vor den Körper.
Auf einmal ertönte eine Stimme vom Eingang der Seitengasse. „Keine Bewegung.“ Unvermittelt drehten sich alle um. Zwei Streifenpolizisten kamen, ihre Revolver im Anschlag haltend, in die Gasse. Es waren die beiden Polizisten, die Adam im Krankenhaus knapp verfehlt hatten. Sie waren Adam bis hierher gefolgt, hatten ihn zwischendurch aus den Augen verloren und waren dann auf die Stimmen der drei jungen Männer, die aus der Seitengasse kamen, aufmerksam geworden.
„Hey, entspannt euch, Männer. Wir haben hier eine ganz normale Unterhaltung, ja?“, beteuerte der Anführer der drei und hielt dabei die Hand mit dem Messer hinter dem Rücken versteckt. Adam witterte seine Chance. Von den beiden Polizisten unbemerkt, nahm er dem Anführer das Messer aus der Hand. Der wehrte sich nicht, da er den Polizisten gegenüber keine unnötige Aufmerksamkeit erregen wollte.
„Eine ganz normale Unterhaltung sieht für mich anders aus.